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Nullpunkt erreicht. Keine Familie. Kein Geld. Keinen Bock auf Schule. Und was war eigentlich mit seinem besten Freund los? Ennoah fühlte sich ordentlich von seinem Leben verarscht. Als dann auch noch Nico, der Schulsprecher mit der großen Klappe, anfängt ihm auf die Pelle zu rücken, wird alles nur noch schlimmer ... Oder?
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Mo Kast
Ein Jugendroman
Die weißen Wände hallten das leere Gefühl in mir wider. Es hing der unangenehme Geruch nach Desinfektionsmittel und sterilem Tod in der Luft. Ich schüttelte den Kopf, als würde das irgendwas an der Situation ändern.
Ihr Körper wirkte sehr klein auf der metallenen Barre und ich tat mir schwer sie in den fahlen, leblosen Gesichtszügen wieder zu erkennen. Sie sah nicht aus, als würde sie schlafen. Sie hatte überhaupt nichts von dieser seligen Ruhe, von der alle sprachen, wenn man den Tod beschönigen wollte.
Ich lenkte meinen Blick weg von ihrem Gesicht, das jetzt so fremd wirkte, und suchte nach etwas von ihr, das mich an sie erinnerte. Vielleicht hoffte ich ja auch nichts zu finden, die naive Hoffnung, dass einfach alles ein Irrtum war.
„Der Arzt kommt gleich“, wurde ich angesprochen.
Ich schaute auf und betrachtete mit einem befremdlichen Gefühl den Pfleger in den blauen Krankenhausklamotten. Er wirkte wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung, mit der gebräunten Haut und dem zuversichtlichen Lächeln im Gesicht. Viel zu lebendig und viel zu fehl am Platz. Wahrscheinlich war er nicht mal ein richtiger Krankenhausmitarbeiter, sondern nur ein Zivi, der keinen Bock auf Bund gehabt hatte. Er hatte nichts von dieser kränkelnden Art dieses Ortes an sich und ich war froh, als er den Raum verließ. Seine Anwesenheit war einfach zu viel gewesen. Kurz lauschte ich dem Geräusch der geschlossenen Tür nach und fühlte mich allein gelassen in dieser riesigen, weißen Halle.
Ihr Körper und das Fehlen an Leben schien den ganzen Raum einzunehmen und ich musste mich zwingen, wieder zu ihr zu sehen. Es krampfte sich etwas in mir zusammen, als mein Blick schließlich auf ihre alten, runzeligen Hände fiel. Ich kannte diese Hände.
Ich fühlte mich plötzlich erschöpft und hatte das Bedürfnis, mich zu setzen. So als hätte die endgültige Bestätigung über ihren Tod einer ungewohnten Schwere in mir Platz gemacht. Ich löste meinen Blick von ihr und schaute mich in dem Raum nach einer Sitzgelegenheit um. Es standen zwei Stühle an der Wand. Ich beschloss, man würde es mir verzeihen, wenn ich mich jetzt hinsetzte, um alles irgendwie ein bisschen besser zu verarbeiten.
Es wäre vermutlich angebracht Tränen über ihren Tod zu vergießen, aber bis auf das Ziehen in meinem Magen und ein beständiges und unangenehmes Puckern in meinem Kopf fühlte ich gar nichts. Da, wo Gefühle sein sollten, war alles leergefegt. War das normal? In Filmen sah ... Trauer immer anders aus. Verheulte Gesichter. Verzweifelte Umarmungen. Im Moment konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Szenen jemals der Realität entsprungen waren.
Es war nichts so, wie ich es erwartet hätte. Man hatte komische, abstrakte Gedanken im Kopf, wenn man über den Tod nachdachte. Ich hatte in letzter Zeit häufig über ihren Tod nachgedacht, hatte mir versucht auszumalen, wie mein Leben ohne sie aussehen würde. Wie ich mich dabei fühlen würde. Allein der Gedanke daran hatte mir den Hals zugeschnürt und mich mit schlaflosen Nächten zurückgelassen. Aber jetzt, jetzt war da nichts. Ich fühlte nichts. Mich beschlich die Angst, dass es vielleicht auch nur an mir lag. Dass sie mir zu wenig bedeutet hatte, als dass ich um sie trauern konnte. Dieses Gefühl war erschreckender, als die ganze Situation an sich.
Ich schaute erleichtert auf, als ich das Geräusch von Schritten hörte.
Meine Wohnung sah unordentlich aus. Nein, das war untertrieben, sie sah verheerend aus. So, als hätte ein fürchterliches Gemetzel darin stattgefunden und man hatte nur die Gnade besessen, die Leichen, Körperteile und das Blut zu beseitigen. Der altmodische Wandschrank und die Couch mit ihrem 60iger Jahre Charme lagen in Trümmern vor mir, genau wie die anderen Teile der altbackenen Einrichtung. Der gerüschte Vorhang hing auf Halbmast an der Gardinenstange und die Retro- Blümchentapete hatte man brutal von den Wänden gerissen. Sie lag geschlagen am Boden. Die Trümmer meiner Existenz.
Die selbstverursachten Trümmer, um genau zu sein.
Ich war in dieser Wohnung groß geworden, auf der unbequemen Couch mit Sprungfedern hatte ich immer gesessen und selbst gebackene Plätzchen gegessen, während meine Großmutter mir spannende Geschichten über ungezogene Kinder, Orte, die weit weit entfernt waren, und Fabelwesen erzählt hatte. Mein Großvater war daneben in dem dazu passenden Sessel gesessen und hatte Zeitung gelesen oder Radio gehört. Es war eine schöne Erinnerung, aber nur solange, bis man in diesem Wohnzimmer stand, alles vor sich sah und wusste, dass es nie wieder so sein würde.
Ich spürte immer noch, wie meine Hände schmerzten und ich mir die Finger an der Tapete fast blutig gekratzt hatte, bis ich ein Messer zum Schaben zur Hand genommen hatte. Ich schaute mich um. Zeit für Veränderung, oder? Man konnte doch nicht immer in der Vergangenheit leben, sich wünschen, dass Erinnerungen wieder lebendig wurden.
Aber im Moment hatte ich leichte Zweifel, ob das der richtige Weg dafür gewesen war. Wenn ich mir meinen Kontostand ins Gedächtnis rief, war die ganze Aktion eventuell sogar ziemlich bescheuert gewesen. Ich hatte wahrscheinlich gerade mal das Geld, um den Kram entsorgen zu lassen. Aber bestimmt nicht genug Kohle, um mir neue Möbel zu kaufen. Zeit für Veränderung ...
Warum nicht mal einen neuen Lebensstil ausprobieren? Man sollte sich doch sowieso nicht so an Materiellem aufhängen und eine spartanisch eingerichtete Wohnung soll ja gerade sehr in sein. Wie auch immer ... Zumindest hatte ich noch ein Bett, in dem ich schlafen konnte, und das war ja die Hauptsache. Jedenfalls würde das reichen, bis ich vielleicht mal wieder mehr Geld zusammen hatte. Verdammt, manchmal war es einfach so, als würde alles bei mir ausklinken und dann zerstörte ich Mobiliar? Ich konnte mir doch gar keine Rockstarallüren leisten. Ich seufzte und fragte mich wieder, was ich mit diesem Trümmerhaufen anfangen sollte. Eine Möglichkeit wäre es, einfach ein Schild davor zu stellen, mit der Aufschrift ›Mein Leben‹, und das dann als tiefbewegte Kunst zu verkaufen. Könnte funktionieren, aber ich fühlte mich momentan emotional nicht in der Verfassung mich und meine ›Kunst‹ zu prostituieren. Andererseits, wer weiß, ich könnte mir neue Möbel davon leisten und ...
Ich sollte Eddy anrufen, ich sollte ihn so was von anrufen. Ich drehte schon wieder völlig ab. So eine Scheiße! Vielleicht lag es am Kaffee, ganz bestimmt. So viel Koffein konnte selbst für mich nicht gut sein ... Ich hatte heute noch nichts gegessen, nur dieses braune Gift getrunken. Ich fühlte mich komisch, ich sollte wirklich Eddy anrufen. Ich hatte etwas Angst. Wovor und warum wollte ich gar nicht wissen, weil die Antwort scheiße war. Mein Telefon fand ich hinter dem umgeworfenen Tisch im Flur, auf dem es normalerweise immer stand. Aber das ging ja schlecht, wenn ich alles zerlegte. Ich war ein Idiot. Zu meinem Glück ging das Gerät noch und ich wählte Eddys Nummer. Ich kannte seine Nummer sogar besser, als meine eigene. Ich könnte sie im Schlaf aufsagen, rückwärts, blind eintippen. Aber das konnte mir niemand verdenken, ich kannte Eddy seit dem Kindergarten. Er war mein bester Freund für immer und ewig, oder so was. Keine Ahnung. Ich wollte mit ihm sprechen.
Ich hörte das Freizeichen und vermied es, mich wieder in meiner demolierten Wohnung umzusehen. Allerdings konnte ich den Impuls nicht unterdrücken, nervös mit dem Fuß zu tippen, während ich darauf wartete, dass endlich jemand abhob. Warum dauerte das so lange?
„Neufelder, hallo?“, meldete sich eine müde Frauenstimme und erst jetzt fiel mir auf, dass ich vielleicht eine ungünstige Uhrzeit für meinen Panikanruf gewählt hatte. Es war irgendwas früh morgens, keine Ahnung wie viel Uhr genau – die Uhr hätte ich nämlich erst mal wiederfinden müssen – und wir hatten Sonntag. Scheiße, ich hatte doch gesagt, dass der Kaffee schuld war.
„Ähm, hey, ist Eddy da?“, nuschelte ich ins Telefon, doch etwas peinlich berührt, so früh gestört zu haben. Manchmal war ich ein Idiot, vor allem, wenn ich keinen Bezug zu allem bekam, besonders nicht zu sozialen Konventionen.
„Ich denke, er schläft noch, Ennoah. Ist es denn wichtig?“ Ich konnte nicht sagen, ob Eddys Mutter vorwurfsvoll oder nur müde klang. Beides wäre nachvollziehbar. Ich würde mich jedenfalls nicht freuen, wenn der verrückte Freund meines Sohns zu einer unmöglichen Zeit anrief. Aber ich würde das nicht ohne Grund tun. Ehrlich nicht.
„Irgendwie schon.“ Wenn Eddy nicht vorbeikommen würde und mir sagte, dass ich hier einen ganz schönen Ruckus veranstaltet hatte, würde ich wieder weiter Kaffee trinken und irgendwann zwischen dem Haufen Müll umkippen. Ich wusste das so genau, weil mir das schon ein- oder zweimal oder auch drei- oder viermal, sagen wir einfach, in letzter Zeit oft genug passiert war. Nicht das mit den kaputten Möbeln, das war neu, aber das mit dem Umkippen. Ich kam einfach nicht mehr richtig runter, wenn er nicht da war. Er war für mich wie ein Valium in Menschenform. Absurd, aber so war es einfach.
Ich hörte, wie Eddys Mutter seufzte. Es war relativ einfach sich vorzustellen, was gerade in ihrem Kopf vorging. Sie hatte Mitleid mit mir, immerhin war meine Großmutter vor einigen Monaten gestorben und mein Leben war so oder so nie einfach gewesen. Sie würde mich gerne anmeckern und mir erklären, dass ich nicht einfach so früh am Morgen anrufen konnte. Aber sie hatte Angst, dass wieder etwas nicht mit mir stimmte und ihr dann irgendjemand Schuld für etwas gab. Ich glaubte, sie dachte, ich würde mir etwas antun. Aber außer dem vielen Kaffee und der schlechten Ernährung, gab es eigentlich nichts zu beanstanden. Und den Möbeln. Reden wir nicht mehr weiter von den Möbeln ...
„Warte, ich weck Adrian“, erklärte sie mir schließlich und ich hörte, wie der Hörer beiseite gelegt wurde. Im Kopf rechnete ich, wie schnell Eddy hier sein könnte. Wenn ich ihm jetzt sagte er sollte herkommen, bräuchte er noch mindestens zehn bis zwölf Minuten im Bad, dann würde er sich noch ein Brot schmieren oder einen Apfel suchen, weil er wusste, dass es hier nie etwas zu essen gab, und wäre dann mit dem Fahrrad eine viertel Stunde später vor meiner Wohnung. Hm... Alles in allem würde er eine knappe halbe Stunde brauchen, verdammt. Ich sollte ihm sagen, dass er sich beeilen musste.
„Woah, Alter, es ist fünf Uhr morgens!“, grummelte Eddy ins Telefon. Na ja, jetzt wusste ich wenigstens, warum alle so müde klangen.
„Du musst sofort herkommen“, erklärte ich ihm die Sachlage. Er musste einfach, deswegen waren wir ja beste Freunde. Ich hoffte, ihm war das so klar, wie mir.
„Enni ... Wirklich, ich bin erst vor zwei Stunden ins Bett gekommen.“ Eddy seufzte oder unterdrückte ein Gähnen oder beides. Nicht weiter wichtig ...
„Ich hab heute noch gar nicht geschlafen, das ist egal. Du musst wirklich kommen, bitte.“ Bei einem Bitte durfte er einfach nicht Nein sagen, das wäre zu unhöflich, fand ich. Ich zwirbelte das Telefonkabel um meinen Finger. Er sollte endlich sagen, dass er jetzt gleich auf der Matte stand. Ich fühlte mich ungeduldig, ich war ungeduldig ...
„Ach, scheiße. Ich muss dich echt mögen, Alter ... Aber wehe, das Haus steht noch und dir fehlt nicht mindestens ein Arm.“ Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er schon aufgelegt. Eddy mochte mich und er würde sich beeilen. Ich wandte mich erneut dem Chaos zu. Niederschmetternd. Nichts, mit dem ich mich jetzt beschäftigen wollte, schon gar nicht, wenn Eddy sowieso gleich hier war. Ich merkte, wie ich wieder an meinen Nägeln kaute. Erstaunlich, dass es da überhaupt noch etwas gab, an was ich kauen konnte. Mit einem Biss stellte ich fest, dass da nichts mehr war, ich hatte mir in den Finger gebissen. Verärgert ließ ich die Hand sinken und ging in mein Schlafzimmer, das vor meinem Massaker zum Glück verschont geblieben war.
Ich warf mich auf mein Bett, spürte, wie sich mir ein Stift in den Rücken bohrte, und rollte mich beiseite. Vorwurfsvoll schaute ich zu dem Stift, als wäre es seine Schuld, dass er hier in meinem Bett lag und auch, dass die Zeichnungen zerknittert waren. Na ja, was soll's. Ich strich die Zeichnungen wieder etwas glatt und dabei blieb mein Blick auf einer völlig anatomischen Verkrüppelung hängen. Was zum Henker hatte ich mir gedacht, als ich das gezeichnet hatte?! Ich angelte nach dem Stift, der mich eben noch malträtiert hatte, und versuchte in der Zeichnung noch irgendwas zu retten. War ja ekelhaft.
Manchmal musste ich echt blind sein beim Zeichnen. Ich schüttelte den Kopf und zerknüllte das Papier. Ich würde das jetzt schöner, besser, größer, lauter ... Schwachsinn. Hauptsache ich zeichnete irgendwas, war beschäftigt und konnte nicht daran denken, dass gerade ziemlich viel echt schieflief. Und das war nicht mal auf den Tod meiner Großmutter bezogen, na ja auch, aber nicht nur.
Ich schreckte auf, als ich die Klingel hörte. Wie lang Eddy jetzt tatsächlich gebraucht hatte, um hierher zu kommen, wusste ich nicht. Aber wenigstens war die Zeit schnell vorbeigegangen, als ich gezeichnet hatte. Vielleicht hätte ich heute Nacht auch besser gezeichnet, als die Wohnung zu demolieren. Warum hatte ich das überhaupt gemacht? Ich schüttelte den Kopf. Ich sollte keine Fragen stellen, wenn ich sowieso keine Antworten wollte. Ich ging durch das Wohnzimmer, stolperte dabei elegant über ein Teil der Couch, fing mich an einer Schranktür, die daraufhin ganz abbrach, und knallte damit in absoluter Perfektion meiner vollen Grazie zu Boden. Fuck, das tat weh. Ich hatte mir das Knie an einer spitzen Kante aufgeschlagen und das Blut, das aus der leicht schmerzenden Wunde kam, versaute auch noch meine Hose. Als wäre ich nicht schon gestraft genug. Es wurde nochmal geklingelt, diesmal deutlich penetranter. Eddy wurde wohl leicht ungeduldig. Ich seufzte und humpelte in den Flur, wo sich die Freisprechanlage befand. Ich drückte den Knopf mit dem Schlüsselsymbol, ohne den Hörer abzunehmen. Ich wusste ja, wer vor der Tür stand, also war es nicht nötig, da noch weiter zu trödeln.
Ich lehnte meine Wohnungstür an, sodass Eddy einfach rein konnte, und hinkte dann weiter ins Bad. Ich hatte nämlich keinen Bock, die Hose noch mehr voll zu bluten und am Ende würde der Scheiß auch noch eintrocknen. Vom Wäschewaschen hatte ich nicht viel Ahnung, aber eines war mir zumindest klar: Blut ging immer verdammt schlecht raus.
Ich wusste, dass Eddy endlich meine Wohnung betreten hatte, als ich ein entsetztes ›Scheiße‹ aus dem Wohnzimmer hörte. In Shorts und mit dem blutenden Knie kam ich aus dem Badezimmer, um meinen Retter in der Not gebührend zu begrüßen. Ich grinste ihn an, als er sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir drehte. Er war nicht begeistert.
„Na ja, abgebrannt ist die Wohnung nicht, aber es wäre 'ne Überlegung wert ... “, kommentierte ich den Zustand meiner Wohnung. Noch immer lächelte ich leicht. Ich war froh, dass er hier war.
Eddy schüttelte als Antwort nur mit dem Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da sah. Was ihn aber nicht davon abhielt, sich nochmals in dem ramponierten Zimmer umzusehen. Ich tat es ihm gleich und ich hatte das Gefühl, als würde mir erst jetzt das volle Ausmaß der Zerstörung bewusst werden.
Ich brauchte einen Kaffee.
Ohne ein weiteres Wort schlurfte ich in meine Küche. Es war gut, dass Eddy da war, aber irgendwie konnte ich nicht ruhig werden. Während die Kaffeemaschine laut brodelnd mein Lebenselixier fabrizierte, kaute ich geistesabwesend auf meiner Lippe herum und trommelte mit den Fingern auf der Theke. Konnte mir Eddy bei der Sache überhaupt helfen? Er musste, ich wusste sonst nicht, was ich tun sollte. Ich biss weiter auf meiner Lippe, während die Kaffeemaschine fröhlich die letzten Tropfen des Kaffees ausspuckte. Da keine meiner Tassen gespült war, befand ich, dass es die Kaffeetasse von gestern Abend auch noch tat. Ich schüttete mir reichlich von dem heißen Getränk ein, schmiss noch vier Löffel Zucker dazu und ging wieder in das Wohnzimmer, während ich umrührte.
Eddy hatte in der Zwischenzeit damit begonnen, das Chaos zu verschlimmern. Er hob die zerbrochenen Möbel hoch und ließ sie wieder fallen. Die Bücher und der Kleinkram, die sich bei meiner Aktion im Zimmer verstreut hatten, waren in eine andere Ecke gewandert und Eddy seufzte nur frustriert, als ich wieder den Raum betrat.
„Ruf mich das nächste Mal früher an, okay?“, sagte er schließlich, als er mich besorgt anschaute.
„Du warst nicht da.“ Das war kein Vorwurf. Ich wusste, dass er Samstagabend meistens unterwegs war und Party machte. Manchmal kam ich auch mit, na ja, nicht die letzten Monate. Party war in letzter Zeit alles andere als angebracht. Eddy hatte das schon verstanden.
„Mann, Alter, du hättest mich auch auf dem Handy anrufen können. Ich wäre sofort vorbeigekommen.“ Er seufzte entnervt und fuhr sich durch seine unordentlichen Haare. Wieder wanderte sein Blick durch den Raum, dann blieb er an mir hängen. Ich fühlte mich nicht gut, der Kaffee, der sich warm in meinem Körper ausbreitete, änderte nichts daran. Vielleicht sollte ich Raucher werden, angeblich beruhigten Zigaretten doch, oder? Hm, oder gleich kiffen. Aber ich stand weder auf Rauch noch hatte ich Geld für irgendwelchen Kram. Eigentlich war ein Drogenproblem so das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Ich nippte wieder an meinem Kaffee und vermied es, in Eddys Richtung zu sehen. Klar, ich hätte ihn auf seinem Handy anrufen können. Aber ich hatte nicht gewusst, dass die Nacht so werden würde. Ich dachte am Abend wirklich, es wäre noch alles okay, na ja fast ...
Ach, ich hatte keine Ahnung. Außerdem war es zu spät, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Ich spürte, wie ich mich langsam beruhigte, als Eddy mich endlich umarmte. Ich atmete seinen angenehmen Geruch ein und genoss es, wie sich sein Körper an meinem anfühlte. Nicht, dass ich das Eddy jemals sagen würde, aber manchmal hatte ich das Gefühl, als müsste ich ohne seine Umarmung sterben.
Ich fühlte mich immer noch ziemlich groggy von dem Wochenende. Eddy hatte vormittags seinen Vater angerufen, jetzt konnten wir am Mittwoch mit dessen Auto den Sperrmüll zur Müllverbrennungsanlage bringen. Laut Eddys Vater war das auch nicht so teuer, wie ich erwartet hatte. Wir hatten den restlichen Sonntag damit verbracht, das Zeug so klein zu machen, dass man es leicht in ein Auto unterbringen konnte. Jetzt gab es einen hübschen Stapel aus zerstörten Möbeln, über den man wenigstens nicht mehr stolperte. Ich sah sowieso schon demoliert genug aus. Warum ich das Ganze gemacht habe, hatte Eddy nicht gefragt. Er wusste vermutlich sowieso, an was es lag. Ich hätte aber auch nicht darüber reden wollen, nicht mal mit ihm.
Nachmittags hatte Eddy eine fette Partypizza bestellt, mit der Begründung, dass es bei mir nichts zu essen gab und ein Mensch Nahrung zum Leben brauchte. Kaffee als Nahrungsmittel wollte er nicht akzeptieren. Nach dem Essen war ich allerdings nach ein paar Minuten einfach weggepennt. Um drei Uhr nachts wachte ich wieder von meinem kleinen Verdauungsschläfchen auf. Eddy war nicht mehr da. Wenigstens war er so nett gewesen und hatte mich zugedeckt. Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber gewesen, wenn er übernachtet hätte. Aber seine Mutter mochte es nicht, wenn er unter der Woche auswärts schlief und wenn man ehrlich war, mochte er es auch nicht. Er schlief immer lieber in seinem eigenen Bett, hatte er mir mal erklärt.
Die verbleibenden Stunden bis zur Schule hatte ich mit Fernsehschauen zugebracht. Zwischen vier und fünf Uhr nachts kamen nicht mal mehr Softpornos. Ab fünf fingen zumindest die Wiederholungen vom Nachmittagsprogramm an. Wobei man sich natürlich fragen konnte, ob das eine erhebliche Verbesserung des Niveaus war. Mir war es eigentlich ziemlich egal, ich zeichnete nebenher und war nur froh, dass es nicht still war. Da konnte man selbst den verzweifelten Moderator ertragen, der die Zuschauer zum Anrufen motivieren wollte. Dass der ganze Tag nicht so werden würde, war mir schon klar gewesen, als ich in meiner dunklen, einsamen Wohnung aufgewacht war. Aber eine Sache hätte ich wirklich nicht erwartet. Hätte ich es geahnt, wäre ich gar nicht erst aus dem Haus. Ein Fehltag mehr oder weniger, wäre auch nicht mehr so tragisch gewesen. Aber ich war zur Schule gegangen. Schlechte Entscheidung, auch wenn ich es in meiner Wohnung auch nicht mehr ertragen hätte. Aber dort wäre mir zumindest Nico erspart geblieben.
Nico. Wir waren in der Zehnten in der gleichen Klasse gewesen und ich fand ihn damals schon lächerlich, vor allem lächerlich klein. Das ganze Metall, das er da auch schon im Gesicht hatte, fand ich einfach übertrieben provokant und dass er ständig dumme Sprüche riss, eigentlich generell ein viel zu großes Maul für so einen winzigen Körper hatte, machte es nicht besser. Er war schlichtweg eine Nervensäge und ich war froh gewesen, nie näher mit ihm zu tun zu haben. Aber eben jetzt hatte dieser Winzling beschlossen, mir auf den Geist zu gehen. Der Typ reichte mir gerade mal bis zur Brust und er hatte auch noch ratzekurze Haare, die eigentlich jede Möglichkeit nahmen, ihn größer wirken zu lassen. Dass er klein war, war nicht mal das Schlimmste an ihm. Eigentlich fand ich es viel schlimmer, dass er nie klein wirkte. Ich war mit meinen 1,95 m vermutlich einer der größten Schüler hier, aber wenn ich einen Raum betrat, schaute nicht mal jemand auf – nicht, dass es mich stören würde. Aber wenn dieser Zwerg in ein Klassenzimmer kam, galt ihm sofort jede Aufmerksamkeit und ich war mir ziemlich sicher, dass es ihm egal war, ob diese Aufmerksamkeit negativ oder positiv war. Er schien einfach, den ganzen Raum für sich zu beanspruchen, so als gehöre ihm schlichtweg die Welt. Arrogantes Arschloch. Sein Charakter war in den letzten zwei Jahren auch nicht besser geworden ...
Gah, er nervte mich.
„Komm schon, Enni, das wird doch für dich kein Problem sein.“ Da stand er nun mit seinen lächerlichen, kurzen Haaren und das Gesicht voller Blech und erwartete von mir, dass ich ihn zeichnen sollte. Wer war ich denn? Hatte ich Zeit, Nerven, Lust so etwas zu machen? Gott, ich hatte genug andere Sachen, um die ich mir gerade Sorgen machen musste. Außerdem nervte es mich, dass er mich Enni nannte. Eddy durfte mich so nennen, aber den kannte ich schon seit dem Kindergarten.
„Nein“, wiederholte ich nochmals. Ich wollte nicht und da konnte er noch so viel betteln und flehen und was weiß ich, ihn würde ich bestimmt nicht zeichnen und jetzt sowieso nicht.
„Gott, warum nicht? Ich geb dir doch auch Kohle dafür.“ Er hatte seine gepiercten Augenbrauen ärgerlich zusammengezogen und machte einen Schmollmund mit seiner gepiercten Lippe. Bei so viel Metall im Gesicht musste einem doch im Winter echt kalt werden, oder?
„Kein Bock“, gab ich nonchalant zurück und fand, dass damit das Gespräch beendet war. Deswegen wandte ich mich auch ab und ging. Ich wollte heim und eigentlich konnte Nico von Glück reden, dass ich überhaupt stehengeblieben war. Ich hatte mir keinen Kaffee mit in die Schule genommen und festgestellt, dass mein Kleingeld auch nicht mehr für einen aus dem Automaten reichte und war deswegen sowieso schon ziemlich gereizt. Zum Glück hatte ich montags nur vier Stunden Schule, eine Doppelstunde Englisch und eine Doppelstunde Mathe, das war noch einigermaßen zu ertragen. Im Gegensatz zu dem Knirps.
„Fick dich, bist du ein arrogantes Arschloch“, rief er noch hinter mir und vermutlich zeigte er mir gerade den Mittelfinger. Aber das war mir egal. War doch schön, dass wir uns beide einig waren: Wir mochten uns nicht. Dann könnten wir in Zukunft wieder auf unsere Gesellschaft verzichten.
Ich hatte der ganzen Angelegenheit eigentlich nicht viel beigemessen. Es kam immer wieder mal vor, dass ich für Leute aus meiner Stufe etwas zeichnen sollte, meistens für lau und in der Regel lehnte ich ab. Einfach weil ich keine Lust hatte etwas für Leute zu machen, die ich nicht mal kannte. Außerdem hatte ich im Moment wirklich viel um die Ohren. Ich müsste immer noch meine Mutter anrufen ...
Zum Glück hatte Eddy die Angelegenheit mit meinem zerlegten Wohnzimmer geregelt. Am Mittwoch stand er pünktlich um vier mit seinem Vater auf der Matte und zusammen luden wir das Gerümpel ins Auto, in dem auch noch alter Kram von ihnen war, den sie entsorgen wollten. Sein Vater hatte mir auch beigepflichtet, dass die Möbel viel zu altmodisch für so einen jungen Kerl wie mich waren und er sie auch schon längst entsorgt hätte. Ich verkniff es mir, ihm zu sagen, dass mich bei der Aktion keine ›Schöner wohnen‹-Ambitionen geleitet hatten, sondern nickte nur und pflichtete ihm bei. Das war sowieso die beste Art, mit seinen Mitmenschen umzugehen. Nicken, lächeln, einfach Ja sagen. Menschen ohne eigene Meinung waren langweilig und wenn man langweilig war, wurde man in Ruhe gelassen und das war genau das, was ich wollte. So wenig Kontakt wie möglich mit anderen und so wenig Aufmerksamkeit erregen, wie es ging. Im Mittelpunkt stehen hatte ich schon immer als unangenehm empfunden und als meine Oma erkrankt war und es zweifelhaft war, ob sie sich wirklich ordentlich um mich kümmern konnte, war es mir noch wichtiger, nicht aufzufallen.
Und ehrlich, ich war wirklich gut darin nicht bemerkt zu werden.
Es hätte mich knapp fünfzehn Euro gekostet, den Müll in der Anlage entsorgen zu lassen, aber Eddys Vater hatte wohl einen großzügigen Tag und meinte, er würde das einfach zahlen. Mir war das recht, ich hatte gerade sowieso ein kleines Geldproblem. Eigentlich wusste ich nicht mal genau, wie ich mir nächste Woche noch den Kaffee leisten sollte und in drei Wochen waren wieder Nebenkosten fällig. Vielleicht hätte ich doch den Zeichenauftrag von dem Knirps annehmen sollen. Oder ich sollte mich einfach mal bei meiner Mutter melden. Fragt sich nur, was das geringere Übel war.
Ich bedankte mich noch bei Eddys Vater und ließ mich bei ihnen zum Essen einladen. Ich hatte sowieso nichts mehr im Kühlschrank und die Familie schien mir immer gerne was zu kochen. Ich könnte mich wie ein Schmarotzer fühlen, allerdings war Eddy, bis er zwölf war, eigentlich jeden Tag bei mir daheim gewesen und hatte mit uns gegessen. Sie hatten in der Wohnung über mir gewohnt und seine Eltern hatten große Ziele, wie ein eigenes Haus am Stadtrand, eine Familienkutsche, Urlaube und dafür musste man arbeiten.
Meine Großmutter hatte den Gedanken furchtbar gefunden, den armen Jungen ganz allein in der Wohnung zu lassen und so war man übereingekommen, dass er solange bei uns war, bis seine Eltern von der Arbeit kamen. Eddy und mir war es recht gewesen, wir hatten uns schon immer gut verstanden. Auch wenn das die Erwachsenen immer etwas irritiert hatte.
Ich war das gewesen, was man gemeinhin als Stubenhocker bezeichnen würde. Ich lag am liebsten im Wohnzimmer auf dem plüschigen Teppich und hatte dort gezeichnet. Eddy hatte meistens neben mir gesessen und mir irgendwelche Dinge erzählt, einfach irgendwas. Ich hatte ihm immer gerne zugehört. Manchmal hat er mich auch gebissen oder mich an den Haaren gezogen, was mich wohl dazu animieren sollte, mit ihm nach draußen zu gehen. Ich fand, wir hatten uns schon immer gut ergänzt.
In den Gedanken an unsere gemeinsame Kindheit schaute ich zu Eddy, der gerade mit seiner Mutter über etwas debattierte und konnte nicht anders, als zu grinsen. Ich wollte gar nicht wissen, wie mein Leben jetzt aussehen würde, wenn ich Eddy und seine Familie nicht hätte.
„Nimm dir ein Beispiel an Ennoah“, kam es plötzlich von Eddys Mutter und ich schaute verwirrt auf. Um was ging es? Ich hatte nicht aufgepasst.
„Mama, das kannst du nicht vergleichen.“ Eddy verdrehte nur die Augen und ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte.
„Ennoah, du bist doch auch nicht jedes Wochenende weg, oder?“, wandte sich diesmal seine Mutter direkt an mich.
„Äh...“ Natürlich nicht, ich hatte zum einen kein Geld dafür, um genau zu sein, hatte ich gerade generell kein Geld für irgendwas. Zum anderen war mir zurzeit wirklich nicht nach Party zumute. Eigentlich war mir sowieso selten danach mich großartig unter Leute zu mischen, aber meistens war ich Eddy zuliebe mitgekommen oder wenn ich jemanden zum Vögeln gesucht habe. Aber das konnte ich ihr schlecht sagen. Ich spürte das Gewicht der Gabel in der Hand, die ich zwischen meinen Fingern hin- und herwippen ließ. Seine Familie war daran gewöhnt, dass ich selten stillhalten konnte, wenn ich nicht gerade zeichnete.
„Mama, lass Enni da raus, okay?“ Eddy wirkte irgendwie aufgebracht und ich bereute es ein bisschen, dass ich bei ihrer Diskussion nicht richtig zugehört hatte. Vielleicht würde ich dann verstehen, warum Eddy sich so komisch verhielt. Aber so war die Diskussion beendet, seine Mutter wollte wohl einen möglichen Streit vermeiden. Generell wurden sie bei Eddy daheim nie laut, aber es war auch nie so leise, wie bei mir daheim ...
Meine Wohnung kam mir seltsam fremd vor, als ich durch den engen Flur ging und das leere Wohnzimmer betrat. Die Tapete hing immer noch in Fetzen herunter. Ich hatte keine Lust gehabt, sie richtig ab zu schaben. In der Ecke unter dem Fenster lag ein Stapel mit Büchern und daneben hatte Eddy ein gerahmtes Foto von mir und meinen Großeltern gelehnt. Der Raum roch nach Staub und Alter und ich merkte, wie mir schlecht wurde. Ich zog die Tür hinter mir mit einem Knall zu, stolperte den Gang entlang ins Badezimmer und übergab mich dort ins Waschbecken. Ich hing schwer atmend über dem Becken und versuchte den erneuten Würgereiz nieder zu ringen. Mein Magen schmerzte und der Geruch nach Kotze in der Nase machte es nicht besser.
Ich atmete mehrmals tief ein und aus, während ich Wasser in das Becken laufen ließ, um alles weg zu spülen. Langsam beruhigte sich mein Körper wieder und ich spritzte mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht.
Schade um das gute Essen.
Ich ließ mich auf dem Klodeckel nieder, weil ich meinen Beinen nicht ganz traute. Ich traute meinem ganzen Körper nicht mehr und noch viel weniger mir selbst. Zurzeit war alles so komisch, verschoben, als wäre ich im falschen Leben. Ich verstand einfach nichts mehr und mich am wenigstens. Ich schüttelte leicht den Kopf und erhob mich schließlich, um das Bad zu verlassen. Es brachte nichts, sich in seinem Elend zu suhlen und sich verloren in der eigenen Gedankenwelt zu fühlen. Das machte es doch nur schlimmer, oder?
Ich ging in die Küche, machte mir einen Kaffee und ging damit in mein Schlafzimmer. Ich schaltete meinen Fernseher ein und fühlte mich mit der Geräuschkulisse wohler. Meine Oma hatte es nie gemocht, dass dieses Gerät ständig lief. Sie fand, man sollte sich nicht das Leben der anderen ansehen, sondern selbst etwas tun. Na ja, zumindest war das früher so gewesen. In den letzten Jahren war es ihr einfach egal gewesen ...
Mein Stift kratzte über das Papier und ich dachte darüber nach, dass ich an meiner Bewerbungsmappe arbeiten sollte. Ich war jetzt in der Zwölften, ich würde also in einem Jahr mein Abitur haben und wenn ich wirklich etwas aus meinem Leben machen wollte, blieb mir nicht mehr viel Zeit. Eigentlich war ich mir nie sicher gewesen, ob ich wirklich mein Abi machen wollte. Ich war nicht unbedingt der beste Schüler. Faulheit, Unvermögen, keine Ahnung, meine Noten reichten immer nur gerade so, dass ich das Schuljahr bestand und ich würde vermutlich mein Abi nur mit Hängen und Würgen schaffen. Ich versuchte, meine schlechten Noten damit zu rechtfertigen, dass es für meinen Studienwunsch ziemlich egal war, was für Noten ich hatte. An einer Kunst-Uni zählte nur, was ich konnte und wie gut meine Mappe aussah. Ich hatte mir erst vor kurzem wirklich mal konkret Gedanken gemacht, was aus meinem Leben werden sollte. Man konnte nicht ewig nur in den Tag hinein leben und hoffen, dass alles schon irgendwie gut wurde. Das passierte nämlich nicht, es wurde alles nur schlimmer.
Vielleicht war Kunst brotlos. Aber hey, Brot hatte ich noch nie sonderlich gemocht und lieber ein unrentables Ziel im Leben, als gar keines, oder? Außerdem hatte ich es wenigstens schon mal so weit geschafft, eine eigene Wohnung zu besitzen, na ja, zu erben. Eine Wohnung, in der mir schlecht wurde und die ich in manchen Momenten nur noch niederbrennen wollte. Aber es war vielleicht nur eine Gewohnheitssache. Ich musste mich nur noch an die Stille hier gewöhnen ...
Gott, zum Glück hatte ich mit der Bewerbungsmappe etwas, worauf ich meine Gedanken lenken konnte. Aber anstatt nur wahllos etwas zu zeichnen, sollte ich wirklich mal konzeptionell an die Sache herangehen. Ich hatte bisher einfach nur gezeichnet, nicht, weil ich ein schönes Bild machen wollte oder ich etwas damit aussagen wollte. Einfach gezeichnet, weil ich was zu tun hatte und dabei abschalten konnte. Es war etwas ganz anderes, plötzlich etwas mit ... Substanz zu machen.
Als Zeichner gab es drei Fragen, die bekam man eigentlich immer irgendwann gestellt – in der Regel von Leuten, die keine Ahnung hatten.
Das hast du selbst gemalt?!
Wen zeichnest du da?
Wie machst du das? Ich will das auch können.
Meistens machte ich mir da nicht mal die Mühe aufzusehen und dachte mir meinen Teil dazu. Es war schon nervig genug, dass Leute dachten, bloß weil ich wo saß und zeichnete, wäre es legitim mich einfach anzusprechen und mich mit dummen Fragen zu belästigen. Die meisten schienen sowieso eine komische, verträumte, idealisierte Vorstellung vom Zeichnen zu haben. Nicht alles, was man anfasste, wurde zur Kunst und die meiste Zeit verbrachte man mit Selbstzweifel und harter Arbeit, um endlich besser zu werden. Ehrlich, dass mit den Selbstzweifeln war ein echtes Problem und nur üben half dagegen. Ich dachte mir absolut nichts dabei, wenn ich einen Mann in der Hocke zeichnete, der nach unten schaute. Ich wollte einfach nur wissen, ob ich es so aussehen lassen konnte, wie ich mir das vorstellte. Manchmal klappte es und manchmal nicht, dann übte ich, bis ich es hinbekam. Vielleicht war ich auch einfach nicht sonderlich kreativ. Eigentlich hatte ich mich nie so damit befasst. Das sollte ich allerdings tun, wenn ich wollte, dass mich irgendeine Uni nahm. Da ging es nicht nur um Technik, da ging es darum, sich als kreative Künstlerpersönlichkeit zu verkaufen und das in einer Mappe zu zeigen. Zumindest sagte das das Internet. Ich hatte selbst keinen Computer, aber Eddy ließ mich gerne an seinen ran, für den seltenen Fall, dass ich mal Informationen brauchte. Wobei die Informationen eher mäßig hilfreich waren. Ich hatte keinen Schimmer, was die von mir sehen wollten.
Ich seufzte und kritzelte weiter in mein Skizzenbuch. Auch eine Empfehlung des Internets. Und ich musste feststellen, dass es irgendwie ganz praktisch war, nicht alles auf losen Blättern zu haben, die ständig verknickten oder verloren gingen. Als ich meinen Magen ärgerlich knurren hörte, entschloss ich mich, dass ich nochmal neuen Kaffee brauchte, weil mein Kühlschrank nach wie vor leer war. In der Küche schenkte ich mir die letzte Tasse aus der Kanne ein und bereitete die Kaffeemaschine gleich vor, dass ich sie mir morgen früh nur noch anschalten musste. Ich hasste es nämlich, morgens irgendwelche komplizierten Tätigkeiten zu machen, wie eine Kaffeemaschine mit Pulver zu befüllen. Dabei bemerkte ich leider, dass sich in der Kaffeedose das braune Pulver auch ziemlich rarmachte. Verdammt, ich hatte gedacht, es wäre noch mehr dagewesen ... Ich trank zu viel von dem Zeug.
Und ich brauchte wirklich wieder Geld. Scheiße, ich wollte nicht mit meiner Mutter reden. Ich löffelte in den lauwarmen Kaffee wieder meine Tonnen an Zucker und während ich umrührte, überlegte ich, welche Optionen ich sonst noch hatte. Ach, so ein Dreck. Klirrend stellte ich die Tasse auf die Küchenanrichte und stapfte zu dem Telefon im Flur. Es führte doch nichts drum herum und ich sollte mich nicht mehr so kindisch gegenüber meiner Mutter verhalten. Ich tippte die viel zu lange Nummer von dem Notizzettel an der Pinnwand ab. Günstige Vorwahl nicht vergessen, sonst wäre der Anruf eher ein Verlustgeschäft. Ich lauschte, wie eine knisternde Verbindung hergestellt wurde. Nach mehrmaligen Tuten meldete sich endlich jemand.
„Helloooo!“, rief eine helle Kinderstimme.
Ich seufzte entnervt. Nicht das auch noch ...
„Hey, it's me, Ennoah. Can I speak to your mom?“, haspelte ich in meinem schlechten Englisch und dem deutschen Akzent. Meine Halbschwester verstand kein Deutsch, kein einziges Wort, genauso wenig wie meine zwei Halbbrüder. Ich hasste es, mit ihnen sprechen zu müssen.
„Darling, who's on the phone?“, hörte ich im Hintergrund die Stimme meiner Mutter. Gott, konnte die sich nicht mal beeilen? Zeit war Geld, besonders wenn man pro Minute zahlte.
„Dunno ... “, antwortete meine Halbschwester, deren Namen mir spontan auch nicht einfiel. Ja, wir hatten eine unglaublich familiäre Verbindung.
„Hello?“ Na endlich, meine Mutter war dran. Ich verdrehte die Augen. Ihre Stimme klang noch unangenehmer, wenn sie nicht Deutsch sprach.
„Ich bin's, Ennoah“, wiederholte ich mich nochmal, dabei trommelte ich mit den Fingern auf dem Telefontisch und wünschte mir, das Gespräch wäre schon vorüber.
„Oh.“ Sie klang wenig begeistert. „Wie geht's dir?“, fragte sie schließlich nach einer kurzen Pause.
„Geht so. Ich brauch Geld“, kam ich gleich zum Punkt. Ich hatte nämlich keine Lust auf Smalltalk, schon gar nicht so einen teuren.
„Wie viel denn? – Sara, stop it!“, rief meine Mutter, während sie wohl den Hörer kurz abdeckte. Ich wusste, warum ich die Gespräche mit meiner Mutter nicht mochte. „Sorry, wie viel meintest du?“
„Ich brauch mindestens hundert Euro mehr im Monat.“ Ich hatte mal alles nachgerechnet und ich würde das mit den Versicherungen, den Nebenkosten der Wohnung und dem anderen Kram, den ich brauchte, nur alles hinkriegen, wenn sie mir hundert Euro mehr im Monat zukommen lassen konnte und dann wäre es trotzdem noch relativ knapp.
„Hundert Dollar mehr?“, fragte sie. Ich versuchte, mir gerade ihr Gesicht vorzustellen, aber mir fiel ihr Gesicht nicht mehr richtig ein. Sie klang jedenfalls etwas überrascht.
„Nein, hundert Euro! Ehrlich, ich will keine verfickten Dollar. Der Wechselkurs ist wirklich scheiße.“ Gott, das nervte mich immer noch. Früher hatte sie mir alle drei Monate einen Brief geschickt, in dem ein bisschen über die Familie stand, von der ich nichts wissen wollte, und dann lag dem Brief noch ein Bündel Dollarscheine bei. Ich musste jedes Mal zur Bank und sie wechseln lassen, da ging gefühlt ein Viertel allein dafür verloren. Mittlerweile hatte sie sich von Überweisungen überzeugen lassen, anstatt Bargeld. Aber das mit Euro-Dollar-Ding kriegte sie immer noch nicht richtig hin. Ihr Mann verdiente nicht schlecht und sie konnten es sich problemlos leisten, mich finanziell zu unterstützen. Trotzdem war es jedes Mal ein kleiner Kampf, wenn es um Geld ging. Die Hauptmotivation mir welches zu geben, war vermutlich, dass ich ihre neue, wunderbare und perfekte Familie in Ruhe ließ und keine weiteren Forderungen stellte. Schweigegeld, sozusagen.
„Das muss ich erst mit Derrick besprechen und schlag bitte einen anderen Ton an“, erklärte sie mir schließlich. Ich merkte, wie ich mir bei dem Satz zu fest auf die Lippe biss. Hatte erst mitbekommen, dass ich darauf herumkaute, als es weh tat. Gott, war ich angepisst.
„Ich hab hier kein Essen mehr! Ich krieg kaum Geld hier, weil ich leider kein Waisenkind bin und ganz ehrlich, es ist ein bisschen spät jetzt plötzlich Mama spielen zu wollen!“, schrie ich aufgebracht. Dumme Kuh, was dachte die sich eigentlich?
„Ennoah!“ Sie war empört. Als hätte sie jemals Grund dazu gehabt ... Mit was hatte ich eigentlich so eine Mutter verdient?
„Ändere einfach den Dauerauftrag und dann hörst du die nächsten Jahre nichts mehr von mir“, knurrte ich frustriert. Wenn es nicht so dringend gewesen wäre, hätte ich mich bestimmt nicht bei ihr gemeldet und ihren Familienfrieden gestört. Ihr Mann wusste, dass sie ein Kind in Deutschland hatte, aber ich bezweifelte, dass sie es ihren ›neuen‹ Kindern erzählt hatte. Gut, die Zwillinge waren wahrscheinlich sowieso noch zu jung, um überhaupt irgendwas zu verstehen. Aber ich sollte ihr kleines, schmutziges Geheimnis in Deutschland bleiben. Das wusste ich. Deswegen kam auch regelmäßig das Geld.
„Du könntest ruhig etwas dankbarer sein!“ Ich unterdrückte den Impuls, das Telefon vor lauter Frust gegen die Wand zu schmeißen. Ich sollte dankbarer sein? Wofür? Für was zur Hölle sollte ich in irgendeiner Weise dankbar sein? Dass sie mich zurückgelassen hat? Dass sie lieber eine neue Familie ohne mich hatte? Dafür, dass mir schnell lieblos hingekritzelte Briefe schickte, in denen sie mir nur immer wieder zeigte, was sie hatte und wovon ich niemals ein Teil sein würde?
Meine Hand, in der ich den Hörer hielt, zitterte vor unterdrückter Wut. Ich brauchte das Geld, ich brauchte Essen. Mit dem bisschen Kindergeld konnte ich nicht mal vernünftig die laufenden Kosten decken, aber mehr Kohle wollte mir der Staat nicht zugestehen, da ich ja noch meine ach so liebevolle Mutter hatte, die mir helfen konnte.
„Ich bin dir nichts schuldig“, zischte ich nur und war mir nicht sicher, ob man das durch das Knacken und Knistern in der Leitung überhaupt hörte.
„Ich kann dir diese Woche die hundert Dollar überweisen. Ob das immer geht, werde ich mit Derrick besprechen müssen.“ Sie klang jetzt etwas abgehetzt, vielleicht auch, weil Sara wieder angefangen hatte, wie eine Verrückte zu schreien und das auch eine gute Ausrede war, aufzulegen.
„Sorg dafür, dass es bis Ende der Woche da ist“, fügte ich noch hinzu. In den ersten zwei Monaten mit den Überweisungen hatte es mehrere Telefonate gebraucht, bis sie das Geld überwiesen hatte.
„Ja, ja, bis dann.“ Damit hatte sie aufgelegt und ich hörte nur noch ein Tuten in der Leitung. Es schien durch den Flur zu hallen und ich legte auf, weil es mit jedem Tut unerträglich einsamer wurde. Das Gespräch war anstrengender gewesen, als erwartet, und ich wünschte mir, dass Eddy hier wäre und mich einfach im Arm halten würde. Aber ich konnte mich nicht dazu bringen, ihn anzurufen. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er meine Bitte abgelehnt hätte.
Es hatte am Tag der Beerdigung nicht geregnet. Die Sonne hatte grell gestrahlt und viel zu deutlich den Kummer der Trauergäste abgezeichnet. Wenn es geregnet hätte, hätte man sich unter einem Schirm verstecken können, hätte man das Wasser, das über die Wangen lief, auf die niederprasselnden Tropfen schieben können, hätte alles nicht so real gewirkt. Aber mitten im Hochsommer, da konnte man sich einfach nicht diesem Kontrast der schwarzen Trauer und dem bunten, blühenden Leben entziehen. Es hätte keinen Tag gegeben, der die Beerdigung hätte schlimmer wirken lassen, als dieser. Jetzt verstand ich, warum sie in Filmen Beerdigungen immer im Regen zeigten. Alles andere hätten die Zuschauer als zu verstörend empfunden. Der Pfarrer murmelte irgendwelches Zeug, dem ich nicht zuhören konnte. Ich war froh, dass es bei uns nicht üblich war, dass man Grabreden hielt. Ich wollte nur noch, dass man dieses Loch zuschüttete und ich meine Ruhe hatte. Ich wollte auch keinen der anderen Trauergäste sehen und schon gar keine Beileidsbekundungen über mich ergehen lassen. Man fühlte sich nur noch schlechter, wenn sie einem mit diesem bedauernden Blick ansahen. Hatte der arme Junge jetzt auch noch seine Großmutter verloren, er hatte doch jetzt gar niemanden mehr! Und dann zerrissen sie sich den Mund darüber, dass meine Mutter nicht länger hier blieb. Sie hatte das Nötigste erledigt und war gleich wieder geflogen. Für sie war ihre Familie in Deutschland gestorben und Geschichte. Als hätte ich das nicht eh schon gewusst. Ich stand am Grab und beobachtete, wie die Erde über den Sarg rieselte, die darauf geworfenen Blumen mit runterriss und schließlich ganz bedeckte. Jemand hatte mich am Arm genommen und weggezogen. Nicht meine Mutter.
Ich saß da und starrte Eddy konzentriert an, während er über seinen Block gebeugt war, um eine Arbeit für die Berufsschule zu erledigen. Eddy hatte vor einem Jahr seinen Realschulabschluss gemacht und war jetzt mitten in der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Was ich für ihn ziemlich unpassend fand. Aber Eddy war es egal gewesen, Hauptsache ein Job, hatte er gemeint. Er hatte die Stirn leicht krausgezogen und tippte ungeduldig mit dem Stift auf den Block, wenn er nicht weiterkam. Früher hatte er die Angewohnheit gehabt, auf den Stiften herum zu beißen. Aber er hatte es sich irgendwann mal abgewöhnt, weil das Mädchen wohl voll uncool fanden. Ich hatte diese Eigenheit von ihm eigentlich immer gemocht.
„Mann, Enni, hast du nichts Besseres zu tun, als mich anzustarren?“, murrte er schließlich und schaute missmutig auf. Ich grinste ihn nur an.
„Nicht so direkt. Außerdem mach ich Naturstudien“, erklärte ich ihm und tippte dabei mit meinem Bleistift auf meinen Zeichenblock. Ich fand eine Porträtstudie von Leuten, die mich umgaben, würde in einer Mappe sicher gut aussehen. Und da Eddy einer der Personen war, mit denen ich mit Abstand die meiste Zeit verbrachte, hatte ich entschlossen, dass er definitiv dafür herhalten musste. Es war interessant einen Menschen mal ganz genau zu betrachten. Ich machte das eigentlich selten, selbst bei Eddy, den ich schon hunderttausend Mal gesehen hatte. Es kam einem so vor, als würde man den Menschen plötzlich völlig neu sehen, Dinge an ihm wahrnehmen, die man davor nie bemerkt hatte. In jedem Fall sehr spannend, besonders weil es Eddy war. Bis jetzt hatte ich nie bemerkt, dass er immer noch ganz blasse Sommersprossen hatte. Sie passten nicht zu ihm, weil sie ihn zu jung aussehen ließen. Aber irgendwie freute ich mich darüber, dass sie mir aufgefallen waren.
„Sitzt man dafür nicht irgendwie draußen und malt Bäume?“, kam es von ihm, immer noch den gleichen Blick.
„Hallo, Baum!“ Ich lachte und er bewarf mich mit seinem Stift, hatte dabei aber ein Grinsen im Gesicht. Es war einfach zu lustig, ihn so nervös von meinen Blicken zu sehen. Nicht, dass es irgendwas gab, das ihm peinlich sein müsste. Dass seine Ohren rot glühten, machte das Ganze noch viel unterhaltsamer.
„Du, wenn das nicht für deine Mappe wäre ...“
„Ja, ja, ich weiß schon. Du musst mich echt mögen und alles.“ Ich winkte ab, tat so, als wäre es nicht weiter von Bedeutung für mich und warf ihm seinen Stift wieder zurück, der in meinem Schoß gelandet war.
„Übrigens, andere Leute würden Geld dafür zahlen, dass ich sie zeichne.“
„Soll ich mich geehrt fühlen, Maestro?“ Er fing den Stift geschickt, aber schien keine Motivation zu haben, weiter an seinen Hausaufgaben zu arbeiten.
„Kannst du, ich würde das nicht bei jedem machen.“ Bei den meisten anderen Menschen würde es mich nämlich stören, so viel Zeit darauf zu verwenden, sie zu zeichnen. Für meine Mappe wäre es vielleicht ganz gut, wenn ich mehr als nur Eddy und seine Familie porträtieren würde. Aber eigentlich wollte ich im Moment nur Eddy zeichnen, vielleicht auch als Entschuldigung ihn einfach nur anzusehen.
„Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du mich so anschaust.“ Eddy seufzte und legte den Stift schließlich in sein Mäppchen. Seine Ohren waren immer noch rot.
„Schüchtern?“ Ich zwinkerte ihm zu.
„Du bist ein Idiot. Mann, ich hab keinen Bock mehr. Komm, wir gehen raus.“ Ohne, dass ich noch viel widersprechen konnte, hatte sich Eddy schon erhoben und war einfach an mir vorbeimarschiert, Richtung Tür. Manchmal konnte er etwas eigenwillig sein. Ich packte meinen Zeichenkram ein und folgte ihm. Er war schon im Flur und hatte seine Schuhe an, wartete wohl nur noch auf mich. Ich mochte das Gefühl, wenn Eddy mich erwartungsvoll ansah. Es bedeutete meistens, dass jetzt irgendwas passieren würde. Etwas Aufregendes oder vielleicht auch nur ein Gespräch, das einem das Leben leichter machte. Es war in jedem Fall etwas Positives und ich würde Eddy überall hinfolgen. Egal wann, egal wo, ich würde mitkommen. Er musste mich nur mit diesem Blick anschauen.
Ich schulterte meinen Rucksack und wollte gerade das Klassenzimmer verlassen, als mir Nico entgegenkam. Ich hatte ihn erst nicht bemerkt, was mir bei seiner Größe niemand verdenken konnte. Aber er steuerte direkt auf mich zu. Ich versuchte ihm aus dem Weg zu gehen und beschleunigte mein Tempo etwas. Vielleicht wollte er gar nicht zu mir ...
„Hey, Ennoah, warte mal“, rief er schließlich und ich wägte meine Chancen ab, wie glaubhaft es war, dass ich ihn nicht gesehen oder gehört hatte. Aber da er mich direkt angesprochen hatte, wäre es wohl ein ziemlicher Arschloch-Move, einfach weiter zu gehen. Auch wenn mich Nico schon mit seiner bloßen Anwesenheit nervte.
„Was willst du?“, fragte ich schließlich, als ich stehengeblieben war. Wir hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit er mich nach dem Porträt gefragt hatte. Was nicht weiter verwunderlich war, da wir wirklich überhaupt nichts miteinander zu tun hatten.
„Ich brauch noch deinen Zettel für die Studienberatung. Du bist der Einzige, der ihn noch nicht abgegeben hat und ich hab dich nie erwischt“, erklärte er mir. Stimmt ja, Nico war Schulsprecher, passte zu ihm, trotz des vielen Metalls. Wenigstens fragte er nicht schon wieder nach einer Zeichnung ...
„Ach so.“ Wenn es nur das war. Ich hatte den Zettel noch irgendwo in meinem Rucksack, keine Ahnung, ob ich den schon ausgefüllt hatte. Eher nicht. Ich suchte trotzdem danach, während ich von ihm beobachtet wurde. Hatte der nichts Besseres zu tun? Endlich hatte ich den Wisch gefunden und stellte fest, dass er nur außerordentlich zerknittert war, aber sonst noch so aussah, wie ich ihn bekommen hatte, nämlich leer. Mist.
„Sorry, hab den noch nicht ausgefüllt. Soll ich ihn dir morgen geben?“
„Hm, ungern. Kannst du das nicht jetzt machen?“
Können schon, war nur die Frage, ob ich auch wollte. Aber ich verkniff mir das. Immerhin hatte mich meine Oma ordentlich erzogen und wenn man mich nicht gerade zu einem unpassenden Zeitpunkt um etwas anbettelte, versuchte ich höflich zu sein. Selbst Nico gegenüber, der hier gerade auch nur seine ›Pflicht‹ tat.
„Wenn's sein muss. Braucht aber einen Moment.“ Ich schaute mich nach einer Möglichkeit um, wo ich das Blatt hinlegen konnte, fand aber auf dem Schulflur nichts. Also schob ich das Blatt zwischen meine Lippen, um nach einem Stift in meiner Tasche zu kramen.
„Kein Ding, ich hab Zeit“, kam es gut gelaunt von Nico. Wenn er so viel Zeit hatte, warum konnte er dann nicht bis morgen auf diesen dummen Zettel warten? Na ja, war jetzt auch schon egal. Ich hatte einen Stift gefunden und versuchte mit dem Zettel an die Wand gedrückt, den Kram auszufüllen. Bestimmte Studienwünsche? ›Kunst‹ kritzelte ich hin und fragte mich, ob man das überhaupt lesen konnte. Es war echt nicht einfach so zu schreiben. So ein Dreck. Na ja, wenn sie es nicht lesen konnten, war es nicht mein Problem.
„Hier.“ Ich gab Nico den Zettel, der ihn interessiert musterte.
„Kunst, hm?“, meinte er schließlich und ich fragte mich, was das sollte. Natürlich Kunst oder sollte ich bei meiner unglaublichen, nicht existenten Sprachbegabung und dem wahnsinnigen, naturwissenschaftlichen Talent, das ich nicht hatte, was anderes studieren?
„Sieht so aus.“ Ich zuckte mit den Schultern, packte meinen Stift wieder weg. Damit war die Sache für mich erledigt. Vielleicht sollte ich noch einkaufen gehen. Das Geld von meiner Mutter müsste eigentlich schon da sein, aber ich hatte mich nicht wirklich aufraffen können, zur Bank zu gehen und das zu checken. Und so dringend war es auch nicht gewesen, da Eddys Mutter mir eine Packung Kaffee gesponsert hatte und ich bei ihnen gegessen hatte. Ich würde ihnen ja für ihre Gastfreundlichkeit was geben, aber ich hatte ihnen mal Geld angeboten und sie hatten es abgelehnt.
„Und was machst du heute noch so?“ Ich schreckte auf. Mir war gar nicht aufgefallen, dass Nico mir gefolgt war. Wollte er nicht den Zettel im Lehrerzimmer abgegeben? War doch so dringend gewesen …
„Keine Ahnung. Einkaufen?“, gab ich ehrlich zurück, da ich von der Frage etwas überrumpelt war.
„Du siehst mir nicht wie der Typ aus, der shoppen geht.“ Dabei warf er mir einen komischen Blick zu und ich hatte das Gefühl, als würde er da gerade etwas falsch verstehen.
„Essen einkaufen, du weißt schon. So was, das man tut, um nicht zu verhungern“, erklärte ich freundlich, wie ich war.
„Stimmt ja, du wohnst alleine, nicht?“ Das war doch ein Verhör. Auch wenn Nico dabei arglos klang, ich konnte es nicht leiden, ausgefragt zu werden. Und das Thema war sowieso heikel. Meine Wohnung war zu groß, zu leer und zu still, um sie als angenehm zu empfinden. Ich hasste das Gefühl nach Hause zu kommen und zu wissen, dass einfach niemand da war, der dort auf mich wartete.
„Und?“, fragte ich genervt zurück. Ich wüsste sowieso nicht, was ihn das anging.
„Nee, find ich cool. Ich würd auch gern von Zuhause ausziehen. Ist manchmal schon ätzend sich immer das Gelaber von meinen Alten anzuhören und so.“ Und mit jedem Wort, das er von sich gab, machte er sich bei mir noch unbeliebter. Ich unterließ es, ihm zu sagen, dass ich ganz bestimmt nicht freiwillig allein lebte und lieber Eltern hätte, die mir manchmal auf den Geist gingen, als eine Mutter, die einfach nach Amerika verschwand und jahrelang nichts von sich hören ließ.
„Dann zieh halt aus.“ Und merke, was für ein Elend das war!
„Keine Kohle.“ Er zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich muss noch ins Sekretariat, wir sehen uns ja dann.“ Er winkte mir noch zu und war dann einfach in einen Gang eingebogen. Weg war er. Sollte mir recht sein. Ich verstand sowieso nicht, warum er mir zurzeit ständig auf die Pelle rückte. Seit wir beide in Geschichte vierstündig waren, schien er das immer wieder mal als Entschuldigung zu nehmen, sich mit mir zu unterhalten. Ich hatte ja eigentlich gedacht, dass wir schon in der Zehnten darüber eingekommen waren, dass wir uns nicht mochten.
Das ›Su Casa‹ war verraucht und mir war eigentlich mehr nach gemütlichem Chillen mit Bier und Pizza bei mir daheim gewesen. Aber Eddy wollte unbedingt weggehen, er hätte es den anderen versprochen. Den anderen ... Tz! Ich merkte, wie mich Manuel – oder war es Marcel, ich konnte die beiden nie so ganz unterscheiden – mit einem missmutigen Blick anstarrte. Ich trank einen großen Schluck von meinem Cocktail, auf den Eddy mich eingeladen hatte, und fühlte mich mit etwas mehr Alkohol im Blut Manuels Blicken besser gewachsen. Er konnte mich nicht sonderlich leiden, aus dem ganz offensichtlichen Grund, dass ich bei den Mädchen bedeutend besser ankam, als er. Was kein Kunststück war, da sich keine für ihn interessierte. Er war ja auch langweilig mit seinen schnöden, straßenköterblonden Haaren, den fahlen, blauen Augen mit dem immer etwas notgeilen Schimmern, wenn er Brüste sah, und seine Klamotten waren zwar in, standen ihm aber nicht wirklich, genau wie seine Frisur. Wäre ich ein Mädchen, ich würde ihm auch keinen zweiten Blick zuwerfen.
Ich sah objektiv betrachtet vermutlich kaum spannender aus, aber ich wirkte wenigstens lässig, cool und war, na ja, groß. Mädchen standen auf große Kerle, die sie nicht mit ihren Blicken auszogen. Ich hatte so was nicht nötig. Ich wusste, wie eine Frau nackt aussah, und hatte das auch schon oft genug gezeichnet. Es hatte natürlich nach wie vor seinen Reiz, aber war nicht mehr so aufregend wie noch mit fünfzehn. Okay, für Manuel wahrscheinlich schon. Ich war mir recht sicher, dass der noch keinem Mädchen an die Wäsche durfte und vermutlich wurmte ihn deshalb meine Gesellschaft noch mehr. Ich war halt nicht gut für jedermanns Ego. Ich musste ja sagen, dass ich froh war, dass zwischen Eddy und mir niemals so was gestanden hatte. Na ja, wenn man mal von der dummen Sache mit Ekatarina absah, die sich sowieso seit einigen Monaten erledigt hatte, ihm zuliebe. Wenn ich mich zwischen irgendeinem Mädchen, und war sie noch so atemberaubend schön, wie Ekatarina es war, und meinem besten Freund entscheiden müsste, würde meine Wahl immer auf Eddy fallen. Mädchen gab es wie Sand am Meer, hübsche Mädchen immer noch so oft wie Muscheln, aber für jemanden wie ihn müsste ich Welten absuchen.
„Er hat übrigens schon eine eigene Wohnung!“ Eddys Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich schaute verwirrt zu ihm rüber. Er unterhielt sich gerade mit einem hübschen Mädchen, das jetzt interessiert in meine Richtung sah. Ich lächelte kurz und gesellte mich zu ihnen.
„Enno“, stellte ich mich knapp vor und das Mädchen errötete leicht, warum auch immer. Eddy grinste mich breit an und ich verstand ihn nicht. Warum erzählte er von mir, wenn er eigentlich dem Mädchen Komplimente machen sollte?!
„Stimmt es, dass du Künstler bist?“, fragte schließlich das Mädchen mit großen Augen und ich schaute kurz zu ihm. Da hatte er wohl etwas dick aufgetragen. Ich wollte ihn allerdings nicht bloßstellen und setzte ein selbstbewusstes Grinsen auf.
„Na ja, Künstler ist ein weiter Begriff ...“ War kein Nein, kein Ja, klang aber cool. Künstler, was war das schon? Ich mochte aber den Gedanken irgendwie, dass Eddy gerne mit mir angab. Er mochte, was ich machte. Mir war es wichtig, dass ich ihm etwas wert war.
„Kannst du mich malen?“ Ihre Augen glitzerten aufgeregt und ich zuckte mit den Schultern. Können schon, wollen war eine andere Sache. Sie kam mir irgendwie auch zu jung vor für den ganzen Kram. Immerhin würde ich sie nur zeichnen, wenn wir auch Sex hätten. Und ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich dann nicht strafbar machen würde. Ich war immerhin schon volljährig und sie sehr wahrscheinlich nicht.
„Kommt drauf an, was du mir zu bieten hast.“ Ich ließ mein Blick über sie gleiten und wusste, dass ich mit diesem Spruch wie ein Schmalspurcasanova klang. Bei manchen Mädchen funktionierte es, die schlauen schreckte es ab. Gute Möglichkeit etwas auszusieben. Sie lächelte unsicher und schaute zu Eddy. Sie war also eine der schlauen. Eddy weniger, der grinste uns nur besoffen an. Wahrscheinlich hatte er uns gar nicht mehr zugehört. Idiot, ich war doch nur wegen ihm hier und jetzt sollte ich mit irgendwelchem Mädchen flirten.
„Machst du auch was Spannendes?“, wechselte ich das Gesprächsthema und lehnte mich gegen die Wand, während ich lässig und etwas desinteressiert über die Menschen hier hinwegsah. Sie wollte gar nicht, dass ich ihr meine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Sie wollte darum kämpfen müssen, für mich interessant zu sein. Dann konnte sie sich einbilden, ihr Gerede wäre der Grund, warum ich sie wieder beachtete. Sie hatte ganz hübsche Brüste, nicht so groß, aber man konnte sehen, dass sie eine schöne Form hatten und gut zu ihrem restlichen Körper passten. Sie war ziemlich zierlich. Ich merkte, wie ich sie unbewusst mit Ekatarina verglich, und dass das Mädchen vor mir definitiv nicht mithalten konnte. Ekatarina hatte Modelmaße gehabt, groß, schlank und der wilde Ausdruck in ihren Augen, der pure Wahnsinn. Manchmal dachte ich noch an sie, vor allem, wenn ich mir Zeichnungen mit ihr ansah. Ich hatte es ziemlich genossen, sie zu zeichnen und das nicht nur wegen dem Sex. Aber wenn dann Eddy seinen Arm um mich legte, so wie jetzt, mich glücklich angrinste und mir dann erzählte, dass ich sein bester Freund war und das Leben mit mir einfach immer nur cool war, dann war mir Ekatarina so scheiß egal.