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Italien 1939: Sir Perceval Holmes und seine Frau überreden das Ehepaar Stableford zu einem Kurztrip nach Pisa. Doch schon am zweiten Abend stranden die Freunde bei Vollmond in einem winzigen Bergdorf. Als der englische Gründer der dort ansässigen Künstlerkolonie nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft tot auf dem Kirchplatz gefunden wird, beginnen die Vier zu ermitteln. Doch es gibt ein Problem: Alle in Frage kommenden Verdächtigen befanden sich zur Tatzeit hinter den Toren eines hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenen Gutshofes. Ein unmöglicher Mord, schwärmt Holmes, während die Einheimischen den Teufel für den Täter halten, der einer Sage nach bei Vollmond durch die Gassen tanzt und jeden tötet, der ihm zu nahe kommt. Stableford hat für derlei Aberglauben nichts übrig, aber kann er vor ihrer Weiterreise den Mörder überführen?
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Seitenzahl: 278
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Das Böse unter dem Mond
Ein Stableford-Krimi
von Rob Reef
Für Ciuffo
44°15'31.864"N10°5'41.633"E
»[Der Detektivroman] ist keine Geschichte, sondern ein Spiel (…).«
(Roger Caillois: The Detective Novel as a Game)
»Das Spiel hat begonnen.«
(Sir Arthur Conan Doyle: The Adventure of the Abbey Grange)
Dramatis personae
Besitzer des Kolonieanwesens:
Maria Alfieri
Davide Alfieri, ihr Gatte
Lunatisten:
Harry Mulligan, Maler
Jane Bishop, Bildhauerin
Miles Staunton, Maler & angehender Professor
Christopher Loper, Maler
Elsa Schmidtbauer, Bildhauerin
Cyril Frampton, Maler
Ava Frampton, Schriftstellerin, seine Gattin
Hélène Pion, Malerin
Alice Rey, Malerin
Reisende:
Don Piero Scacchi, katholischer Priester
John Stableford, Literaturprofessor & Amateurdetektiv
Harriet Stableford, geb. Taylor, seine Gattin
Sir Perceval Holmes, Psychiater
Lady Penelope Holmes, geb. Hatton, Psychoanalytikerin, seine Gattin
Kapitel 1
Die Irrfahrt
»Verdammt!« Sir Perceval Holmes, der 3. Baronet of Durbar, schlug mit der flachen Hand auf die Motorhaube des knallroten BSA Scout und trat, vielleicht um diesen barbarischen Akt des freimütig zur Schau gestellten Unmuts zu kaschieren oder auch nur um einen spontan gefühlten Schmerz zu überspielen, anschließend beherzt gegen das linke Vorderrad des unter einem Olivenbaum geparkten Zweisitzers.
Eine Gruppe von Staren flog auf und suchte erschrocken das Weite und das Singen der Zikaden war schlagartig verstummt. Penelope schüttelte den Kopf, während ihr Gatte leise vor sich hin schimpfend das fünfte Blatt der auf der Haube liegenden Straßenkarte des Touring Club Italiano zu glätten begann. Einmal mehr betrachtete der großgewachsene, hagere Mann den Plan und wandte sich dann endlich an John, der am Baumstamm lehnte und missmutig auf dem Mundstück seiner Bulldog-Pfeife herumkaute.
»Es ist nicht auf der Karte eingezeichnet«, sagte Percy mürrisch.
»Das bemerkten Sie bereits«, antwortete sein Freund nüchtern und Harriet setzte leise »mehrmals« hinzu.
Penelope seufzte. »Um genau zu sein elf Mal in den letzten drei Minuten, Percy! Zumindest, wenn man die Variationen wie ›Es ist nicht da‹, ›Ich finde es nicht‹, ›Hier müsste es doch sein‹, ›Ich kann mir das nicht erklären‹ und ›Verdammt!‹ hinzuzählt.«
Percy musste lachen und wirkte dabei noch mehr als sonst wie eine heitere Karikatur typischer Sherlock-Holmes-Illustrationen. »Es tut mir leid. Ich habe wohl die Contenance verloren und entschuldige mich bei euch allen dafür. Aber wenigstens sprichst du endlich wieder mit mir, Hattie!«
Penelope schüttelte abermals den Kopf, wobei sich einige Locken ihres langen dunkelbraunen Haars in ihr Gesicht verirrten. In einer für sie typischen Geste warf sie den Kopf in den Nacken und sah auf einmal schon deutlich freundlicher aus.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie das Dorf suchen, in dem sich Ihre Zielperson befinden soll?«, fragte John ruhig.
»Sicher, aber es handelt sich tatsächlich um unsere Zielperson, Stableford! Mir ist bewusst, dass sich H. M. mit seiner persönlichen Bitte nur an mich wandte. Dennoch schien er beruhigt zu sein, als er hörte, dass Sie mich rein zufällig auf dieser höchst inoffiziellen Mission des Inlandsgeheimdienstes im Ausland begleiten könnten.«
Harriet biss sich auf die Lippe, denn ihr war nur allzu klar, was H. M., den Chef des militärischen Geheimdienstes, dazu veranlasst hatte. Percy, mittlerweile fast 50 Jahre alt, war ein mutiger Mann. Ein Kriegsheld, der trotz seiner Tätigkeit als Psychiater ein eigenes Büro in Whitehall besaß. Er war als Johns Kontaktperson zugleich dessen Vorgesetzter, aber John war der eigentliche Kopf dieses Duos und hatte das schon einige Male eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Percy war voller Tatendrang, doch ohne Johns Navigationskünste oft verloren.
Penelope sah das wohl genauso. Sie zog die Lippen zusammen, so als ob sie ein Schmunzeln zu unterdrücken suchte.
Percy fuhr indessen unbeirrt fort: »Es heißt Quarazza und müsste ungefähr hier liegen.« Er zeigte mit einem langen dünnen Finger auf die obere rechte Ecke der Straßenkarte. »In Sarzana nahmen wir den Abzweig Richtung Aulla, folgten dann der Straße 63 und bogen etwa hier nach Bigliolo ab.«
John trat näher, betrachtete die Karte und nickte.
»H. M. meinte, wir würden von dort nach Agnino gelangen, einem Dorf ganz in der Nähe von Quarazza. Aber schon dieser Ort fehlt als Referenz auf der Karte.«
»Sagten Sie gestern nicht, dass dieses Quarazza etwa in der Mitte eines angenommenen Dreiecks zwischen Licciana, Comano und Fivizzano liegen würde?«
»H. M. sagte das, aber seine Beschreibungen der Lage des Dorfes, in dem sich diese vermaledeite Künstlerkolonie befinden soll, waren eher militärischer Natur. Er sprach von einem Weiler mit einer fast geschlossenen Bebauung und weniger als zwanzig Einwohnern, der am Hang eines bewaldeten Bergsattels auf circa 2000 Fuß liegen würde. Was soll man damit anfangen? Schließlich wollen wir Quarazza weder aus der Ferne beschießen, noch mit einem Bataillon zu Fuß erobern! Und was nützt uns eine angenommene Mitte, wenn wir keinen Weg finden, der uns dorthin führt? Schauen Sie sich die Gegend an! Es gibt hier kaum Straßen.«
»Dennoch sollten wir, denke ich, diesen Hinweis beherzigen und uns einfach bei nächster Gelegenheit rechts den Hang hinauf schlagen. Haben wir nicht gerade einen Feldweg gekreuzt?«
»Ist das Ihr Ernst, Stableford?«
»Nun, ja! Es ist der einzige Weg, der uns in dieses angenommene Dreieck hineinführt. Und immerhin haben wir zwei Wagen. Einer wird die Steigung vielleicht bewältigen.«
»Aber nur unser Bentley hat vier Sitze! Sollen wir auf Ihrer Persenning Platz nehmen, wenn unser Wagen schlapp macht?«
»Dieses überschaubare Risiko müssen wir wohl eingehen, Holmes. Wir können nicht ewig ziellos umherfahren und auf ein Wunder hoffen. Das Benzin wird uns knapp und in weniger als drei Stunden geht die Sonne unter. Im Dunkeln haben wir gewiss keine Chance, Quarazza zu finden, meinen Sie nicht?« John atmete tief ein und fuhr dann fort: »Außerdem brauche ich bald eine Pause. Diese feuerrote Sardinenbüchse macht meinem Rücken zu schaffen und seit La Spezia plagen mich stechende Kopfschmerzen.«
»Nun gut. Sie sehen wirklich etwas malade aus, mein Freund. Dann lasst uns also den Berg erobern! Mit etwas Glück könnte dort oben Agnino liegen.«
Percy faltete das Kartenblatt zusammen und Harriet sah zu, wie er und Penelope in den dunkelgrünen Bentley 8 einstiegen, der nur wenige Yards von ihrem Roadster entfernt stand. Die Limousine wurde gestartet und rollte langsam rückwärts die Straße hinunter. Nach etwa einhundert Yards blieb sie stehen, um kurz darauf in den von John angesprochenen Feldweg einzubiegen. Das Getriebe krachte und man konnte Percys Fluchen hören, bis es von dem ohrenbetäubenden Motorengeheul verschluckt wurde, mit dem sich der Bentley bergauf zu quälen begann.
Harriet folgte dem Schauspiel eine Weile und sah dann zu John hinüber. Der saß jetzt unter dem Olivenbaum und schien eingeschlafen zu sein. Seine entspannten Züge ließen ihn deutlich jünger als Mitte vierzig aussehen und selbst die markante Narbe über seiner rechten Augenbraue, die ihm sonst etwas Düsteres verlieh, vermochte dem Gesichtsausdruck der völligen Unschuld nichts anzuhaben. Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. Etwas Ruhe vor der hoffentlich letzten Etappe dieser absurden Odyssee würde ihm sicher guttun.
Der Schrei eines Raubvogels ließ sie aufblicken. Er kreiste über dem bewaldeten Nachbarhügel und seine Silhouette, die sich scharf von dem wolkenlosen blauen Himmel abzeichnete, ließ sie auf einen Bussard tippen. Sie bewunderte die Anmut des Tieres. Plötzlich überkam sie, nicht zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch, wie aus dem Nichts ein tiefes Gefühl von Traurigkeit. Hinter jedem schönen Anblick, jedem freudigen Gedanken schien es zu lauern und offenbarte sich stets als die unendliche Sehnsucht nach ihrer Tochter Charlotte, die sie in einem Anflug von schwärmerischer Begeisterung leichtsinnig für ihren fünftägigen Ausflug in der Obhut ihrer Familie zurückgelassen hatte.
Schuld an all dem war natürlich Percy! Wer sonst? Seine romantischen Schilderungen der italienischen Lebensart waren zu verlockend gewesen und seine Unbekümmertheit gegenüber allem Ernsthaften hatte sie nicht zum ersten Mal überrumpelt. Und jetzt? Jetzt waren sie im Nirgendwo gestrandet. Dabei hatte ihre Reise so vielversprechend begonnen!
Harriet schloss die Augen und dachte darüber nach, wie es angefangen hatte. Nicht erst auf dem Kontinent. Nein. Angefangen hatte es eigentlich vor einem guten Jahr in Upper Biggins. Dort, auf der Geburtstagsfeier ihres Vaters, waren alle vier Taylor-Schwestern seit langer Zeit einmal wieder zusammengekommen. Und in einem jener schwesterlichen Momente, die Harriet immer an Jane Austen denken ließen, hatte Emily ihnen das erste Mal von Jacques Martin erzählt, einem mehr als wohlhabenden Hotelier aus Nizza.
Die eigentlich eher spröde Emily hatte ihn auf einer Reise kennengelernt und sich bis über beide Ohren in den charmanten Franzosen verliebt. Als Jacques etwa drei Monate später in ihrer Begleitung nach Yorkshire gereist war, um offiziell um ihre Hand anzuhalten, hatte sich Harriets – und Emilys – Vater, der Vikar von Upper Biggins, aufgrund von Monsieur Martins katholischem Glauben allerdings zunächst skeptisch gezeigt. Doch da ihre Mutter Frankreich und alles Französische und der Vikar seine Frau und das gute Leben an ihrer Seite liebte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch er seinen Segen zu dieser Verbindung gegeben hatte und Emily mit ihrem Verlobten und dem Versprechen auf eine große Hochzeitsfeier an die Côte d’Azur entschwunden war.
Dann, vor etwa drei Monaten, hatte Harriets Familie die Einladung erreicht. Tatsächlich hatte sich Jacques Martin nicht lumpen lassen. Er hatte einen ganzen Schlafwagen 1. Klasse des legendären »Train Bleu« angemietet, und so waren die Taylors mit drei Töchtern, zwei Schwiegersöhnen und drei Enkelinnen, von einem eigenen Steward wohlbehütet, von Paris nach Nizza gereist, nur um dort in dem nicht weniger luxuriösen Hotel des dritten Schwiegersohns in spe einquartiert zu werden. Die Stimmung war ausgelassen gewesen und die Vorfreude groß, als völlig unerwartet eines Abends Percy und Penelope in der Halle des Grand Hotel Splendid erschienen waren.
Unerwartet? Harriet öffnete die Augen und sah zu John hinüber. Hatte ihn Percys Ankunft tatsächlich genauso überrascht wie sie? Oder hatte er womöglich schon etwas von diesem ominösen »Auftrag« gewusst?
Nun, wie dem auch gewesen sein möge, Percy und Penelope hatten zur selben Zeit den Kontinent bereist und waren, da sie den Routenvorschlägen in Freestons »The Cream of Europe for the Motorist« gefolgt waren, ganz zufällig oder eben auch nicht ganz so zufällig ebenfalls in Nizza gelandet. Sie waren auf einer Art verspäteter Hochzeitsreise, denn aufgrund der Vorkommnisse auf Slane1 hatten sie diese zunächst auf unbestimmte Zeit verschieben müssen. Doch nun war es so weit und das unverhoffte oder eben nicht ganz so unverhoffte Aufeinandertreffen hatte irgendwie die Idee aufkeimen lassen, ein paar Tage zusammen zu reisen, denn auch John und Harriet waren bisher nie wirklich auf einer Hochzeitsreise gewesen, wenn man von ihrem schauerlichen Ausflug nach Schottland2 bald nach ihrer Vermählung einmal absah.
Wer wem zuerst den sicher in einer Weinlaune geborenen Vorschlag einer fünftägigen gemeinsamen Mini-Hochzeitsreise entlang der italienischen Riviera und dann hinunter bis nach Pisa gemacht hatte, war Harriet bis heute unklar. Zeit bis zur eigentlichen Hochzeitsfeier ihrer Schwester war jedenfalls genug und die Begeisterung war auf allen Seiten spürbar gewesen. Penelope freute sich ganz offensichtlich auf gemeinsame Tage mit Harriet. John sehnte sich nach Zweisamkeit mit seiner Frau. Harriets Mutter träumte von ungestörter Zeit mit ihrer Enkelin und was sprach schon dagegen, Charlotte in ihrer Pflege zu lassen, war doch Harriets Schwester Jane dabei, die selbst zwei Mädchen aufgezogen hatte und ganz gewiss die mütterlichste Tochter des Taylor-Haushaltes war. Selbst der Vikar hatte sie bestärkt, ein paar Tage mit ihren Freunden in Italien zu verbringen. Harriet vermutete allerdings, dass er einfach Percy aus dem Weg haben wollte, der ihm seit seinem Auftritt als Johns Trauzeuge suspekt war.
Und sie selbst? Auch sie war begeistert gewesen. Zumindest bis zum gestrigen Abend in Portofino, wo ihnen Percy nach einem ausgezeichneten Mahl am Hafen von dem »kleinen Abstecher« erzählt hatte, um den ihn H. M. kurz vor ihrem Reiseantritt halboffiziell gebeten hatte.
Nun waren Harriet und Penelope solche »Überraschungen« eigentlich schon gewohnt. Beide waren längst in die geheimen Umtriebe ihrer Männer eingeweiht und hatten an der Lösung einiger Fälle auch selbst aktiv mitgewirkt. Percys »Geständnis« hatte dennoch wie eine kalte Dusche gewirkt und die Frauen waren sich sofort einig gewesen, dass ausgerechnet dieser kurze, als »Hochzeitsreise« titulierte Ausflug nicht unter dem Rubrum eines »Falles« stehen dürfe. Folgerichtig waren Percys Beschwichtigungsversuche, es handele sich bei dem minimalen Umweg lediglich um einen dem Staat dienenden Depeschendienst, ins Leere gelaufen. Dass Harriet und Penelope am nächsten Morgen dennoch zugestimmt hatten, die Reise fortzusetzen, war wohl einzig dem Umstand geschuldet, dass sie sich letzten Endes dem König und dem Vaterland genauso verpflichtet fühlten, wie es John und Percy taten. Allerdings hatten beide Männer im Laufe des Tages lernen müssen, dass ihre Frauen diese gefühlte Verpflichtung gegenüber dem Staat vollkommen von einer persönlichen Vergebung gegenüber ihren Ehegatten trennen konnten.
Während Harriet auf Johns Armbanduhr blickte, spürte sie, wie ihr Unmut über den »Abstecher« wieder aufzuwallen begann. Sie ließ seine Hand los, stand auf und beugte sich zu ihm hinunter.
»John?«, sagte sie unnötig laut.
»Hm?«
»Ich denke, wir sollten aufbrechen. Ich kann den Bentley schon seit einiger Zeit nicht mehr hören.«
»Natürlich! Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?«
»Kurz vor halb sechs.«
»Dann bleiben uns noch zweieinhalb Stunden bis zum Sonnenuntergang.«
Fünf Minuten später nahmen sie die Verfolgung auf. Der rote BSA, den ihnen ihr zukünftiger Schwager für diesen Ausflug großzügig überlassen hatte, flog den Hang hinauf und nach kurzer Zeit kamen weiter oben Häuser in Sicht. Voller Zuversicht bogen sie unterhalb derselben endlich wieder auf eine befestigte Straße ein, folgten dieser in einer engen Linkskurve um eine Hausecke herum und kamen gerade noch rechtzeitig mit quietschenden Reifen hinter Percys Bentley zum Stehen. Ihre Aufholjagd hatte ein abruptes Ende gefunden, denn die torbogenartige Durchfahrt in das Dorf hinein hatte sich augenscheinlich als zu schmal für die Kotflügel der Limousine erwiesen.
Sie stiegen aus und schauten sich die deformierten Karosserieteile an. Man musste kein Meisterdetektiv sein, um zu folgern, dass Percy nicht gebremst hatte, sondern beim Versuch, das Tor rasant zu durchqueren, mit dem Wagen einfach steckengeblieben war. Aber wo waren Percy und Penelope?
»Ah! Da seid ihr ja endlich!«, rief in diesem Moment eine wohl vertraute Männerstimme gut gelaunt von der anderen Seite des Wagens. Percy stieg auf die Stoßstange und setzte sich auf die Motorhaube, während Penelope hinter der Hausecke erschien und unter dem Torbogen stehen blieb. »Ich dachte schon, wir hätten uns verloren. Es ist zum Glück nur ein Blechschaden.«
»Dann seid ihr beide bei diesem Malheur unverletzt geblieben?«, fragte Harriet vorsichtig.
»Sicher! Und der Unfall hat uns sogar in gewisser Weise gerettet. Wir klopften an die Tür des beschädigten Hauses zu eurer Linken und eine Dame öffnete uns und führte uns zu ihrem Gatten. Er ist der Dorfschmied hier und spricht etwas Englisch. Signor Fabbro – so heißt der gute Mann – hat mir versprochen, dass unser Wagen bis morgen Mittag befreit und so weit wiederhergestellt sein wird, dass wir unsere Reise fortsetzen können. Und als wäre das nicht genug, hat er auch gleich noch unsere sofortige Weiterfahrt nach Quarazza organisiert. Ist das nicht fantastisch?«
»Es klingt zu schön, um wahr zu sein«, sagte John mit beißender Ironie in der Stimme.
»Sie als Misanthrop können das natürlich nicht verstehen. Die Menschen leben hier noch in einem arkadischen Zustand: vollkommen unverdorben, gütig und hilfsbereit.«
»Oh, Percy!« Penelopes Stimme klang übertrieben mitleidig. »Natürlich ist Signor Fabbro hilfsbereit. Du hast dem Mann gerade unser gesamtes Liravermögen in die Hand gedrückt. Ich nehme an, dass er das normalerweise nicht einmal in einem Jahr verdient.«
»Habe ich das? Ach, was soll’s, Hattie! Wir haben ihn und seine Familie glücklich gemacht, uns wird geholfen und ich kann nun doch noch rechtzeitig meinen Auftrag erfüllen. Es gibt schlechtere Geschäfte, meinst du nicht?«
»Dann leiht er euch seinen Wagen?«, fragte Harriet in die Stille der ausgebliebenen Antwort hinein.
»Nicht ganz«, sagte Penelope. »Unser Vehikel ist – wie soll ich es sagen? – von einer überraschend grotesken Natur.«
Percy stöhnte. »Können wir uns nicht einfach über die unverhoffte Mitfahrgelegenheit freuen? Immerhin geht die Reise auf vier Rädern weiter!«
»Vier Räder ohne Motor«, schnaubte Penelope und verschwand hinter der Hausecke.
»Was meint sie?«
»Ich nehme an, dass sie von einer Kutsche spricht, Sherlock«, sagte Harriet leise. Sie war den Tränen nahe, denn zu ihrer Sehnsucht nach Charlotte gesellte sich nun die Enttäuschung über das endgültige Scheitern ihrer romantischen Reisepläne.
Durch den Zeitverzug war Pisa in unerreichbare Ferne gerückt. Mit schwerem Herzen kletterte Harriet über den demolierten Kotflügel und blieb plötzlich wie angewurzelt unter dem Torbogen stehen. Er wirkte wie der Durchgang zu einer anderen Welt. Vor ihr lag eine enge Gasse, auf der ein barfüßiger kleiner Junge eine Schar Gänse vor sich hertrieb. Die wenigen Menschen, die sie sah, trugen Kleider, die Harriet an mittelalterliche Trachten erinnerten. Percy hatte von Arkadien gesprochen, doch die Szenerie war nicht stimmig. Irgendetwas machte ihr Angst. War es der Torbogen, der sie vor dieser altertümlichen Kulisse plötzlich an das Märchen von »Frau Holle« denken ließ? John hatte ihr die Geschichte erzählt, denn er war selbst mit den Hausmärchen der Brüder Grimm aufgewachsen und dabei, einen »Kinderbuchkanon« für Charlotte zu erstellen.
Sie blickte auf, doch es regnete weder Gold noch Pech auf sie nieder. Wie in Trance stand sie da und obwohl sie bemerkte, wie John in der Zwischenzeit den Sportwagen parkte und Percy ihr Gepäck reichte, kam sie erst wieder zu sich, als er dicht neben ihr auftauchte und ihre Hand ergriff.
»Mein Gott!«, rief er begeistert. »Es ist, als würden wir ein Märchenland betreten.«
»Das dachte ich auch. Aber mir ist nicht wohl dabei, John. Es passieren nicht nur schöne Dinge in Märchen.«
»Komm schon, Harriet! Unter diesem märchenhaft blauen Himmel können nur schöne Dinge passieren.«
»Wunderbar!«, unterbrach sie eine fremde Stimme mit einem deutlichen italienischen Akzent. Sie gehörte zu einem kleinen korpulenten Herrn, der die Gasse herabgeschlendert kam und vor ihnen stehen blieb.
Harriet schätzte ihn auf Ende fünfzig. Sein schwarzes knöchellanges Gewand und die vierkantige Kopfbedeckung mit der mittig aufgesetzten schwarzen Quaste wiesen ihn unzweifelhaft als katholischen Priester aus.
»Vielleicht darf ich Ihren Disput, den ich unfreiwillig mitangehört habe, zu schlichten versuchen? Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich den Wortlaut nicht exakt memoriere, aber ein sehr weiser Mann hat einmal geschrieben, dass es nicht grundsätzlich falsch, aber immer gefährlich ist, ein Märchenland zu betreten.«
John war schlagartig blass geworden. Er schwankte und suchte am Kühlergrill des hinter ihnen stehenden Bentleys Halt. Harriet befürchtete für einen kurzen Moment, dass er in Ohnmacht fallen könnte, doch er fasste sich schnell und nickte dem Geistlichen dann freundlich zu.
»Father Brown, nicht wahr?«, sagte er lächelnd.
»Fantastico!«, rief der Priester, dessen wasserblaue Augen strahlten. »Und fast ein wenig unheimlich, finden Sie nicht, Signor …?«
»Stableford. John Stableford. Und das ist meine Gattin, Harriet.«
»Piacere!«
»Ihr habt Don Piero Scacchi schon kennengelernt?«, fragte Percy, der wohl zurückgekehrt war, um sie abzuholen. »Der gute Pater hier hat sich freundlicherweise bereiterklärt, uns mit nach Quarazza zu nehmen. Ich soll Ihnen von Signor Fabbro ausrichten, dass der Radbeschlag repariert ist.«
»Ich habe übrigens auch die Ehre, Sie alle morgen wieder mit zurücknehmen zu dürfen«, erklärte Don Piero. »Aber nun sollten wir aufbrechen! Natürlich nur vorausgesetzt, Sie wollen den Torbogen durchschreiten, Signora Stableford. Sie haben ein gutes Gespür, denn tatsächlich gleicht die Gegend auf dieser Seite in einem Punkt einem Märchenland.«
»Und dieser Punkt wäre?«
Don Piero schmunzelte. »Die Unauffindbarkeit auf herkömmlichen Straßenkarten. Bitte entschuldigen Sie den Scherz, aber Signor Holmes hat mir davon berichtet. Doch nun kommen Sie! Der Weg ist nicht weit, aber beschwerlich und wir sollten Quarazza vor Sonnenuntergang erreicht haben.«
»Weshalb?«, fragte Harriet.
»Ich könnte die Wölfe und Bären, die in dieser Gegend noch leben sollen, als Grund nennen. Aber die Wahrheit ist, dass die Menschen hier sehr abergläubisch sind. Heute Abend werden wir alle la luna piena – come si dice? – ah, den Vollmond über den Gipfeln der Apuanischen Alpen bestaunen können. Für Sie und mich ist das ein erhabenes Naturschauspiel, aber für viele Menschen hier ist in diesen mondhellen Nächten das Böse unterwegs. Sie würden uns in einem Notfall nach Sonnenuntergang nicht die Tür öffnen. Aber lassen wir das! Sprechen wir lieber über Detektivgeschichten, Signor Stableford! Da Sie Chesterton als Urheber meines sicher arg entfremdeten Zitats sofort erkannt haben, nehme ich an, dass auch Sie ein Liebhaber dieses Genres sind.«
»Oh ja«, antwortete John und trat zu dem Geistlichen. »Ich lese sie mit Leidenschaft und schreibe gelegentlich selbst welche.«
Harriet beobachtete, wie die beiden Männer langsam die Gasse hinaufgingen, und hörte dabei ihrer Unterhaltung weiter zu.
»Wunderbar! Ich spiele auch schon lange mit dem Gedanken, einen Detektivroman zu schreiben. Nur fehlt mir bisher noch eine Idee. Signor Chesterton habe ich übrigens persönlich kennenlernen dürfen. Ein guter Freund hatte ihn mir vorgestellt.«
»Ein guter Freund?«
»Ja. Vielleicht kennen Sie ihn. Er ist ein Priester wie ich und schreibt Detektivromane wie Sie.«
»Sie meinen nicht etwa Ronald A. Knox?«
»Genau den meine ich! Wir haben uns vor langer Zeit in Oxford kennengelernt.«
»Was für ein Zufall! Harriet und ich haben uns vor nicht allzu langer Zeit durch eine missglückte Unterhaltung über Knox’ ›Der Mord am Viadukt‹ kennengelernt.«3
»Was Sie nicht sagen!«
»Oh doch, es stimmt. Wir waren damals auf dem Weg nach Petershead und …«
Als die beiden Männer außer Hörweite waren, begann Harriet zu lachen. »Habe ich meinen Mann gerade an einen Priester verloren?«, fragte sie Percy, der einen letzten Blick auf seinen Wagen geworfen hatte.
»Für den Moment sieht es so aus. John liebt dich, aber er liebt auch Detektivromane. Und Don Piero kennt Chesterton und Knox. Da kannst du kaum mithalten. Aber ich wette, es ist nur ein Strohfeuer. Er wird reumütig zu dir zurückkehren. Und jetzt nimm dir ein Herz, Harriet!«
Percy reichte ihr die Hand und so trat sie unter dem Torbogen hindurch und folgte ihm ein Stück die Gasse hinauf. John stand mit dem Priester und Penelope vor einem großen, weit geöffneten Tor.
»Und?«, fragte Harriet, als sie die drei fast erreicht hatten. »Ist es wenigstens eine Kutsche, die einer Märchenprinzessin würdig ist?«
Niemand antwortete ihr und als sie nah genug gekommen war, um in die Werkstatt des Schmieds hineinblicken zu können, wusste sie auch, warum. Es war die Ladung und nicht das Vehikel selbst, die das Schweigen erklärte. Für einen kurzen Moment dachte Harriet an Umkehr. Doch es war zu spät, denn sie war längst Teil dieser märchenhaften Erzählung geworden.
1 Nachzulesen in: Rob Reef »Tod eines Geistes«
2 Nachzulesen in: Rob Reef »Das Geheimnis von Benwick Castle«
3 Nachzulesen in: Rob Reef: »Stableford«
Kapitel 2
Märchenhaftes
Es war kurz nach halb sieben, als sie aufbrachen. Der Weg, der den bewaldeten Hang entlang langsam bergan führte, war holprig und kurvenreich und gab nur selten den Blick auf das am Horizont liegende Gebirgsmassiv der Apuanischen Alpen frei. Harriet saß auf dem blanken Holzboden des Leiterwagens und lehnte mit dem Rücken am Kutschbock, auf dem John neben Don Piero Platz genommen hatte. Die beiden Männer unterhielten sich angeregt, doch das Hufgetrappel der zwei Maultiere machte ein Zuhören fast unmöglich. Percy und Penelope saßen links und rechts von ihr, wobei Harriet vermutete, dass ihre Freundin sie aus taktischen Erwägungen als menschlichen Schutzschild missbrauchte. Doch der Ehezwist der Holmes’ war gerade ihr geringstes Problem.
Das größte lag direkt vor ihr und sie hielt die Knie angezogen, um es nicht zu berühren. Diese Haltung war an sich nicht unbequem, doch ihre lederbesohlten Brogues verloren auf dem glatten Holz immer wieder den Halt, sodass ihre Schuhspitzen nun schon zum wiederholten Male mit einem dumpfen Schlag gegen das Kopfende des Sarges stießen, der den Großteil der Ladefläche einnahm.
»Mein Gott!«, flüsterte Harriet der Verzweiflung nahe.
Don Piero blickte über seine Schulter und lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Signora! Sie stören nicht die Totenruhe, denn der Sarg ist leer.«
»Wie bitte?«, fragte Percy.
»Ich hätte das vielleicht vor unserem Aufbruch erwähnen sollen. Scusate, Signore e Signori! Es tut mir leid. Ich habe durch den ständigen Umgang mit dem Tod wohl die suggestive Kraft dieses schlichten Möbels unterschätzt. Tatsächlich führt mich der Tod nach Quarazza, doch der Tote ist schon dort.«
»Und Sie haben den Sarg selbst aus einem anderen Dorf abholen müssen?«, fragte Percy. »Bei knapp zwanzig Einwohnern hätte ich gedacht, dass einer unter ihnen genug handwerkliche Begabung haben würde, um vor Ort einen schlichten Sarg wie diesen zimmern zu können.«
»Zwanzig Einwohner? Das muss lange her sein, Signor Holmes. Und ich habe ihn nicht abgeholt. Ich bringe ihn mit, denn obwohl Quarazza eine sehr schöne Kirche hat, die übrigens den Namen des Heiligen Blasius von Sebaste trägt, werden die Angelegenheiten dieser Gemeinde schon lange von meiner Pfarrei in Licciana aus geregelt. Leider gibt es in Quarazza nach dem Ableben Signor Rossis nur noch zwei lebende Gemeindemitglieder – ein altes Paar, Signor e Signora Cerbero. Wir müssen ihr Haus passieren, denn die Kirche und unsere Unterkunft für heute Nacht liegen am anderen Ende des Dorfes.«
»Dann kommen Sie nur zur Beisetzung?«, fragte Penelope, während Harriet immer noch über das irritierende Wörtchen »müssen« in der letzten Bemerkung des Priesters nachdachte.
»So ist es, Signora. Allerdings würde ich das avverbio ›nur‹ in diesem Zusammenhang nicht verwenden wollen. Der Übertritt ins Jenseits ist für jede transzendente Religion von äußerster Wichtigkeit. Als Priester führe und überwache ich diesen Weg der Toten und trage zugleich dafür Sorge, dass das Begräbnis so verläuft, dass einer Wiederauferstehung am Tag des Jüngsten Gerichts nichts im Wege steht.« Don Piero seufzte. »Leider hat das Dorf wohl keine Chance auf eine Wiederauferstehung. Noch zwei Reisen und das Kapitel ›Quarazza‹ hat sich auf immer erledigt.«
»Dann zählen Sie die Mitglieder der Künstlerkolonie nicht mit zu Ihrer Gemeinde?«, fragte Percy.
»No, sono pagani!«, entfuhr es Don Piero, bevor er schnell und wesentlich leiser hinzufügte: »Zumindest benehmen sie sich so.«
»Wie Heiden?«, fragte John.
Der Priester nickte. »Ihr Patron, Signor Mulligan, ist ein großer Künstler, aber ein schlechter Mensch. Er leugnet die Existenz des einen Gottes und gründete im Schatten unserer Kirche seine frivole Kolonie. Sie nennen sich ›Lunatisten‹ oder ›Lunatics‹, haben den Mond zu ihrem Ersatzgott gemacht, befürworten die amore libero und feiern, so berichtete man mir, rauschhafte Feste. Vor nicht allzu langer Zeit wären sie wohl alle auf dem Scheiterhaufen gelandet. Aber bitte entschuldigen Sie meine unangemessenen Bemerkungen! Ich denke, wir und die Maultiere brauchen eine kurze Pause. Hinter der nächsten Kurve befindet sich ein kleiner Wasserfall, der uns alle erquicken wird.«
»Und dennoch übernachten Sie in dieser ›frevelhaften‹ Kolonie?«, fragte Percy, nachdem Don Piero den Leiterwagen am besagten Ort zum Stehen gebracht hatte und sie alle abgestiegen waren.
»Si. Bei den Cerberos ist kein Unterkommen. Und ich habe einer Übernachtung in der Kolonie nur zugestimmt, weil mir die Alfieris, die Besitzer des Anwesens, ein Zimmer am äußersten Ende des Hofes, fernab vom gottlosen Treiben der ›Lunatisten‹, versprochen haben.«
»Die Alfieris? Aber warum sind sie keine Gemeindemitglieder?«
»Weil Maria und Davide aus Massa kommen, Signor Holmes. Sie haben explizit den Wunsch geäußert, weiter der Gemeinde ihrer Eltern angehören zu dürfen, und ich habe dem zugestimmt, da ich viel zu selten in Quarazza verweile, um ihnen eine wahre Stütze in Glaubensfragen sein zu können.«
»Wissen Sie, wie dieser Mr Mulligan dazu kam, gerade hier eine Künstlerkolonie zu gründen?«, fragte Penelope.
»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich weiß nur, dass Davide eine Zeit lang in London gelebt hat, bevor er nach Quarazza kam. In London beriet er im Auftrag eines großen Exporteurs aus La Spezia Architekten und Bildhauer, die sich für den Marmor aus Carrara interessierten. Ich nehme an, dass er so auch Signor Mulligan kennengelernt hat.«
»Das ist unwahrscheinlich«, mischte sich Percy ein. »Muladach ist Maler und hat mit der Bildhauerei nichts am Hut.«
»Muladach?«, fragte Harriet, die sich in der Zwischenzeit am Wasserfall erfrischt hatte. »Wir sind auf dem Weg zu dem Harry Mulligan, der sich seit 1918 ›Muladach‹ nennt?«
»Du kennst ihn?«
»Den skandalumwittertsten Maler unseres Jahrhunderts?«
»Ich meine persönlich?«
»Nein, aber zu wissen, dass ich ihn am Ende unseres Abstechers kennenlernen würde, hätte mir den heutigen Tag versüßt. Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich vor meiner Heirat mit John als Künstlermodell gearbeitet, und Muladach war für die Malerinnen und Maler, denen ich Modell saß, ein Gott.«
»Santo cielo!«
»So habe ich es nicht gemeint.«
»Natürlich nicht.« Don Piero zwinkerte Harriet zu. »Aber da Sie mehr zu wissen scheinen als die anderen, wissen Sie vielleicht auch, was es mit der Verehrung des Mondes in dieser Kolonie auf sich hat?«
»Wenn Muladach sie gegründet hat, kann ich es mir zumindest denken. Der Mond spielte in seiner Entwicklung als Künstler eine entscheidende Rolle. Der Mond und der Krieg.«
»Dann kämpfte er an der Front?«, fragte Percy.
»Als Offizier, ja. Aber gleich bei seinem ersten Einsatz nahe Ypern wurde er schwer verwundet. Er verlor sein linkes Auge und die Ärzte schlossen eine vollständige körperliche Genesung aus. Doch nicht einmal ein halbes Jahr später war er als offizieller Kriegsmaler zurück in den Gräben Belgiens. Bekanntheit erlangte er durch zwei Ausstellungen, bei denen seine stark vom Vortizismus beeinflussten Kriegsszenen die Betrachter begeisterten. Das muss 1917 gewesen sein.«
»Aber berühmt wurde er durch eine andere Ausstellung, nicht wahr?«
»Das stimmt, Percy. Sein Ruhm beruht auf seiner publikumsträchtigen Abrechnung mit der künstlerischen Idealisierung des Krieges an sich nicht einmal ein Jahr nach seinen ersten Erfolgen. Niemand weiß genau, was sich bei seinem letzten Aufenthalt an der Front zugetragen hat, aber es steht wohl außer Frage, dass er gänzlich desillusioniert nach England zurückkehrte. Am Abend vor der Eröffnung seiner dritten Schau, die vom Kriegspropagandabüro der Regierung sehnsüchtig erwartet wurde, schlich sich Mulligan mit Pinseln und Farbtuben in die Räume der Fine Art Society und gab seinen dort ausgestellten Ölgemälden über Nacht eine völlig neue Bedeutung. Ursprünglich waren es abstrakt gehaltene pseudoheroische Schlachtfeldszenen gewesen, über denen siegesgewiss die Frühlingssonne schien. Doch als die Galerie am nächsten Morgen öffnete, waren die blauen Himmel geschwärzt und anstelle der Sonne als Symbol der fortschreitenden Aufklärung leuchtete auf den Bildern ein fahler Mond als Zeichen einer vom Heilsversprechen abgekoppelten Welt. Sein kaltes Licht entblößte das Sinnlose und Böse des Krieges. Die mit Wasser vollgelaufenen Schützengräben, die den Oberzensor des Kriegsministeriums am Vortag bei der Abnahme der Ausstellung vielleicht noch an fruchtbare Ackerfurchen oder neuen Handel versprechende lebendige Kanalsysteme erinnert hatten, waren rot übermalt worden und glichen nun Bächen aus Blut. Zu guter Letzt war Mulligans Signatur überall mit ›Muladach‹ überschrieben worden.«
»Aber was bedeutet ›Muladach‹?«, fragte Don Piero, den Harriets Erzählung sichtlich beeindruckt hatte.
»Dunkel, schwarz, traurig – Mulligan ist Schotte und es ist ein alter gälischer Begriff. Seit dieser Ausstellung signiert er alle seine Werke so.«
»Dann suchte Signor Mulligan hier ein rifugio – come si dice?«
»Einen Unterschlupf?«
»Das ist es, Signora Stableford! Dann suchte er hier vielleicht einen Unterschlupf, weil er in England in Ungnade gefallen war?«
»Ich denke nicht«, antwortete Harriet. »Zumindest nicht wegen dieser Ausstellung. Das ist über zwanzig Jahre her und er lebte seitdem nicht im Untergrund. Im Gegenteil! Sein Sinneswandel wird der Regierung sicher nicht geschmeckt haben, aber er hatte keine rechtlichen Schritte zu befürchten und die Preise für seine Bilder stiegen praktisch augenblicklich ins Unermessliche. ›Mulligans‹ waren schon vorher eine solide Geldanlage gewesen, aber plötzlich wollte jeder einen echten ›Muladach‹ sein Eigen nennen. Nach dem Krieg hatte er große Ausstellungen in fast allen Metropolen der Welt und lebte, soweit ich weiß, abwechselnd in London und Berlin. Die Brüche in seiner Karriere waren stets privat motiviert. Ich erinnere mich vage an eine gescheiterte Verlobung. Aber es waren vor allem die unzähligen Affären mit Frauen und auch Männern, die ihn gelegentlich untertauchen ließen. Wenn er einen Unterschlupf gesucht hat, dann sicher wegen eines aus dem Ruder gelaufenen gesellschaftlichen Skandals.« Harriet blickte zu Percy hinüber.
Hatte sein »Auftrag« etwas mit Harry Mulligan zu tun? Oder hatten er und John eine andere »Zielperson« aus dem Kreis der Lunatisten im Visier?
»Und woher wissen Sie das alles, Signora Stableford?«
»Nun, als Modell sitzt man den Künstlern, die einen malen, formen oder abstrahieren, lange gegenüber. Man unterhält sich und Künstler lieben den Tratsch über Kollegen genauso wie alle anderen Menschen.«
Don Piero blickte auf seine Armbanduhr und klatschte einmal in die Hände. »Wir sollten aufbrechen! Es ist gleich halb acht und wir haben noch eine gute halbe Stunde Fahrt vor uns. Wollen Sie mir zur Abwechslung auf dem Kutschbock Gesellschaft leisten, Signora Stableford?«
»Sehr gerne!«, antwortete Harriet.
Sie war ehrlich dankbar und von der Aufmerksamkeit und dem Charme des Priesters beeindruckt, auch wenn sie sich seit geraumer Zeit fragte, wie es einen dermaßen gebildeten und weit gereisten Geistlichen in diese wunderschöne, aber eben auch gottverlassene Gegend verschlagen konnte. Und war es wirklich nur die Beisetzung Signor Rossis, die ihn nach Quarazza führte? Oder war seine Reise auch als ein Versuch zu verstehen, dem »gottlosen Treiben« dort Einhalt zu gebieten? Nur mit welchen Mitteln?
Mit einem lauten Knarren setzte sich der Leiterwagen in Bewegung, doch Harriet nahm das kaum wahr. Ihr letzter Gedanke hatte sie selbst überrascht, ja fast erschreckt. Hatte sie eine Bemerkung des Priesters in Unruhe versetzt? Etwas, das, wie entfernt auch immer, auf ein nahendes Verbrechen hinweisen würde? Sie fragte sich, was John als Detektivromanautor wohl aus Don Piero und Harry Mulligan machen würde. Wären sie Rivalen, die den Kampf zwischen Gut und Böse symbolisierten? Wäre einer von ihnen das Opfer und der andere der Täter? Oder wären beide nur Figuren, deren Spuren am Ende der Geschichte als »falsche Fährten« entlarvt werden würden, die den Leser irreführen sollten?