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England, 1938: Der Multimillionär Charles Tremayne ist verschwunden. Seine Spur verliert sich auf Ker, einer kleinen Insel am Rande des Scilly Archipels. Besorgt bittet die mit Dr Holmes liierte Psychoanalytikerin Lady Penelope Hatton den Literaturprofessor John Stableford um Hilfe, denn Tremayne ist ihr Patient. Stableford willigt ein, doch die Ermittlungen vor Ort erweisen sich als schwierig, da die Spukgeschichten, die sich um die Insel ranken, einen klaren Blick auf die Fakten verhindern. Für den Gelegenheitsdetektiv steht dennoch bald fest, dass Tremayne Ker nie lebendig verlassen hat. Doch war es ein Unfall, Selbstmord oder gar Mord? Stableford ist ratlos, bis ihm ein eher unscheinbares Indiz hilft, das Rätsel von Ker Island zu lösen.
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Seitenzahl: 299
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Ein Stableford-Krimi aus Cornwallvon Rob Reef
Am Ende des Buches finde Sie Karten von ›Ker Island‹ und ›The Isles Of Scilly‹.
FürMarie-Lore
»Etwas ist nicht geheuer,damit fängt das an.«
Ernst Bloch,Philosophische Ansichtdes Detektivromans
KAPITEL 1: Der unheimliche Gast
KAPITEL 2: Inselmythen
KAPITEL 3: Charles Tremayne
KAPITEL 4: Lyonesse
KAPITEL 5: Hugh Town
KAPITEL 6: Der tote Admiral
KAPITEL 7: St Mary’s
KAPITEL 8: Die Festung
KAPITEL 9: Dinner
KAPITEL 10: Die Geistererscheinung
KAPITEL 11: Schlummertrunk und Spukgeschichten
KAPITEL 12: Frühstück
KAPITEL 13: Jennings
KAPITEL 14: Der Inselrundgang
KAPITEL 15: Mr Riven erzählt
KAPITEL 16: Harriet ermittelt
KAPITEL 17: Mrs Riven
KAPITEL 18: Der Weinhändler
KAPITEL 19: Dr. Erskines Zimmer
KAPITEL 20: Begegnungen zur Geisterstunde
KAPITEL 21: Drei neue Gäste
KAPITEL 22: Dr. Erskine erzählt
KAPITEL 23: Imogen
KAPITEL 24: Die Séance
KAPITEL 25: Auf offener See
KAPITEL 26: Falsche Fährten und Dämonen
KAPITEL 27: Die Höhle des Löwen
KAPITEL 28: Der Abend des 2. April
KAPITEL 29: Die Todesfalle
KAPITEL 30: Rückkehr aus der Unterwelt
Bilder
Stableford musste kurz eingeschlafen sein. Sein Kinn lag auf der Brust, und sein Nacken schmerzte. Er hob den Kopf, öffnete mühsam die Augen und erschrak. Ihm gegenüber saß ein Mann. Seine Haut hatte die graugrüne Blässe einer Wasserleiche, und über seiner linken Braue verlief ein Schatten, der wie eine tiefe Schädelwunde aussah. Das schaurige Wesen schien ihn zu mustern. Sein Antlitz wirkte gespenstisch und doch seltsam vertraut. Lag das vielleicht am Pyjama, den der unheimliche Gast trug? Oder war es die Stirnwunde? Stableford hatte genau an der gleichen Stelle eine Narbe. Aber halt! Seine prangte über der rechten Braue.
Mit Erleichterung konstatierte er das allmähliche Wiedererwachen seines Urteilsvermögens. Er musste grinsen, und die Fratze seines entstellten Doppelgängers grinste zurück. Der Schleier des Übernatürlichen hatte sich gelüftet, und der Fall des nächtlichen Besuchers war abgeschlossen: Stableford befand sich im Schlafzimmer der Trafalgar Suite des Royal Yacht Hotel in Penzance. Er saß vor dem Frisiertisch und betrachtete sein Spiegelbild. Das Licht der kleinen Taschenlaterne, die er unterhalb der Tischkante auf dem Schoß balancierte, hatte die Schatten und den grünlichen Teint auf sein Gesicht gemalt und seinem Antlitz so etwas fraglos Dämonisches verliehen.
Plötzlich musste er daran denken, wie ihm seine Hamburger Großmutter einmal erzählt hatte, dass der Teufel hinter den Spiegeln sitze und nur darauf warte, dass man zu lange sein Ebenbild betrachte. Sie war keine abergläubische Frau gewesen, und er hatte später vermutet, dass sie ihm diese Geschichte nur als eine Art frühes Antidot gegen die Eitelkeit verabreicht hatte. Doch sie hatte dazu geführt, dass er als kleiner Junge Angst vor Spiegeln gehabt hatte, und er musste sich eingestehen, dass ihn bis heute eine gewisse Skepsis gegenüber diesen reflektierenden Objekten begleitete.
Er zog die kurze Bulldog-Pfeife aus der Tasche seiner Pyjamajacke und steckte sie zwischen die Zähne. Sie war leer und schmeckte bitter, aber er hoffte, dass sie ihm dabei helfen würde, sich noch einmal zu konzentrieren. Dann nahm er erneut das Buch auf, das vor der Taschenlaterne auf seinen Knien lag, und begann darin zu blättern. Wieder drohte sein Blick von den kleinen scharf geschnittenen Lettern abzugleiten, um sich in der faserigen Struktur des Papiers zu verlieren, die durch das unangenehm grelle Licht der Lampe stark hervortrat. Doch diesmal zwang er sich, den Zeilen zu folgen, und endlich fand er Owen Glendowers prahlerische Behauptung, Geister beschwören zu können. Er notierte sich »Henry IV, dritter Aufzug, 1. Szene« im Notizbuch, das neben seiner Armbanduhr aufgeschlagen auf dem Tischchen lag, und überlegte einen Moment.
»Ich kann die Geister rufen aus gewalt’ger Tiefe« war ein starkes Zitat. Er schrieb »Essaytitel?« hinter die letzte Quellennotiz, klappte dann beide Bücher zu, griff nach seiner Uhr und hielt sie ins Licht. Es war kurz vor halb sechs.
Er knipste die Lampe aus und streckte sich. Harriet lag unweit von ihm in einem großen Doppelbett und schlief. Während er den tiefen Atemzügen seiner Frau lauschte, ließ er die letzten Tage Revue passieren: Vor nicht einmal zwei Wochen hatten sie in Yorkshire den Geburtstag seines Schwiegervaters, des Vikars von Upper Biggins, gefeiert. Dem vorangegangen waren die rätselhaften Morde auf Annandale, die er mithilfe von Harriet und seines Freundes Holmes aufgeklärt hatte.
Dass ihre Rückkehr nach London nicht viel mehr als eine Stippvisite gewesen war und sie sich nunmehr in einem Hotel in Penzance befanden, lag am Verschwinden eines Mannes, den weder er noch Harriet kannten. Es handelte sich um einen Patienten von Lady Penelope Hatton, die seit etwa einem Jahr mit Holmes liiert war. Penelope war Psychoanalytikerin und hatte Holmes noch während ihres Aufenthalts in Yorkshire telefonisch gebeten, sich mit ihr auf die Suche nach dem Mann zu machen. Holmes wiederum hatte sich sogleich an Stableford gewandt, und obwohl der Harriet kurz zuvor versprochen hatte, das Detektivspielen aufzugeben, hatte sie ihn darin bestärkt, der Bitte seines Freundes nachzukommen. Ihre einzige Bedingung war gewesen, dass sie die drei trotz ihrer Schwangerschaft auf diesem Abenteuer begleiten würde.
Hattie, wie Holmes Penelope nannte, war vom Hilfsangebot der Stablefords mehr als begeistert gewesen. Sie hatte kurzerhand die Hotelzimmer in Penzance gebucht, denn der letzte bekannte Aufenthaltsort ihres Patienten war ein winziges Eiland am Rande des Scilly-Archipels, zu dessen Hauptinsel St Mary’s es nur von dort eine regelmäßige Schiffsverbindung gab. Der Mann, dessen Namen Stableford nicht kannte, hatte auf der Insel seine Schwester besucht, war nach einigen Tagen überstürzt abgereist und seitdem verschwunden. Mehr war ihm nicht bekannt, aber es war abgemacht, dass Penelope ihr Wissen beim gemeinsamen Frühstück mit ihnen teilen würde.
Eigentlich war diese Reise ganz nach Stablefords Geschmack. Der Fall des verschollenen Patienten versprach, wenn auch kein kriminalistisches, so doch zumindest ein intellektuelles Rätsel und hatte zudem schon in London eine erste aufregende und geheimnisvolle Wendung genommen: Stableford hatte bei einem Buchhändler in der Charing Cross Road einen Reiseführer über die Scilly-Inseln erstanden. Am Nachmittag vor ihrer Abreise, als Harriet noch mit letzten Besorgungen beschäftigt gewesen war, hatte er darin zu lesen begonnen. Doch zu seinem Erstaunen wurde das besagte Eiland, das Holmes zufolge »Carr« hieß, in diesem Werk mit keinem einzigen Wort erwähnt. Selbst auf der ausfaltbaren und sehr detailreichen Karte, die im Deckel des Buches eingeklebt war und die er lange mit einer Lupe studiert hatte, war »Carr« nicht zu finden.
Voller Neugier hatte er sich wie einst Dr. Watson im Roman »Der Hund von Baskerville« auf den Weg zu Stanford‘s gemacht. Aber auch auf dem Ordnance-Survey-Kartenblatt, das ihm ein äußerst engagierter Mitarbeiter schnell und zuvorkommend herausgesucht hatte, war »Carr« nicht eingezeichnet. Die beiden Männer waren ins Gespräch gekommen, und die Hilfsbereitschaft des Angestellten hatte sie schließlich in das kartografische Archiv des Hauses geführt, wo sie nach langer Suche eine bemerkenswerte Entdeckung gemacht hatten: Auf einer militärischen Seekarte aus dem 18. Jahrhundert war eine Insel verzeichnet, die auf den Blättern neuerer Herkunft fehlte. Sie war winzig, lag ganz im Norden des Archipels und trug den Namen »Ker«. Der Angestellte, von Stableford nach einer möglichen Erklärung für die Tilgung der Insel auf moderneren Karten befragt, hatte sich ratlos gezeigt. Er hatte auf den folgenschweren Fehler eines Kartografen getippt, sich aber sogleich verbeten, diese Mutmaßung seinen Vorgesetzen gegenüber zu erwähnen, da die haltlose Spekulation über kartografische Fehler bei Stanford‘s als achte Todsünde betrachtet wurde.
Als Stableford das Geschäft kurz darauf wieder verlassen hatte, war er wie bezaubert gewesen. Die Reise zu einer scheinbar vergessenen Insel war fraglos ein verheißungsvoller Beginn für ihr Abenteuer. Und ihr Name versprach zudem einen gewissen Nervenkitzel, denn in der griechischen Mythologie galt Ker, die erste Tochter der Nacht, als die Personifikation des gewaltsamen Todes.
Doch schon auf halbem Wege zu ihrer Wohnung in der Bernard Street 29 hatte Stableford sich eingestehen müssen, dass seine Begeisterung fast wieder erloschen war. Sein üblicher Enthusiasmus im Vorfeld eines neuen Falls schien ihn diesmal im Stich zu lassen. Der Grund dafür war nicht das Essay über die Rolle der Geister und Dämonen in Shakespeares Dramen, das ihm der Dekan seines Colleges spontan im Gegenzug für fünf weitere freie Tage abgepresst hatte. Allein »Hamlet«, »Macbeth« und »Julius Caesar« boten genügend Stoff, sodass ihm die versprochenen zehn Seiten als ein geringer Preis für eine Woche Sonderurlaub mit der Aussicht auf echte Detektivarbeit erschienen.
Der wahre Grund war die bevorstehende Schiffspassage. Der Gedanke daran lastete wie ein Albdruck auf seiner Brust. Sie war zugegebenermaßen nicht lang, aber da er schon bei den kurzen Überquerungen des Kanals an massiven Attacken der Seekrankheit litt, schwante ihm für die Reise zu den Scilly-Inseln nichts Gutes. Er hoffte auf eine ruhige See und ganz im Geheimen wohl auf ein Wunder.
Obwohl er in dieser Nacht bereits um halb drei aufgestanden war, weil er nicht mehr hatte schlafen können, erinnerte er sich an zwei kurze Träume. Im ersten hatte ihnen Penelope am Frühstückstisch vom unverhofften Wiederauftauchen ihres Patienten berichtet und eine sofortige Rückkehr nach London empfohlen, im zweiten war die Überfahrt abgesagt worden, weil die Passagierfähre namens »Scillonian«, die nicht einmal zweihundert Yards von ihrem Hotel entfernt im Hafen lag, aufgrund eines Maschinenschadens nicht hatte auslaufen können. Auf beide Traumsequenzen waren ein hoffnungsvolles Erwachen und die zwangsläufige Enttäuschung gefolgt, dass sich an der Realität nichts geändert hatte. Die Scillonian würde um Punkt zehn Uhr ablegen, und Stableford würde sich an Bord befinden.
Er stand auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang zurück. Die Sonne musste gleich aufgehen. Von Westen her färbte sich der Nachthimmel langsam tiefblau.
Wie Bristol-Glas, dachte Stableford, denn das Dunkelblau wirkte zunächst transparent und schien die Strahlkraft der Sterne noch zu potenzieren.
Doch das magische Blau wich bald einem trüben Hellgrau, in dem dieselben Sterne nach und nach erloschen. Es war ein erhabenes Schauspiel, aber für Stableford bedeutete es nur, dass die Weiterreise unaufhaltsam näher rückte. Plötzlich erinnerte er sich wieder an sein unheimliches Spiegelbild, die graugrüne Haut, die ihn an eine Wasserleiche denken ließ, und die tiefe Wunde auf der Stirn. War diese Erscheinung ein Omen gewesen? Hieß es nicht, dass man bald sterben würde, wenn man seinem Doppelgänger begegnete?
»John?«
Stableford blickte sich um. Harriet hatte sich aufgesetzt und lächelte ihn an. Sie trug einen seiner Pyjamas und wirkte in dem großen Bett noch zierlicher als sonst. Kupferfarbene Locken umrahmten ihr ovales Gesicht. Stableford fragte sich, wie ihre graublauen Augen im Halbdunkel des Zimmers und so kurz nach dem Erwachen schon dermaßen strahlen konnten. Er versuchte sich an einem unbeschwert klingenden »Guten Morgen!«
»Guten Morgen! Wie spät ist es?«
»Kurz nach sechs.«
»Und seit wann bist du wach?«
»Seit einer halben Stunde«, log Stableford, denn Harriet wusste nichts von seiner maritimen Untauglichkeit. Sein männlicher Stolz hatte ihn bisher davon abgehalten, ihr davon zu erzählen.
»Dann kannst du es wohl kaum erwarten, in See zu stechen?«
Er zögerte. Eine Lüge war genug. Lächelnd trat er ans Bett und küsste sie. Um halb acht verließen sie das Zimmer mit ihrem Gepäck und gingen hinunter in den Speiseraum.
Harriet und John saßen an einem Tisch am Fenster und warteten auf Percy und Penelope. John sah müde aus. Er blätterte in seinem Notizbuch und war noch einsilbiger als am Vortag. Harriet fragte sich, was ihn bedrückte, denn schon während ihrer Anreise hatte er wenig gesprochen und oft abwesend gewirkt, obwohl die Fahrt im Cornish Riviera Express für sie als Paar durchaus einen sentimentalen Wert hatte. Sie hatten sich in diesem Zug auf dem Weg nach St Ives vor nicht einmal zwei Jahren kennengelernt. Und auch wenn er sie damals in ein Abenteuer geführt hatte, an das sich Harriet mit äußerst gemischten Gefühlen erinnerte, hatte sie sich doch gewundert, dass John ihr erstes Aufeinandertreffen im Speisewagen des Express mit keinem Wort erwähnt hatte.
Nachdem sie im Royal Yacht Hotel eingecheckt hatten, waren sie auf der Promenade von Penzance spazieren gegangen. Und wie so viele Reisende vor ihnen hatten sie die majestätische Silhouette von St Michael’s Mount bewundert und schweigend zugesehen, wie dieser große, von einer Burg gekrönte Fels im Meer während des Sonnenuntergangs in einem flammenden Orange erstrahlt war. Später hatten sie im Union Hotel zu Abend gegessen und waren dann früh zu Bett gegangen. Doch geschlafen hatte John kaum. Immer wieder war Harriet aufgewacht, weil er sich neben ihr hin und her gewälzt hatte. Sie vermutete, dass seine Albträume zurückgekehrt waren, über die er nie sprach. Aber sie wusste, dass sie etwas mit seinen Kriegserlebnissen zu tun hatten.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach acht. Endlich hörte sie vertraute Stimmen in der Lobby, und kurz darauf erschienen ein hochgewachsener, hager wirkender Mann von etwa fünfundvierzig Jahren und eine schlanke, fast ebenso große Frau um die vierzig im Speiseraum: Sir Perceval Holmes, genannt Percy, und Lady Penelope Hatton. Sie begrüßten sie herzlich, und Penelope entschuldigte sich für ihr verspätetes Erscheinen. Als sie saßen, kam sofort ein Kellner und nahm die Bestellungen auf.
»Kaffee für vier, zweimal die Eier Benedict für die Damen, ein Englisches Frühstück mit einer Extraportion Speck und gebackenen Bohnen – und für Sie, Sir?«
»Nur Toast«, antwortete John kurz.
»Nur Toast?«, fragte Percy, als der Kellner gegangen war. »Ist das Ihr Ernst? Sie sollten etwas Kräftigeres zu sich nehmen! Seeluft macht hungrig, und die Überfahrt dauert fast vier Stunden. Oder haben Sie gestern ein Glas zu viel getrunken?«
»Nein, ich habe nur keinen Hunger«, entgegnete John. Er wirkte gereizt.
»Und wann seid ihr gestern in Penzance angekommen?«, fragte Harriet schnell, um das Thema zu wechseln.
»Um halb zehn.« Percy gähnte. »Wir hätten auch den Zug nehmen sollen. Ich habe die Strecke wohl ein wenig unterschätzt. Hatties Armstrong Siddeley ist wahrlich kein Rennwagen, und dazu kam noch eine Reifenpanne kurz hinter Exeter, die uns locker eine Stunde gekostet hat. Als wir endlich unser Gepäck im Hotel abgeladen hatten, stolperten wir mit knurrenden Mägen und schrecklich durstig in das nächstgelegene Pub. Wie hieß es doch gleich, Hattie?«
»Das Dolphin Inn.«
»Richtig! Angeblich wurde dort zum ersten Mal in England Tabak geraucht.«
»Und seitdem noch nie gelüftet«, ergänzte Penelope trocken. »Die Küche hatte auch schon geschlossen, und so waren wir bereits nach dem ersten Gin Tonic betrunken. Ihr wisst ja selbst, dass Percys Kontaktfreude mit jedem Drink signifikant ansteigt, und daher wird es euch nicht überraschen, dass wir bald mit zwei Einheimischen ins Gespräch kamen, die mich unweigerlich an Illustrationen aus meiner alten Ausgabe der ›Schatzinsel‹ erinnerten. Die beiden sahen wie Captain Flint und Long John Silver aus und spannen Seemannsgarn, als ob sie vom Wirt dafür bezahlt worden wären.«
»Hatte der eine denn tatsächlich ein Holzbein?«, fragte John amüsiert.
Penelope lachte. »Er trug lange Hosen, aber ich würde es nicht ausschließen wollen. Zumindest wissen wir jetzt alles über Klabautermänner, Seeungeheuer und Meerfrauen.«
»Und über unser Reiseziel, die Scilly-Inseln«, fügte Percy hinzu. »Es ist bemerkenswert, wie viele Schiffe vor ihnen gesunken sind.«
In diesem Moment erschien der Kellner und begann das Essen zu servieren. Harriet blickte zu John hinüber. Er sah blass aus, und seine Hand zitterte leicht, als er nach der Kaffeetasse griff. Sie fragte sich, ob Percys letzte Bemerkung etwas damit zu tun hatte.
»Aber viel interessanter sind die alten Geschichten, die man sich hier von den Inseln erzählt«, fuhr Percy voller Begeisterung fort. Er griff in die Zuckerschale und verteilte sechs weiße Würfel auf der Mitte des Tisches. »Das sind die fünf Hauptinseln: St Agnes im Süden, St Mary’s, Bryher, Tresco und St Martin’s im Nordosten. Und dieser Würfel hier außen markiert die Westspitze von Cornwall.«
»Land’s End?«, warf Harriet ein.
»Richtig! Nur dass dieser Ort vielleicht nicht immer die äußerste Spitze des englischen Festlandes gewesen ist. Angeblich erstreckten sich einst fruchtbare Weiden und Äcker bis zu den heutigen Inseln im Westen.«
»Sie meinen Lyonesse?«, fragte John.
»Genau! Das sagenumwobene verlorene Reich.« Percy legte den Toast beiseite, den er gerade sorgfältig mit Butter bestrichen hatte, und entnahm der Schale einen weiteren Zuckerwürfel. Dann platzierte er ihn etwa in der Mitte zwischen der aufgebauten Inselgruppe und dem Würfel, der die Westküste von Cornwall markierte. »Dort, wo heute die Klippen der Seven Stones aus dem Wasser ragen, soll sich einst die prächtige City of Lions erhoben haben, von deren Burg aus man angeblich die Kirchtürme von einhundertvierzig Dörfern sehen konnte.« Er griff nach seinem Toast, machte eine ausholende Armbewegung und setzte dramatisch hinzu: »Das ganze Land soll über Nacht vom Meer verschlungen worden sein.«
»Du benimmst dich wie ein aufgeregter Schuljunge«, bemerkte Penelope. »Iss deinen Toast! Oder hör wenigstens auf, damit herumzufuchteln!«
»Und du klingst wie meine alte Gouvernante«, entgegnete Percy und lachte. »Ist es nicht verblüffend, wie wir uns in praktisch jeder Rolle perfekt ergänzen?«
»Und die Inseln?«, fragte Harriet neugierig. »Warum wurden sie vom Untergang verschont?«
»Weil es sich um die höchsten Hügel von Lyonesse handeln soll, die gerade noch über dem Meeresspiegel liegen«, antwortete Percy in einem fast feierlichen Ton. »Wenn dem so ist, führt uns unsere Reise an einen mythischen Ort. Der Mann im Pub, den Hattie ›John Silver‹ taufte, erzählte uns, dass die Strömung noch heute die Kirchturmglocken am Meeresgrund bewegt und man sie bei ruhiger See manchmal dumpf schlagen hören kann.«
»Er berichtete uns allerdings auch vollkommen ernst von seiner Begegnung mit einem Klabautermann«, warf Penelope spöttisch ein. »Viel interessanter fand ich seine Bemerkung, dass es sich bei der Inselgruppe auch um die reale Vorlage für Avalon handeln könnte.«
Überrascht sah John sie an. »Du meinst den Ort, an dem König Artus seine letzte Ruhe fand?«
Penelope nickte.
»Von dieser Deutung habe ich noch nie etwas gehört. Tennyson beschreibt in seinem Gedicht Morte d’Arthur den Tod des Königs auf dem Schlachtfeld von Lyonesse, aber dass Avalon sozusagen ein Teil dieser Landschaft sein soll, ist mir neu.«
»Was schreibt er denn darüber?«, wollte Percy wissen.
John schien einen Moment nachzudenken und begann dann zu rezitieren:
»Der Schlachtendonner rollte hin und her,
vom Fels hinab weit über’s eis’ge Meer,
bis König Artus’ Tafel, Mann für Mann,
in Lyonesse gefallen war durch Feindeshand.«
Für einen Augenblick war es still am Tisch.
Schließlich räusperte sich John. »Aber nun erzähl, Penelope! Wie brachte euer John Silver Avalon ins Spiel?«
»Er bezog sich auf eine alte kornische Legende, der zufolge Artus’ treuste Ritter in Richtung Lyonesse flohen, nachdem Mordred ihn, den König aller Briten, in der Nähe von Tintagel getötet hatte. Sie suchten seiner Rache zu entgehen, doch Mordred war wahnsinnig vor Mordlust. Er folgte ihnen mit seinem Heer, und bald befanden sich sowohl die Verfolgten als auch ihre Verfolger auf der sagenhaften Landzunge vor Cornwall.«
»So weit stimmt diese Legende also mit Tennysons Version der Geschichte überein«, stellte Harriet fest.
»Ganz recht. Aber jetzt passt auf! Als Artus’ Getreue auf ihrer Flucht die westlichsten Hügel von Lyonesse erreicht hatten und Mordred gerade seine Gefolgsleute auf den finalen Angriff einstimmte, erschien der Geist Merlins und ließ die Erde unter ihnen erbeben. Lyonesse versank im Meer, und Mordred ertrank mit seinem Heer in den brodelnden Wassermassen. Verschont blieben allein die Hügel, die den Anhängern des toten Königs zur neuen Heimat wurden.«
»Bemerkenswert«, sagte John.
»Nicht wahr? Die Ritter tauften die frisch entstandenen Inseln Avalon. Sie sollten ein Ort sein, wo das Böse und die Missgunst zu existieren aufhörten und die Müden und Beladenen zur Ruhe kommen konnten.«
»Und wie kam Artus’ Leichnam von Tintagel nach Avalon?«, fragte Harriet, die schon immer einen Hang zum Praktischen gehabt hatte.
»Seine Gefolgsleute brachten ihn später mit einem Boot auf die Insel«, erklärte Penelope. »Hier stimmt diese lokale Legende dann wieder mit anderen, bekannteren Erzählungen von der letzten Reise des Königs auf einer Barke überein.«
»Damit steht also auch unser zweiter gemeinsamer Ausflug im Zeichen des arturischen Sagenkreises«, warf John ein und wirkte dabei nicht eben glücklich. »Ich hoffe nur, dass dein Patient nicht auch auf der Suche nach dem Heiligen Gral ist!«
Penelope lachte. »Wie Alasdair Benwick? Nein, da kann ich dich beruhigen, John. Soweit ich weiß, hat er nichts mit verlorenen Schätzen sakraler oder auch profaner Art am Hut. Er hat sein Geld auf andere Weise gemacht. Ich bin übrigens sehr froh, dass ihr Percy und mich bei unserer Suche begleitet, und setze einiges auf euren detektivischen Spürsinn.«
»Apropos detektivischer Spürsinn!«, mischte sich Percy ein. »Wie geht es eigentlich Ihrem Doppelgänger?«
John sah ihn mit großen Augen an. Er wirkte fassungslos, doch dann schien er sich schnell zu fangen.
»Ach, Sie meinen Stanford Blake, das alberne Pseudonym, unter dem ich Detektivromane schreibe?«
»Sicher – oder haben Sie noch ein weiteres Alter Ego in petto?«
»Natürlich nicht! Das zweite Buch erscheint im Sommer. Es wird ›Mord in den Highlands‹ heißen und ist an unseren Fall im Rannoch Moor angelehnt. Aber wollen wir nicht endlich auf den Grund unserer anstehenden Reise zu sprechen kommen? Was kannst du uns über deinen Patienten und die Umstände seines Verschwindens berichten, Penelope?«
Percy zog seine Uhr aus der Westentasche und warf einen Blick darauf. »Ich fürchte, wir haben keine Zeit mehr dafür. Es ist bereits kurz vor neun. Lasst uns aufbrechen! Hattie kann uns das alles ja auch an Bord erzählen.«
Die vier Reisenden hatten es sich an Deck der Scillonian auf einer großen Holzkiste mit der Aufschrift »Schwimmwesten« so gut es ging bequem gemacht. Die Fähre war für knapp vierhundert Passagiere ausgelegt, doch an diesem Morgen waren die zwei Dutzend Möwen, die sie schreiend umkreisten, deutlich in der Überzahl. Aus dem hohen Schornstein stiegen schwarze Rauchwolken in den grauen Himmel empor. Das Meer war ruhig, aber sie befanden sich auch noch im Schutze der Mount’s Bay.
Holmes ließ seinen silbernen Flachmann herumgehen, und obwohl es erst kurz nach zehn war, nahmen Stableford und Penelope einen kräftigen Schluck, denn es war kalt und feucht an Bord. Die beiden Männer hatten die Kragen ihrer Tweedjacken hochgeschlagen, und die Damen waren in Decken gehüllt, die ein Offizier kurz nach der Abfahrt verteilt hatte. Das Schiff mochte etwa hundertsiebzig Fuß lang sein, doch je weiter sie sich vom Festland entfernten, desto kleiner erschien es Stableford.
Sie hatten gerade die Bucht von Mousehole passiert, als sich Penelope von der Kiste erhob. »Soll ich euch jetzt von meinem Patienten und den wenigen mir bekannten Fakten zu seinem Verschwinden berichten?«
Stableford, der die ersten Anzeichen von Übelkeit verspürte und mit einem aufsteigenden Gefühl von Panik an die kommenden drei Stunden auf offener See denken musste, war für jede Ablenkung dankbar. »Ja«, sagte er leise, während er gebannt auf den Horizont blickte, um sein Gleichgewichtsorgan zu beruhigen.
»Nun gut. Der Mann, den wir suchen, heißt Charles Tremayne. Er ist etwa so groß wie Percy, ebenso schlank, hat braune Augen und volles dunkles Haar. Leider besitze ich kein Bild von ihm, aber ich hoffe, dass uns seine Schwester da helfen kann. Charles ist unverheiratet, achtunddreißig Jahre alt und stammt aus Falmouth.«
»Er kommt also aus Cornwall«, stellte Harriet fest.
»Ja. Mit Anfang zwanzig ging er nach London und wurde durch geschickte Aktienspekulationen sehr reich. Er besitzt eine Stadtvilla in Mayfair, ein Landhaus in den Cotswolds, ein altes Schloss im Lake District und einige Ländereien in Devon und Cornwall.«
»Und seine Familie?«, fragte Stableford.
»Seine Eltern sind tot. Ihm ist nur seine jüngere Schwester geblieben, die er vergöttert.«
»Und die trotz seines märchenhaften Reichtums mitten im Atlantik hausen muss?«
»Soweit ich weiß, tut sie das freiwillig, John. Sie hat vor drei Jahren geheiratet und lebt seitdem mit ihrem Mann völlig zurückgezogen auf einer winzigen Insel im Norden des Scilly-Archipels. Was ich euch nun erzähle, fällt eigentlich unter die ärztliche Schweigepflicht. Aber ich denke, dass ich sie in Anbetracht der Umstände brechen darf.«
»Natürlich«, sagte Holmes ernst. »Es handelt sich schließlich um einen Notfall.«
»Allerdings. Charles kam vor einem knappen Jahr zum ersten Mal in meine Praxis. Er hatte zuvor zahlreiche Allgemein- und Fachmediziner konsultiert, doch seine Krankheitssymptome waren so vielfältig und diffus, dass ihm ein Herzspezialist schließlich den Besuch eines Psychiaters oder Psychoanalytikers nahegelegt hatte. Obwohl er auch mir gegenüber zunächst behauptete, dass sein Leiden rein körperlich sei, wurde mir sehr schnell klar, dass er unter einer schweren Depression litt.«
»Der Versuch, sich dieses psychische Leiden selbst physisch zu erklären, ist ein typischer Abwehrmechanismus bei Patienten mit diesem Krankheitsbild. Es ist ein unbewusster Vorgang, den man ›Rationalisierung‹ nennt«, warf Holmes ein.
»Richtig. Als ich Charles endlich so weit hatte, eine psychische Erkrankung zumindest in Erwägung zu ziehen, erklärte er mir, dass er spielsüchtig sei.«
»Ich nehme an, es handelt sich dabei ebenfalls um einen Versuch von Rationalisierung, wenn auch um einen subtileren«, diagnostizierte Holmes.
»Ja, Herr Kollege«, bestätigte Penelope und warf ihm einen strengen Blick zu. »Tatsächlich entdeckte ich bald nach dem Beginn der Analyse psychotische Anzeichen eines Verarmungswahns in seinem Verhalten. Charles war wirklich spielsüchtig, aber aufgrund der irrigen Annahme, nur so einer drohenden Armut entgehen zu können.«
»Trotz seines Reichtums?«, fragte Harriet erstaunt.
»Ja, denn er befürchtete, ihn ebenso schnell zu verlieren, wie er ihn erworben hatte. Allerdings hatte sein Besitz einen Nebeneffekt, der zu seinem Leiden erschwerend hinzukam: die soziale Verarmung, die zu einer vollständigen Isolation des Patienten führen kann. Reichtum kann unvorstellbar einsam machen, und Charles hatte praktisch alle Kontakte abgebrochen, weil er glaubte, dass es den Menschen in seinem Umfeld nur um sein Geld gehen würde.«
Harriet seufzte mitfühlend. »Dann lebt er wohl ganz sprichwörtlich in einem goldenen Käfig?«
»Dieses Bild beschreibt seine Lage tatsächlich sehr treffend. Er selbst hat sich einmal als einen Nomaden bezeichnet, der ruhelos von Besitz zu Besitz zieht. Er hat keine Freunde, nur Geschäftspartner und eine einzige echte Bezugsperson, die allerdings Hunderte von Meilen entfernt von ihm lebt.«
»Du meinst seine Schwester?«, fragte Stableford.
Penelope nickte zustimmend.
»Leidet sie auch unter psychischen Störungen?«, wollte Holmes wissen.
»Charles hat mir gegenüber nie etwas in dieser Richtung erwähnt. Allerdings gibt es in seiner Familie wohl eine Neigung zur Schwermut.«
»Du sagtest ›litt‹, Penelope«, bemerkte Stableford.
»Wie bitte?«
»Du sagtest vorhin, dass Tremayne unter einer schweren Depression ›litt‹ und dass er spielsüchtig ›war‹. Heißt das, er ist geheilt?«
»Genau das ist das Problem«, gab Penelope zu. »Von Heilung würde ich in seinem Fall nicht sprechen wollen. Eine Analyse kann sich über Jahre hinziehen, und der Erfolg ist nicht garantiert. Aber ich nahm an – und ich bin eigentlich noch immer davon überzeugt –, dass es ihm im Laufe unserer Gespräche zunehmend besser ging. Doch was, wenn ich mich geirrt habe? Was, wenn ich ihn in eine Situation gebracht habe, die einen Rückfall und vielleicht sogar einen Selbstmord begünstigt haben könnte?«
Irritiert sah Harriet sie an. »Inwiefern hättest du das tun können?«
»Nun, immerhin riet ich ihm zu, als er mir von der möglichen Reise zu seiner Schwester erzählte. Es war sein erster Schritt zu einer echten emotionalen Kontaktaufnahme seit Jahren. Und vielleicht habe ich in meiner Begeisterung über sein Vorhaben die Gefahr des Suizids, die bei vielen schweren Depressionen lauert, nicht ausreichend in Betracht gezogen. Ich muss einfach wissen, was aus ihm geworden ist!«
»Er hatte seine über alles geliebte Schwester also noch nie zuvor auf dieser Insel besucht?«, fragte Stableford ungläubig.
»Nein. Sie schreiben sich regelmäßig, aber sie hatten sich seit ihrer Hochzeit in London nicht gesehen. Darum freute ich mich ja so über seinen Entschluss und hielt die Reise für unbedenklich, bis …« Penelope stockte, dann fuhr sie fort: »Bis ich diesen merkwürdigen Brief von ihm erhielt.«
»Ah, der Brief!«, rief Stableford. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Holmes hatte ihn erwähnt, als er uns in Yorkshire darum bat, euch zu begleiten. Hast du ihn bei dir?«
»Natürlich.« Penelope griff in ihre Manteltasche und zog zwei gefaltete Blätter heraus. Vorsichtig öffnete sie das erste. »Soll ich ihn vorlesen?«
»Bitte!«
»Liebe Penelope …«
»Einen Augenblick!«, unterbrach sie Stableford. »Ist es üblich, dass Patienten ihre Analytiker beim Vornamen nennen?«
Penelope schien von der Frage überrascht zu sein. »Nun, es ist zumindest nicht unüblich. Es hilft, die Distanz abzubauen, schafft ein gewisses Vertrauen und begünstigt so die emotionale Öffnung der Patienten.«
»Ich verstehe. Bitte fahre fort!«
»Liebe Penelope, ich weiß nicht, ob ich diese Nacht überleben werde. Der Sturm heult und greift mit jeder Böe noch erbarmungsloser in die geschlossenen Fensterläden. Es kommt mir vor, als ob er mich ruft und mich auf das tosende Meer hinauslocken will. Ker ist ein unheimlicher Ort, und ich spüre eine dunkle Präsenz, die ich nicht näher beschreiben kann, die aber von mir Besitz zu ergreifen sucht. Als ich meine Schwester am Abend an der Tür der Festung verließ und mich allein auf den Weg hinab zu dem kleinen Haus an der Anlegestelle machte, in dem ich ein Zimmer bewohne, hatte ich ein grauenhaftes Erlebnis. Es war stockdunkel, und dichte Nebelschwaden zogen als Vorboten des Sturms über die Insel hinweg. Die Laternen, die Jennings wohl jeden Abend an den Wendepunkten des Pfades entzündet, der in Serpentinen hinab zur Anlegestelle führt, tauchten den Nebel in ein fahles Licht.«
Stableford räusperte sich. »Bitte entschuldige, dass ich noch einmal unterbreche! Aber weißt du, wer dieser Jennings ist? Ich hatte angenommen, dass nur die Schwester und ihr Mann auf der Insel leben würden.«
»Ich vermute, eine Art Butler, ein Angestellter. Es muss noch ein paar weitere Bewohner auf der Insel geben, so ist zum Beispiel von einem Doktor die Rede, wie ihr gleich hören werdet. Genaueres kann ich dir leider nicht sagen.«
»Nun gut, wir werden es noch früh genug erfahren. Bitte lies weiter!«
Penelope sah auf das Blatt in ihrer Hand. »Ich war ungefähr auf halbem Wege, als vor mir im Schein einer Laterne für einen kurzen Moment eine schemenhafte Frauengestalt auftauchte. Mir blieb fast das Herz stehen. Es war meine Schwester oder ein Wesen, das ihre Gestalt angenommen hatte, denn ich hatte mich ja gerade von ihr verabschiedet! Mich ergriff heillose Panik. Ich drehte um, rannte so schnell ich konnte zur Festung zurück und schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Meine Schwester öffnete mir und erschrak bei meinem Anblick. Natürlich erzählte ich ihr nichts von meiner Begegnung mit ihrer Doppelgängerin, denn sie ist selbst psychisch angegriffen, und ich wollte sie nicht unnötig ängstigen. Peter kam hinzu und bat mich hinein.«
»Ich nehme an, Peter ist der Mann der Schwester«, warf diesmal Holmes ein.
Penelope nickte nur und fuhr fort: »Wir tranken Whisky, und als Elaine zu Bett gegangen war, erzählte ich ihm von meinem Erlebnis. Anfangs lachte er nur. Als er aber mein tiefes Unbehagen spürte, bot er sich an, mich zu meinem Quartier zu begleiten. Ich schämte mich und nahm seine freundliche Offerte doch an, denn ich wusste, dass es mir nicht möglich sein würde, den Weg in dieser Nacht noch einmal allein zu gehen. Es mag dich nicht überraschen, dass wir niemanden trafen, doch ich bin mir sicher, dass ich mir diese gespenstische Begegnung nicht eingebildet habe. Sobald ich mein Zimmer betreten hatte, schob ich den Waschtisch vor die Tür. Jetzt frage ich mich: Warum? Als ob das einen Geist aufhalten würde! Diese Zeilen schreibe ich dir im letzten Licht der Kerze, die auf meinem Nachttisch brennt. Sie wird bald erlöschen, und dann umgibt mich furchtbare Dunkelheit, denn der Stromgenerator ist ausgefallen, und ich wage es nicht, mich im Haus auf die Suche nach Kerzen zu machen. Jennings und der Doktor schlafen in den Nebenzimmern, aber ich weiß, dass sie mir nicht helfen können. Fühlt es sich so an, wenn man seinen Verstand endgültig verliert? Bin ich wahnsinnig geworden? Bete um meine Seele und um die meiner Schwester!« Penelope hob den Kopf und sah die anderen an.
»Und das ist tatsächlich sein letztes Lebenszeichen, soweit dir bekannt ist?«, wollte Stableford wissen.
»Nun, es gibt noch einen Nachtrag: Inzwischen ist es Morgen, und der Sturm hat sich gelegt. Es geht mir besser, und ich habe mich dazu durchgerungen, mein schauriges Erlebnis von gestern Nacht vorerst zu ignorieren und meinen Aufenthalt hier nicht überstürzt abzubrechen. Elaine würde es nicht verstehen. Zudem muss ich vor meiner Abreise mit Peter und dem Doktor sprechen. Sein Einfluss auf meine Schwester macht mir große Sorgen. Ich habe beschlossen, dir diesen Brief dennoch zu schicken. Nicht um dich zu beunruhigen. Verstehe ihn einfach als ein Sitzungsprotokoll aus der Ferne, denn es scheint mir, dass wir uns nach meiner Rückkehr noch einmal gründlich mit den Ursachen meines Nervenleidens auseinandersetzen müssen. Ich melde mich bei dir, sobald ich zurück in London bin. Charles.«
»Bemerkenswert!«, sagte Holmes und nahm einen Schluck aus seinem Flachmann. »Was halten Sie davon, mein Freund?« Er schaute Stableford ins Gesicht und wirkte auf einmal überrascht. »Sie haben doch wohl keine Angst vor Gespenstergeschichten?«
»Ich, wieso?«
»Nun, Sie sind etwas blass um die Nase.«
»Es geht mir gut«, erwiderte Stableford knapp und blickte auf den Horizont. Dann wandte er sich an Penelope: »Gehe ich recht in der Annahme, dass Elaine Tremaynes Schwester ist und dass sie zusammen mit ihrem Mann in einer Festung lebt?«
»So ist es«, antwortete sie. »Und um auf deine Frage von vorhin zurückzukommen«, sie sah Holmes an, »Peter Riven ist Elaines Gatte. Einen Doktor hatte Charles mir gegenüber vor diesem Brief nie erwähnt. Allerdings könnten seine Bemerkungen über die psychische Angegriffenheit seiner Schwester und den starken Einfluss, den der Mann auf sie zu haben scheint, darauf hinweisen, dass es sich bei ihm um einen Psychiater oder Nervenarzt handelt.«
»Möglich«, murmelte Stableford nachdenklich. »Ist der Brief datiert?«
»Nein, aber das Kuvert wurde am 2. April in Hugh Town auf St Mary’s abgestempelt. Ich weiß, dass Charles die Absicht hatte, bis zum Osterfest zu bleiben. Aber der zweite Brief hier belegt, dass er die Insel bereits am 3. April wieder verlassen hat.«
»Und was hat es mit diesem Brief auf sich?«, fragte Stableford.
»Es ist das Schreiben, das ich auf meinen Antwortbrief erhalten habe«, erklärte Penelope und entfaltete das zweite Blatt Papier. »Als er eintraf, war Charles schon abgereist. Mr Riven schrieb mir diese Zeilen.« Sie räusperte sich und begann dann vorzulesen: »6. April 1938. Sehr geehrte Miss Hatton, Ihr Brief, der uns heute zugestellt wurde, hat meinen Schwager leider nicht mehr erreicht. Er ist in den frühen Morgenstunden des 3. April abgereist. Seinen Aufbruch kann man nur als überstürzt bezeichnen, und wir sind durchaus verstimmt, da er sich weder von mir noch – und dies ist in meinen Augen unverzeihlich – von seiner Schwester verabschiedet hat. Ich habe mir erlaubt, Ihr Schreiben kommentarlos an seine Londoner Adresse zu senden. Hochachtungsvoll, Peter Riven.«
»Jetzt verstehe ich deine Sorge«, sagte Stableford ernst. »Er ist also seit etwa vier Wochen verschwunden, und seine vorschnelle Abreise steht in einem klaren Widerspruch zu seiner Aussage, dass es ihm am nächsten Morgen besser ging.«
Penelope nickte wortlos.
»Hast du denn eine Idee, was ihn zu dieser Abreise bewegt haben könnte? Sie wirkt ja fast wie eine Flucht.«
»Die habe ich, John, und dein Vergleich trifft es haargenau. In der Psychiatrie wird dieses Phänomen als ›Fugue‹ bezeichnet, das ist das französische Wort für ›Flucht‹. Es handelt sich dabei tatsächlich um einen unbewussten Impuls aufgrund eines als traumatisch empfundenen Erlebnisses. Der Betroffene verlässt ohne Vorzeichen seine gewohnte Umgebung, wirkt dabei völlig normal, leidet jedoch unter einer fast vollständigen Amnesie und nimmt manchmal sogar eine neue Identität an.«
»Was erklären würde, warum du seit Wochen nichts von ihm gehört hast.«
»Genau. Wenn sich Charles wirklich in solch einem Dämmerzustand befinden sollte, dann hat er zumindest temporär jede Erinnerung an sein altes Leben verloren.«
»Und wie lange kann dieser Zustand andauern?«
»Das ist ganz unterschiedlich. Oft sind es nur einige Stunden, aber es wurden auch Fälle beschrieben, in denen sich die Fugue über mehrere Monate erstreckte.«
»Und seine unheimliche nächtliche Begegnung auf dem Pfad könnte sie ausgelöst haben?«, wollte Harriet wissen.
»Wenn sie für ihn den Anschein des Realen gehabt hat, würde ich es nicht ausschließen wollen. Dazu kommt, dass dieser seelische Ausnahmezustand häufiger bei Patienten mit Depressionen auftritt.«
»Merkwürdig ist nur, dass weder seine Wahnvorstellung von der ›dunklen Präsenz‹ auf der Insel noch seine Angst vor Elaines Doppelgängerin wirklich zum Krankheitsbild einer depressiven Persönlichkeit passen«, bemerkte Holmes. »Das Leben mag ihr zur Last werden, und die Emotionalität kann fast vollständig versiegen, aber der Bezug zur Realität geht selbst bei psychotischen Depressionen eigentlich nie über den von Hattie genannten Verarmungs- oder Verschuldungswahn hinaus.«
»Dann glaubst du also, dass Mr Tremaynes unheimliches Erlebnis nicht ganz und gar seiner Fantasie entsprungen ist?«, fragte Harriet mit einem deutlichen Unbehagen in der Stimme.