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England, 1938: Der Literaturprofessor und Gelegenheitsdetektiv John Stableford freut sich auf ein paar unbeschwerte Tage in der Bibliothek seines Schwiegervaters, dem Vikar von Upper Biggins. Doch als seine Schwägerin im Garten des Pfarrhauses einen mit einem Hakenkreuz markierten Golfball findet, ist es mit der Idylle schlagartig vorbei. Der skandalöse Fund führt John in das benachbarte Herrenhaus, wo ihn sein Freund Dr Holmes erwartet. Noch am selben Abend bricht der Hausherr Sir Edmund Rogie unter rätselhaften Umständen während eines Banketts zusammen. Doch damit nicht genug. Am folgenden Tag geschieht ein Mord, der so unmöglich zu sein scheint, dass Stableford an seinem Verstand zu zweifeln beginnt.
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Seitenzahl: 314
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Ein unmöglicher Mord
Ein Stableford-Krimi aus Yorkshire
von Rob Reef
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Danksagung
Golf-Glossar
Skizze des Parks von Annandale Grange
Impressum
Lesetipps
Für Nadia
»Man müsste ein Gesetz erlassen, welches jeder Kriminalgeschichte ein typisch englisches Umfeld vorschreibt. Sobald ich auf die Worte ›Polizeirevier‹ oder ›Staatsanwalt‹ stoße, ist mein Interesse dahin. Jeder anständige Mord sollte in einem alten Englischen Herrenhaus auf dem Lande geschehen.
KAPITEL 1: Der Hunne im Garten
John Stableford, Professor für Literatur am Londoner Lazarus College, saß in einem alten Ohrensessel in der Bibliothek des Pfarrhauses von Upper Biggins und las genüsslich in einem prachtvoll illustrierten Folianten aus dem 17. Jahrhundert. Er liebte Drydens Vergil-Übersetzungen, kannte diese Erstausgabe von 1697 aber bisher nur aus Erzählungen. Immer wenn er vorsichtig eine Seite umschlug, stieg ihm der typische Geruch alter Bücher in die Nase, eine Mischung aus feuchtem Heu und Vanille. Prescott, ein Kollege aus seinem Nachbarcollege, hatte ihm einmal erklärt, dass dieser spezielle Geruch entstand, wenn sich die organischen Komponenten des Papiers, der Tinte und des Leims zu zersetzen begannen. Aus der Perspektive eines Chemikers mochte dies eine Erklärung sein, doch für Stableford war es ein magischer Duft, der den Geist beflügelte und auf Reisen schickte.
Als er den zweiten Gesang der Aeneis beendet hatte, legte er das Buch beiseite, griff nach seinem Sherryglas und blickte schläfrig durch die weit geöffneten Terrassentüren. Cicero hatte ganz recht: Mehr als einen Garten und eine Bibliothek brauchte es nicht, um zufrieden zu sein. Nicht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Yorkshire vor zwei Tagen bewunderte Stableford die blühenden Apfelbäume im Garten des Vikars. Der Vikar selbst saß nicht weit von ihm an seinem Schreibtisch und arbeitete eifrig an der Predigt für den kommenden Sonntag. Er war ein großer schlanker Mann um die sechzig mit langen Gliedern und einem nicht zu bändigenden weißen Haarschopf. Auf seiner spitzen Nase saß ein goldener Kneifer, den er von Zeit zu Zeit zurechtrückte.
Man kann sich kaum etwas Friedlicheres vorstellen, dachte Stableford, während er seine kurze Bulldog-Pfeife stopfte. Nachdem er sie entzündet hatte, nahm er das Buch vom Beistelltischchen und wollte gerade zu den Abenteuern des Stammvaters der Römer zurückkehren, als Sarah in der offenen Terrassentür erschien.
Sie war die jüngste Schwester von Stablefords Frau Harriet, zwölf Jahre alt und das Nesthäkchen der Familie Taylor. »Papa, Papa!«, rief sie und machte dann eine Pause, um Luft zu holen – und vielleicht auch für einen dramatischen Effekt. »Da ist ein Hunne in unserem Garten!«
»Ein Hunne?« Der Vikar nahm seinen Kneifer ab und blinzelte gegen das warme Licht des Aprilnachmittags. »Er kommt ein wenig spät, nicht wahr? Wann fielen die Hunnen in Europa ein, John?«
Stableford musste schmunzeln. »Im vierten Jahrhundert, Hochwürden?«
»Ganz recht, ganz recht. Was tut er denn in unserem Garten, mein Kind?«
»Er stochert mit einem Golfschläger in Mamas Rosen herum«, antwortete Sarah unbeeindruckt. »Und wenn du mir nicht glaubst, kannst du ja gerne selbst nachschauen! Ich wette, das ist ein Spion!«
Der Vikar seufzte und legte seinen Bleistift beiseite. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du einen Deutschen meinst, wenn du von einem ›Hunnen‹ sprichst, Sarah?«
»Ja«, erwiderte das Mädchen und wurde rot. »Oh Gott, John, es tut mir leid! Ich hatte vergessen, dass deine Mutter eine Deutsche war. Wie gedankenlos von mir! Es ist nur so: Alle in meiner Klasse sprechen von den ›Hunnen‹, seitdem uns Miss Withers mit den Daten des Großen Kriegs traktiert, und ich habe einfach nicht nachgedacht.«
»Es ist schon gut«, sagte Stableford, doch der Vikar war wohl anderer Meinung.
»Ich wünschte mir, du würdest weniger von diesen grässlich vulgären Groschenromanen lesen! Kein Wunder, dass du überall Schurken und Spione siehst. Ich muss wohl einmal ein ernstes Wort mit Miss Peabody sprechen.«
»Miss Peabody?«, fragte Stableford amüsiert.
»Ganz recht. Sie ist die Leiterin unserer Dorfbibliothek. Eine wahre Stütze für die Gemeinde, aber zu meinem Leidwesen eben auch eine begeisterte Leserin von Sensationsromanen.« Der Vikar seufzte. »Versteh mich bitte nicht falsch, John! Ich habe deine Detektivgeschichten selbst studiert und fand sie durchaus unterhaltend, aber ich frage mich, ob derlei Literatur wirklich in die Hände unserer Kinder gehört. Nein, lass mich ausreden!«, setzte er schnell hinzu, als Sarah zu protestieren begann. »Ich habe nichts gegen die Abenteuer von Sherlock Holmes oder Buchans Spionageromane. Mir hat sogar die Verfilmung der ›39 Stufen‹ gefallen, die vor ein paar Jahren im großen Zelt auf unserem Sommerfest vorgeführt wurde. Aber Bulldog Drummond und Dr Fu-Manchu gehören meines Erachtens auf eine schwarze Liste. Sie sind zu brutal, ja geradezu sadistisch, und wirken verstörend auf unsere Jugend. Sie sollten verboten werden!«
»Hütet Euch vor dem Zorn eines sanftmütigen Mannes!«, bemerkte Stableford und lächelte.
»Wie meinen? Ah, Dryden, nicht wahr? Ausgezeichnet! Aber lass mich darauf mit einem anderen Zitat dieses Katholiken antworten: ›Sie fürchtet nicht Gefahr, denn sie weiß noch von Sünde nichts.‹ Sarah ist noch ein Kind. Sie hat eine blühende Fantasie und du siehst ja selbst, was dabei herauskommt, wenn sie ihren reinen unschuldigen Geist mit dieser Sensationsliteratur füttert: ein spionierender ›Hunne‹ in unserem Garten! Mit einem Golfschläger, obwohl hier doch weit und breit kein Golfplatz ist. Vielleicht sollte ich dieses Thema einmal in einer Predigt ansprechen.« Damit schien die Angelegenheit für den Vikar erledigt zu sein. Er setzte seinen Kneifer wieder auf und beugte sich über die aufgeschlagenen Bücher auf seinem Schreibtisch.
Stableford sah zu Sarah hinüber, die unschlüssig von einem Bein auf das andere trat. Seine Hamburger Großmutter hätte sie wohl einen »Backfisch« genannt. Sie war kein Kind mehr, aber sie war auch noch weit davon entfernt, ein »Fräulein« zu sein. Wie Harriet hatte sie die kupferroten Locken ihrer Mutter geerbt. Sie trug einen zu großen dunkelblauen Wollpullover, einen zu kurzen dunkelgrünen Rock, Kniestrümpfe, die ihr bis auf die Knöchel gerutscht waren, und schwarze Riemchenschuhe. Natürlich teilte Stableford die Skepsis ihres Vaters, aber er war sich auch sicher, dass ihre Aufregung nicht gespielt war. Sie hatte jemanden im Garten gesehen, so viel stand wohl fest. Vielleicht einen Landstreicher? Aber warum nannte sie ihn einen »Hunnen«? Wäre ein spionierender »Bolschewik« bei der im ganzen Land herrschenden Hysterie um die »Rote Gefahr« nicht ein viel passenderes Klischee gewesen? Aber die Fantasie der Jugend ging offenbar ihre eigenen Wege.
Mit zwölf ist die Welt ein wunderbar geheimnisvoller Ort, dachte Stableford in einem Anflug von Sentimentalität und legte dann etwas wehmütig den Folianten wieder auf den kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel. Solange sie blüht, hat die Fantasie ein Recht, gehört zu werden!
»Sarah?«
»Mhm?«
»Wie kommst du darauf, dass es sich bei dem Eindringling ausgerechnet um einen Deutschen handelt?«
»Er fluchte!«, antwortete Sarah und blickte vorsichtig zu ihrem Vater hinüber. »Ich habe natürlich nicht alles verstanden, aber er wirkte sehr aufgebracht und sagte dann so etwas wie ›Himmel-Herrgott-Sakrament!‹ und ›Wo ist dieser verfluchte Ball?‹.«
»Das klingt allerdings deutsch. Aber wie kommt er dazu, in eurem Garten einen Golfball zu suchen?«
»Das weiß ich auch nicht, doch er war wirklich da!«
»Dann sollten wir der Sache mal auf den Grund gehen«, sagte Stableford, während er sich aus dem Sessel erhob. »Zeig mir, wo du ihn gesehen hast!«
Sarah nahm ihn bei der Hand und führte ihn an den Apfelbäumen vorbei zu einem Rosenbeet am hinteren Ende des Pfarrgartens. »Hier hat er gestanden«, sagte sie schließlich. »Ich kam mit meinem Rad um das Haus herum und sah, wie er mit einem Golfschläger in diesen Büschen herumstocherte.«
»Hat er dich bemerkt?«
»Nein, ich denke nicht. Ich hatte mich dort hinter den Fliederbüschen versteckt. Er fluchte und verschwand dann hinter den Sträuchern.« Sie zeigte auf eine hohe Hecke, die das Grundstück begrenzte.
»Befindet sich dort nicht das Anwesen der Rogies, der Park von Annandale Grange?«, fragte Stableford.
Sarah nickte.
»Harriet hat mir letztes Jahr von dem Herrenhaus erzählt, als wir hier unsere Hochzeit gefeiert haben. Wenn ich mich richtig erinnere, ist sie mit der Tochter des Hauses zur Schule gegangen. Wie hieß sie doch gleich?«
»Bella«, sagte eine freundliche Stimme hinter ihnen. »Annabella Rogie.«
Stableford drehte sich um und sah in Harriets Gesicht.
»Hier habt ihr euch also versteckt. Papa erzählte mir, dass ihr auf der Jagd nach einem ›Hunnen‹ seid.«
»Hallo Harry!«, begrüßte Sarah ihre Schwester. »Ja, er glaubt mir nicht, aber John und ich sind dem Eindringling auf den Fersen. Ich bin froh, dass du einen Detektiv geheiratet hast.«
Harriet lächelte. »Ich auch, Sarah. Darf ich mich euren Nachforschungen anschließen?«
»Natürlich.« Schnell berichtete Sarah noch einmal von ihrem Erlebnis, dann machten sich die drei auf die Suche nach Spuren und fanden tatsächlich bald frische Fußabdrücke im Rosenbeet.
»Männerschuhe der Größe 8 oder 9«, stellte Stableford mit gespielter Ernsthaftigkeit fest. »Und wenn man genau hinsieht, erkennt man sogar ein Lochmuster im Sohlenabdruck. Die Sache wird interessant. Wenn mich nicht alles täuscht, trägt unser ›Hunne‹ tatsächlich Golfschuhe mit Stahlspikes.«
»John!«, sagte Harriet.
Stableford richtete sich auf. Der Klang ihrer Stimme verriet ihm untrüglich, dass sie etwas wirklich Beunruhigendes entdeckt hatte. Er trat neben sie. Stumm zeigte sie vor sich auf den Boden. Mitten im Beet lag ein Golfball. Im ersten Moment verstand Stableford nicht, was Harriet so erschreckt hatte, doch dann traute er seinen Augen kaum: Auf dem Ball, der zwischen Mrs Taylors Rosensträuchern lag, prangte ein schwarzes Hakenkreuz.
KAPITEL 2: Hinter der Hecke
»Mensch!«, rief Sarah aufgeregt und betrachtete den Ball in Stablefords Hand. »Papa wird Augen machen!«
»Das wird er ganz sicher«, erwiderte Stableford und reichte ihr das Beweisstück. »Lauf zurück ins Haus und zeig ihm das! Harriet und ich werden uns hier noch ein wenig umschauen.«
Sarah nickte und rannte davon. Als sie außer Sicht war, zog Stableford Harriet an sich. Sie küssten sich und er fuhr ihr durch die kurz geschnittenen kupferfarbenen Locken, die nach Veilchen dufteten. Doch dann löste sich Harriet von ihm und schaute ihn mit ihren graublauen Augen ernst an.
»Unser Fund hat dich also ebenso beeindruckt wie mich«, stellte Stableford fest. »Hast du eine Erklärung für den Golf spielenden ›Hunnen‹?«
»Nein, das heißt keine sinnvolle. Wenn er hier tatsächlich nach seinem verschlagenen Ball gesucht haben sollte, dann muss er ihn vom Grundstück der Rogies aus gespielt haben.« Harriet zeigte auf die Hecke. »Von der Dorfstraße wird er kaum gekommen sein und hinter Mr Hicks Cottage beginnt sofort der Wald.«
»Spielen die Rogies denn Golf?«
»Nun, das ist das Merkwürdige: Im Park von Annandale Grange wurde tatsächlich einmal Golf gespielt. Allerdings liegt das sehr lange zurück. Ich erinnere mich dunkel an Fairways und Fahnen, da muss ich fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. 1916 wurde das ganze Gelände dann zum Sperrgebiet erklärt, denn Sir Edmund Rogie hatte das Anwesen dem Militär zur Verfügung gestellt. Er war selbst ein hoher Offizier und blieb mit seiner Familie während dieser Zeit im Herrenhaus wohnen. Wenn ich Bella besuchte, musste ich die Straße entlang bis zum Tor gehen. In der Lodge dort waren Soldaten postiert und einer von ihnen begleitete mich dann immer bis zum Haus. Das war unheimlich, aber auch ziemlich aufregend. Als das Militär 1923 schließlich abzog, hatte sich die Natur den Park zurückerobert. Meines Wissens hat sich an diesem verwilderten Zustand bis heute nichts geändert.«
»Aber spricht der Golfball, den wir gerade gefunden haben, nicht dafür, dass sich vielleicht doch etwas geändert haben könnte? Wann hast du den Park das letzte Mal besucht?«
»Ehrlich gesagt habe ich ihn seit 1916 nicht mehr betreten. Auch nach dem Abzug des Militärs hatte Papa es uns verboten, denn es gab Gerüchte, dass dort allerlei Kriegsgerät getestet worden war. Er hatte wohl Angst, dass das Militär Waffen oder Munition zurückgelassen haben könnte.«
»Und in den vergangenen fünfzehn Jahren soll sich dort nichts geändert haben?«, fragte Stableford ungläubig.
»Zumindest halte ich es für unwahrscheinlich, dass der Golfplatz wieder hergerichtet wurde«, erwiderte Harriet. »Wer sollte denn hier auch spielen? Sir Edmund muss inzwischen über achtzig sein und die Dame des Hauses kann ich mir beim besten Willen nicht mit einem Golfschläger in der Hand vorstellen. Außerdem soll sie viel Zeit in London verbringen.«
»Du meinst Bellas Mutter?«
»Oh nein! Bellas Mutter starb während des Krieges. Ich meine Nita Nye.«
»Nita Nye?« Stableford war für einen kurzen Moment sprachlos. »Die berühmte West-End-Diva?«, brachte er schließlich heraus.
Harriet musste lachen. »Genau die! Aber die Zeiten ihrer großen Erfolge sind schon lange vorbei. Ich habe sie nur ein paar Mal hier gesehen. Fast alles, was ich über ihre Beziehung zu Sir Edmund weiß, stammt von Sarah. Sie schenkt seit Jahren am Handarbeitsnachmittag im Pfarrhaus den Tee aus. Zu diesem Termin treffen sich regelmäßig die älteren Damen unseres Dorfes. Es ist die reinste Gerüchteküche.«
»Und was erzählt man sich dort so über Nita Nye?«
»Nun, sie soll nach dem Krieg von ihrem Agenten um den Großteil ihres Vermögens gebracht worden sein. Als kurz darauf ihr Stern zu sinken begann, kam sie schnell in finanzielle Nöte und schloss sich gezwungenermaßen einer zweitklassigen Theatertruppe an, mit der sie übers Land tingelte. Sie führten alte West-End-Erfolge auf, und auch wenn sich der Rummel um ›die Nye‹ in London längst gelegt hatte, war ihr Name doch noch immer groß genug, um die Säle unserer Bade- und Kurorte zu füllen. Bei einem Engagement in Scarborough soll sie dann Sir Edmund kennengelernt haben, der dort einen Kongress der Königlichen Entomologischen Gesellschaft besuchte.«
»Sir Edmund sammelt Insekten?«
»Ja. Die meisten hat er in Schaukästen aufgespießt, aber er ist auch ein leidenschaftlicher Imker.«
»Kommen wir doch lieber wieder zu den Gerüchten zurück«, sagte Stableford, dem Insekten suspekt waren und der von Bienen nicht viel mehr wusste, als dass sie an einem Ende stechen konnten.
»Wie du meinst.« Harriet lächelte. »Nita Nye soll sich noch in Scarborough über den Vermögensstand Sir Edmunds erkundigt haben und zog kurze Zeit später mit ihrem Sohn Nero in das Herrenhaus ein.«
»Nero?«
»Ja. Er ist das Ergebnis einer weit zurückliegenden Amour fou mit einem italienischen Grafen, der noch vor Neros Geburt reumütig zu seiner Frau zurückkehrte. Ich nehme an, dass Mrs Nye der fragwürdige Charakter des gleichnamigen römischen Kaisers unbekannt oder egal war. ›Nero‹ klang italienisch und passte perfekt zu ihrem Nachnamen.«
»Den sie auch nach der Eheschließung mit Sir Edmund weiter führt.«
»Nein, John«, widersprach Harriet. »Die Liaison zwischen Sir Edmund und Mrs Nye war und ist ein großer Skandal in Upper Biggins, denn die beiden haben bis heute nicht geheiratet. Sarah erzählte mir erst gestern, dass Miss Peabody von der Köchin, die im Herrenhaus beschäftigt ist, erfahren haben soll, dass Mrs Nyes Kammerzofe seit vielen Jahren regelmäßig theaterreife Szenen miterleben muss, in denen ihre Herrin Sir Edmund unter Einsatz von Tränen und fliegendem Porzellan zur Heirat drängt. Bisher ist der alte Herr in diesem Punkt allerdings standhaft geblieben. Ich denke, dass er dabei vor allem an Bella denkt.«
»Ihr Verhältnis zu Mrs Nye ist also nicht das beste?«
Harriet nickte nachdenklich. »Es ist schade, dass du sie noch nicht kennengelernt hast. Vielleicht können wir ihr in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten. Ich hatte sie letztes Jahr zu unserer Hochzeit eingeladen, aber sie war zu dieser Zeit, glaube ich, in New York. Wir schreiben uns allerdings hin und wieder. Von Nita Nye erzählt sie zwar wenig, aber zwischen den Zeilen kann man einiges herauslesen. Da die Dame bei Sir Edmund in Bezug auf die Eheschließung offenbar nicht weiterkommt, versucht sie wohl schon seit einiger Zeit, eine Heirat zwischen Bella und ihrem Sohn Nero anzubahnen. Und ich kann dir versichern, dass Bella von diesem Plan ganz und gar nicht begeistert ist.«
»Hm«, machte Stableford und sah zur Hecke hinüber. »Sie versucht, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, nehme ich an. Das alles ist zwar interessant, bringt uns dem unerhörten Vorfall, dessen Zeugin deine Schwester vorhin geworden ist, aber wohl kaum näher. Wollen wir dem in die Jahre gekommenen Verbot deines Vaters trotzen und einen Blick in den Park riskieren?«
»Ich dachte schon, du fragst nie«, antwortete Harriet und ging voran.
Nachdem sie sich einen Weg durch die dichte Eibenhecke gebahnt hatten, standen sie vor einer alten brusthohen Mauer aus roten Ziegelsteinen. In einem Abstand von etwa zehn Yards waren auf der Krone nachträglich Eisenträger eingelassen worden, zwischen denen mehrere Reihen Stacheldraht gespannt waren. Stableford betrachtete den verrosteten Draht, der den dahinterliegenden blauen Himmel zerschnitt, und erschauderte. Orte mochten sich ändern, aber der Himmel war überall derselbe. Sein Blick war nun der eines Gefangenen. Er erinnerte sich schmerzlich an das deutsche Lager für Offiziere, in dem er während des Krieges fast ein Jahr lang interniert gewesen war, bevor ihm die Flucht zurück nach England gelungen war. Mühsam versuchte er, diese dunklen Gedanken abzuschütteln. Dann gab er sich einen Ruck und folgte Harriet, die in der Zwischenzeit weiter an der Mauer entlanggegangen war. Nach etwa dreißig Yards fanden sie eine Stelle, an der ein Träger eingeknickt war. Auf der Mauerkrone entdeckten sie feuchte Erdreste.
»Damit ist wohl geklärt, dass Sarahs ›Spion‹ tatsächlich vom Grundstück der Rogies kam«, stellte Stableford fest und drückte den rostigen Draht nach unten. Er half Harriet über die Mauer und kletterte dann selbst hinterher. Auf der anderen Seite landete er in kniehohem Farn und blickte auf eine grüne Wand aus dichten Haselnusssträuchern. »Du hast nicht übertrieben, als du den Park ›verwildert‹ nanntest«, sagte er. »Aber da wir nun schon einmal hier sind, können wir ja wenigstens nachschauen, was sich hinter den Sträuchern verbirgt.« Er ging langsam voran und hielt die Zweige für Harriet zurück, die ihm folgte. Nach etwa zwanzig Yards blieb er abrupt stehen.
»Was siehst du?«, fragte Harriet neugierig.
Stableford machte einen Schritt zur Seite. »Die Erklärung für den Golfer in eurem Garten.«
Sie standen am Rande eines perfekt gemähten Grüns, in dessen Mitte eine rote Fahne das Loch markierte. Unweit davon befand sich ein frisch präpariertes Tee. Der Grasschnitt war nur wenige Tage alt.
»Sarahs ›Hunne‹ muss seinen Annäherungsschlag von dort drüben aus verzogen haben«, erklärte Stableford und zeigte auf das leicht abfallende Fairway zu seiner Rechten. »Es gibt hier keine Pfähle, die ein ›Aus‹ markieren, und so machte er sich wohl auf der anderen Seite der Mauer auf die Suche nach seinem Ball – wahrscheinlich in der Hoffnung, ihn von dort doch noch auf das Grün spielen zu können.«
»Unglaublich«, sagte Harriet.
»So sind die Regeln«, entgegnete Stableford irritiert.
»Ich meine unglaublich, dass niemand etwas von der Wiederherstellung des Golfplatzes mitbekommen haben soll, Sherlock. Das wäre doch eine Sensation in einem kleinen Dorf wie Upper Biggins, meinst du nicht? Außerdem gibt es hier genug junge Burschen, die man für die Arbeiten im Park hätte anstellen können. Aber das ist wohl nicht geschehen, sonst hätte Papa uns sicher davon erzählt. Man möchte fast meinen, dass die alten Bahnen heimlich instand gesetzt wurden.«
»Damit deutsche Spione hier unerkannt Golf spielen können?«, fragte Stableford amüsiert. »Pass lieber auf, was du sagst! Dein Vater würde dir für diese Theorie glatt das Lesen von Sensationsromanen verbieten.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Harriet und lachte. »Er verschlingt sie ja selbst! Ich kenne sein Shilling-Shocker-Versteck hinter den Bänden von Wesleys Predigten in der Bibliothek. Bulldog Drummond, Dr Fu-Manchu, ›Tiger‹ Standish – du findest sie alle dort. Er liest sie am liebsten, wenn er mit dem Schreiben der Sonntagspredigt fertig ist.«
»Was du nicht sagst!« Stableford war verblüfft. Er schaute sich um, doch da er nichts Außergewöhnliches mehr entdeckte, schlug er vor, dass sie sich auf den Rückweg machten. »Was hältst du von ›Das Rätsel von Annandale Grange?‹«, fragte er unvermittelt, als sie gerade die Apfelbäume im Pfarrgarten passierten.
»Wie bitte?«
»Nun, als Titel für ein neues Stanford-Blake-Abenteuer! Der Beginn ist doch recht vielversprechend, meinst du nicht?«
»Sarah und Papa würden es lieben«, antwortete Harriet und nahm seine Hand.
KAPITEL 3: Das Abendmahl
»Und ihr habt wirklich nichts davon mitbekommen?«, fragte Harriet ungläubig und blickte abwechselnd in die Gesichter ihrer Eltern. Der gefundene Golfball war die Sensation des Nachmittagstees gewesen, doch erst jetzt, beim gemeinsamen Abendessen, hatten John und sie von ihrer Entdeckung auf der anderen Seite der Mauer erzählt.
»Nun«, begann ihre Mutter etwas verlegen. »Seit letzter Woche habe ich tatsächlich hin und wieder Motorengeräusche von dort drüben vernommen, aber ich habe mir nichts dabei gedacht.«
»Sagtest du nicht, es wäre auch wirklich an der Zeit, dass man den Park in Ordnung bringen würde, Elizabeth?«, mischte sich ihr Vater ein, während er die Schüssel mit den dampfenden Kartoffeln an John weiterreichte.
»Oh, sicher!«, erwiderte Harriets Mutter. »Aber dass Sir Edmund den Golfplatz wieder herrichten lässt, konnte doch wirklich niemand ahnen. Ich weiß nicht einmal, ob er noch einen Schläger halten kann. Mrs Hicks hat mir erst vor ein paar Tagen erzählt, dass er kaum noch das Haus verlässt. Sie beliefert die Küche von Annandale mit Eiern und Speck«, erklärte sie John, dann wandte sie sich wieder ihrem Mann zu: »Und die Köchin erwähnte ihr gegenüber, dass es um Sir Edmunds Gesundheit nicht zum Besten stehen würde.«
»Wer lebt denn sonst noch in diesem Haus?«, fragte John eher beiläufig. »Ich weiß von Sir Edmunds Tochter Bella und seit heute Nachmittag auch von Nita Nye und ihrem Sohn. Wie hieß er doch gleich?«
»Nero. Nero Nye«, antwortete Sarah und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Der Name passt zu ihm. Er ist ein aufgeblasener Gockel, der sich für etwas Besonderes hält, und grüßt mich nicht einmal zurück, wenn ich ihn auf der Straße treffe. Vor ein paar Wochen half ich Mrs Morris bei der Inventur ihres Dorfladens. Es war zur Mittagszeit und das Geschäft war geschlossen. Plötzlich tauchte Nero auf und blieb vor dem Schaufenster stehen. Er dachte wohl, dass der Laden leer sei, und betrachtete sein Spiegelbild. Dann begann er sich zu drehen und zu wenden wie ein Mannequin, rückte seine Krawatte zurecht, lächelte sich selbstverliebt zu und verschwand wieder. Ein Schnösel eben!«
»Ganz recht, mein Kind«, sagte Harriets Vater zu ihrer Verwunderung. »Vielleicht etwas plakativ formuliert, aber in der Aussage durchaus stimmig. Er ist Mitte dreißig, lebt von Sir Edmunds Geld und gefällt sich in der Pose eines Dandys. Du kennst das Sprichwort ›Un inglese italianato è un diavolo incarnato‹, John? Genau so führt er sich auf.«
»Es ist bemerkenswert, dass ein südlich inspirierter Dandy in Yorkshires rauem Klima gedeiht«, sagte John amüsiert. »Und mehr Bewohner gibt es nicht?«
»Oh doch!«, entgegnete Harriets Mutter überrascht.
Die tagelange Wiederherstellung eines Golfplatzes auf dem Nachbargrundstück mochte ihr entgehen, aber wenn es um die Bewohner von Upper Biggins ging, wusste niemand besser Bescheid als sie. So war es schon gewesen, als Harriet ein Kind gewesen war, und offenbar hatte sich nichts daran geändert.
Ihre Mutter tastete nach ihrem Dutt, rückte ihren Stuhl etwas näher an den Tisch heran und sagte dann fast geheimnisvoll: »Da gibt es noch die Saintclairs.«
»Ein Ehepaar?«, fragte John.
»Geschwister. Phillipa, genannt Pip, und Robert. Sie sind die Kinder von Sir Edmunds Schwager und müssen jetzt beide um die dreißig sein.«
»Ihr Vater war der Bruder von Sir Edmunds verstorbener Gattin?«
»Genau. Als Peter Saintclairs Frau damals starb, holte ihn seine Schwester nach Annandale. Dort lebte er mit Pip und Robert bis zu seinem Tod. Er war mittellos und Sir Edmund ließ die beiden Kinder auch danach weiter bei sich wohnen. Robert ist mittlerweile sein Sekretär.«
»Und die Schwester?«
»Nun, Pip versucht sich als Hausdame, aber ich habe gehört, dass Mrs Nye dieses Arrangement nicht wirklich goutiert.«
»Und dann ist da noch Simon«, warf Sarah ein und wurde rot.
»Das stimmt, mein Engel«, sagte ihre Mutter. »Er ist allerdings kein Hausbewohner im gesellschaftlichen Sinne. Simon Hall ist der Chauffeur der Rogies, ein ganz reizender junger Mann. Schon sein Vater Thomas war Sir Edmunds Chauffeur. Er war ein brillanter Techniker und ein sehr guter Fotograf, der in der Garage sogar eine eigene Dunkelkammer besaß. Fast alle alten Fotos der Bewohner von Upper Biggins stammen von ihm. Er lebte mit seinem Sohn direkt über der Garage.«
»Und Simons Mutter?«, fragte John.
»Die hat ihren Mann kurz nach der Geburt ihres Sohnes verlassen. Als Simon sieben oder acht Jahre alt war, verschwand dann auch noch sein Vater ganz plötzlich über Nacht. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Sir Edmund nahm den Jungen auf und sorgte für ihn, bis er die Stellung seines Vaters einnehmen konnte.«
»Sir Edmund scheint ein anständiger Mensch zu sein«, stellte John nachdenklich fest. »Gibt es denn sonst noch etwas über ihn zu erzählen?«
»Er sammelt Insekten«, antwortete Sarah und schüttelte sich.
»Das habe ich schon gehört und ich teile deine Skepsis gegenüber dieser Freizeitbeschäftigung. Aber es gibt doch sicherlich noch mehr zu berichten.«
Harriets Mutter überlegte kurz, dann sagte sie: »Nun, er war ein ziemlich hoher Offizier zur Zeit des Großen Krieges und stellte dem Militär damals sein Anwesen zur Verfügung. Der Park von Annandale wurde zum Sperrgebiet erklärt. Ehrlich gesagt wissen wir bis heute nicht, was sich in diesen düsteren Jahren dort abgespielt hat.«
»Das stimmt«, pflichtete ihr Harriets Vater bei. »Bis auf den Flugzeuglärm haben wir nichts von dort drüben mitbekommen.«
»Im Park gab es ein Flugfeld?«
»Nein, die Doppeldecker flogen nur alle paar Wochen sehr tief über das Anwesen. An bestimmten Tagen taten sie das fast stündlich, dann hatten wir wieder einige Wochen Ruhe.«
»Und ihr habt auch später Sir Edmund nie gefragt, was der Grund für diese Flüge war? Er ist doch euer Nachbar und Harriet ist mit seiner Tochter befreundet.«
»Das schon, aber …«
»Er ist katholisch«, mischte sich Sarah ein. »Die Rogies gehören zur Gemeinde von Lower Biggins. Wir sind also natürliche Feinde.«
»Sarah!«, ermahnte sie ihr Vater scharf. »Wir sind alle Gottes Kinder, auch die Katholiken. Sir Edmund ist ein ehrenwerter Gentleman, selbst wenn sein Verhältnis zu Mrs Nye durchaus skandalös genannt werden muss. Der katholische Glaube begünstigt freilich derlei frevelhaftes Verhalten, denn es liegt in seiner Natur, dass er die Fleischeslust …«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Harriet atmete dankbar auf. Ihr Vater blickte sich irritiert im Zimmer um. Die Leitung im Pfarrhaus war schon vor vielen Jahren gelegt worden, doch da er jegliche Form moderner Technik ablehnte und die Anschlussnummer wie ein Staatsgeheimnis hütete, war der Apparat praktisch nie in Gebrauch. Für ihn war das Telefon eine Art Feuermelder, eine für den Notfall reservierte Alarmanlage. Während er sich dem Apparat zögerlich näherte, kam es Harriet in den Sinn, dass sie ihn tatsächlich nur ein einziges Mal hatte telefonieren sehen. In gewisser Weise hatte es sich damals auch wirklich um einen Notfall gehandelt, denn ihre Mutter war zu ihrem vierzigsten Geburtstag von einer Freundin nach Paris eingeladen worden und ihr Vater hatte ihr nach reiflicher Überlegung und dem Abwägen aller Eventualitäten von eben jenem Apparat aus in seinem besten Anzug gratuliert.
Als er nun das Telefon erreichte, rückte er seine Kragen zurecht, räusperte sich und nahm dann vorsichtig den Hörer ab. »Hier spricht Dr Samuel Taylor, der Vikar von Upper Biggins«, sagte er langsam und mit übertriebener Betonung, dann lauschte er. »Ganz recht … Gewiss … Einen Moment bitte!« Er legte den Hörer vorsichtig neben den Apparat. »Es ist für dich, John. Wohl ein Kollege aus London, nehme ich an.«
KAPITEL 4: Dr Holmes am Apparat
»Überraschung!«, rief eine leicht verzerrte Stimme am anderen Ende der Leitung, nachdem sich Stableford gemeldet hatte.
»Sind Sie das, Holmes?«
»Gut erkannt! Die Verbindung ist wohl besser, als ich dachte. Jetzt raten Sie mal, von wo aus ich Sie anrufe!«
»Aus London?«
»Kalt! Ganz kalt! Das können Sie besser! Ich gebe Ihnen einen Tipp: Ich melde mich aus der größten Grafschaft unseres Königreiches.«
»Sie sind in Yorkshire?«
»Ausgezeichnet! Ja, Yorkshire. Aber es kommt noch besser! Ich befinde mich in einem alten Herrenhaus nicht einmal fünfhundert Yards von Ihnen entfernt. ›Annandale Grange‹ heißt der alte Kasten. Tatsächlich grenzt der Park des Anwesens an das Pfarrhaus Ihres Schwiegerpapas.«
»Das erklärt es«, sagte Stableford ruhig.
»Wie meinen?«
»Nun, wir hatten heute Nachmittag einen Golf spielenden Gast im Pfarrgarten. Er war wohl auf der Suche nach seinem Ball, den wir inzwischen gefunden haben. Sie haben dort drüben Besuch aus Deutschland, nicht wahr?«
»Hm, ja«, gab Holmes zu. »Ich weiß zwar nicht, wie Sie das erraten haben, aber genau aus diesem Grund rufe ich an. Die Situation hier erfordert Ihre Anwesenheit. Ich kann am Telefon nicht darüber sprechen, aber Sie können sich sicherlich denken, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, die die nationale Sicherheit betrifft. Könnten Sie Sir Edmund Rogie morgen Nachmittag Ihre Aufwartung machen? Zusammen mit Harriet, versteht sich.«
»Sicher. An welche Uhrzeit hatten Sie denn gedacht?«
»Vier Uhr wäre perfekt. Ich werde Sie in der Nähe der Lodge erwarten. Und noch eines: Bitte erscheinen Sie in Abendgarderobe! Es wird später ein Bankett stattfinden, an dem Sie beide teilnehmen werden.«
»Nun gut. Dann sehen wir uns morgen.«
»Ta-ta!«, rief Holmes, dann wurde die Verbindung mit einem lauten Knacken unsanft beendet.
Wie in Trance ging Stableford zurück zum Tisch und setzte sich neben Harriet. Seit seinem Besuch im War Office vor drei Monaten hatte er auf seinen ersten Einsatz für den Inlandsgeheimdienst gewartet. Holmes hatte ihn nach ihren ersten beiden gemeinsamen Abenteuern endlich rekrutieren können und war nun sein offizieller Verbindungsmann.
Jetzt ist es also so weit, dachte Stableford mit gemischten Gefühlen.
Was würde ihn und Harriet morgen erwarten? Holmes’ Andeutungen waren mehr als deutlich gewesen. Konnte es wirklich ein Zufall sein, dass sie sich in direkter Nachbarschaft befanden? Und woher kannte Holmes überhaupt ihren Aufenthaltsort?
»Ist alles in Ordnung, John?«, fragte Harriet.
»Oh ja, sicher«, antwortete Stableford mit gespielter Heiterkeit. »Bestens. Hast du ein Abendkleid dabei?«
»Ein Abendkleid?«
»Ja. Wir werden morgen an einem Bankett teilnehmen.«
»Dann wollt ihr uns schon wieder verlassen?«, rief Mrs Taylor bestürzt. »Aber Harriet, deine Schwestern kommen doch in drei Tagen zum Geburtstag deines Vaters! Ihr habt euch so lange nicht gesehen.«
»Keine Angst, Elizabeth«, beschwichtigte Stableford seine Schwiegermutter. »Wir werden nicht abreisen. Das Bankett findet im Herrenhaus der Rogies statt.«
»Bei den Rogies?« Der Vikar blickte auf und verfehlte sein Glas, in das er gerade Wein nachschenken wollte.
»Oh Samuel!« Mrs Taylor reichte ihm das Salznäpfchen.
»Dann war es also doch ein Spion, den ich im Garten entdeckt habe!«, sagte Sarah triumphierend. »Und du sollst ihn während des Festes entlarven, weil du Deutsch sprechen kannst, John?«
Stableford überlegte einen Moment und kam dann zu dem Schluss, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen Grund gab, etwas zu verschweigen. »Das war Dr Holmes am Apparat«, erklärte er. »Ihr kennt ihn alle von unserer Hochzeit. Er war mein einziger Gast.«
»Percy!«, rief Sarah. »Der war lustig. Er hat sogar Papa zum Lachen gebracht.«
»Bis zur Brautentführung«, warf Mrs Taylor ein.
»Ganz recht«, meinte der Vikar. »Das war wohl der Tiefpunkt der Feier.«
»Aber er hat sich sehr höflich entschuldigt, Samuel«, gab Mrs Taylor zu bedenken.
»Das hat er, und es war ja auch wirklich nett gemeint«, sagte Stableford. »Er hatte auf einer Reise durch Bayern davon gehört und dachte wohl, es sei ein typisch deutscher Brauch. Leider kannte ich ihn nicht.«
»Wahrscheinlich spricht man im Red Lion noch heute von Percy und der Frau in Weiß«, sagte Harriet düster. »Wir saßen zwei Stunden an der Bar, tranken einen Dubonnet nach dem anderen und warteten vergeblich auf den Bräutigam, bis Percy ein Einsehen hatte und unsere Rückkehr empfahl.«
»Nun, sie kam spät, aber immerhin nicht zu spät, nicht wahr?«, entgegnete Stableford. »Den Anlass für das Bankett kenne ich übrigens nicht, aber ich würde ausschließen, dass sich ein deutscher Spion unter die Gäste gemischt hat, Sarah.«
»Vielleicht hat Mrs Nye es ja doch endlich geschafft, Sir Edmund zur Verkündung ihrer Verlobung zu bewegen«, überlegte Mrs Taylor laut.
»Vielleicht.« Harriet wirkte nachdenklich. »Aber das würde weder unsere Einladung noch Percys Anwesenheit erklären.«
»Ignoramus«, sagte der Vikar bedeutungsschwanger und strich mit seinem Messer über den Salzhügel auf dem Rotweinfleck. »Wir wissen es nicht, aber ich bin mir sicher, dass unser schreibender Meisterdetektiv die Antwort schon morgen finden wird.«
Stableford schwieg. Er war auf die Aufgabe gespannt, die ihm zugedacht war, aber ihre offensichtliche Verbindung zum Deutschen Reich schmeckte ihm ganz und gar nicht. Hatte Holmes’ Einladung etwas mit seiner eigenen Vergangenheit zu tun? Mit seiner Kriegsgefangenschaft, deren Umstände man ihm böswillig durchaus als einen Pakt mit dem Teufel auslegen konnte? Er blickte auf die alte Grabenuhr an seinem Handgelenk und musste an die Initialen denken, die auf ihrem Boden eingraviert und nicht seine eigenen waren. War sein Geheimnis in Gefahr?
KAPITEL 5: Die Lodge
Den ganzen folgenden Morgen über sprach John praktisch kein Wort. Harriet ließ ihn in Ruhe, denn sie spürte, dass er mit seinen Gedanken allein sein wollte. Hatte sein Zustand etwas mit Percys Anruf zu tun? Sie hätte keinen Grund dafür nennen können, aber John wirkte seit dem Telefonat irgendwie beunruhigt.
Um neun Uhr verließ sie zusammen mit ihrer Mutter und Sarah das Haus. Sie fuhren mit dem Bus nach Scarborough, um ein Abendkleid für Harriet zu kaufen, denn während John nie ohne einen formellen Anzug im Gepäck reiste, hatte sie nichts Passendes für das Bankett dabei. In einem kleinen Geschäft nahe der Strandpromenade erstand sie ein schlicht geschnittenes, aber dennoch elegantes blassgelbes Kleid, und nachdem sie noch eine Weile durch den Ort gebummelt waren, machten sie sich auf den Rückweg.
Als sie gegen ein Uhr aus dem Bus stiegen, regnete es stark. Die Haltestelle von Upper Biggins befand sich direkt vor dem Dorfladen, und so beschlossenen sie, Mrs Morris einen spontanen Besuch abzustatten. Mrs Morris war hocherfreut, führte die drei in ihre gute Stube, die an das Ladengeschäft angrenzte, und machte Tee. Sie plauderten über dies und das, tauschten Geschichten und Gerüchte aus, bis Harriet eher zufällig auf die Uhr auf dem Kaminsims blickte und erschrak. Es war schon nach drei Uhr! Hastig verabschiedete sie sich, lief zum Pfarrhaus und öffnete kurz darauf die Tür zu ihrem alten Zimmer im ersten Stock.
John stand vor dem Spiegel und versuchte eine Krawattenschleife zu binden. Sein Gesicht verriet ihr, dass er an dieser Aufgabe schon mehrmals gescheitert war. Die Narbe über seiner rechten Augenbraue verlieh ihm generell etwas Düsteres, doch in diesem Moment hatte er fast etwas Mephistophelisches an sich.
»Ich hasse diese steifen Veranstaltungen«, sagte er mürrisch und gab Harriet einen Kuss.
»Und ich bin froh, dass du deine Sprache wiedergefunden hast«, entgegnete sie, während sie den schwarzen Querbinder mit ein paar Handgriffen in Position brachte.
Es war Viertel vor vier, als sie das Pfarrhaus verließen. Die Sonne schien, aber über die bewaldeten Hügel im Norden zogen bereits die nächsten dunklen Wolken heran.
»Bist du denn gar nicht neugierig, warum Percy uns eingeladen hat?«, fragte Harriet, als sie Hand in Hand die Straße entlanggingen.
»Ein wenig«, gab John zu und trat nach einem Stein. »Aber auf das anstehende Händeschütteln und die belanglosen Gespräche über das Wetter kann ich gerne verzichten. Ich frage mich nur, woher Holmes wusste, dass wir zum Geburtstag deines Vaters nach Upper Biggins reisen würden.«
Harriet zögerte einen Moment und sagte dann etwas kleinlaut: »Von mir.«
»Von dir?«
»Ja. Es liegt schon einige Zeit zurück. Wir waren mit Percy und Penelope im Theater und danach in einem Club in Soho. Das war Ende Februar, glaube ich. Jedenfalls fragte er mich beim Tanzen ganz beiläufig, ob wir in nächster Zeit meine Eltern besuchen würden, und ich erzählte ihm von unserer Absicht, im April zum Geburtstag meines Vaters herzukommen.«
»Und wie hat er darauf reagiert?«
»Das weiß ich nicht mehr. Aber ist das ein Problem?«
»Ein Problem? Nein. Doch seine Anwesenheit in Upper Biggins kann kein Zufall sein.«
Mittlerweile hatten sie das hohe schmiedeeiserne Tor zu der Auffahrt erreicht, die zum Herrenhaus führte. Es war nur angelehnt, und so betraten sie den Park von Annandale Grange. Zu ihrer Rechten lag die Lodge. Wie die Mauer, die das Anwesen umgab, war sie aus roten Ziegelsteinen errichtet worden – ein sachlicher Bau, dem Harriet keine Stilrichtung zuordnen konnte. Dass die Lodge unbewohnt war, stand außer Frage. Die Fenster waren blind. Auf der Seite, die zur Straße lag, waren sogar einige Scheiben kaputt.
Die Dorfjugend, dachte Harriet und blickte sich um.
Von Percy war weit und breit nichts zu sehen. Harriet wunderte sich nicht, denn seine Unpünktlichkeit war notorisch. Allerdings hatten die dunklen Wolken sie mittlerweile eingeholt und es begann fast schlagartig zu regnen.
»Typisch Holmes«, sagte John düster und blickte auf seine Uhr. »Wollen wir nachschauen, ob sich die Tür öffnen lässt, bevor wir hier draußen ertrinken?«
Harriet nickte. Sie gingen um die Lodge herum, fanden die Tür unverschlossen und traten ein. Bis auf zwei einfache Stühle waren die beiden Zimmer, deren Fenster zur Auffahrt gingen, leer. Die Wände waren feucht. An einigen Stellen hatten sich die Tapeten gelöst und in den Ecken waren schwarze Schimmelflecken sichtbar. Sie mussten die ersten Besucher seit vielen Jahren sein, denn das alte Parkett war von einer dichten Staubschicht bedeckt, auf der sie deutliche Fußspuren hinterließen, die aber sonst unberührt war.
»Hier waren die Wachen postiert, als Annandale ein Militärstützpunkt war«, sagte Harriet mit einer Spur von Melancholie in der Stimme. »Vielleicht habe ich damals auf genau einem dieser Stühle gesessen, während man mit dem Herrenhaus telefonierte und einen Besucher ankündigte. ›Miss Taylor für Miss Rogie‹, hieß es dann immer, daran kann ich mich noch genau erinnern. Ich war ein wenig stolz, weil es so erwachsen klang, aber irgendwie auch verängstigt.«
»Kein Wunder! Für ein Kind muss das sehr aufregend gewesen sein. Warst du damals auch mal in den hinteren Räumen der Lodge?«
»Nein. Willst du sie dir ansehen?«