Das Buch der gefährlichen Wünsche - Mary E. Garner - E-Book

Das Buch der gefährlichen Wünsche E-Book

Mary E. Garner

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Beschreibung

Ein neuer Fall für den Geheimen Bund der Buchfiguren

Der neue Roman SEHNSUCHTSERFÜLLUNG stürmt die Bestsellerlisten. Mittendrin: seine Protagonistin Izzi Amazing und ihre Wünsche-Agentur, in der ihr ein uraltes, geheimnisvolles Buch hilft, die Sehnsüchte ihrer Kundschaft zu erfüllen. Als in der realen Welt plötzlich mehr Träume als üblich wahr werden - und leider auch bösartige -, bekommt Izzi Besuch vom Bund der Buchfiguren. Denn alle Spuren zur Quelle des Übels führen in ihren Roman. Erneut wird der Buchladen in der Percival Road zum Mittelpunkt eines neuen Abenteuers. Mit Hilfe von Izzi und ihrem tollpatschigen Sekretär Higgs versucht der Bund, den rätselhaften Zauber zu brechen, ehe dieser dem Gleichgewicht zwischen den Welten zum Verhängnis wird ...

Ein Wiedersehen mit der magischen Bücherwelt aus DAS BUCH DER GELÖSCHTEN WÖRTER

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Seitenzahl: 519

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. KapitelGedichtGlossarHistorische FigurDanksagungen

Über dieses Buch

Ein neuer Fall für den Geheimen Bund der Buchfiguren

Der neue Roman SEHNSUCHTSERFÜLLUNG stürmt die Bestsellerlisten. Mittendrin seine Protagonistin Izzi Amazing und ihre Wünsche-Agentur, in der ihr ein uraltes geheimnisvolles Buch hilft, die Sehnsüchte ihrer Kundschaft zu erfüllen. Als in der realen Welt plötzlich mehr Träume als üblich wahr werden – und leider auch bösartige – bekommt Izzi Besuch vom Bund der Buchfiguren. Denn alle Spuren zur Quelle des Übels führen in ihren Roman. Erneut wird der Buchladen in der Percival Road zum Mittelpunkt eines neuen Abenteuers. Mit Hilfe von Izzi und ihrem tollpatschigen Sekretär Higgs versucht der Bund, den rätselhaften Zauber zu brechen, ehe dieser dem Gleichgewicht zwischen den Welten zum Verhängnis wird …

Ein Wiedersehen mit der magischen Bücherwelt aus DAS BUCH DER GELÖSCHTEN WÖRTER

Über die Autorin

Mary E. Garner träumte sich schon immer in die Welten ihrer Lieblingsbücher. Bevorzugt jene, die in ihrem geliebten England spielen. Ihrer persönlichen Leidenschaft zur großen Insel und deren literarischen Figuren entsprang die Idee zu ihrer erfolgreichen Fantasy-Reihe über ein Portal in eine magische Buchwelt. Mit DAS BUCH DER GEFÄHRLICHEN WÜNSCHE können die Leser:innen nun in die Welt der Trilogie DAS BUCH DER GELÖSCHTEN WÖRTER zurückkehren.

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieMichael Meller Literary Agency GmbH, München.

Copyright © 2024 by Mary E. Garner

Copyright Deutsche Originalausgabe © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Lektorat: Friederike Haller, Berlin

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski© shutterstock: InnaFelker | Scott Latham | AlexeyMaltsev | Nimaxs | Studio DMM Photography, Designs & Art | tomertu | SWEviL | S_E | sunwards

Vignette S. 82: Freepik.com

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4789-9

luebbe.de

lesejury.de

Für alle mit einem Herzenswunsch.Und für Mariele – meinen ganz persönlichen Hofhund.

Prolog

Südengland, BerkshireLandsitz des Viscount Vanishham of WessexFebruar 1917

Das Feuer im Kamin loderte. Die dicksamtenen Vorhänge vor den großen Fenstern waren zugezogen und hielten die winterliche Kälte draußen. Es war stickig und heiß im Zimmer. Dennoch schien der Kranke im Bett zu frieren, er zitterte. Die furchtbaren Verletzungen, mit denen er vom Schlachtfeld heimgekehrt war, hatten ein Fieber ausgelöst, das seit Tagen in ihm tobte. Die Ärzte schüttelten nur noch traurig die Köpfe.

Albert Vanishham, mit seinen knapp sechzehn Jahren und starken Brillengläsern nicht geeignet für die Schützengräben, saß an der Stätte seines Vaters. Der Lord hatte nach ihm rufen lassen.

Niemand sonst, nicht seine Mutter, die sich vollkommen erschöpft einige Stunden Schlaf gönnen sollte, nicht die eifrige Krankenschwester, auch nicht der alte Kammerdiener war anwesend. Albert war allein mit dem Mann, der ihn gezeugt, ihm Anstand und Sitten beigebracht, Fechten wie Reiten gelehrt hatte.

Der Krieg hatte ihr Familienleben empfindlich gestört. Die vorderen Erdgeschossräume des Herrenhauses beherbergten seit einer Weile ein Lazarett, in dem die Versehrten aus der Grafschaft gepflegt wurden. Manchmal schreckten Albert des Nachts die Schreie aus dem Schlaf, aus denen die körperlichen oder seelischen Qualen klangen, die die Männer nicht schlafen ließen.

Das Schlafzimmer des Viscounts lag in einem anderen Flügel. Hier war es still, bis auf das Knistern der Flammen, das leise Rumpeln, wenn ein Holzscheit im Feuer in sich zusammenfiel.

»Mein Sohn«, flüsterte der Viscount. Seine fieberglänzenden Augen tasteten über Alberts Gesicht. »Ich spüre, dass es zu Ende geht.«

Trotz der düsteren Prognosen der Ärzte erschrak der Junge bis ins Mark. Doch er war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.

»Soll ich Mutter holen?«, fragte er.

Lord Vanishham atmete tief aus. »Von ihr habe ich schon am Abend Abschied genommen. Wir sind im Reinen. Bevor ich gehe, will ich jedoch meine Seele erleichtern.«

Albert sprang von seinem Stuhl auf. »Ich lasse nach dem Pfarrer schicken!«

»Nein!« Die Stimme seines Vaters erklang so fest wie eh und je. »Du bist es, dem ich anvertrauen will, was mich belastet. Du musst es wissen, denn nur du kannst weiteres Unheil verhindern. Willst du mir zuhören?«

Beunruhigt durch die Worte seines Vater ließ Albert sich zurück auf den Stuhl sinken. »Natürlich, Sir.«

Sein Vater schöpfte mehrmals Atem, bevor er sprach. »Ich muss ein wenig ausholen, Albert, denn die Geschichte beginnt vor vielen Jahren, als ich so jung war wie du heute.« Er drehte den Kopf zur Seite, und sein Blick glitt an die gegenüberliegende Wand, die dunkelrote seidene Tapete entlang, als könne er dort sehen, was damals geschehen war. »Als ich aufs College nach Oxford ging, dachte ich, das Leben würde mir nichts vorenthalten. Ich fand eine Menge Freunde. Aber auch einen anderen jungen Mann, mit dem ich mich immer öfter messen und vergleichen lassen musste: den Viscount Grey of Fallodon.«

»Edward Grey of Fallodon, Vater? Unser ehemaliger Außenminister?«, hakte Albert überrascht nach. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sein Vater und der Minister, dessen Name seit Kriegsbeginn in aller Munde war, einander kannten.

»Edward«, krächzte der Kranke in den Kissen. In seiner Stimme vibrierte eine Mischung größter Gefühle. Bewunderung ebenso wie Neid, Missgunst, womöglich sogar Hass. Und über allem lag eines ganz deutlich: Reue.

»Er war stets ein wenig besser als ich, musst du wissen. Er war großartig in allem, was mir am Herzen lag. Das Studium. Anerkennung im Kreise unserer Kommilitonen. Lob des Dekans. Nur im Tennis konnte er mir lange nicht das Wasser reichen. Du weißt, was der Wettkampf mir bedeutete …« Ja, das wusste Albert. Sein Vater hatte diesem edlen Sport viel Zeit gewidmet. »In unserem Abschlussjahr aber schlug er mich auch darin, wurde Oxford-Champion.«

»Oh, Sir, das muss hart gewesen sein«, sagte Albert, der ahnte, was der Titel seinem Vater bedeutet hätte. Doch zu seiner Überraschung trat ein Lächeln in die blasse Miene über dem Leinen.

»Das wäre es gewesen, wenn ich damals nicht die wunderbarste Frau getroffen hätte. Doch mit ihr zusammen zu sein lenkte mich ab und war das Beste, das mir je geschehen war. Sie brachte Sonne in jeden meiner Tage. Und die Zukunft sah so rosig aus.«

Albert rechnete schnell nach. »Aber, Vater, Mutter und du, ihr habt euch doch erst im Jahre 1899 kennengelernt.«

Sein Vater musterte ihn ernst. Und Albert wurde klar, dass seine Bemerkung töricht gewesen war. Er spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg, die mit dem Kaminfeuer nichts zu tun hatte.

»Sie hieß Dorothy Widdrington«, erzählte der Lord weiter, als sei er nicht unterbrochen worden. »Und ich war mir sicher, der Frau meines Lebens begegnet zu sein. Alles sah nach einer gelungenen Verbindung aus. Dein Großvater und deine Großmutter gaben uns ihren Segen. Doch dann …« Er ächzte leise. »Dann konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und arrangierte bei einem Dinner, dass Grey und Dorothy sich kennenlernten.« Kurz hielt er inne, lächelte diesmal bitter. »Wie überheblich und selbstgefällig ich war. Ich wähnte mich als Sieger in einem Wettkampf, der niemals einer sein sollte. Wollte meine Trophäe hochmütig präsentieren. Nun, du weißt, wie die Geschichte weiterging. 1895 heiratete Dorothy Widdrington den Viscount Edward Grey.«

Betroffen starrte Albert auf seine Hände hinab. Solche Vertraulichkeiten waren zwischen seinem Vater und ihm noch nie vorgekommen. Unerwartet wallte Stolz in ihm auf. War diese Beichte nicht ein Zeichen, dass sein Vater ihn als Mann betrachtete?

»Was wurde aus ihr?«, wollte er wissen, denn die Trauer in der Stimme seines Vaters klang nicht nur nach enttäuschter Hoffnung.

»Sie starb im Februar 1906 bei einem Verkehrsunfall«, lautete dann auch die Antwort. »Aber lange davor machte ich eine weitere Bekanntschaft.«

Albert schluckte. Sein Vater ein Schwerenöter?

Doch der Mann in den Kissen schmunzelte leicht. »Nicht, was du denkst, Sohn. Es war ein Buch, das ich traf. Ich fand es in einem kleinen Laden in Richmond, an dem ich zufällig vorbeikam.« Im Kamin knackte ein Scheit, und Albert fuhr zusammen. »Zwischen den Gedichtbänden entdeckte ich eines, das mir besonders schien. Es war alt, mit zerfleddertem Einband. Und obwohl es nur ein einziges Gedicht enthielt, nahm ich es mit.«

»Ein Buch für ein einziges Gedicht?«, wiederholte Albert.

Sein Vater nickte mühsam. »Als ich es aus dem Regal nahm und die wenigen Worte las, flüsterte es mir zu.«

Albert schielte zum Gesicht seines Vaters hin. Das muss der Fieberwahn sein, dachte er. Der lässt ihn solch Unsinniges erzählen.

»Es flüsterte mir zu, dass ich meinen größten Wunsch auf seine Seiten schreiben solle – und es würde ihn mir erfüllen.«

Ein Kloß in seinem Hals ließ Albert schlucken. »Und war es so, Vater?«, fragte er vorsichtig.

Sein Vater keuchte, bat um Wasser. Erst als er getrunken hatte, in die Kissen zurückgesunken war, fuhr er fort, und Albert lauschte gespannt.

»Von Anfang an wusste ich, dass es mit diesem Notizbuch etwas auf sich hatte. Als wäre es nicht für uns Menschen gemacht. Wie aus einer anderen Welt. Es lockte mich. Und immer, wenn ich seinem Rufen folgte, es in die Hand nahm, seine leeren Seiten betrachtete, spürte ich, dass sie danach verlangten, beschrieben zu werden. Du schauderst«, stellte er mit fiebrigem Blick auf seinen Sohn fest. »Zu Recht, Albert! Denn auch ich zauderte. Zögerte aus gutem Grund, diesem Locken nachzugeben und die leeren Seiten zu benutzen. Ich redete mir ein, dass es nichts Besonderes bedeutete, wenn ich dieses Buch immer wieder in die Hand nehmen wollte. Um mit ihm Zeit zu verbringen, gab ich ihm einen neuen Einband und stanzte einen erfundenen Titel auf seinen Deckel. Doch dann, es waren schon etliche Monate vergangen, wagte ich es: Vor einem wichtigen Pferderennen vertraute ich dem Buch den Namen meiner eigenen Stute an und setzte sehr viel Geld auf Sieg. Setzte auch darauf, dass der überall gehandelte Favorit als Letzter ins Ziel kommen würde.«

Albert, der wusste, dass sein Vater neben seinem geliebten Tennis nichts Erbaulicheres kannte als Pferderennen, hielt die Luft an.

»Meine Stute siegte«, bestätigte der Lord mit einem kaum merklichen Nicken in seine Richtung. »Ich war der Gewinner der Saison, der Name unserer Familie in aller Munde.« Kurz lächelte er, dann fiel der heitere Ausdruck in sich zusammen.

»Was wurde aus dem anderen Pferd, Vater?«, wollte Albert wissen, den eine dunkle Ahnung beschlich.

Die fiebrigen Augen blickten ihn einen Moment gemessen an. »Der Wallach, von dem alle angenommen hatten, er werde das Rennen machen, brach sich auf der Strecke das Bein und musste an Ort und Stelle erschossen werden.«

»Aber Vater!«, brach es aus Albert heraus. »Das kann doch nur ein Zufall gewesen sein! So etwas kommt vor.«

»In der Tat, so was kommt vor«, murmelte der Lord, als würde er darüber nachdenken. Dann jedoch wanderten seine Augen erneut zu denen seines Sohnes. »Aber war es auch ein Zufall, dass der Wallach, als man ihn von der Bahn zog, tatsächlich die Zielmarkierung als Letzter passierte? So wie ich es mir gewünscht hatte?«

Albert blinzelte verstört. Er öffnete den Mund, doch sein Vater hob die Hand.

»Warte! Hör mir zu. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit«, keuchte er. Albert schloss den Mund wieder und nickte dem Kranken zu. »Nach diesem Vorfall habe ich das Buch viele Jahre nicht mehr angerührt. Es stand in meiner eigenen kleinen Bibliothek hier oben, wo es niemandem versehentlich in die Hände geraten konnte. Oh, manchmal war ich versucht, Albert, glaub mir. Doch immer sah ich das tote Pferd vor mir, wie man es über die Ziellinie schleifte. Und dann ließ ich davon ab.« Der Lord musste innehalten, tief Luft holen, ehe er fortfuhr. »Im Juni 1914 geschah das Attentat von Sarajevo. Es folgte die Julikrise. Und plötzlich war wieder ein Name in aller Munde. Ein Name, den ich seit Jahren zu vergessen versuchte: Edward Grey.«

Mit einem Mal spürte Albert sein Herz auf unnatürliche Weise schnell und heftig schlagen. Es war, als wisse er bereits, was sein Vater als Nächstes sagen würde.

»Das Jahr, in dem unser Familienunternehmen drohte zugrunde zu gehen, war das Jahr seines erneuten Triumphes. Ich sah zu, wie er aufstieg, sah zu, wie er an Ansehen gewann. Und ich sah, wie er mitverantwortlich war für die Abkehr Großbritanniens von der guten Tradition, uns nicht in Bündnisse zu begeben. Plötzlich war seine liberale Haltung salonfähig. Er wurde berühmt, während ich um das Überleben unserer Familie kämpfte.« Lord Vanishham schloss die Augen. Albert durchfuhr ein heftiger Schreck. Doch der Griff der väterlichen Hand an seinem Unterarm lockerte sich nicht.

Mühsam sprach der Lord weiter: »Es war an einem Abend zum Ball im Savoy. Deine Mutter und ich waren dort.« Albert erinnerte sich. Es war noch vor Kriegsbeginn gewesen. »Plötzlich stand er vor mir, Edward Grey. Und ich sprach ihn an, um der alten Zeiten willen, war ich dazu bereit. Doch er …«, ein bitteres kurzes Auflachen. »Er erkannte mich nicht. Nach zwanzig Jahren erkannte er mich nicht einmal mehr.«

Still. Atmen. Albert meinte, sein Herz aus der eigenen Brust herauspochen zu sehen.

»In dieser Nacht holte ich das Buch aus dem Regal«, flüsterte sein Vater. Er schlug die Augen auf und sah beinahe bittend zu Albert auf. »Wenn ich gewusst hätte, was ich damit anrichtete, hätte ich es nicht getan. Ich wollte Edward Grey nichts Böses tun. Ich wollte nur, dass er an seiner Berühmtheit erstickt, dass er strauchelt, dass er etwas tut, das den Menschen die Achtung vor ihm nimmt. Und wenn zugleich unsere Fabriken wieder Auftrieb erhalten würden, umso besser, nicht wahr?«

Meinte Albert es nur, oder waren die Wangen des Lords in den letzten Minuten deutlich eingefallen? Die Verletzungen hatten das Gesicht seines Vaters, schon immer schmal, geradezu ausgezehrt. Doch nun sah es aus, als spanne sich nur noch Haut über die Schädelknochen.

»Als ich ein paar Tage später zur Besinnung gekommen war, wollte ich meinen Wunsch im Buch tilgen. Ich wollte die Seite herausreißen und verbrennen. Als ich es jedoch aufschlug, fand ich alle Blätter zwischen den Deckeln leer. Als habe die Tinte nie das Papier berührt«, wisperte der Lord. Sein Griff an Alberts Arm verstärkte sich. »Und dann geschah das Attentat. Dann brach der Krieg aus, dem wir uns anschließen mussten, weil wir Verbündete hatten. Edward Grey, gerade noch von allen hochgelobt, geriet in Kritik für seine liberale Außenpolitik. Ja, als der Krieg ein paar Monate andauerte, verlor er an Ansehen. Unsere Fabriken aber konnten durch eine Justierung der Maschinen zu Rüstungszwecken eingesetzt werden. Sie erlebten den Aufschwung, der unseren Besitz rettete.«

Albert konnte unmöglich länger schweigen. »Was sagst du, Vater? Du selbst sollst Schuld am Krieg tragen?«, hauchte er entsetzt. Das war das Unsinnigste, das er je gehört hatte. Das konnte doch nicht sein!

»Ich weiß, es klingt wirr«, murmelte sein Vater. »Aber ich bin gewiss, dass es so war.«

Hätte er nun beteuert, hätte er Argumente gebracht und logisch erklärt, wie er zu diesem Schluss gekommen war, hätte Albert sich sträuben und weigern können, den Ausführungen zu glauben. Doch dass sein Vater nur diese wenigen Worte sprach und dann nichts weiter …

Obwohl das Feuer im Kamin prasselte und loderte, spürte Albert eine Gänsehaut, die seinen Rücken hinunterlief.

»Sorge dafür, dass das Buch keinen Schaden mehr anrichten kann!«, röchelte sein Vater, der in seinem Gesicht gelesen haben musste. Es war ein Geräusch des Todes. Doch die vertrocknete Hand schloss sich weiterhin eisern um Alberts Arm. Er wäre gern zurückgewichen, wollte dem Sterbenden jedoch nicht den letzten Wunsch versagen. »Es befindet sich immer noch in meiner privaten Bibliothek.«

Albert blinzelte. »Werde ich es erkennen?«, fragte er zögernd. Obwohl klar war, dass der Verstand dem Sterbenden bereits vorausgeeilt war, wollte Albert ihn nicht kränken, sondern lieber so tun, als halte er für bare Münze, was er soeben erfahren hatte.

»Das ist einfach«, keuchte sein Vater. »Du wirst es spüren.« Der Griff an Alberts Arm verstärkte sich noch einmal, knöchern bohrten sich die Fingerspitzen des Viscounts in sein Fleisch. »Aber schwöre mir, dass du, sobald du es gefunden hast, es nicht aufschlägst! Nimm das Tuch.« Die andere Hand des Sterbenden flatterte zum Nachtschrank hinüber. Albert zog die Schublade auf und fand darin als sorgsam zusammengefaltetes Bündel ein mit Wachs bezogenes Leinentuch. »Schlag es darin ein. Du darfst es nicht länger als nötig in der Hand halten oder berühren, verstehst du? Nicht, wenn du ihm nicht ebenso verfallen willst wie ich, mein Sohn. Deine Aufgabe ist es, die Welt vor diesem Fluch zu retten, hörst du? Versuch nicht, das Buch im Feuer zu zerstören oder es zu ertränken. Das ist auch mir nicht gelungen. Stattdessen versteck es gut! Versteck es dort, wo niemand es jemals finden kann. Willst du das tun?« Er klang sehr offiziell.

Albert schluckte. »Natürlich, Sir.«

Der Blick aus den fieberglänzenden Augen glitt über sein Gesicht. Die Finger drückten zu.

»Versprich es mir!«, hauchte Lord Vanishham.

»Ich verspreche es, Vater.«

Einen Wimpernschlag noch ruhte der vertraute Blick auf Albert. Dann brach er. Der Klammergriff um Alberts Arm löste sich und die Hand seines Vaters glitt aufs Laken.

Albert spürte, wie es ihm heiß die Wangen hinabrann.

Der Krieg und alle Erzählungen davon waren grausam. Nun hatte er seiner Familie das Oberhaupt genommen. Er hatte seinen Vater nicht nur am Körper, sondern auch am Geist zerstört. Wie sonst ließe sich erklären, was der Viscount mit seinen letzten Atemzügen von sich gegeben hatte?

Er selbst schuld am Krieg? Undenkbar.

Albert betätigte den Klingelzug. Kurz darauf erschien der Hausdiener auf leisen Sohlen.

»Mein Vater hat uns verlassen«, teilte Albert ihm mit. »Bitte veranlassen Sie, dass er gewaschen und in seinen besten Anzug gekleidet wird. Ich werde es meiner Mutter sagen.«

Auf dem Weg zu den Zimmern seiner Mutter kam er an denen des Vaters vorbei. Albert spürte, wie seine Schritte gegen seinen Willen langsamer wurden. Ein leises Zweifeln glomm in seinem Inneren auf. Was, wenn die Worte seines Vaters nicht der geistigen Umnachtung eines Sterbenden entsprungen waren? Wenn doch etwas dran war an der Erzählung über dieses Buch?

Er stoppte, sah den Gang hinauf und hinab. Als niemand zu sehen war, öffnete er die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters, schlüpfte hinein und schloss sie hinter sich. Zögernd näherte er sich dem Wandregal, das vom Boden bis zur Decke Bücher füllten.

Du wirst es spüren, hatte sein Vater gesagt. Nun, Albert spürte überhaupt nichts. Außer, dass es ihm seltsam erschien, in Abwesenheit des Besitzers dieser Räume hier zu sein. Langsam hob er die Hand und ließ einen Finger über die Buchrücken gleiten, hin und her, auf jeder Etage des Regals.

Nachdem er das erste Bord auf solche Weise untersucht hatte, ging ihm auf, dass er den Worten eines im Wahn Sprechenden folgte. Er wollte sich abwenden, als sein Blick auf ein Regalbrett fiel, an dem sich etliche Buchrücken ohne Beschriftung aneinanderreihten.

Nur ein einziger, weiterer Versuch, sagte er sich und streckte den Finger aus. Leicht wie eine Feder strich er über Leinen, Leder und Papier.

Und da, plötzlich erschauderte es ihn.

Es war wie ein Schlag und wie ein Kitzeln zugleich.

Das grüne dort war es gewesen.

Mit zitternden Fingern griff er danach und zog das Buch aus der Reihe seiner Brüder. Kaum hielt er es in der Hand, überkam ihn ein grauenhaftes Bangen. Beinahe hätte er es fallen gelassen. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich an die Worte seines Vaters und zog die Ärmel herab, sodass er das Buch nicht mit der blanken Haut berührte.

Als er es so vorsichtig hielt, klappte das Buch wie von selbst auf.

Dort standen einige wenige Zeilen:

Alle Wünsche auf der WeltVon Herzen wild belebtHerab vom HimmelszeltSo werden sie entschwebtAuf diesen Seiten festgehaltenKann die Sehnsucht endlich walten

Während er die Worte las, meinte Albert, ein leises Flüstern an sein Ohr dringen zu hören. So eindringlich, dass er erschrocken das Buch zuschlug. Er starrte die Vorderseite an. Mit roten Lettern waren ins Leinen ein paar Worte gestanzt:

Das Buch der Wünsche.

1. Kapitel

London, heuteEine Agentur der Wünsche

Izzi Amazing war in den Augen ihrer Kundschaft die reizendste Person, die ein Mensch je treffen konnte, denn sie erfüllte Wünsche.

Dabei spielte es keine Rolle, ob das jeweils geäußerte Begehren bedeutete, dass in Liebesdingen endlich ein Happy End Einzug halten, die Bewerbung um eine neue Arbeitsstelle von Erfolg gekrönt oder eine lang ersehnte Schwangerschaft sich einstellen sollte. Im kleinen Büro ihrer Wünscheagentur auf der Wishsense Street in London saß Izzi stets aufmerksam hinter ihrem Schreibtisch und lauschte den aufgeregten, oft zittrigen Worten ihrer Besucherinnen und Besucher. Dabei hielt sie sich besonders aufrecht, die Hände gefaltet und den Kopf ein wenig gesenkt, sodass die Spitzen ihres dunklen Bubikopfes beinahe die Spitze ihrer Nase berührten.

Erst wenn die Person auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch geendet hatte, sah Izzi wieder auf. Mit diesem nachdenklichen Blick in ihren klugen, braunen Augen, der ihr Gegenüber später von einem magischen Moment sprechen lassen würde. Nach einer kurzen Wirkungspause verkündete sie, wie lange es ihrer Meinung nach dauern werde, bis der vorgetragene Wunsch in Erfüllung ginge. Die Fragen, wie um alles in der Welt Izzi denn das scheinbar Unmögliche vollbringen wollte, ließ die Mittdreißigerin grundsätzlich unbeantwortet.

Ebenso wollte Izzi Amazing von einer Bezahlung erst einmal nichts wissen. Stattdessen reichte sie den Menschen, die sie aufsuchten, ein Blankoüberweisungsformular über den Tisch. Hier, so erklärte sie ihnen, solle nach vollbrachter Dienstleistung die Summe eingetragen werden, die der jeweiligen Person die erbrachte Hilfe wert sei und welche sie sich ihren eigenen Einkünften entsprechend leisten konnte. Izzi lebte nicht schlecht davon.

»Higgs, haben Sie heute bereits die Eingänge auf dem Geschäftskonto überprüft?«, wandte sie sich soeben an ihren Sekretär Brendan Higgs. Weil ihre kleine Wünscheagentur sich immer größerer Beliebtheit erfreute, hatte Izzi sich nach einem fähigen Assistenten umgesehen. Und Higgs … nun, er war der einzige Bewerber gewesen, der nicht selbst ein halbes Dutzend großartiger Wünsche im Gepäck hatte, sondern tatsächlich nur eine Arbeit suchte. Groß, schlaksig, kurzsichtig, mit goldgerahmter Brille, die er alle naselang mit einem Finger am Mittelsteg nach oben schob. Wie nun in diesem Moment.

»Oh, ich habe hier nur die von letzter Woche, Mrs. Amazing. Aber da sieht alles bestens aus«, erwiderte er dienstbeflissen und griff nach dem Stapel Kontoauszüge, der auf seinem eigenen Schreibtisch lag. Vielmehr wollte er danach greifen. Leider war Brendan Higgs jedoch ein ausgesprochener Tollpatsch. Ständig passierten ihm Dinge, die andere Menschen durch Umsicht zu verhindern wussten. Keinen kleineren Unfall ließ er aus, kein größeres Fettnäpfchen blieb von ihm verschont. Dass ihm etwas herunterfiel, er Termine durcheinanderbrachte oder Namen verwechselte, stellte einen festen Bestandteil des Arbeitslebens mit ihm dar. Izzi hatte sich daran gewöhnt.

Jetzt verfehlte Higgs die Papiere um Haaresbreite und stieß sie stattdessen vom Tisch. Die Blätter flatterten wild umeinander und rutschten über den blank gewienerten Parkettboden in alle Winkel des Büros. Entschuldigungen murmelnd ließ der Assistent sich auf allen vieren nieder und kroch über den Fußboden, den flüchtigen Auszügen hinterher.

»Lassen Sie nur, Higgs, ich mach das gleich«, beruhigte Izzi ihn sanft und winkte ihn auf die Füße. »In der Zwischenzeit gehen Sie doch bitte zur Bank und holen die aktuellen Auszüge. Der Tee ist doch frisch aufgebrüht?«

»Ist er, Mrs. Amazing.« Higgs nickte, erhob sich und langte nach seiner Jacke, die über dem Garderobenständer hing. Schwungvoll riss er das Gestell beinahe um. »Und Sie sind sicher, dass Sie den nächsten Kunden allein empfangen wollen?«

»Absolut sicher, Higgs.« Izzi schenkte ihm ein reizendes Lächeln.

Ihr Assistent zögerte kurz, nickte ihr dann zu und verließ das Büro. Durch die Milchglasscheibe, in die der Schriftzug

eingraviert war, sah Izzi, wie Higgs die Stufen des Treppenhauses hinunternahm.

Sie wandte sich ihrem Terminkalender zu und betrachtete für einen Moment den Namen neben der herannahenden Uhrzeit: Jacob Harrison, bevor sie sich selbst auf den Parkettboden niederließ und den Kontoauszügen hinterherrobbte.

Dieser Name, in ihrem Kalender dort oben auf dem Schreibtisch, irgendwie erschien er ihr wie etwas Besonderes. Die dazugehörige, sonore Stimme am Telefon hatte nämlich recht rätselhaft geklungen und nicht mal eine Andeutung machen wollen, worum es bei seinem Anliegen gehen würde. War das der Grund, aus dem Izzi ein deutliches Kribbeln in der Magengrube spürte? Oder hatte es eher mit jenem seltsamen und so vertrauten Gefühl zu tun, das sie begleitete, solange sie denken konnte? Diesem scheinbar ursprungslosen inneren Ziehen, das sie nicht einordnen konnte? Und das sich anfühlte, als würde ihr beständig und beinahe schmerzhaft irgendetwas fehlen. Und das absoluter Unfug war. Denn sie hatte ja alles.

Nun, aus irgendeinem Antrieb zumindest wollte sie, dass der anstehende Besuch möglichst glatt verlief. Der Tee stand bereit. Sie war allein in der Agentur. Sie würde bloß noch rasch die letzten Blätter einsammeln und …

»Pssst!«, machte es hinter mir.

Was nicht sein konnte, denn im Verlauf meines gesamten Romans machte nie irgendetwas hinter mir Pssst.

Sicher hatte ich mich geirrt.

Ich krabbelte weiter auf dem Boden herum, wie immer in dieser Szene, und sammelte die Blätter ein, die Schussel Higgs mit nervtötender Regelmäßigkeit von seinem Schreibtisch schubste. Doch während ich Papier für Papier aufhob, hörte ich es wieder.

»Pssst!« Diesmal klang es dringlicher.

Ich schielte vom Boden aus zu der schmalen Tür hinüber, die in die kleine Teeküche führte. Tatsächlich stand sie einen Spalt offen und ich konnte eines von Higgs goldgefassten Brillengläsern aufblitzen sehen.

Moment mal! Er war doch gerade zur Bürotür hinaus- und die Stufen hinuntergegangen. Was tat er nun also hinter mir in der Teeküche? Bildete ich mir das nur ein oder winkte er mir auch noch mit einem Finger hektisch zu?

Das durfte nicht wahr sein! Was bildete dieser Kerl sich ein?! In dieser Szene ging ich nie in die Teeküche, nie! Stattdessen kroch ich auf dem Boden herum, während es an die Eingangstür klopfte und der smarte, geheimnisvolle Jacob Harrison mein Büro betrat. Er musste jeden Augenblick die Treppe heraufkommen. Verdammt.

Als ein drittes »Psssst!« durch den Türspalt zischelte, blieb mir wohl nichts anderes übrig. Ich hüstelte und erhob mich vom Boden.

Während ich die wenigen Schritte zur Teeküche hinüberging, murmelte ich harmlos: »Am besten hole ich schon mal das Teetablett.« Ein wenig umständlich schob ich mich durch die Tür und schloss sie hinter mir.

Drinnen war es ziemlich eng, was nicht nur daran lag, dass Teeküchen im Allgemeinen kleine, fensterlose Räume sind, da machte die zu meinem Büro gehörige keine Ausnahme. Nein, der ohnehin spärliche Platz hier drinnen war deshalb besonders knapp, weil so viele Menschen ihn sich teilten.

Es war tatsächlich Higgs, dem ich beim Eintreten fast auf die Füße trat. Zum Glück war er ein Spargeltarzan, deutlich größer als breit, der nicht weiter ins Gewicht fiel. Und obwohl ich selbst in die Kategorie heftig weibliche Kurven gehörte, hatten wir mittlerweile viel Übung darin, uns unfallfrei umeinander zu bewegen.

Die drei anderen Personen jedoch waren unsere Teeküche nicht gewohnt, oder meine Teeküche war sie nicht gewohnt, je nachdem, wie man es betrachten wollte. So oder so, sie füllten den gesamten restlichen Raum aus und standen gequetscht beisammen.

»Was soll denn das?«, zischte ich empört und musterte die drei Neuankömmlinge. »Was machen Sie in meiner Teeküche? Nebenan läuft die Handlung.« Ich deutete mit dem Daumen hinter mich. Higgs versuchte, mir auszuweichen, war aber nicht schnell genug und bekam einen kräftigen Stupser gegen seine Brille. »Und was tust du hier? Du bist gerade zur Bürotür raus«, schnauzte ich ihn an, bevor ich erschrocken meine Stimme dämpfte. »Was ist, wenn die Lesenden es mitbekommen?«, setzte ich flüsternd hinzu. »Wer sind Sie überhaupt?« Das ging wieder an die drei Fremden. Und ich fand, damit hatte ich ausreichend Fragen gestellt. Wurde Zeit, dass ich Antworten bekam.

Bei den Unbekannten handelte es sich um zwei Frauen und einen Mann. Letzterer starrte mich mit offenem Mund an und offenbarte dabei inmitten seines hip gestutzten schwarzen Barts zwei Reihen makellos weißer Zähne im dunklen, satten Braunton seines Gesichts. Die beiden Frauen machten einen gelasseneren Eindruck. Die größere der beiden trug Jeans, T-Shirt und Turnschuhe, das schulterlange Haar aus dem leicht sommerlich gebräunten Gesicht gestrichen und im Nacken zusammengefasst, und musterte mich interessiert.

Die kleinere, mit hüftlangem, goldblondem Haar zu rosigen Wangen, schmal und energieverströmend, steckte in einem hautengen, schwarzen Catsuit. Sie balancierte wegen des Platzmangels auf einem Bein und hielt sich an einer offen stehenden Oberschranktür fest.

»Ich hab euch gesagt, dass sie so reagieren würde«, hörte ich Higgs hinter mir entschuldigend murmeln.

»Du kennst diese Leute?«, knurrte ich und fixierte ihn, wobei ich meinen Hals ziemlich verrenken musste, um zu wiederholen: »Was machst du überhaupt hier?«

Er hob erklärend die Hände, stieß dabei eine offene Teepackung auf dem Regal um. Sie kippte. Während ihr Inhalt auf den Fußboden rieselte, mischte sich die kleine Blondgelockte mit glockenheller Stimme ein.

»Von Brendan wussten wir, dass du immer in der Handlung unterwegs bist und nie ins Setting wechselst«, erklärte sie. »Hab ich anfangs auch gemacht. Nur verständlich: schöne Geschichte. Viele Lesende. Aber in der Handlung konnten wir dich ja schlecht erreichen, nicht wahr? Nicht, ohne dass es da draußen, in unserer Zwillingswelt der Lesenden, aufgefallen wäre. Deswegen brauchte Ahmed Hope. Weil sie eine der wenigen Verwandlerinnen im Bund ist, die in die Handlung oder dicht daneben springen kann. Ein erfahrener Wanderer könnte es natürlich allein, aber wir brauchten ja einen neuen, stimmt’s? Einen, der noch keine Gehilfen hat und deswegen dich wählen kann.« Damit wandte sie sich an den jungen Mann, der mich immer noch anstarrte. »Ahmed, das ist also Izzi Amazing, deine Gehilfin. Izzi, das ist Ahmed Walker, dein Wanderer.« Mit einem freien Finger machte sie eine Geste, als erwarte sie, dass wir uns die Hände reichten.

Aber selbst, wenn ich das gewollt hätte, hätte ich es nicht gekonnt. Nicht, ohne mindestens einer weiteren Person meinen Ellenbogen in die Rippen zu rammen. Davon abgesehen verstand ich nur Bahnhof. Verwandlerin? Welcher Bund? Was war ein Wanderer? Und warum hatten diese drei so dringend dicht neben die Handlung meines Buches springen wollen?

»Moment mal, Moment mal!«, sagte ich und wiederholte konsterniert: »Gehilfin? Ich hör wohl nicht recht. Das muss ein kolossales Missverständnis sein. Ich. Bin. Izzi Amazing. Und auf keinen Fall irgendwessen Gehilfin! In meiner eigenen Wünscheagentur bin ich meine eigene Chefin! Meine Kundschaft liebt mich.«

Verflixt! Der geheimnisvolle und verführerische Jacob Harrison! Er musste längst in der Agentur angekommen sein! Und ich war nicht da, um ihn in Empfang zu nehmen! Die komplette Handlung unseres Romans würde auseinanderfallen!

Ich war wirklich kein Typ für Panik, aber was da in mir aufstieg, war drauf und dran, sich zu einer auszuwachsen. Energisch schob ich den leicht widerstrebenden Higgs ein paar entscheidende Zentimeter zur Seite, öffnete die Tür einen Spalt breit und lugte hinaus.

Tatsächlich. Da vorn, im üblichen Sessel für die Besuchenden, lehnte der gutaussehende Kerl im Businessanzug, mit im Nacken zusammengefassten Dreadlocks, und sprach mit einer jungen Frau, die mit dem Rücken zu mir saß. Sie trug die gleiche geblümte Bluse wie ich, den gleichen peppigen Haarschnitt und schob gerade die Unterlagen auf meinem Schreibtisch hin und her, ganz so, wie ich es in dieser Szene zu tun pflegte.

Rasch schloss ich die Tür wieder. Als ich den Kopf zu den anderen drehte, merkte ich, dass sie mich ansahen, wie man üblicherweise ein zündelndes Tischfeuerwerk beobachtet: nicht sicher, ob es nur einen leisen enttäuschenden Puff tun oder einem mit riesigem Getöse um die Ohren fliegen wird.

»Das erste Mal, dass du dein Abziehbild siehst?«, erkundigte sich die Catsuitfrau bei mir. Ihre Stimme klang mitfühlend.

»Die … die Frau da drinnen … sie spielt meine Rolle«, stellte ich perplex fest. Es kam nicht oft vor, dass ich annähernd sprachlos war. Ein blödes Gefühl.

»Daran musste ich mich damals auch erst gewöhnen«, gab die Blondgelockte zu, winkte jedoch gleichzeitig mit der freien Hand ab. »Aber wenn du erst mal erkannt hast, wie praktisch das ist, nicht ständig selbst in der Handlung rumhängen zu müssen, wirst du es zu schätzen wissen, glaub mir. Ich bin schon seit Jahrhunderten nicht mehr in meiner Geschichte gewesen.« Ihre babyblauen Augen rundeten sich plötzlich, und sie vollführte tatsächlich so eine Art Knicks auf dem einen Bein, auf dem sie stand, während sie hinzusetzte: »Ich bin übrigens Gwen. Also, von Guinevere, aus der Artussage. Und das hier ist die berühmte Verwandlerin Hope Turner aus der Welt der Lesenden, unserer Zwillingswelt, wie wir sagen. Wir sind beste Freundinnen.« Die letzte Information schien Gwen ein wenig wachsen zu lassen, und ihre Wangen röteten sich. Hope nickte mir indessen freundlich zu, während Gwen, die auf keinen Fall so wirkte, als sei sie einer jahrhundertealten Sage entstiegen, mit einer graziösen Bewegung in Richtung des Mannes namens Ahmeds fortfuhr: »Und dies ist ein neuer Wanderer in den Reihen des Bundes: Ahmed Walker. Auch ein Lesender, natürlich. Ahmed ist gerade zum ersten Mal in die Bücherwelt portiert. Er wurde vom Bund dazu bestimmt, sich in deine Buchwelt zu lesen und dich als Gehilfin auszuwählen.«

Bei diesen Worten schloss Ahmed seinen staunenden Mund endlich und verlegte sich stattdessen auf ein breites Grinsen.

»Krass, Mann!«, sagte er und hob die flache Hand in meine Richtung.

Jetzt glotzte ich ihn an.

Higgs jedoch, so unauffällig und gewöhnlich er auch sein mochte, war die Höflichkeit in Person. Er zerrte seine eigene Hand zwischen seiner Vorder- und meiner Rückseite heraus und gab Ahmed five.

Gwen und Hope tauschten einen alarmierten Blick.

»Ups«, machte Gwen und sah zwischen Ahmed und Higgs hin und her. »Das war so eigentlich nicht gedacht.«

»Oh … ähm … tut mir leid«, stammelte Higgs. »Ich konnte nicht widerstehen.« Die Sache schien ihm peinlich zu sein. Auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, um was es eigentlich ging. Händeschütteln oder Abklatschen war nun wirklich nichts Dramatisches.

»Du solltest auch besser zustimmen«, empfahl Hope Turner mir mit einem auffordernden Nicken.

»Nicht, ehe ich nicht weiß, was das Ganze soll«, erklärte ich entschieden und hätte gern die Arme vor der Brust verschränkt. Aber dazu war es hier drinnen zu eng.

»Hey, Lady, wenn es darum geht, dass du keine Gehilfin sein willst, das versteh ich voll!«, sagte Ahmed mit hochgezogenen Brauen. »Wir machen das komplett gleichberechtigt, okay?«

Der Typ zumindest gefiel mir irgendwie. Er kapierte gleich, worauf es ankam.

»Okay«, sagte ich und wollte noch einiges hinzusetzen. Zuallererst die Frage, was denn genau wir gleichberechtigt tun sollten. Und direkt im Anschluss, was um alles in der Welt die drei im Setting meiner Geschichte zu suchen hatten. In das ich nun wohl auch selbst geraten war, während eine Frau, die genauso aussah und sich benahm wie ich, mein sogenanntes Abziehbild, meine Geschichte mit dem wunderbaren Jacob an sich riss.

Ja, das alles wollte ich fragen. Allerdings überkam mich in diesem Moment ein höchst sonderbares Gefühl, das sich an meinem Scheitel bildete, um dann an mir herabzufließen. Es fühlte sich an, als habe jemand einen Eimer Wasser über mir ausgeleert. Es war nicht unangenehm, sondern wohltuend warm und auf sonderbare Weise sogar ein wenig duftig. Und sehr … überraschend.

»Was …?«, brachte ich heraus und sah hinauf zur Decke. Aber von einem Eimer oder gar Wasser keine Spur.

»Es hat geklappt«, wisperte Gwen ihrer besten Freundin Hope zu.

»Mannomann, ich glaub’s nicht!«, murmelte Ahmed, und sein Grinsen wuchs in die Breite. »Wenn ich das meiner Amy erzähle!«

»Könnte mir mal jemand erklären …?«, brummte ich.

»Das überlassen wir am besten M«, entschied Hope und fasste Higgs ins Auge. »Ähm … Brendan, durch den Handschlag mit Ahmed gehörst du wohl jetzt ebenfalls dazu. Das war eigentlich nicht geplant, aber es macht auch nichts. Wir müssen bloß ein bisschen umdenken. Wärst du bitte so freundlich und würdest einen vorsichtigen Blick ins Büro werfen? Wir müssen wissen, ob die Handlung schon weitergezogen ist.«

Higgs quetschte sich in Position und lunzte hinaus. »Es ist keiner mehr da«, vermeldete er.

»Wunderbar, dann können wir ja raus.« Hope nickte uns zu.

Higgs stieß die Tür auf, und wir stolperten zu fünft aus der Teeküche in mein Büro. Das, kaum zu glauben, genauso aussah wie immer: die beiden Schreibtische mit den Papieren darauf, die kleine Sitzecke für Besuch, der Aktenschrank und die hübschen Aquarellbilder an der Wand. Alles wie gewohnt. Und doch war deutlich zu spüren, dass niemand mitlas, was gerade geschah.

»Wahrscheinlich ist sie noch nie im Setting unterwegs gewesen?«, mutmaßte Gwen, während sie mich dabei beobachtete, wie ich mich umschaute.

»Ihr Buch ist erst vor drei Monaten erschienen«, sagte Hope schulterzuckend und setzte sich an die Spitze unserer kleinen Gruppe, die den Büroraum in Richtung Eingangstür durchquerte.

»Erst vor drei Monaten erschienen! Und trotzdem an erster Stelle sämtlicher Bestsellerlisten! Das hat sie klasse hingekriegt, oder, Mann?« Ahmed strahlte in die Runde.

»Wisst ihr, ich kann euch hören«, sagte ich.

Higgs machte eine rasche Bewegung, bevor er verhalten in seine Hand hustete. Fast hätte man meinen können, er verberge ein Grinsen dahinter. Aber das war natürlich Unsinn. Higgs grinste nie. Seine Grundstimmung, sein ganzes Wesen, war bierernst.

Wir traten ins Treppenhaus, versammelten uns auf dem Absatz, und Hope schloss die Tür meines Büros hinter uns.

»Normalerweise brauchen wir den Hintereingang des größten oder wichtigsten Gebäudes einer Geschichte, um in die Zentrale zu gelangen«, erklärte sie mir. »Aber deine Agentur ist in diesem Buch derart wichtig, dass womöglich die Etagentür hier ausreicht. Das meint jedenfalls M. Ich schlage vor, wir versuchen es einfach?« Sie sah uns der Reihe nach an und legte die Hand erneut auf die Klinke.

In dem Milchglaseinsatz war nun der Schriftzug so zu lesen, wie er meine Kundschaft vom Treppenabsatz aus begrüßte:

Was das Herz begehrt

Wünscheagentur

Izzi Amazing

»Wer ist M?«, wollte ich wissen.

»Die Chefin vom Bund der Buchfiguren und begabten Menschen«, erwiderte Higgs.

Und Ahmed setzte begeistert hinzu: »Mannomann, die Lady muss ’ne echte Granate sein. Nach dem, was Hope und die anderen so erzählen.«

»Es gibt einen Bund der …?«

Bevor ich meinen Satz beenden konnte, hob Hope Turner die Stimme, sagte: »Zentrale!«, und öffnete die Tür.

Mir blieb der Mund offen stehen. Denn hinter der Tür, durch die ich unzählige Male ein- und ausgegangen war, befand sich nicht länger mein Büro, das wir gerade noch durchquert hatten. Statt auf die vertraute behagliche Einrichtung blickten wir in einen seltsam futuristisch anmutenden Gang, dessen Boden und Wände aus einem seltsam schimmernden, grauen Material bestanden. Helle Neonleuchten an der Decke tauchten alles ringsum in weißes Licht.

»M hatte mal wieder recht!«, stellte Gwen zufrieden fest und hüpfte vergnügt in den Korridor. Hope und Ahmed traten ebenfalls über die Schwelle. Higgs hingegen sah mich für einen Moment mit erhobenen Brauen an. Dann ließ er mir mit einer höflichen Geste den Vortritt.

Zögernd setzte ich mich in Bewegung. Wenn ich mich nicht sehr irrte, würde dieser Tag vollkommen anders ablaufen, als die Handlung meiner Geschichte es eigentlich vorschrieb.

2. Kapitel

Bedenke gut, was du dir wünschest

»Willkommen in der Zentrale«, sagte Hope und legte ihre Hand an die graue Wand des Ganges. Gwen folgte ihrem Beispiel ohne Zögern und nickte auch Ahmed, Higgs und mir zu.

»Alter Schwede!«, stieß unser Wanderer aus, als die Wand unter unserer Berührung hell aufzuglühen schien. Ich hingegen war so verblüfft von allem, dass ich mich über gar nichts mehr wunderte.

»Wir Buchfiguren brauchen natürlich nicht diesen Hintereingang zu benutzen, um in die Zentrale zu gelangen«, plauderte Gwen an mich gewandt. »Brendan kennt unseren üblichen Weg in- und auswendig, oder, Brendan?«

Higgs nickte. »Wenn du im Setting unserer Geschichte bist, kannst du jede beliebige Tür wählen, um im Wanderkorridor herauszukommen. Der ist Teil der Zentrale und besteht aus Hunderten von Türen, hinter denen sich sämtliche Buchwelten verbergen. Wenn du also eine kleine Auszeit in der Zentrale genommen hast, zwischen all den netten Menschen, Tieren, Fabelwesen, kannst du über die richtige Tür in dein Buch zurückkehren und …« Er hielt inne. Seine Augen weiteten sich. »Wenn ich jetzt ein Gehilfe bin, kann ich dann auch die Türen in andere Bücher benutzen und mich da umsehen?«

Gwen strahlte ihn an. »Jede, die du willst! Ist das nicht genial?«

Higgs schien von dieser neuen Möglichkeit so hin und weg, dass er nur stumm nicken konnte.

»Wieso hast du mir nichts gesagt?«, zischte ich. »Von … von alldem hier.« Ich wedelte mit der Hand.

»Wie sollte ich denn? In der Handlung reden wir immer nur dieselben Sachen«, erklärte Higgs mit einem Schulterzucken und rollte sogar ein wenig mit den Augen. Higgs? Rollte mit den Augen?

»Bitte bereiten Sie doch ein wenig Tee zu, Higgs. – Higgs, holen Sie die aktuellen Kontoauszüge. – Gehen Sie bitte ans Telefon, Higgs. – Higgs, Sie kümmern sich doch ums Teegeschirr?«, ahmte er mich nach.

Seine Worte trafen mich an einer empfindlichen Stelle. Denn ich hatte mich schon gefragt, warum unsere Autorin die Rolle meines Assistenten nicht gestrichen hatte, unbedeutend, wie sie angelegt war. Aber es war so praktisch, nicht selbst abspülen zu müssen.

Um das Thema zu wechseln, wandte ich mich ab und erkundigte mich bei Gwen: »Wo genau sind wir hier?« Sie schien mir am auskunftsfreudigsten, während Hope stiller und irgendwie geschäftiger wirkte. Als seien wir auf irgendeiner sonderbaren, geheimnisvollen Mission, die es zu erfüllen galt. Tja, und Ahmed schien ebenso unwissend zu sein wie ich. Was mich beruhigte.

»Oh, das hier ist der Hintereingang der Zentrale des Bundes«, erklärte Gwen bereitwillig. »Wanderer wie Ahmed und Verwandlerinnen wie Hope benutzen ihn, wenn sie aus dem Buchladen in eine Buchwelt portiert sind und von dort in die Zentrale wollen.«

Ich starrte sie im Gehen an. So etwas Ähnliches hatte sie in meiner Teeküche schon mal gesagt: dass Menschen aus der Welt draußen – der Zwillingswelt? – hier herein in die der Bücher reisen … ähm, portieren konnten.

»Willst du behaupten, es gibt einen Ort, zu dem alle Bücher, Theaterstücke, Gedichte, also alle literarischen Texte, Zugang haben? Diese sogenannte Zentrale?«, fasste ich zusammen. »Warum wusste ich nichts davon?« Erschüttert stellte ich fest, dass ich mir noch nie in meinem Dasein so dumm vorgekommen war.

Gwen reagierte nicht, da Hope ihr gerade etwas zuraunte. Aber offenbar hatte Higgs mich gehört, denn er murmelte: »Das kommt davon, wenn eine Hauptfigur sich fortwährend auf die Handlung beschränkt, um immer und immer wieder dieselbe Geschichte zu erleben, in der sie so irre gut wegkommt, dass alle Welt sie liebt: Sie vergisst, dass die Story nicht das wahre Leben ist.«

»Na hör mal!«, blaffte ich ihn an. »Das klingt ja, als sei ich eine total Ich-bezogene, selbstverliebte, eigennützige, herzlose Person, die sich einen Dreck darum schert …«

»Ist das nicht der Hammer, Mann?«, unterbrach Ahmed, der sich mit leuchtenden Augen zu uns umwandte. »Allah hat meine Gebete erhört, sag ich euch! Ich meine, seit ich ’n kleiner Knirps war und Mama uns vorgelesen hat, wünsche ich mir, in die Bücher reinhüpfen zu können. Stellt euch vor … Narnia, das Auenland, die Schatzinsel … Hey! Ich wollte schon immer mal Sherlock Holmes kennenlernen!«

Gwen, die seine letzten Worte aufgeschnappt hatte, schnalzte mit der Zunge. »Oh, kann gut sein, dass ihr ihm über den Weg lauft. Aber versprecht euch nicht zu viel davon. Sherlock ist nicht gerade entgegenkommend. Auch wenn er natürlich was draufhat. Anders als Inspector Lestrade, der echt nicht die hellste Kerze am Baum ist.«

In diesem Moment erreichten wir das Ende des Gangs, und der graue Boden, die Wände und die Decke öffneten sich zu einer riesigen Halle aus schwarzem Marmor, deren Ausmaß mir die Sprache verschlug. Ich hätte nicht mal schätzen können, wie viele dieser vielzitierten, dusseligen Fußballfelder hier drin Platz gefunden hätten. Mittig in diesem gewaltigen Vestibül befand sich ein kreisrund gebauter breiter Tresen aus blankem Stahl, hinter dem ein paar Menschen und eine dicke Katze saßen und die Monitore vor sich nicht aus den Augen ließen. Ja, verdammt noch eins, eine Katze!

Die Menschen trugen allesamt dunkle Anzüge. Allerdings hatten ein paar sich zusätzlich für ungewöhnliche Kopfbedeckungen entschieden. Ich entdeckte einen großen Sommerhut mit Schleifchen, eine Art Bärenfellmütze, sogar einen Astronautenhelm. Auch zwei weiß gepuderte Perücken fielen mir ins Auge.

»Ladys, ich schnall ab!«, verkündete Ahmed, der sich ebenso staunend umsah wie ich. »Das sieht ja aus wie im neuesten James-Bond-Movie. Hightech vom Feinsten, Mann!«

Gwen winkte zum Tresen hinüber und rief: »Hi, Agent Kater!« An Ahmed gewandt hörte ich sie flüstern: »Das ist die Grinsekatze aus Alice im Wunderland.«

»Kenn ich, Mann«, freute der sich und glotzte die anderen hinter dem Tresen an, als wolle er nur zu gern herausfinden, um welche Buchfiguren es sich bei ihnen handelte.

Mich jedoch beschäftigte etwas ganz anderes, nämlich die maßgebliche Frage, was um Himmels willen ich hier machte. Heute Morgen war ich in der Handlung meines Buches erwacht, wie jeden Tag, an den ich mich erinnerte. Und jetzt befand ich mich in einer sogenannten Zentrale, die aussah wie einem Agententhriller entnommen. Echt jetzt?

Higgs neben mir schien sich über gar nichts zu wundern, was mich irgendwie wurmte. Immerhin war ich die Chefin von uns beiden. Während Hope unsere kleine Gruppe durch die Halle auf etliche Fahrstühle zuführte, grüßte mein Assistent freundlich nach allen Seiten. Und zu meiner grenzenlosen Überraschung grüßten nicht wenige Menschen zurück. Und nicht nur die. Auch zwei vorbeieilende Zwerge mit schwankenden Zipfelmützen quiekten einen Gruß. Ein hübscher Collie und ein an dessen Seite laufender bärengroßer, gescheckter Hund wedelten enthusiastisch, als Higgs winkte und Hope ihnen »Guten Tag« zurief.

Nicht zu fassen, aber der Kerl, der in unserem Buch meinen wortkargen Assistenten gab, schien hier jede Menge Bekannte zu haben, bei denen er sich einiger Beliebtheit erfreute.

Was allerdings auch außerhalb unserer Geschichte unverändert zu sein schien, war Higgs’ Unbeholfenheit: Während wir hinter Hope auf einen der wartenden Fahrstühle zusteuerten, schaffte er es, auf dem glatten Marmorboden der Halle über seine eigenen Füße zu stolpern.

»Hopsa!«, machte Ahmed, fasste meinen Assistenten am Arm und verhinderte so, dass er der Länge nach hinfiel.

»Danke«, keuchte Higgs.

»Kein Thema, Mann. Wir sind ’n Team, oder?« Ahmed strahlte.

Gemeinsam stiegen wir in den geräumigen Aufzug, und augenblicklich wurde mein Blick von den fluoreszierenden Sensorfeldern neben der Tür angezogen, die mir anstelle einer Knopfleiste entgegenleuchteten. Momentan pulsierte das Licht hinter der Aufschrift: Große Halle/Bibliothek/Wanderkorridor. Darüber und darunter reihten sich jede Menge anderer Bezeichnungen in Untergeschosse und obere Stockwerke, beispielsweise Labore oder Wellnessbereich oder Heilstation. Es gab eine Internet-Etage, eine für Experimentelle Textarbeit und eine mit der Abkürzung ÜtNS, in Klammern: Übersetzungsbüros für tierische Nebenfiguren und Statisten.

Hope hatte gerade das oberste Feld berührt – M/Zugang Dachboden –, als aus der Halle eine helle Frauenstimme zu uns hereinrief: »Gwen! Engelchen, huhu, hier sind wir!«

Gwen schob rasch ihre Hand zwischen die sich schließenden Türhälften, sodass sie wieder aufglitten. Mit blitzenden Augen suchte sie die Quelle der zarten Stimme.

Es war eine junge Frau mit langem, rotem Haar und jeder Menge Sommersprossen, die ihr zuwinkte. Neben ihr standen ein smarter Typ mit blonder Haartolle, der den Arm um eine junge Frau im Empirekleid gelegt hatte, und ein riesiger muskulöser Kerl mit dichtem braunem Bart in verwaschenem Sweatshirt.

Gwen sah sich halb fragend, halb bittend nach Hope um.

Die schmunzelte. »Geh du nur zu den anderen. Ich bringe Ahmed, Izzi und Brendan rauf zu M und bin dann gleich wieder bei euch Turteltäubchen.«

Gwen errötete, was ihr ausgezeichnet stand, und schlüpfte aus dem Fahrstuhl. Sie rannte zu der kleinen Gruppe hinüber, wo die Rothaarige sofort die Arme um sie schlang, während Gwen laut und stolz verkündete: »Es hat alles geklappt! Wir haben Izzi Amazing an Bord!«

Im nächsten Moment schlossen sich die Fahrstuhltüren, und das Ding setzte sich in Bewegung – und zwar ziemlich schnell. Während wir nach oben sausten, kam ich zu dem Schluss, dass diese kleine Unternehmung außerhalb meines Buches vielleicht doch nicht so haarsträubend war. Wenn Gwen ihren Freunden derart stolz verkündete, dass sie Izzi Amazing an Bord hatten, klang das für mich nämlich … nun, man konnte sagen: schmeichelhaft.

Ich sah zu Higgs. War ihm aufgefallen, mit welcher Euphorie Gwen mich erwähnt hatte?

Offenbar nicht, denn mein Assistent beobachtete höchst interessiert die Anzeigen an der Sensorleiste, die nacheinander aufleuchteten, je höher wir fuhren. Ahmed zählte leise die vorbeirauschenden Stockwerke mit, während Hope aus dem Augenwinkel zu mir schielte. Aber sie sagte nichts, und so beschloss ich, abzuwarten und darauf zu vertrauen, dass ich von der geheimnisvollen M erfahren würde, wozu ich hierhergeschafft worden war.

Schließlich hielten wir im obersten Stock, die Türen glitten auseinander, und wir traten hinaus in einen schmalen Gang, dessen Wände vom Boden bis zur Decke holzvertäfelt waren. Am Ende des Flures befand sich eine wuchtige, doppelflügelige Tür, auf die Hope zusteuerte. Sie klopfte selbstsicher an. Von innen ertönte eine Stimme, und Hope öffnete.

»Hope, wie wunderbar, dass Sie schon zurück sind! Kommen Sie herein!«

Wir betraten einen Raum, der nicht gegensätzlicher hätte sein können zum kühlen Agententhrillerstyle der riesigen Halle unten. Schwere Eichenmöbel beherrschten das Zimmer, Jugendstillampen und eine Stofftapete mit floralem Muster. Die Frau, die sich von einem monströsen Schreibtisch erhob, hätte aber problemlos auch unten hinter den Stahltresen gepasst. Sie trug ihr eisgraues Haar kurzgeschnitten, einen perfekt sitzenden Anzug in exakt derselben Farbe. Sogar ihre Augen, die mich taxierten, während sie ihr wuchtiges Möbelstück umrundete und uns entgegenkam, strahlten in einem hellen, klaren Grau.

Das also war M. Von der Higgs behauptet hatte, sie sei die Chefin des Bundes der Buchfiguren und begabten Menschen. Was auch immer es damit auf sich haben mochte. Während sie über den dicken Teppich schritt, musste ich mir selbst eingestehen, dass sie tatsächlich das Auftreten einer Leaderin besaß. Und ich ahnte, warum Ahmed gemeint hatte, diese Lady müsse eine Granate sein.

»Herzlich willkommen im Bund, Ahmed Walker«, begrüßte M ihn und reichte ihm die Hand.

»Danke, M!« Erneut strahlte Ahmed.

»Und wie ich sehe, war Ihre erste Mission gleich erfolgreich«, setzte M hinzu, während sie mich mit scharfem Blick so eindringlich musterte, dass mir tatsächlich ein wenig unbehaglich zumute wurde.

»Brendan war uns eine große Hilfe. Durch seinen Rat konnten wir die beste Szene abpassen, um Izzi aus der Handlung zu holen«, erklärte Hope.

»Vielen Dank, Brendan.« Die energische, alte Dame nickte meinem Assistenten zu. Die Knalltüte lief vor lauter Freude darüber dunkelrot an und schob seine Brille hoch.

»Es ist aber … also, mir ist da was passiert«, stammelte er.

»Das ist ja mal was ganz Neues«, murmelte ich in mich hinein.

M sah verwundert von ihm zu mir und dann zu Hope.

»Er hat Ahmed Walkers Anfrage zum Gehilfendasein erwidert«, erklärte Hope. Was eine merkwürdige Umschreibung für die Tatsache war, dass Higgs ein Give-me-five abgeklatscht hatte.

M hob die schmalen Brauen und spitzte kurz die Lippen. »Sie haben doch nichts dagegen, zwei Gehilfen zu haben, Ahmed?«, erkundigte sie sich bei dem sogenannten Wanderer.

Ahmed ließ seine weißen Zähne blitzen und warf sich in die Brust. »Is’ mir ’ne Ehre, Lady!«

»Nun, vielleicht ist es gar keine schlechte Idee.« M nahm Higgs und mich gleichzeitig ins Visier, was sich komisch anfühlte. »Sie haben oft in Ihrem Taxiunternehmen zu tun, nicht wahr, Ahmed? Womöglich müssen also Izzi und Brendan häufiger ohne Sie auf eine Mission gehen. So gesehen ist es hilfreich, wenn sie zu zweit sind.« Sie wandte sich um und schritt zu ihrem Schreibtisch zurück.

Higgs warf mir einen zweifelnden Blick zu. Ich ahnte, was in ihm vorging, denn wie er gesagt hatte, verband uns nicht besonders viel miteinander – strenggenommen nicht mehr als Teegeschirr und Kontoauszüge. Und jetzt sollten wir gemeinsam auf irgendwelche Missionen gehen? Absurd. Viel logischer wäre es doch, wenn mich Jacob Harrison begleitete …

Ein eiskalter Schreck durchfuhr mich, zusammen mit einer Spur schlechten Gewissens. Ach herrje, der wunderbare Jacob lief nun allein in unserem Buch herum, nur begleitet von meinem leblosen Abziehbild. Gern hätte ich mir eingeredet, dass ihm mein Fehlen sofort aufgefallen war.

Andererseits hatte ich ja selbst nicht bemerkt, dass nicht Higgs persönlich in meinem Büro Papierstapel umstieß oder Teetassen zerdepperte, sondern auch bloß ein Abziehbild. Wann war mein Assistent wohl zum letzten Mal selbst in der Handlung gewesen, statt seine Kopie für ihn agieren zu lassen? Bei den vielen Bekanntschaften, die er hier offenbar bereits geschlossen hatte, musste es eine Weile her sein. Und ich hatte es nicht mitbekommen. Hm.

M wies mit einer einladenden Geste auf die Stühle vor ihrem Schreibtisch. Ich folgte Ahmed und Higgs und setzte mich zwischen die beiden. Nur Hope blieb stehen.

»Wenn Sie mich hier nicht brauchen, würde ich gern zu Rufus und den anderen hinuntergehen, M«, erklärte sie. »Es gibt jede Menge zu tun.«

»Gehen Sie nur, Hope. Wir sehen uns morgen mit Neuigkeiten aus der Zwillingswelt.«

Hope nickte uns zu, bevor sie in den Flur verschwand und die Tür hinter sich schloss.

Ich tauschte einen Blick mit Higgs – schon wieder! – und sah dann zu Ahmed, der vorn auf seiner Stuhlkante saß und offenbar kaum abwarten konnte zu hören, was M uns zu sagen hatte.

M bedachte Higgs und mich mit einem kleinen Nicken, bevor sie sagte: »Sehr gut, dass Sie nun offiziell Bundmitglieder sind! Dass Ihnen als Gehilfen im Wanderkorridor die Türen zu sämtlichen anderen Büchern offenstehen, könnte hilfreich sein, wenn die allgemeine Lage sich weiter zuspitzt.«

Die allgemeine Lage? Spitzte sich zu? Teufelnocheins, was hatte ich denn noch alles verpasst? Da Higgs nicht die Spur ratlos dreinsah und auch Ahmed den Eindruck erweckte, als wüsste er genau, wovon die Rede war, fragte ich lieber nicht danach. Stattdessen räusperte ich mich und begann: »Ma’am, ich …«

»Bitte nur M«, unterbrach sie mich ruhig und legte ihre Hände auf der glänzenden Schreibtischplatte aneinander. »Das genügt.«

»In Ordnung«, antwortete ich. »Also, um noch mal auf die Sache mit den Gehilfen zurückzukommen …«

»Hey, Mann, ich meine, Lady, also, Izzi, mach dir keine Gedanken!«, wandte Ahmed sich an mich. »Wir sind ein Team, okay? Alle gleichberechtigt. Alles easy.«

»Danke«, erwiderte ich mit einem Nicken in seine Richtung. Er schien wirklich in Ordnung zu sein, wenn auch etwas übereifrig. »Und als Mitglied dieses Teams … also, worin besteht meine Aufgabe? Um was für eine Mission«, mit Zeige- und Mittelfinger beider Hände malte ich Anführungsstriche in die Luft, »handelt es sich?«

M bedachte mich mit einem prüfenden Blick, ehe sie bat: »Würden Sie mir bitte erklären, auf welche Weise Sie in Ihrem Roman die Wünsche Ihrer Kundinnen und Kunden erfüllen?«

Die Frage verblüffte mich, denn was hatte die Handlung meines Buches mit der allgemeinen Lage zu tun? Und jeder anderen Person hätte ich wahrscheinlich ein paar Takte zum Thema Berufsgeheimnis gegeigt. Doch M gegenüber fühlte ich mich seltsam gehemmt. Und so stammelte ich: »Na ja, ich habe dabei eine gewisse Hilfe.«

M hob die Augenbrauen.

»In Form eines Buches.« Ich deutete ein Rechteck an, nicht viel größer als eine Handfläche. »Es ist leer, also nicht bedruckt, meine ich. Eine Art Notizbuch. Auf dem Deckel steht: Das Buch der Wünsche. Und da kann man doch auf die eine oder andere Idee kommen, oder?« Ich zuckte die Schultern. »An den oberen Seitenrändern befinden sich auf jedem Blatt so komische Zeichen. Sehen ein bisschen aus wie Runen. Das macht das Ganze zusätzlich geheimnisvoll.« Ich zwinkerte M zu. »Wenn also jemand zu mir kommt und mir seinen Wunsch mitteilt, formuliere ich ihn im Anschluss in ein paar hübschen Worten und schreibe sie in das Buch.« Ich warf einen Blick zu M, um zu prüfen, ob ihr die Beschreibung ausreichte. Doch sie musterte mich immer noch erwartungsvoll.

Also erklärte ich weiter: »Je nach Wunsch dauert es ein paar Tage oder nur Stunden, bis die Schrift wieder verblasst. Sobald sie vollständig verschwunden ist, geht der Wunsch der entsprechenden Person in Erfüllung.«

M nickte nachdenklich.

»Warum wollen Sie das so genau wissen?«, erkundigte ich mich. »Ich meine, der ganze Aufwand, den Sie betrieben haben, von wegen Higgs anheuern, um mich aus der Handlung zu zischeln.« Ich warf meinem Assistenten einen finsteren Blick zu, den er ignorierte. »Und ein neuer Wanderer, was immer das ist, zu dessen Team ich gehören soll. Wieso das alles? Was steckt dahinter?«

»Lassen Sie es mich ganz einfach sagen, Izzi«, schlug M vor. Ich nickte, denn einfach war ganz in meinem Sinne. »Es besteht der begründete Verdacht, dass dieses Notizbuch, das Sie in Ihrer Geschichte dafür nutzen, um die Wünsche Ihrer Kundinnen und Kunden zu erfüllen, weit über Ihren Roman hinaus Wirkung zeigt. Tatsächlich scheint es die Ursache für sich häufende, außergewöhnliche Vorkommnisse in der Welt der Lesenden zu sein.«

»In der Welt …?«, wiederholte ich verdutzt. »Außergewöhnliche …?«

»Und sich häufende!«, wisperte Higgs mir zu, während Ahmed nur nickte.

M legte die Fingerspitzen ihrer Hände aneinander, während sie die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte stützte. »Sehen Sie, Izzi. Ganz genauso wie Sie die leeren Seiten des Notizbuches benutzen, machen es die Lesenden auch: Sie vertiefen sich in den Roman Sehnsuchtserfüllung, und wenn darin Das Buch der Wünsche erwähnt wird, schreiben sie das, was ihr Herz bewegt, auf diese Seite. Und nach einer Weile geht ihr Wunsch tatsächlich in Erfüllung.«

Ich stutzte. »Aber können denn Requisiten aus einem Buch draußen in der Lesendenwelt etwas bewirken?« Von allem, was ich heute gesehen, gehört und erlebt hatte, klang das am absurdesten.

»Das ist eine schlaue Frage, Izzi.« Ich konnte nicht verhindern, mich von Ms Worten ein wenig geschmeichelt zu fühlen. »In der bisherigen Historie der Bücher war das nämlich noch nie der Fall. Dennoch wurden Mitglieder des Bundes darauf aufmerksam, dass in ihrer Welt dort draußen eine ungewöhnliche Häufung von Wunscherfüllungen zu verzeichnen ist. Kleine, oft unauffällige Wunder geschehen, die an so etwas wie Magie glauben lassen. Nie handelt es sich um materielle Wünsche. Immer geht es um Zuneigung, Erfolg, Anerkennung. Entscheidungen fallen zugunsten der Wünschenden aus.« Sie klappte ein superflaches Tablet auf, das die gleiche Farbe wie der Schreibtisch hatte und mir deshalb nicht aufgefallen war. Ms Finger huschten über die Tastatur, dann las sie vor: »Mrs. Chambers wünschte sich, dass ihr gerade der Schule entwachsener Sohn endlich Frieden mit seinem Vater schließen möge. Seit der Scheidung der Eltern vor zehn Jahren hatte der Junge nämlich den Kontakt zu seinem Dad abgelehnt, da der sich hinterhältig und gemein gegenüber der Mutter verhielt. Nachdem Mrs. Chambers ihren Wunsch auf eine Seite des Romans geschrieben hatte, trat genau das ein: Ihr Sohn und ihr Ex-Mann liefen sich durch Zufall über den Weg, kamen ins Gespräch und verstehen sich seither bestens. Und nicht nur Mrs. Chambers hat den Roman auf diese Weise benutzt. Mr. Nicols, ein passionierter, wenn auch vollkommen unbekannter Maler, wollte eines seiner Werke bei den Junior Portrait Artist oft the Year in der National Gallery ausgestellt sehen, und tatsächlich bekam sein Bild einen Platz im Wettbewerb, obwohl dies für einen namenlosen Künstler höchst ungewöhnlich ist. Mrs. Changs Wunsch bezog sich auf ihr Gewicht, von dem sie dreißig Kilo zu verlieren wünschte. Und obwohl sie keinerlei Diät machte, trägt sie heute eine jugendliche Kleidergröße.« M sah auf und uns an. »So geht es ein paar Seiten weiter. Nicht zu sprechen von den Fällen, die wir nicht aufspüren.«

Ich hob die Hände. »Was ist schlimm daran, wenn die Wünsche dieser Menschen wahr werden?«, verlangte ich zu wissen. »In meinem Buch passiert das ständig, und es macht sie glücklich.«

»Es gibt nicht nur gute Sachen, die Leute unbedingt haben wollen, Mann«, sagte Ahmed und machte dabei zum ersten Mal ein ernstes Gesicht.

»Solche Aufträge erfülle ich nicht!«, erklärte ich entschieden. »Ich nehme nur Wünsche an, die niemandem schaden. Solche, die Gutes bewirken für die Person und deren Umfeld. Ich würde nie …«

»Die Welt der Lesenden«, unterbrach M mich, »funktioniert nicht so wie eine Geschichte in einem Buch, Izzi. Ein Begehren, das Ihnen in Ihrem Roman harmlos und friedlich erscheint, kann draußen in der Welt Chaos und Verderben anrichten.« Erneut richtete sie ihren Stahlblick auf den Bildschirm vor sich und las: »Mrs. Chambers’ Sohn hat sich mit seinem Vater versöhnt, ja, brach dafür jedoch den Kontakt zu seiner Mutter komplett ab, weil ihr Ex-Mann immer noch gegen sie intrigiert und der junge Mann nun plötzlich auf seiner Seite steht. Aus scheinbar unerfindlichen Gründen hat Chambers Junior das Klavierstudium an jener Musikhochschule abgebrochen, die er seit seiner Kindheit besuchen wollte. Stattdessen schloss er sich der British Army an, in der schon sein Vater diente. Um seinem Dad zu gefallen, meldete er sich jüngst sogar zum Einsatz in einem Kriegsgebiet.«

Erschrocken blickte ich von M zu Higgs und Ahmed. Die beiden schauten betreten zurück.

M fuhr fort: »Mr. Nicols: Sein Bild, auf das er so große Hoffnungen gesetzt hatte, wurde in einer Kiste mit anderen, wertvollen Ausstellungsstücken transportiert. Beim Umladen überfielen Kunstdiebe den LKW