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Tiere und Literatur: Das ist seit Anbeginn ein Liebesverhältnis. Martin Thomas Pesl hat Fährten aufgenommen, Spuren verfolgt und festgestellt: Der Einsatz vierbeiniger Freunde, gefiederter Feinde, schwimmender Gefahren und trompetender Hindernisse in literarischen Werken ist vielfältiger, als man denkt. Vom Affen Rotpeter bei Kafka über die Esel bei Orwell und Cervantes bis zu Murakamis Frosch, von Nabokovs Grauhörnchen über den Fuchs im Kleinen Prinzen bis zu Martin Suters Elefant und Michail Bulgakows Kater – ihnen und noch vielen mehr ist er auf seiner literarischen Spurensuche von der Antike bis zur Gegenwart begegnet. Ein kurzweiliger und amüsanter Trip für Leser, Tierliebhaber & Abenteurer.
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Seitenzahl: 256
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MARTIN THOMAS PESL
aufgespürt, studiert und erklärt von Martin Thomas Pesl
illustriert von Kristof Kepler
Am Theater und im Film gibt es die Regel: Wer Kinder oder Tiere ins Rampenlicht stellt, ist selber schuld, wenn ihm die Schau gestohlen wird. In der Literatur ist das ähnlich, wenn auch auf einer abstrakteren Ebene. Und da an der Entstehung von Büchern keine eitlen Stars und geltungsbedürftige Diven beteiligt sind, sind der Vertierung der Literatur seit jeher keine Grenzen gesetzt (ebensowenig wie der Verkinderung übrigens). Diejenigen, die die Bücher schreiben, wissen ganz genau: Die Leserinnen und Leser werden sie umso mehr lieben (und kaufen), je mehr Tiere darin vorkommen und je genauer sie betrachtet und beschrieben werden. So einfach ist das.
Und natürlich ist es nicht ganz so einfach. Der Einsatz vierbeiniger Freunde, gefiederter Feinde, schwimmender Gefahren und trötender Hindernisse ist vielfältiger, als man im ersten Moment denkt. Das musste auch ich feststellen, als ich mich entschloss, als neuen Topos für eine weltliterarische Werkschau das Tierische im Menschlichen heranzuziehen.
Nach der erfreulichen Zusammenarbeit mit dem Verlag Edition Atelier und dem Zeichner Kristof Kepler an dem humorvollen Literaturlexikon Das Buch der Schurken stand schon bald fest, dass man so etwas gerne noch einmal hätte: eine Sammlung mit genau hundert Einträgen zu bekannten oder noch zu entdeckenden Figuren aus der Weltliteratur, recht subjektiven (aber dennoch ein bisschen informativen) Ausführungen dazu und einer Originalzeichnung. Besonderheiten der Hundertschaft der Schurken: Kein Autor und keine Autorin wiederholt sich, und es wurde eine gewisse Ausgewogenheit zwischen den Bösewichtern verschiedenster Formen, Farben, Geschlechter und Ausprägungen versucht.
Nachdem mich die fertige Schurkenliste insgesamt recht zufriedenstellte – sie war zwar natürlich nicht erschöpfend, aber bei den meisten, die fehlten, konnte ich dafür eine plausible Rechtfertigung aus dem Hut zaubern –, stellte sich die Frage, ob es denn noch andere große Kategorien gibt, die sich auf diese Weise aufschlüsseln lassen. Helden? Langweilig! Und bitte, was ist schon ein Held? Antihelden? Interessant, aber auch in hohem Maße Ansichtssache. Ich wollte diesmal ein Einschlusskriterium, das weniger stark einer Bewertung unterworfen ist, ein deskriptives, kein qualitatives. Einen Vorschlag erhielt ich bei einer Lesung aus meinem Buch der Schurken von einer inspirierten Besucherin: Das Buch der Gurken. Ich war sehr angetan, doch kamen mir auf Anhieb nur zwei literarische Gurken in den Sinn.
So landete ich schnell bei den Viecherln, und mein Verlag, der auch genau weiß, dass nur Tiere sich besser verkaufen als Sex (ah, vielleicht fällt mir da gerade noch ein drittes Gurkenbuch ein!), zeigte sich begeistert. Kristof Kepler, der Illustrator, war überhaupt ganz aus dem Häuschen.
Die hundert Tiere zu finden, erwies sich als schwierig, aber aus anderen Gründen als zuletzt bei den Schurken: Das Kramen im eigenen Kanon brachte nicht besonders viele Exemplare hervor – vermutlich bin ich lektüretechnisch zu früh erwachsen geworden, habe also viele der klassischen Kindergeschichten übersprungen. (Gerade in Sachen Tieren ist mir einiges entgangen, als ich klein war: Meine Mutter nannte als Lieblingstier die Giraffe, weil die so weit oben ist, dass sie nichts mit ihr zu tun haben muss; vor dem Reiten hatte ich Angst, und das einzige Haustier, das ich mir – erfolglos – wünschte, war eine Schildkröte, weil ich vermutete, dass sie weniger Arbeit machte als ein Meerschweinchen.)
Ich war also besonders auf ein Crowdsourcing unter meinen hochgeschätzten und gebildeten Bekannten angewiesen, doch auch das fiel diesmal höchst unbefriedigend aus: Alle nannten gleich einmal Black Beauty, dann wussten sie nicht mehr weiter. Black Beauty!? Tatsächlich gab es vor dem Film, der offenbar die Kindheit meines gesamten Freundeskreises in verstörendem Ausmaß geprägt hat, einen didaktischen Öko-Roman von einer gewissen Anna Sewell aus dem Jahr 1877. Aus Trotz, dass meine Freunde mir keine literarisch hochwertigeren Ideen einzuimpfen wussten, sah ich über diese Stute arrogant hinweg.
Rückblickend weiß ich Folgendes über literarische Tiere: Es. Gibt. So. Viele! Pferde vor allem, Hunde, Vögel, Affen. Ich liebe Affen, ich deklariere mich hiermit als äußerst affenaffin, aber es gibt einfach so unendliche viele davon! Während ich im ersten Moment noch dachte, ich würde auch Theaterstücke und Filme »zulassen« oder die Regel »nur eine Figur pro Autor oder Autorin« aufheben müssen, stellte ich bald fest, dass allein die fiktiven Prosa-Tiere ein Vielfaches des mir zur Verfügung stehenden Umfangs füllen könnten. (Natürlich gibt es auch einige Überschneidungen zu den Schurken, weshalb ich mir ganz frech erlaubt habe, zwei von ihnen exemplarisch aus dem Vorgängerbuch in dieses zu übernehmen, einen kleinen und einen großen: den Bandwurm nach Irvine Welsh und Melvilles Moby Dick.)
Bei jedem Gang in die Bücherei, den ich unternahm, um einen bestimmten Roman zu finden, warfen sich mir fünf ganz andere Tierbücher, von denen ich noch nicht gehört hatte, vor die Füße und bettelten um meine Gunst wie junge Hunde. Wenn ich dann Radio hörte, erfuhr ich von der neuesten Neuerscheinung auf dem Belletristiksektor, die wieder einem neuen Elefanten oder Okapi in die Seele blickt. Und mein Kollege bei der Wochenzeitung Falter, Klaus Nüchtern, rief für die Literaturbeilage im Frühjahr 2017 einen animalischen Schwerpunkt aus. Es erscheint einfach ständig neues Tierisches.
Die Attraktion des Animalischen als literarisches Mittel hat niemals nachgelassen, seit sich im Alten Testament die Schlange wichtigmachte. In allen alten Sagen, religiösen Schriften und nationalen Epen finden wir nach wenigen Seiten die erste Erwähnung eines Tieres, und praktisch immer hat es menschliche oder magische Züge. Ja, die Erzählenden und Erfindenden hielten es damals nur ganz schlecht aus, das Tier Tier sein zu lassen. Auch im indischen Epos Ramayana und in der chinesischen Reise in den Westen ist es völlig selbstverständlich, dass der wichtigste Handlungsträger jeweils ein Affe ist. Die Natur musste beseelt sein, und da Gott oder Götter, Teufel und Dämonen nicht in den profanen Menschen steckten, mussten sie in diese anderen Lebewesen hinein, die in Wirklichkeit nie etwas sagten, aber irgendwie klüger zu sein schienen als sie aussahen.
Daher ist es nur verständlich, dass die Menschen neugierig waren, was in diesen ihren entfernten Verwandten vorging. Sie wollten sich in sie hineinversetzen, wenn auch nur vorübergehend. Verwandlungen waren also schon vor Hunderten von Jahren ein beliebter Topos in der Literatur, Ovid widmete ihnen gar sein Lebenswerk. In Apuleius’ goldenem Esel und später Shakespeares Sommernachtstraum (der hier nicht vorkommt, weil ein Theaterstück) wurde der Mensch im Sinne der allgemeinen Belustigung zum Esel und wieder zum Menschen – eine Symbolik, die viel über unseren Blick auf uns selbst aussagt.
Indes wurde der Mensch nie müde, das Tier menschlich zu betrachten. In der westlichen Kultur stürzte man sich auf die Fabeln des alten Griechen Äsop (selbst eine recht fabelhafte Gestalt) und wandelte sie vielfach ab. Ein berühmter Adaptierer war im 17. Jahrhundert Jean de La Fontaine, dessen Fabeln immer noch reich illustriert für Kinder aller Altersstufen unter Weihnachtsbäumen liegen. Im 18. Jahrhundert stürzten sich deutschsprachige Dichter auf dieselben Stoffe, die im 19. dann unter anderem in so manches Märchen der Gebrüder Grimm Eingang fanden.
Erst im 20. Jahrhundert sollten Schreibende wie Franz Kafka (Die Verwandlung), Roald Dahl (Hexen hexen) und Marie Darrieussecq (Schweinerei) die weniger heiteren Seiten einer Tierwerdung beleuchten. Kafka (Ein Bericht für eine Akademie) und David Garnett (Dame zu Fuchs), aber auch etwa Pierre Boulle (Planet der Affen) und Peter Høeg (Die Frau und der Affe) versuchten sich auf unterschiedlich direkte Weise sogar am umgekehrten Weg – Tier wird zu Mensch – und brachten so einen modernen (Alb-)Traum zum Ausdruck: Was, wenn die, die wir mittlerweile endgültig als uns unterlegen erkannt haben, ihre Entwicklungsrückschritte aufholen und die gleichen Fähigkeiten erwerben wie wir, ja uns sogar irgendwann überlegen sind? Folgt dann die große Rache? Ein auch im 21. Jahrhundert immer noch brisantes Thema, nur haben sich da in Literatur und Film die Protagonisten geändert: Anstelle der minderen Intelligenzen (Tiere) sind künstliche (Roboter) getreten.
Am einfachsten und durchaus ebenso reizvoll ist es natürlich stets, den Tieren menschliche Züge zu geben. Ohne diesen Trick ergäbe die Kinderliteratur der Welt nur eine sehr karge Bibliothek. Aber auch hier gibt es Abstufungen, sowohl bei der Kindlichkeit der behandelten Stoffe (die Kaninchen in Unten am Fluss, ich bleibe dabei, sind nichts für Zartbesaitete!) als auch im Grad des Realismus bei der speziesübergreifenden Aneignung. In Kenneth Grahames Klassiker Der Wind in den Weiden könnte man die Protagonisten ohne Weiteres eins zu eins gegen Menschen austauschen, die wären dann halt weniger knuffig.
Die Möwe Jonathan denkt dafür zwar wie ein Mensch – noch dazu wie einer, der zu viel Weihrauch eingeatmet hat –, ihr Dasein als Möwengeist hätte aber keine Berechtigung, wenn sie nicht Flügel hätte. Ein postmodernes Resultat dieser Dialektik sind Texte wie David Duchovnys Heilige Kuh oder (ein Pionier in dieser Hinsicht!) E.T.A. Hoffmanns Kater Murr, in denen die Tiere zwar selbstredend so klug und gebildet sind wie die Menschen, aber großen Aufwand betreiben, damit diese das nicht bemerken. Selbsterniedrigung der eigenen Spezies – auch ein weit verbreitetes Motiv für den literarischen Einsatz der Fauna.
Vor den Unmengen an detektivisch begabten Katzen (und Hunden, aber vor allem Katzen), deren Spürsinn die vertracktesten Kriminalfälle löst, bevor die Herrchen und Frauchen auch nur eine Fährte aufgenommen haben, habe ich übrigens von vornherein kapituliert. Die müssen leider draußen bleiben.
Besonders interessant waren für mich hingegen jene Werke, in denen Tiere als Projektionsfläche, Arbeitsmaschine (das sind meist die Pferde), treuer Gefährte des Menschen oder gefährliche Ausformung der Natur wahrgenommen und beschrieben werden: die realistischen, die – haha! – naturalistischen Tiergeschichten, in denen die Tiere literarisch so bedeutend sind wie der Glanz der Sonne auf der Oberfläche eines Sees oder der letzte Blick der Protagonistin zu ihrem Geliebten. Hier sind, dicht gefolgt von den Pferden, die Hunde quantitativ in der Überzahl. Von den (real inspirierten, aber fiktionalisierten) Haushunden haben es Sándor Márais Tschutora, Elizabeth Barrett Brownings Flush (literarisiert von Virginia Woolf) und Ebner-Eschenbachs Krambambuli in unsere Auswahl geschafft. Aber es gibt ihrer noch viel, viel mehr.
Beliebter in den letzten Jahrzehnten ist freilich die Betrachtung der eher untypischen Haustiere, immer mit einem kalkulierten Niedlichkeitsmoment verbunden: Wer schmunzelt nicht bei der Vorstellung einer Elefantenkuh im Wohnwagen der schönen Frau in Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand oder angesichts des im Herzen der Ukraine herrlich deplatzierten Pinguins Mischa in Picknick auf dem Eis?
Nicht zu vergessen sind die Tiere als Nahrung – in dieses Lexikon haben sie allerdings nur Eingang gefunden, wenn ihr Leben davor annähernd der Rede wert war; wie das von Federigos Falken im Dekameron – und jene, die als Metapher, als Symbol, als literarisches Mittel zum Einsatz kommen. Der Löwe in Blumenberg zum Beispiel repräsentiert den mangelnden christlichen Glauben des Philosophen, der Bandwurm in Drecksau die unterdrückten Schuldgefühle des Protagonisten.
Die Handlung von Pnin hingegen würde ohne das Grauhörnchen ebenfalls stattfinden, auch Der Idiot von Dostojewski wäre ohne die wenigen Seiten mit dem Igel problemlos vorstellbar, und García Márquez hätte seine Familie Buendía am Ende der Hundert Jahre Einsamkeit problemlos auch anders der Natur anheimfallen lassen können als mithilfe der bunten Ameisen. Doch sie alle weisen ihre Autoren als Künstler aus, die eine Welt jenseits der Beschreibungs- und Fabulierkunst aufzustoßen wissen.
Die guten Tiere, die bösen Tiere, die echten Tiere, die menschlichen Tiere, die absurden Tiere, die Kuscheltiere. Da diese Kategorien oft nicht so leicht voneinander abgrenzbar sind, haben wir uns bei der Präsentation der Sammlung für eine zoologische Anordnung der Figuren entschieden, beinahe so, als schrieben wir eine Ergänzung zu Brehms Tierleben. So sind die Leserinnen und Leser eingeladen, mit ihrer Lieblingstierart zu beginnen (in meinem Fall, habe ich das schon erwähnt?, sind es die Affen!), in der Hoffnung, dass sie danach auch noch in die anderen Abteilungen des literarischen Zoos vordringen.
Was ich im Vorwort zu meinen Schurken geschrieben habe, gilt hier noch viel mehr: Es besteht keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit (mir ist allein von der Aufzählung der vielen Ausgaben schwindlig, die eine gewisse Fantasyreihe namens Warrior Cats umfasst). Mein Buch stellt keinen literaturwissenschaftlichen, auch keinen literaturkritischen und schon gar keinen biologischen Anspruch, es ist einfach ein Angebot eines begeisterten Lesers an andere Lesende, die Literatur von einer bestimmten Seite, der tierischen, zu erkunden. Lächeln Sie, weil die Tiere so süß sind. Schütteln Sie den Kopf, weil sie gar so süß sind. Fürchten Sie sich, weil sie so gefährlich sind. Und kraulen Sie dabei Ihren Vierbeiner. Oder ist Ihrer Meinung nach das Buch der beste Freund des Menschen?
Martin Thomas Pesl
AUTOR: Herman Melville
TITEL:Moby Dick oder Der Wal(aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis)
ORIGINALFASSUNG: 1851
Aye, aye! Es war dieser verfluchte weiße Wal, der mir den Mast abgeschlagen hat, der aus mir bis ans Ende meiner Tage einen erbärmlichen, humpelnden Krüppel gemacht hat!« Darauf schüttelte er die Fäuste gen Himmel und schrie seine maßlosen Verwünschungen hinaus: »Aye, aye, und ich werd ihn ums Kap der Guten Hoffnung hetzen und auch ums Horn herum und um Norwegens Mahlstrom und durch die Flammen der Verdammnis, eh ich die Jagd verloren gebe. Und, Männer, das ist es, wofür ihr angeheuert habt! Diesen weißen Wal zu jagen, auf beiden Ozeanen, in allen Winkeln der Welt, bis schwarzes Blut er bläst und tot im Wasser treibt.«
Man muss sich auch mal die andere Seite ansehen. Klar, diese gekränkten Männer und ihre Besessenheit von hungrigen Meerestieren haben etwas Lächerliches: dieser Captain Hook mit seinem Krokodil, dieser alte Mann im Meer auf der Jagd nach dem Riesenmarlin und durchaus auch dieser immer fanatischer werdende Kapitän Ahab. Sie können nicht gewinnen, aber sie müssen kämpfen, um ihre fehlenden Gliedmaßen zu rächen (oder auch einfach nur ihren Stolz zu befriedigen).
Aber trotzdem. Jetzt mal im Ernst: Moby Dick! Du Wal, du Weißer Wal du! Stellvertretend für die anderen Wassergenossen, die im Menschen einen irrationalen Tunnelblick auslösen, lass dir gesagt sein: Es ist ja verständlich, dass du nicht gejagt werden willst, und vor 150 Jahren hattest du auch noch keinen WWF, um dich zu schützen. Aber bitte, reiß dich zusammen, anstatt uns Menschen das Bein ab. Die ganze Umgebung leidet doch unter den ahabschen Gewaltobsessionen. Ismael, Starbuck, Queequeg – die müssen sich mit dem Mann ein Schiff teilen! Und das sind auch nur Säugetiere, so wie du.
Bliebest du doch wenigstens ein »Phantom des Lebens«, wie du an einer Stelle bezeichnet wirst, eine omnipräsente, doch ungreifbare, numinose Nemesis, ein dämonischer Teufel, der in Wahrheit nur in den Köpfen derer existiert, die dich jagen! Das wäre ohnehin schon tierisch gemein.
Aber nein, du lässt dich auch noch aufspüren von der irre gewordenen Mannschaft: Absichtlich, könnte man dir unterstellen, lockst du sie in dein Revier, in die Höhle des Löwen sozusagen, nur bist du größer, lauter, dicker (tut mir leid, aber du hast »dick« schon im Namen!) und gefährlicher als ein Löwe. Und da sind sie dann und nähern sich dir, nicht wissend, was sie tun, stoßen sich an dir und kentern. Du hast kaum eine Flosse gerührt, hast dann nur ein bisschen das Schiff gerammt und dabei halt alle vernichtet. Hattest wohl nach dem Ahab-etitanreger noch Lust auf den Rest der Mahlzeit?
Wer den Wal hat, hat die Qual. Und wer ihn nicht hat, quält sich selbst. Es ist ein Wunder, dass sich nach dir Weißem Wal und deinem ideellen Nachkommen, dem »Weißen Hai«, noch irgendjemand ins Wasser traut.
Und hier noch ein paar Fun Facts über euch Pottwale: Wusstest du, dass ihr eine sogenannte Junk-Melone in eurem rechteckigen Schädel habt, die euch den Kopf schwer macht und beim Rammen unterstützt? Dementsprechend werdet ihr Männchen auch Bullen genannt.
Und ja, du Bully der Meere: Der sanftmütige Sänger Moby ist nach dir benannt. Denn Herman Melville war sein Ururgroßvater. Da schaust du, was?
GATTUNG:Physeter macrocephalus
LEBENSRAUM: Kap der guten Hoffnung
FIGUR: dick
ERNÄHRUNG: Seemannshaxe
SOZIALVERHALTEN: bissig
ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen
NATÜRLICHER FEIND: Kapitän Ahab
AUTOR: James Matthew Barrie
TITEL:Peter Pan(aus dem Englischen von Bernd Wilms)
ORIGINALFASSUNG: 1906
Zum Schluss kommt ein riesiges Krokodil. Nach wem es Ausschau hält, werden wir noch sehen.
Das berühmteste Krokodil der Welt? Da streiten sich jetzt wahrscheinlich zwei: jenes, das im Kasperletheater stets den Knüppel auf die Nase kriegt, und jenes, das Captain Hooks Arm verspeist hat. Nun, beide haben keinen besonders guten Ruf. Aber: Armfresser vor Armleuchter.
Er fürchte sich keineswegs vor Krokodilen, korrigiert der rachsüchtige Captain seinen Bootsmann Mr. Smee, »sondern vor diesem einen Krokodil«. Sein Arm, den Peter Pan ihm abgeschlagen habe, habe dem Tier so gut geschmeckt, dass er nun auch noch den Rest verzehren wolle. Als veritabler Allesfresser hat das Krokodil aber auch einen Wecker verschluckt, der seitdem ganz laut aus seinem Magen heraus tickt. Das Anschleichen gestaltet sich daher schwierig. Und so wie Captain Hooks Name prophetisch voraussah, dass er einst einen Greifhaken anstelle einer Hand haben würde, heißt im Disney-Film Peter Pan das Krokodil Tick-Tack.
Aber irgendwann ist auch im Nimmerland die Batterie leer, und dann kommt das Krokodil schallgedämpft daher. Das weiß Captain Hook, und davor fürchtet er sich gerade so sehr wie vor dem Anblick seines eigenen Blutes. Dazu kommt das Ärgernis, dass Peter Pan ein brillanter Stimmenimitator ist, der nicht nur Captain Hook selbst hervorragend nachzuahmen versteht, sondern auch das schwimmende Reptil beziehungsweise dessen innere Uhr.
In den zahlreichen Verfilmungen des Peter-Pan-Stoffs ist das alles ein bisschen anders. In Hook hat Hook seine Rache an dem Krokodil genommen und sich daraus – nein, keine Lederhandschuhe (das hätte wahrlich Stil), sondern einen Uhrturm (auch elegant) gemacht.
Scheint aber nichts zu nutzen, die nimmerländische Nimmerlogik lässt zu, dass das Krokodil einzig zu dem Zwecke, Hook am Ende zu fressen, wieder zum Leben erwacht. Und täglich grüßt das Krokodil.
In den 2000er-Jahren wurde dieses eine Krokodil immer dinosaurisch monströser und vermehrte sich. Dafür – um wieder in literarische Sümpfe zurückzukehren – hat Geraldine McCaughrean 2006 eine offizielle Fortsetzung geschrieben (Titel: Peter Pan und der rote Pirat), in der Captain Hook im Stil der alten GrimmEinwolfungen überlebt. Das Krokodil verspeist ihn ganz, aber die Sache hat einen Haken: Hook öffnet ein Giftfläschchen, tötet den Gegner von innen und klettert heraus.
GATTUNG:Crocodylus porosus
LEBENSRAUM: Nimmerland
GESCHLECHT: weiblich
ALTERNATIVNAMEN: Tick-Tock the Croc, Mr. Grin
ERNÄHRUNG: Tic-Tacs
KNUDDELFAKTOR:
ÖKOLOGIEVERSTäNDNIS: hoch (pladiert für ganzheitliche Verwertung)
ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen
AUTOR: Ernest Hemingway
TITEL:Der alte Mann und das Meer(aus dem Amerikanischen von Annemarie Horschitz-Horst)
ORIGINALFASSUNG: 1952
Der Fisch traf den Draht noch verschiedene Male, und jedesmal, wenn er mit dem Kopf stieß, gab der alte Mann ein bißchen Leine ’raus. – Ich darf seine Schmerzen nicht größer werden lassen, dachte er. Meine sind ganz egal. Meine kann ich beherrschen. Aber seine Schmerzen könnten ihn zum Wahnsinntreiben.
Die Erzählung trägt den Titel Der alte Mann und das Meer, aber eigentlich müsste sie Der alte Mann und der Marlin heißen. Mit dem Meer an sich kommt der alte Fischer Santiago nämlich ganz gut klar, das Problem ist nur, dass es relativ leergefischt ist. Und das vor sechzig Jahren, als noch nix war mit globaler Ressourcenausbeutung und Co.!
Als der alte Mann eines Tages ohne seinen jungen Freund und Helfer Manolin zum 85. Mal hinausfährt, um etwas zu fangen, begegnet er dem riesigen Blauen Marlin, auch Speerfisch genannt, »zwei Fuß länger als das Boot« oder sogar noch größer. Ein Verwandter des Schwertfisches, er hat mit diesem auch Ähnlichkeiten, aber kein spitzes, scharfes, sondern ein zylindrisches »Maul«. Mithilfe dieses Mauls frisst er tatsächlich die Ködermakrelen vom Haken ab und bleibt dann hängen.
Das ist der Beginn eines monströsen Pas de deux, eines mehrtägigen Duetts oder Duells zweier erbitterter Feinde, von denen einer den anderen aber als Freund bezeichnet, sich um ihn sorgt und dennoch sagt: »Aber ich werde ihn töten. In all seiner Größe und Herrlichkeit.«
Wenn das so einfach wäre! Viel zu schwach ist der alte Mann, zu stark der Fisch. »Fisch, du mußt sowieso sterben«, sagt er ihm. »Mußt du mich auch töten?« Der Klügere gibt nach, in diesem Fall aber weiß der Klügere, dass Nachgeben die schlechteste Lösung wäre.
Nur einmal bekommt Santiago seinen seltsamen Tanzpartner zu Gesicht, kurz vor dessen Tod: »größer als ein großes Sensenblatt und ganz hell lavendelfarben über dem dunkelblauen Wasser«. Er sieht seine violetten Streifen und die angelegte Rückenflosse und fühlt sich seinem Herzen besonders nahe. Derlei Sentimentalitäten und die faszinierende Bewunderung für den namenlosen Numinosen halten ihn aber nicht davon ab, dem Tier mit seiner Harpune, mit Müh und mit Not den Garaus zu machen. Es schreibt dies schließlich ein tougher Amerikaner der Fünfzigerjahre mitten in der Schwüle Kubas.
Tough ist auch, dass das tote Tier und all seine von Santiago im Laufe der gemeinsamen Bootsfahrt ins Treffen geführten Nährwerte schließlich den Haien anheimfallen. Der alte Fischer schläft vor Erschöpfung ein. Eine der am meisten unterschätzten Liebestragödien der Literaturgeschichte hat ein höchst unbefriedigendes Ende gefunden.
GATTUNG:Isithiophoridae
LEBENSRAUM: Atlantik
FARBE: Lavendel
GRÖSSE: zwei Fuß länger als das Boot, größer als ein großes Sensenblatt
MAUL: Speer statt Schwert
ERNÄHRUNG: Makrelen
BESTER-FREUND-DES-MENSCHEN-FAKTOR:
ARTENSCHUTZ: empfohlen
BERUF: Duetttänzer
AUTOR: Peter Benchley
TITEL:Der Weiße Hai(aus dem Amerikanischen von Vanessa Wieser)
ORIGINALFASSUNG: 1974
Was wird Martin denn nun mit diesem Hai tun?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an, sie werden versuchen, ihn zu fangen.«
»Kannst du den Leviathan ziehen mit dem Haken und seine Zunge mit einer Schnur fassen?«
»Wie bitte?«
»Buch Hiob«, sagte Minnie. »Kein Sterblicher wird jemals diesen Fisch fangen.«
Moment mal, es gibt ein Buch über den Weißen Hai!? Ja, es war sogar sehr erfolgreich damals im Jahr 1974. Der Autor Peter Benchley war seit seiner Kindheit ein Hai-Fan gewesen und wurde von der raschen Verfilmung seines Romans (nämlich: 1975) nachhaltig traumatisiert. Einerseits schrieb er zornige Briefe an die Produzenten betreffend Fehler im Drehbuch, andererseits war er unendlich dankbar, an ein »Genie namens Steven Spielberg« geraten zu sein.
Dem »Fisch« gegenüber, wie er ihn an den empathischen Stellen seines Romans bescheiden nennt, hatte Benchley zeitlebens ein schlechtes Gewissen, weil er ihn so biblisch böse dargestellt hatte (Spielberg freilich fand bei der Lektüre alle menschlichen Charaktere so unsympathisch, dass er zum Hai hielt). Benchley betreute fürderhin hai-tere Umweltschutzprojekte.
Ähnlich wie im Film jedenfalls taucht der Große Weiße Hai – die Länge der Gattung wird mit sechs bis 35 Metern spekuliert – vor dem Ferienort Amity, Long Island, New York auf und beißt ohne größeren Widerstand badende Menschen durch. Bis ein Triumvirat aus Polizeichef Martin Brody und zwei unerschrockenen Hai-Experten ihn jagen und töten geht – alle in Kapitän-Ahab-Manier schon ein bisschen wahnsinnig geworden –, gehen einige Wochen vorbei und einige Menschen drauf.
Dann aber sehen sie ihn endlich: »An jedem Seitenende der Schnauze, wo die graue Farbe in Cremeweiß überging, waren die Nasenlöcher – tiefe Schlitze in der gepanzerten Haut. Das Maul war nicht ganz bis zur Hälfte geöffnet, eine verschwommene, dunkle Höhle, beschützt von riesigen dreieckigen Zähnen. Fisch und Männer standen einander etwa zehn Sekunden gegenüber.« Wenig später bemerkt der Polizeichef fröstelnd: »Er sah aus, als ob er grinsen würde.« Und am nächsten Tag erlebt er dann das grausige Bild des halb aus des Fisches Maul hängenden Oberkörpers eines der Haiologen (der im Übrigen natürlich mit Brodys Frau geschlafen hat). Den anderen, einen geldgierigen Irren, frisst der Weiße Hai dann am nächsten Morgen.
»Der Fisch schien nie dagewesen zu sein«, heißt es einmal. Benchley beschreibt ihn zwar plastisch, zoomt hin und wieder auf seine Bewegungen, versucht seine Wahrnehmung nachzuvollziehen, aber die Fake News der intendierten Bösartigkeit schafft er nicht zu entkräften.
Der zwischen Supererfolg und zoologischer Integrität schwankende Peter Benchley starb 2006. Wahrscheinlich war das zu seinem Besten: Die Sharknado-Filmreihe (ab 2013) hätte er nicht gut verkraftet.
GATTUNG:Carcharodon carcharias
LEBENSRAUM: Atlantik
SCHNAUZE: kegelformig
ZÄHNE: dreieckig
ERNÄHRUNGSTYP: »Müllschlucker«
ARTENSCHUTZ: empfohlen
LÄNGE: variabel
Natürliche FEINDE: keine ernst zu nehmenden
AUTOR: Stefano D’Arrigo
TITEL:Horcynus Orca(aus dem Italienischen von Moshe Kahn)
ORIGINALFASSUNG: 1975
Ein Koloss von einem Körper, um die fünfzehn Meter lang und einige Tonnen schwer, von fetter Haut, die dampft wie erkaltende Lava und schwitzt so gemeine Düfte aus, dass man meint, alle seine Funktionen würde er mittels Ausschwitzen durch die Poren seiner Haut erledigen …
Er ist ein Kubikkillerwal, ein Orkan-Orca, ein überwältigendes Wesen, dem Moby Dick wahrscheinlich sofort sein Pausengeld herausgäbe. Ihn elefantös zu nennen, täte jedem Elefanten Ehre. Der mythische Orcaferon oder Orcinus Orca oder Tiergigant präsentiert sich so numinos, so unvorstellbar groß, dass selbst seine Beschreibung in einem Satz sich exzessiv breitmacht und am besten in Scheibchen zu genießen ist:
»… eine Körperform wie ein riesenhafter Torpedo, von ungeheuerlicher, schreckenerregender Düsternis; eine geschlossene, undurchdringliche Form, eine leichenartige Färbung von warmem, schimmerndem Schwarz …«
So monströs wie sein fabelhafter Meeressäuger ist Stefano Fortunato D’Arrigos ganzes Werk. Der 1975 erschienene Klassiker über die Odyssee eines Kriegsheimkehrers nach Sizilien hat 1500 Seiten und etwa 2000 Wortneuschöpfungen, zum Beispiel »Fere« für eine Art tückischen Delfin, der das gewisse Etwas und weiblichen Charme besitzt, statt nur männlich angeberisch herumzuplanschen. Wir schalten zurück zur Walberichterstattung:
»… der Kopf mit dem Knochen aus zwei Öffnungen des Atemlochs, das sich da befindet, wo der Hals hätte sein sollen, er ist mit dem Rest zu einem Ganzen verleibt, eine miteinander verschmolzene Einheit …«
Immer noch nicht fertig. Vor der letztlich 1975 erfolgten Veröffentlichung »überarbeitete« D’Arrigo seinen Roman noch einmal: Das dauerte 16 Jahre, und er fügte bei der Gelegenheit etwa tausend neue Seiten hinzu. Alle waren sich einig: Ein schwindelerregendes Meisterwerk von poetischer Kraft und absoluter Unles- und vor allem Unübersetzbarkeit war geboren.
Einer versuchte es dennoch, das Lesen und das Übersetzen: Der deutsche Moshe Kahn, der den 1992 verstorbenen D’Arrigo vor dessen Tod noch einige Male persönlich begegnet war. Er schuf seinerseits neue Wörter wie »erohräugen« (sehen und hören) und »Chinesischesdingsda« (Penis) und brachte 2015 eine preiswürdige Übersetzung heraus: den neuen Killerwal unter den Wälzern.
Ach ja, das Ende der Beschreibung fehlt noch:
»… alarmierend, unentzifferbar und Schauder hervorrufend, etwas, das man von weitem für ein geheimnisvolles Todeswerkzeug halten könnte, wie eine Art lebendiger und dauernd herumirrender Torpedo.«
Und was macht der Orcinus Orca? Nicht viel. Da sein. Das Meer sein. Feren verscheuchen. Langsam dahinsiechen. Dem Menschen seine Kleinheit vorhalten.
GATTUNG:Orcinus orca
KLASSE: Säugetier (= Fisch mit Chinesischemdingsda)
LEBENSRAUM: Das Meer vor Sizilien
SOZIALVERHALTEN: zermalmt Fischschwärme
WWF-FAKTOR:
GERUCH: bestialisch
AUTOR: Günter Grass
TITEL:Der Butt
ORIGINALFASSUNG: 1977
Solange die Anklageschrift verlesen wurde, lag der Butt reglos auf dem Wannenboden aus Zinkblech, als betreffe ihn nicht der Vorwurf, seit Ende der Jungsteinzeit in beratender Funktion ausschließlich, und bewußt zum Schaden der Frauen, die Männersache betrieben zu haben.
Nicht Gott im Himmel: Butt im Wasser. Nicht Gott zum Gruße: Butt zur Buße. Der Fisch, geliehen aus dem alten Märchen Von dem Fischer und seiner Frau von Philipp Otto Runge, ist es, der bei Günter Grass wie eine auktoriale Instanz die Menschheitsgeschichte bestimmt. Im Gegensatz zu jenem, dem Originalbutt, berät dieser Butt aber nicht die Frau mit dem schönen Namen Ilsebill, sondern ihren Mann.
Der platte Fisch aus dem plattdeutschen Märchen hat es sich also bis zum Jahr 1977 anders überlegt. Er, selbst ein gestandener Milchner (im Gegensatz zum Weibchen, dem Rogner), steht jetzt dem Manne beratend zur Seite.
Damit ist nicht zuletzt der Autor selbst gemeint: »An einem zeitlosen Tag, heiter bis wolkig, fing ich den Butt.« Seither ist er das Teufelchen auf seiner Schulter und stiftet ihn zu klotzigen Gesten von historischem Ausmaß an: zu Kriegen, zu Gier und zu Völkerwanderungen.
Aus der Küche duftet es derweil köstlich. Die stets kochenden Frauen, von Ilsebill, prominenten Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts und diversen Köchinnen repräsentiert, haben die fischige Macho-Kiste irgendwann satt. Sie stellen den Butt vor ein feministisches Tribunal und klagen ihn der ruinösen Beeinflussung der Geschichte an.
In der ihm eigenen Eloquenz gibt der Fisch schließlich klein bei und räumt ein: Ja, die Männer seien Egomanen, die Frauen hätten stets gekocht und Kinder ausgetragen (im ursprünglichen Märchen war noch die Frau wegen ihrer Unersättlichkeit und Gier an allem schuld). Mit verächtlicher Ironie und überheblicher Belesenheit, die jener von E.T.A. Hoffmanns Kater Murr Konkurrenz macht, fügt sich der Angeklagte einer neuen Zukunft.
Die ihm auferlegte Strafe liegt auf der Hand, haben die Frauen doch die ganze Zeit kaschubisch gekocht – ein Thema, von dem der aus Danzig stammende Autor Günter Grass stets besessen war. Warum sie da nicht früher draufgekommen sind, die Ilsebills? »Kühler Riesling stand bereit. Die dampfenden Schüsseln wurden aufgetragen.« Genau, ein großes Buttessen gibt es.
Günter Grass handelte sich für seinen gut gemeinten und famos geschriebenen, aber eben trotzdem klischeebeladenen Geschlechterkampfroman den Titel »Pascha des Monats« der Frauenzeitschrift Emma ein. Der Butt konnte dafür natürlich nichts. Obwohl das alles in Wahrheit vermutlich seine Idee war.
GATTUNG:Scophthalmus maximus
BERUF: Berater
HUMOR: platt
GESCHLECHT: Macho (Milchner)
ALTER: ewig
MENSCHLICHKEITSFAKTOR:
KULINARIKFAKTOR:
ARTENSCHUTZ: nicht empfohlen
Natürlicher FEIND: das Feminal
VORBILD: der Frauenversteherbutt
AUTOR: Jean de La Fontaine
TITEL:Die Grille und die Ameise(aus dem Französischen von Ernst Dohm und Gustav Fabricius)
ORIGINALFASSUNG: 1668
Und vor Hunger weinend leise
Schlich’s zur Nachbarin Ameise;
Fleht’ sie an, in ihrer Not
Ihr zu leihn ein Körnlein Brot.
Mit den Fabeln ist das sehr kompliziert. Jeder kennt die Tiermärchen mit der moralischen Zeigepfote, viele wissen, eigentlich hat der alte Grieche Äsop sie gedichtet, im 6. Jahrhundert vor Christus. Die wurden aber in erster Linie mündlich überliefert, und niedergeschrieben haben sie dann viele, viele Menschen, die sprachlich versiert waren, sich aber keine eigenen Geschichten ausdenken wollten: in Deutschland etwa die Gebrüder Grimm, Lessing und Goethe, in Frankreich La Fontaine, der sie in Versform gebracht hat, während wir als Kinder wahrscheinlich unter seinem Namen Bilderbücher mit ungereimten, nett erzählten Prosatexten vorgelesen bekamen.
In Prosa wurden die Verse auch vom Barockpoeten Abraham a Sancta Clara übertragen. Die bekannteste fabula, die uns selbst in Roland Schimmelpfennigs Drama Der goldene Drache noch begegnet, ist jedenfalls die von der Ameise und der Heuschrecke oder von der Ameise und der Zikade oder von der Libelle und der Ameise oder von der Grille und der Ameise (wie bei La Fontaine). Die mit der Ameise jedenfalls. Warum?
Vielleicht weil die Ameise, sonst dank ihres Fleißes und der unverkrampften Solidarität mit ihren Baugenossinnen positiv konnotiert (der Begriff lautet: Eusozialität!), hier auch durchaus arrogant, ja gemein gelesen werden kann? Weil die Geschichte sowohl politisch links als auch politisch rechts als Beispiel herhalten kann und somit die ewige Unversöhnlichkeit der beiden Seiten aufzeigt?
Die Ameise hat jedenfalls den ganzen Sommer Nahrung beiseitegeschafft und somit vorgesorgt, die alte Streberin.