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Ein Café und seine Menschen. Ein Mann, der seiner Sehnsucht folgt. Robert Seethalers neuer Roman. Wien im Jahr 1966. Robert Simon verdient sein Brot als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt. Er ist zufrieden mit seinem Leben, doch zwanzig Jahre nach Ende des Krieges hat sich die Stadt aus ihren Trümmern erhoben. Überall wächst das Neue, und auch Simon lässt sich mitreißen: Er pachtet eine Gastwirtschaft und eröffnet sein eigenes Café. Das Angebot ist überschaubar, und genau genommen ist es gar kein richtiges Café, doch die Menschen aus dem Viertel kommen und sie bringen ihre Geschichten mit – von Sehnsucht, vom unverhofften Glück, vom Tod. Sie kommen auf der Suche nach Gesellschaft, manche hoffen sogar auf die Liebe, und während die Stadt um sie herum erwacht, verwandelt sich auch Simons eigenes Leben. Das Café ohne Namen ist ein Roman über den menschlichen Drang zum Aufbruch. Mit einem Reigen unvergesslicher Figuren und seiner besonderen Aufmerksamkeit für die Details des Lebens erzählt Robert Seethaler davon, wie eine neue Welt entsteht, die wie alles Neue ihr Ende schon in sich trägt.
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Das Café ohne Namen
Robert Seethalers Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Mit seinem Roman Ein ganzes Leben stand er auf der Shortlist des International Booker Prize. Er lebt in Berlin und Wien.
Wien, 1966. Die alte Stadt erwacht, und auch der Gelegenheitsarbeiter Robert Simon wird vom Aufbruch erfasst. Er pachtet eine Gastwirtschaft underöff net sein eigenes Café. Das Angebot ist klein, das Viertel ist arm, doch die Menschen kommen, und sie bringen ihre Geschichten mit - von der Sehnsucht, vom Verlust, vom unverhoff ten Glück. Und während die Stadt sich vor ihren Augen erneuert, verwandelt sich auch Simons eigenes Leben.
Robert Seethaler
Roman
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2901-7 © 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, MünchenUmschlagabbildung: © bpk / GerminAutorenfoto: Urban ZintelE-Book-Konvertierung powered by pepyrus
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Der Autor / Das Buch
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Titelseite
Inhalt
1.
Robert Simon verließ die Wohnung, in der er mit der Kriegerwitwe Martha Pohl lebte, um halb fünf an einem Montagmorgen. Es war im Spätsommer des Jahres 1966, Simon war einunddreißig Jahre alt. Er hatte allein gefrühstückt – zwei Eier, Brot mit Butter und schwarzen Kaffee. Die Witwe hatte noch geschlafen. Aus der Kammer hatte er ihr leises Schnarchen gehört. Er mochte das Geräusch, es rührte ihn auf merkwürdige Weise an, und manchmal warf er einen Blick durch den Türspalt, wo er in der Dunkelheit die weit geöffneten Nasenlöcher der alten Frau ahnte.
Auf der Straße schlug ihm der Wind entgegen. Wenn der Wind von Süden kam, brachte er den Marktgestank, den Geruch von Abfall und faulem Obst mit sich, aber heute kam er aus westlicher Richtung und die Luft war frisch und kühl. Simon lief an dem grauen Wohnblock der Straßenbahnpensionäre vorbei, an der Blechwerkstatt Schneeweis & Söhne und an einer Reihe kleiner Läden, die allesamt noch geschlossen waren. Er ging über die Malzgasse zur Leopoldsgasse und gelangte, indem er die Schiffamtsgasse überquerte, zur kleinen Haidgasse. An der Ecke blieb er stehen, um einen Blick in den Gastraum des ehemaligen Marktcafés zu werfen. Er legte die Stirn an die Scheibe und spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Innere. Vor dem großen schwarzen Tresen standen Tische und Stühle übereinandergestapelt. Die Tapete war ausgebleicht und wölbte sich an einigen Stellen. Es sah aus, als hätten die Wände Gesichter. Die Mauern brauchen Luft, dachte Simon. Die Fenster müssten ein paar Tage offen bleiben, erst danach würde er streichen. Der Moder und die Feuchtigkeit. Die alten Schatten und der Staub. Er drückte sich von der Scheibe ab, drehte sich um und überquerte die Straße zum Markt, wo Johannes Berg gerade mit lautem Knattern die Rollläden seiner Fleischerei auffahren ließ.
»Guten Morgen«, sagte der Fleischermeister. »Du kannst mir ein paar Blöcke Eis hacken, wenn du willst.«
»Ich hab genug mit dem Gemüse zu tun«, sagte Simon. »Neunzehn Kisten Steckrüben.«
Der Fleischer zuckte mit den Schultern und machte sich daran, mit einer Kurbelstange die Markise auszufahren. Er schwitzte, und sein Nacken glänzte in der Morgensonne.
»Wenn du willst, schmiere ich dir später die Scharniere«, sagte Simon.
»Das kann ich auch allein.«
»Letzten Winter hast du sie mit ranzigem Schmalz eingeschmiert. Im Frühling ist der Gestank bis hinüber in den Prater gezogen.«
»Das war kein Schmalz, sondern Schlachtfett.«
»Sag einfach, wenn ich dir helfen soll«, sagte Simon. »Ich kann es nachher machen. Dauert nicht lange.«
»Ist gut«, sagte der Fleischer. Er hakte die Stange aus, stellte sie neben die Eingangstür und wischte mit den Händen über seine von Blutflecken bedeckte Schürze. Sein Gesicht wirkte weich im gedämpften Licht unter dem rotweiß gestreiften Stoffdach.
»Heute wird ein schöner Tag«, sagte er. »Viel Sonne, aber nicht zu heiß.«
»Bestimmt«, sagte Simon. »Wir sehen uns später.«
Er war ein hagerer Mann mit sehnigen Armen und langen, dünnen Beinen. Sein Gesicht war braungebrannt von der Arbeit im Freien, sein Haar hing ihm aschblond und wirr in die Stirn. Seine Hände waren groß und übersät mit Narben, wie sie beim Hantieren mit den spröden Holzkisten entstehen. Seine Augen waren blau. Sie waren das einzig wirklich Schöne an ihm.
Er ging langsamer als gewöhnlich, und viele Händler hoben die Hand oder riefen ihm ein paar freundliche Worte zu. Er war in seinem siebten Jahr auf dem Markt, aber heute war sein letzter Tag, und wenn sie ihm hinterherblickten, wussten sie nicht, ob sie sich für ihn freuen oder traurig sein sollten.
Am Verladeplatz wuchtete er sich Kisten mit Steckrüben und Zwiebeln auf die Schulter und trug sie zu Navraceks Obst- und Gemüsestand. Er schnitt das Grünzeug von den Zwiebeln und die Keime aus den Kartoffeln, schichtete das Winterholz um, damit es keinen Schimmel trieb, und stapelte leere Paletten. Beim Fischhändler reinigte er die Eisbottiche von Schuppen, Schleim und Blut. Er stopfte das verschmutzte Eis und die Fischköpfe mit ihren glotzenden Augen und offenen Mäulern in einen Sack und schleppte ihn zum Mistplatz. Später ging er zum Stand mit dem Spielzeug, den Holzautos und den kleinen, bunten Blechkarussellen, wo er mit einem Schabeisen den Rost vom Bodengitter kratzte. Er hatte seine Arbeit immer gemocht: die Abwechslung, die körperliche Anstrengung, das Handgeld, das ihm am Ende des Tages in den Taschen klimperte. Ihm gefiel die kalte, klare Winterluft, die Sommerhitze, die den Asphalt aufweichte, sodass die Kronkorken darin einsanken, ihm gefielen die heiseren Stimmen der Marktleute, die sich gegenseitig überschrien, und die Vorstellung, dass er nur ein kleiner Teil eines riesigen, atmenden, lärmenden Organismus war.
Vor Marktschluss ging er noch einmal zur Fleischerei. Er hatte sich vom Eisenwarenhändler einen Tiegel Fett besorgt und schmierte die Kippgelenke der Markise ein. Er tauchte einen Finger in das Fett und verteilte es auf den Scharnieren und dem Gewinde der großen Stellschraube. Er ließ sich Zeit mit der Arbeit und rieb und tupfte so lange an der Schraube herum, bis ihm die Fingerkuppen schmerzten.
»Wenn du so weitermachst, reibst du mir noch das Eisen durch«, sagte der Fleischermeister. Er nahm eine Geldbörse aus der Messerlade und zog mit ungeschickten Fingern einen Schein heraus.
»Lass das«, sagte Simon.
Der Fleischermeister zuckte mit den Schultern und steckte sein Geld wieder ein. »Du kannst jederzeit wiederkommen«, sagte er. »Für einen wie dich gibt es immer Arbeit.«
»Danke.«
»Ich wünsch dir jedenfalls Glück. Aber wir sehen uns sowieso.«
»Ja«, sagte Simon. »Wir sehen uns.«
An diesem Abend ging er nicht auf dem üblichen Weg nach Hause. Er lief durch die kleinen Leopoldstädter Gassen über die Praterstraße und die Vorgartenstraße bis zur Donau hinauf, wo Frachtschiffe und Schleppkähne aus dem Schatten der Reichsbrücke tauchten und im gleißenden Licht der Abendsonne stromaufwärts zogen. Auf der Höhe des alten Maschinenwerksgeländes begann er zu rennen. Er rannte über den unbefestigten Uferweg, vorbei an riesigen Betonbrocken, an Scherbengruben, Schrotthaufen und rostigen Eisengittern. Am Ufer schwappten Treibholz und aufgequollene Kartons. Die Lachmöwen kreischten hoch über ihm, und über den Donauwiesen am Nordufer standen die Drachen der Vorstadtkinder als winzige bunte Flecken am Himmel. Er rannte keuchend, mit offenem Mund und rudernden Armen. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, und im Hals spürte er das harte Pochen seines Herzens. Er blinzelte gegen die Sonne und sah das Café mit seinem staubigen Gastraum vor sich, die Tische und Stühle im Dämmerlicht, die Gesichter an den Tapetenwänden, und während er stolpernd und mit stechender Lunge weiterlief, unter der Augartenbrücke hindurch, eine ausgewaschene Böschung hinab, über heiße, klackernde Schottersteine und vorbei an schwarzen Binsen und Gestrüpp, an dessen Dornen Papierfetzen flatterten, hatte er das Gefühl, er könnte ewig so weiterrennen.
Am nächsten Morgen stand Robert Simon um neun Uhr an der Ecke vor dem Café. Der Hauseigentümer, Kostja Vavrovsky, hatte ihn bestellt. »Kommen Sie pünktlich«, hatte er gesagt. »Ansonsten pascht Ihnen jemand das Geschäft unter der Hand weg. Ist eine gute Lage, und die Wirtschaft beginnt ja wieder zu sprudeln in dieser Zeit.«
Das mit der Lage konnte man auch anders sehen. Das Viertel um den Karmelitermarkt war eines der ärmsten und schmutzigsten in Wien, an vielen Kellerfenstern klebte immer noch der Staub der Schutthalden, die der Krieg hinterlassen hatte und die das Fundament für die neuen Gemeindebauten und Arbeiterwohnblöcke bildeten. Mit der sprudelnden Wirtschaft konnte Vavrovsky jedoch recht behalten. In den Zeitungen, in die die Fischhändler ihre Saiblinge und Donauforellen wickelten, war von großen Dingen zu lesen. Aus dem Sumpf der Vergangenheit würde sich eine strahlende Zukunft erheben. Überall knatterten, hämmerten und kreischten die Maschinen, und der Dampf über den frisch geteerten Straßen vermischte sich mit dem Duft der Praterwiesen und der herben, feuchten Luft, die der Wind von den Donauauen hertrieb.
»Aus der Sache wird was«, sagte Vavrovsky. »Glauben Sie mir, ich verstehe was vom Geschäft.« Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete die Eingangstür und ließ Simon den Vortritt.
»Sind die Fenster erst einmal sauber, gibt es ein schönes Licht. Außerdem spart es Heizkosten.«
»Geht der Kessel wieder?«
»Der war noch nie kaputt. Bloß ein bisschen verstopft.«
Simon sah sich um. Er war in den letzten Wochen einige Male hier gewesen, doch jetzt kam ihm alles nur düster und schäbig vor. Die Gläser in den Regalen waren stumpf vor Staub. Über die Spüle liefen Kalkschlieren. Auf dem Boden hinter dem Tresen lag ein einzelner schwarzer Damenschuh.
»Das gehört jetzt alles Ihnen«, sagte Vavrovsky. »Wenn Sie’s richtig machen, können Sie in ein paar Tagen aufsperren.«
Er legte die Schlüssel auf den Tresen und lächelte. »Ich komm mal auf ein Glas vorbei«, sagte er. »Hab’s ja nicht weit!«
Kostja Vavrovsky bewohnte das oberste Stockwerk seines Hauses, zweieinhalb Zimmer unter dem Dach. Noch vor zwei Tagen waren Simon und er an seinem Küchentisch gesessen und hatten den Pachtvertrag durchgearbeitet. Während Simon versucht hatte, aus den vielen Paragrafen einen Sinn herauszulesen, hatte er über seinem Kopf das Trippeln und Kratzen der Tauben gehört und sich zu ihnen gewünscht, um von dort oben weit über die Praterauen und in die andere Richtung zu den schattigen Hängen des Kahlenbergs zu schauen. Die umständlichen Formulierungen erfüllten ihn mit Unbehagen. Solange er zurückdenken konnte, hatten ihn Buchstaben eher verwirrt, als ihm ein Gefühl von Ordnung zu geben. Als Kind hatte er nicht viel Zeit in der Schule verbracht. An dem Tag, als er mit einem Stück Brot und einem Schreibheft in der Hand zum ersten Mal die Volksschule in der Malzgasse betrat und auf seinen Platz zwischen dreiundvierzig anderen Kindern gesetzt wurde, war der Krieg in vollem Gange, und nicht einmal drei Jahre später verwandelten die Alliiertenbomber an einem frühen Morgen das Schulgebäude mitsamt dem darunterliegenden Luftschutzkeller in einen schwarzen, rauchenden Haufen.
Schon damals konnte er sich an die Zeit vor dem Krieg kaum noch erinnern. Sein Vater war eine Art Märchengestalt, ein Schatten, der – immerhin war ihm dieses Bild geblieben – mit einem schweren Mantel und dem Marschbefehl in der Tasche zur Tür hinaus gegangen und nie wieder heimgekehrt war. Nur drei Monate nach der Nachricht vom Heldentod im Feldlazarett starb die Mutter an einer Blutvergiftung, die sie sich beim Entrosten alter Eisennägel zugezogen hatte. Zu verwirrt, um richtig traurig zu sein, lebte Robert fortan in einem Heim für Kriegswaisen der Barmherzigen Schwestern. Die Zeit im Heim inmitten der anderen verlorenen Kinder ließ die Gesichter seiner Eltern und alles, was mit ihnen zu tun hatte, verblassen. Übrig blieben die Erinnerungen an einen schweren Mantel und an ein nach Küche duftendes Schürzenkleid sowie das verschwommene Bild eines in gelbes Licht getauchten Treppenaufgangs, auf dessen oberster Stufe eine Brille mit fein zerkratzten Gläsern lag, was auch immer das zu bedeuten hatte.
Das Kriegsende erlebte der junge Simon als eine Art verschluckten Jubel. Die Leute konnten nicht begreifen, dass es vorbei war, und nur ganz langsam wich das Entsetzen in ihren Gesichtern einem Ausdruck zaghafter Erleichterung. Dann fingen sie an aufzuräumen. Durch das Fenster des Klassenzimmers konnte Robert beobachten, wie Menschen mit Schaufeln, Hacken und Eimern über die Schuttberge krochen. Manche saßen zu Mittag auf den zerschossenen Grundmauern, aßen Brote und tranken Tee aus Blechkannen. Hier und da ragte ein Paar spitzer Knie aus dem Schutt, wenn einer sich zum Ausruhen hingelegt hatte. Manchmal glaubte Robert unter den staubgrauen Frauen und Männern seine Eltern zu erkennen: die schöne, junge Mutter, eine Schaufel hoch über den Kopf erhoben; den Vater, einen schmutzigen Hut in der Stirn, das Gesicht verborgen hinter einem Schleier aus blauem Zigarettenqualm.
Mit dem Ende seiner Schulzeit hatte sich die Stadt verwandelt. Der Staub und die Asche waren in den Boden gesunken. Viele der kaputten Häuser waren abgetragen, auf den Brachen wucherte Unkraut, kleine Kinder spielten mit Scherben und Splittern. Nach und nach wurden die Lücken geschlossen. Überall schossen Gemeindebauten auf, zehn Stockwerke hoch, hell verputzt und mit gläsernen Eingangstüren, die Wohnungen mit gefliesten Bädern und Innentoiletten.
An einem warmen Tag im Mai 1947 stand Robert Simon gemeinsam mit einigen Hundert jubelnden Wienern und Wienerinnen im Prater und sah zu, wie sich das von den Bomben skelettierte und nun frisch renovierte und um fünfzehn Waggons erleichterte Riesenrad endlich wieder zu drehen begann. Auch er jubelte und schrie, gleichzeitig kam er sich irgendwie falsch vor. Er fühlte sich unwohl im Schatten dieses ächzenden Ungetüms, dessen Verstrebungen ihm viel zu zart erschienen, um die Holzwaggons mit ihren winkenden und lachenden Insassen zu tragen. Er fröstelte in der warmen Frühlingsluft, und noch viel später an diesem Tag dachte er mit Besorgnis an das Riesenrad. Es war zu groß und zu schwer, da war er sich sicher. Der Stahl würde reißen, nah an der Achse oder an den Gelenken oberhalb der Waggons. Die ganze Konstruktion würde unmöglich halten über die Zeit. Er wunderte sich über die Begeisterung, die ihn überschwemmt und mitgerissen hatte, er schämte sich für sein Geschrei inmitten so vieler fremder Menschen, und doch wünschte er sich, einmal in einer der roten Kisten zu schweben, hoch über dem nervösen Gewimmel der Stadt.
Mit fünfzehn verließ er die Schule ohne das geringste Bedauern. Er konnte lesen und schreiben und fand mit dem Finger auf der Karte die wichtigsten Länder sowie deren Hauptstädte, was seiner Meinung nach genügte, um sich in der Welt zurechtzufinden. Da es an gesunden Männern mangelte, hatte er keine Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Mit einem Trupp ausgemergelter Schlesiendeutscher setzte er kniehohe Trockenmauern in die Grinzinger Weinberge, jätete Unkraut und kratzte Kalk und Weinstein aus den Kellerfässern. Er füllte die Bombentrichter im Stadtpark mit Schutt und Erde und klopfte am Südbahnhof das Eisen aus den Ruinen. Eine Zeit lang arbeitete er als Abräumer und Fetzenbursch in den Pratergastgärten, und vielleicht war es hier, wo sich in ihm – während er im Licht der bunten Lampions zwischen den Tischen herumlief und nach leeren Gläsern, Hühnerknochen und Zigarettenstummeln Ausschau hielt – zum ersten Mal der Keim einer Sehnsucht regte: etwas zu tun, das seinem Leben eine entscheidende Bekräftigung gab. Einmal hinter der Schank seiner eigenen Wirtschaft zu stehen.
Für den Rest seiner Jugend lebte Robert Simon bei den Barmherzigen Schwestern, später kam er in einem Wohnheim der Volkshilfe unter, ehe er schließlich über eine Zeitungsannonce das möblierte Zimmer bei der Kriegerwitwe fand. BIETE SAUBERE UNTERKUNFT FÜR ANSTÄNDIGEN MENSCHEN. VORÜBERGEHEND ODER DAUERHAFT. KEINE GAUNER, KEINE TRINKER, KEINE FRAUEN. POLIZEILICHE MELDUNG. FESTE SCHLAFENSZEITEN. WÄSCHE, OFEN UND RADIOGERÄT VORHANDEN. BEI BEDARF FRÜHSTÜCK.
Beim Vorstellungsgespräch stand Simon in der Wohnung der Witwe und versuchte, einen soliden Eindruck zu machen. Er hatte sich von einem Arbeitskollegen einen Traueranzug geliehen und Pomade ins Haar geschmiert. Die Ärmel waren zu kurz und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er kam sich dumm vor in seiner Aufmachung und außerdem zu groß und zu ungelenk für eine so damenhafte Umgebung mit den gepolsterten Möbeln und den beiden feingliedrigen Porzellantänzerinnen auf dem Fensterbrett.
»Schön«, sagte die Witwe. »Hier sind Sie also.«
»Wahrscheinlich suchen Sie jemand ganz anderes«, sagte Simon.
»Wen denn?«
»Weiß nicht. Jemanden, der besser hier reinpasst.«
»Wollen Sie das Zimmer sehen oder nicht?«
Er nickte, und sie gingen nach nebenan. Der Raum war klein und sauber. Ein Bett, ein Schrank, ein Fenster zum Innenhof, ein Jesuskreuz an der Wand.
»Sieht gut aus«, sagte er.
»Ja«, sagte die Witwe. »Alles, wie es sein soll. Man könnte vielleicht noch ein Bild aufhängen.«
»Aber nicht zu groß«, sagte er. »Sonst schluckt es die ganze Helligkeit.«
Er spürte den Blick der Witwe in seinem Rücken. Etwas Kaltes stieg in ihm hoch. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und starrte gegen die Wand.
»Wollen Sie es haben?«, fragte die Witwe.
»Ja, das möchte ich sehr gerne«, sagte er nach einem Augenblick der Stille. Dann drehte er sich zu ihr um und die beiden gaben sich die Hand.
Zu dieser Zeit war er schon seit Längerem als Gelegenheitsarbeiter auf dem Markt zugange, was den Vorteil hatte, dass er der Witwe manchmal einen Bund Sellerie, ein paar mehlige Kartoffeln, ein Stück Leber oder sogar einen Pack Schweinehack auf den Küchentisch legen konnte. Er hatte genug für sein Auskommen, war zufrieden mit seinem Leben, und für seine Begriffe hätte es noch eine ganze Weile so weitergehen können.
Dann schloss das Marktcafé an der Ecke. Es war ein düsteres, heruntergekommenes Lokal. Der Wirt, ein ehemaliger Weinhauer aus dem Südburgenland, dessen Rebhänge ihm unter den Händen versauert waren, hatte das Café nach Kriegsende übernommen und ohne jeden Ehrgeiz über die Jahre gebracht. Er war ein verschlossener, einsilbiger Mann, der meist auf einem Hocker neben dem Eingang saß und mit verschwommenem Blick auf die Straße blickte. Sein Bier war zu warm, und jeder auf dem Markt wusste, dass die hartgekochten Eier länger als nur ein paar Tage im Glas schwammen. Simon kam trotzdem gerne. Ihm gefiel der Efeu, der sich an der Hauswand hochrankte und der im Spätsommer erfüllt war vom Gesumme der Insekten, und er mochte die Pflastersteine, die so ausgetreten und glatt waren, dass man blinzeln musste, sobald das Sonnenlicht darauf fiel. Manchmal nach Feierabend saß er an einem der Tische und blickte zum Markt hinüber, wo die Händler ihre Theken schrubbten und die Abfallreste vom Gehsteig spülten. Er dachte, es müsse nicht schwer sein, die Leute hierherzukriegen: kaltes Bier, saubere Gläser und eine richtige Kaffeemaschine, nicht so eine wie die unförmige Kiste, die drinnen auf dem Tresen stand und nichts produzierte als Lärm und schwarze Bitternis.
Eines Tages war der Wirt verschwunden. Einer der Händler meinte, er sei ins Burgenland zurückgekehrt und streife dort wie ein Geist durch seine ehemaligen Weinberge, ein anderer schwor Stein und Bein, er hätte ihn in einem Waldviertler Sägewerk gesehen, wo er unter markerschütterndem Lärm lange Bretter aus der Gattersäge zog, seine Ohren mit Wachspfropfen verstopft und den Blick in die Dunkelheit zwischen den Sägeblättern gerichtet.
Doch das war nur das Gerede einiger Wichtigtuer, und als der Wirt auch über den Winter nicht mehr auftauchte und sich eine samtige Staubschicht auf die Fensterscheiben des Cafés legte, geriet er bald in Vergessenheit.
In seinem Zimmer bei der Kriegerwitwe jedoch wälzte sich Robert Simon von einer einst unter bunten Lampions entzündeten und nun erneut aufflammenden Sehnsucht getrieben durch die Nächte, bis er eines Morgens aus dem Bett sprang, sich ohne zu frühstücken oder sich wenigstens mit den Fingern durchs Haar zu kämmen auf den kurzen Weg zur Haidgasse machte, die sechs Stockwerke bis hinauf zu Kostja Vavrovskys Dachwohnung im Laufschritt erklomm und sich keuchend und mit pochendem Herzen um die Pacht des alten Marktcafés bewarb.
Noch am Tag als Vavrovsky ihm den Schlüsselbund auf den Tresen gelegt und ihn im Zwielicht des Gastraumes stehen gelassen hatte, begann Robert Simon mit der Arbeit. Er öffnete alle Fenster und sah, wie hinter der Theke ein Schwarm winziger schwarzer Fliegen aufstob und als geisterhafter Schatten auf die Straße hinaussegelte. Er riss die Tapeten herunter und malte die Wände mit einer dicken Schicht weißer Farbe aus. Eine Reihe von Tagen verbrachte er damit, auf Knien über den Boden zu rutschen und mit einem um ein Stück Kantholz gewickelten Körnerpapier den Schmutz von den Dielen zu schleifen. Er schmirgelte Stühle und Tische ab und bestrich sie mit einer ätzend riechenden Flüssigkeit, deren Dämpfe ihn für mehrere Stunden in ein schummeriges Hochgefühl versetzten. Er stellte die Möbel zum Trocknen auf die Straße und beobachtete, wie sich im Sonnenlicht die Maserung zu bewegen begann. Später kratzte er mit einer Drahtbürste den Kalk von den Armaturen und den Rost von den Scharnieren der Küchentür, die hinten in den schmalen Lichthof hinausführte. Im Gegensatz zum Gastraum war die Küche in keinem schlechten Zustand, der Burgenländer hatte den Raum als Lager und offenbar manchmal zum Schlafen benutzt. Simon schleppte Kisten mit leeren Weinflaschen, fünf Säcke bröseliger Korken, einen Haufen schmutziger Wäsche und ein altes Bettgestell auf die Straße. Er putzte den Herd und die Fliesen mit einem weichen Ledertuch und ließ einen halben Tag lang Rindenstückchen und Tannenreisig in einer Pfanne kokeln, um den säuerlichen Geruch zu vertreiben. Neben der Eingangstür schnitt er ein großes Rechteck in den Efeu und schraubte eine Kreidetafel für Speisen und Getränke an die Wand. Er wollte auch ein Schild über der Tür anbringen, doch war ihm trotz allen Nachdenkens noch kein passender Name für sein Café eingefallen. Er besprach die Angelegenheit mit Johannes Berg, der die Arbeiten von der anderen Straßenseite verfolgte. Der Fleischermeister meinte, nach seinem Verständnis sei der Name überhaupt das Wichtigste.
»Wie wäre es, wenn du es einfach nach dir benennst«, sagte er. »Gasthaus Simon. Das macht sich gut auf einem Schild, kurz und einprägsam, und du kannst die Buchstaben schön groß malen.«
Das sei eine Möglichkeit, meinte Simon, käme ihm aber irgendwie selbstgefällig vor. Außerdem werde er kein Gasthaus aufmachen, sondern ein Café.
»Vielleicht ist es ja auch egal«, meinte der Fleischermeister nach einigem Nachdenken. »Die Donau hat es schließlich auch schon gegeben, bevor jemand sie Donau genannt hat. Dann bleibt dein Café eben ohne Namen und es ist richtig so.«
Am Abend vor der Eröffnung saß Simon mit der Kriegerwitwe beim Essen am Küchentisch. Sie hatte sich beim Krautsammeln in den Donauauen eine Erkältung eingefangen und trug trotz der Sommerwärme einen dicken Schal. Ihre Augen waren gerötet, und wenn sie den Löffel zum Mund führte und durch die Nase atmete, gab sie ein rasselndes Geräusch von sich.
»Die Suppe schmeckt wunderbar«, sagte Simon.