Der letzte Satz - Robert Seethaler - E-Book

Der letzte Satz E-Book

Robert Seethaler

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Beschreibung

Gustav Mahler auf seiner letzten Reise – das ergreifende Porträt des Ausnahmekünstlers. Nach „Das Feld“ und „Ein ganzes Leben“ der neue Roman von Robert Seethaler.

An Deck eines Schiffes auf dem Weg von New York nach Europa sitzt Gustav Mahler. Er ist berühmt, der größte Musiker der Welt, doch sein Körper schmerzt, hat immer schon geschmerzt. Während ihn der Schiffsjunge sanft, aber resolut umsorgt, denkt er zurück an die letzten Jahre, die Sommer in den Bergen, den Tod seiner Tochter Maria, die er manchmal noch zu sehen meint. An Anna, die andere Tochter, die gerade unten beim Frühstück sitzt, und an Alma, die Liebe seines Lebens, die ihn verrückt macht und die er längst verloren hat. Es ist seine letzte Reise.
"Der letzte Satz" ist das ergreifende Porträt eines Künstlers als müde gewordener Arbeiter, dem die Vergangenheit in Form glasklarer Momente der Schönheit und des Bedauerns entgegentritt.

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Das ist das Cover des Buches »Der letzte Satz« von Robert Seethaler

Über das Buch

Gustav Mahler auf seiner letzten Reise — das ergreifende Porträt des Ausnahmekünstlers. Nach »Das Feld« und »Ein ganzes Leben« der neue Roman von Robert Seethaler.An Deck eines Schiffes auf dem Weg von New York nach Europa sitzt Gustav Mahler. Er ist berühmt, der größte Musiker der Welt, doch sein Körper schmerzt, hat immer schon geschmerzt. Während ihn der Schiffsjunge sanft, aber resolut umsorgt, denkt er zurück an die letzten Jahre, die Sommer in den Bergen, den Tod seiner Tochter Maria, die er manchmal noch zu sehen meint. An Anna, die andere Tochter, die gerade unten beim Frühstück sitzt, und an Alma, die Liebe seines Lebens, die ihn verrückt macht und die er längst verloren hat. Es ist seine letzte Reise.»Der letzte Satz« ist das ergreifende Porträt eines Künstlers als müde gewordener Arbeiter, dem die Vergangenheit in Form glasklarer Momente der Schönheit und des Bedauerns entgegentritt.

Robert Seethaler

Der letzte Satz

Roman

Den Kopf gesenkt, den Körper in eine warme Wolldecke gewickelt, saß Gustav Mahler auf dem eigens für ihn abgetrennten Teil des Sonnendecks der Amerika und wartete auf den Schiffsjungen. Das Meer lag grau und träge im Morgenlicht. Nichts war zu sehen außer dem Tang, der in schlierigen Inseln an der Oberfläche schwamm, und einem überaus merkwürdigen Schimmern am Horizont, das aber, wie ihm der Kapitän versichert hatte, absolut nichts bedeutete. Er saß auf einer Kiste aus Stahl, mit dem Rücken an die Wand eines Deckcontainers gelehnt, und spürte das dumpfe, gleichmäßige Hämmern der Schiffsmotoren unter sich. Auf der Kiste lag eine Rolle Tau, aus der ein Eisenhaken ragte. Der Haken war an der Spitze angerostet, das Tau ausgefranst und schwarz vom Öl. Jemand hatte ihm vom Duft des Meeres erzählt, aber es roch nach nichts. Hier draußen gab es nur den Geruch von Stahl und Maschinenöl und den Wind, der von Norden kam und sich nie zu drehen schien. Mahler mochte den Wind. Er hatte den Eindruck, er wehe ihm dumme Gedanken aus dem Kopf.

Vom Hinterdeck kam der Junge mit dem Tee. Er balancierte das Tablett auf einer Hand und ließ die andere über die Reling gleiten. Mahler sah zu, wie er Kanne und Tasse, beide aus feinem, weißblauem Porzellan, sowie einen Zuckerstreuer und ein Silbertellerchen mit Keksen auf der Kiste drapierte. Die Bewegungen des Jungen waren steif und verhalten wie die eines alten Mannes, doch sein Gesicht war kindlich und glatt.

»Wie lange fährst du schon zur See?«, fragte Mahler.

»Es ist mein erstes Jahr, Herr Direktor«, antwortete der Junge.

»Ich bin kein Direktor, also lass das«, sagte Mahler. »Und nimm die Kekse wieder mit!«

Der Junge nickte.

»Wenn Sie mich jetzt nicht mehr brauchen.«

Mahler schüttelte den Kopf, und der Junge ging. In der Kanne schwammen winzige dunkle Blättchen, dabei hatte er russischen Weißen bestellt. Irgendjemand hatte ihm erzählt, dass weißer Tee die Seele beruhigt. Das war natürlich Unsinn, doch manchmal war es nützlich, an solche Dinge zu glauben.

Der Tee war heiß, und er trank langsam. Das war das Einzige, was er heute zu sich nehmen würde. Er fühlte schon lange keinen Hunger mehr, vielleicht würde er morgen wieder essen.

Der stählerne Rumpf unter ihm knarrte und die Griffläufe an der Reling vibrierten. Er glaubte, den Schrei einer Möwe zu hören. Aber das kann nicht sein, dachte er. Sechs Tage auf hoher See und weit und breit kein Land. Oder doch? Er würde später den Kapitän fragen oder den Jungen.

Einmal hatte er eine einzelne Möwe weiß und klein auf den Wellen schaukeln gesehen. Das war im Hafen von New York gewesen, er saß in einer grell ausgeleuchteten Baracke der Zollbehörde, und während die Beamten ihn über Zweck und Dauer seines Aufenthaltes befragten, blickte er immer wieder aus dem verstaubten Fenster über den Hafen hinaus. Zum Schluss wurde er gezwungen, einen ganzen Stoß Papiere zu unterschreiben, und als er danach wieder hinaussah, war die Möwe verschwunden.

Er musste an den Sommer vor drei Jahren denken. Eines Nachmittags war er von den Dielen hochgesprungen, auf denen er zwei Stunden lang still gelegen und den pulsierenden, in allen Farben leuchtenden Schmerz in seinem Kopf beobachtet hatte. Einige Sekunden stand er schwankend im Raum, ehe er zum Schreibtisch taumelte, eines der von ihm eigenhändig mit Linien bemalten Notenblätter aus der Schublade riss und hastig zu kritzeln begann. Ein Vogel hatte gerufen, in der Fichte hinter dem Komponierhäuschen. Sicher einer dieser kleinen rotbraunen, die man kaum je zu Gesicht bekam und die von den Einheimischen Abholer genannt wurden, weil sie angeblich die Seelen der Gestorbenen heimbrachten. Der Ruf bestand aus drei einzelnen Tönen, die im Gegensatz zum Äußeren des Vogels nichts Fröhliches oder Liebliches hatten, sondern einfach nur gemein klangen. Spöttisch, heiser und abgerissen — aber eben genau richtig. Es waren die Töne, die er so lange vermisst hatte, ohne sie eigentlich je zu suchen. Jetzt waren sie da. Er musste sie bloß festhalten. Eine Quart und eine kleine Terz aufwärts. Spöttisch und gemein. Dann Abbruch. Und noch einmal. Und noch einmal. Was folgte, war klar: abwärts und wieder hoch und weiter und immer so weiter. Er hätte mehr von der amerikanischen Tinte mitnehmen sollen, dachte er. Die hiesige taugte nichts. Sie war zu dünn und tropfte von der Federspitze, ehe diese noch das Blatt berührte. Aber egal, Tropfen, Flecke, das ganze Geschmiere, er würde es sowieso ins Reine schreiben müssen, später, am Abend, in der Nacht, jetzt hieß es dranbleiben. Was zählte, war der Vogelruf, sonst nichts.

Er schrieb schnell, es fühlte sich gut und leicht an. Himmelherrgott, dachte er, lass es nicht aufhören. Nicht, ehe es zu Ende ist.

Nach drei Stunden fiel ihm die Feder aus der Hand, sein Nacken war steif, und in der Schulter saß ein stechender Schmerz, der wie eine hart gespannte Geigensaite bis in die Fingerspitzen zog. Ich wünschte, ich könnte noch eine Weile weitermachen, dachte er. Wer weiß, ob es wiederkommt, man kann es niemals wissen. Doch für diesmal war es vorbei.

Er sah auf und war erstaunt, wie hell es war. Durchs Fenster schien die Sonne und legte Lichtbalken voller schwebender Stäubchen in den Raum. Seine Augen brannten, er blinzelte. Vor ihm lag ein Haufen beschriebener Notenpapiere. Das würde er sich abends am Klavier ansehen oder morgen, vielleicht konnte man es gebrauchen. Doch auch das war nicht sicher.

Er stieß sich mit beiden Händen von der Stuhllehne ab und ging zum Tisch, auf dem eine Karaffe mit Wasser stehen sollte, aber eben nicht stand. Alles wie immer, dachte er. Unachtsam, vergesslich, vertrottelt, die Bauersleute, Alma, das Mädchen, er selbst. Ich hätte die Karaffe schon am Morgen füllen sollen, dachte er. Oder gestern Abend. Das Wasser wäre jetzt warm und abgestanden, aber wenigstens gäbe es welches.

Er warf noch einen letzten Blick auf das Durcheinander auf der Schreibtischplatte, zögerte einen Moment, dann trat er ins Freie.

Draußen war es heiß, der Himmel strahlte in wolkenlosem Blau, aber erst in der Nacht hatte es geregnet und die Wiesen und Wälder standen in saftigem Grün. Die Luft war erfüllt vom Geschwirr der Insekten. Eine Kuh brüllte. Sicher die trächtige, die mit dem schwarzen Stern an der Stirn, dachte er. Vielleicht war es heute so weit. Auf der Straße nach Toblach rannten Kinder. Ihre Füße wirbelten Staub auf und ihr Lachen und Kreischen war bis hierher zu hören. Auf dem Schlüsselbrett, das ihm ein Mann aus dem Dorf an den Türstock genagelt hatte und auf dem für gewöhnlich der Schlüssel, manchmal auch ein Telegramm oder eine Nachricht aus dem Haus lagen, saß eine Heuschrecke und zitterte mit den Flügeln.

Noch heute, fast drei Jahre später, sah er das Bild des Tieres vor sich: seine mit Knoten und Haaren besetzten Beine, den Nackenpanzer und den Kopf mit den glänzenden, starren Augen.

Die Stimme des Bootsmannes riss ihn aus den Gedanken. Jeden Morgen rief er auf dem Achterdeck seine Matrosen zum Appell und gab Befehle. Sein abgehacktes Geschrei ging eine Weile, dann war wieder nur das gleichmäßige Pochen der Motoren und das Rauschen der Bugwellen zu hören.

Mahler lehnte den Kopf zurück. Er war durstig, sein Mund war trocken und seine Zunge fühlte sich an wie ein Stück Holz, doch er wusste, der Tee würde den Durst nicht stillen.

Es muss schrecklich sein, zu verdursten, dachte er. Aber jedes Sterben ist schrecklich. Wie hättest du es gerne?

Er dachte an den Hof, der hoch am Hang unter den Fichtenwäldern lag, ruhig und einsam, mit weitem Blick übers Tal. Zu Beginn jenes Sommers war allerdings von diesem Blick lange nichts zu sehen gewesen. Die Wolken hingen tief, es schüttete unaufhörlich und er verbrachte ganze Tage im Bett und lauschte dem Wasser, das die Schindeln vom Dach riss und das Gemüse aus den Beeten schwemmte. An Arbeit war nicht zu denken, der Weg zum Komponierhäuschen war ein Sturzbach, und ihm kam es so vor, als sei es drinnen kälter als draußen. Der Spiritusofen war zu klein, durch die Ritzen im Dach tropfte moosgrünes Wasser und die Feuchtigkeit kroch in alle Glieder und verstimmte das Klavier. Also blieb er im Bett. Er liebte sein Bett. Das Holz knarrte behaglich unter jeder seiner Bewegungen, die Daunendecken waren dicker und die Matratzen weicher als in der Stadt, und manchmal hatte er kurz vor dem Einschlafen das angenehme Gefühl, sein Körper würde verlorengehen in der wolkenweichen Tiefe. Allerdings war sein Schlaf auch hier weder fest noch lang. Seit er sich erinnern konnte, wälzte er sich durch die Nächte. Er träumte viel, und obwohl er sich an seine Träume am nächsten Morgen kaum erinnern konnte, hinterließen sie in ihm ein seltsam verstörendes Gefühl, das ihn noch lange in den Tag hinein begleitete. Oft lag er wach. Er hörte Geräusche in den Wänden, ein Knacken oder Knistern. Dann stand er auf, ging im Zimmer umher und suchte nach Ursachen. Er grübelte und sorgte sich. Er dachte an die Musik. In der Dunkelheit konnte er ihre Anwesenheit fühlen, als sei sie ein Lebewesen, das atmete und dessen gewichtsloser Körper sich immer weiter ausdehnte, bis er das ganze Zimmer auszufüllen schien.

Gustav Mahler ist ein flackerndes Flämmchen im Sturm der eigenen Verzweiflung. Das hatte irgendein Wiener Schmierfink über ihn geschrieben, das »Flämmchen« bezog sich natürlich auf seine zarte Physiognomie und die Körpergröße von gerade einmal eins sechzig. Er hatte laut aufgelacht und die Zeitung anschließend in Stücke gerissen. Insgeheim aber war ihm klar, dass der Schmierfink recht hatte. Er war noch nicht einmal fünfzig Jahre alt und eine Legende: der größte Dirigent seiner Zeit und vielleicht aller Zeiten, die noch kommen mochten. Doch diesen Ruhm bezahlte er mit dem Desaster eines sich selbst verzehrenden Körpers.

Er hatte sich nie gesund gefühlt. Es lag in der Familie: Von den dreizehn Geschwistern starben sechs im frühen Kindesalter, insofern konnte man das Kind Gustav schon als Überlebenden bezeichnen. Seit seiner Schulzeit litt er unter Migräne, Schlaflosigkeit, Schwindelanfällen, entzündeten Mandeln, schmerzenden Hämorrhoiden, einem gereizten Magen, einem unruhigen Herzen. Er biss auf den Innenseiten seiner Wangen herum, bis sie bluteten, er fuchtelte mit den Händen und stampfte beim Dirigieren, bisweilen auch während des Stehens oder Gehens, unkontrolliert mit dem Fuß in den Boden. Manchmal, wenn er mit geschlossenen Augen im Bett lag, ließen ihn seine überreizten Glieder nicht zur Ruhe kommen, dann stand er wieder auf und begann in der Dunkelheit hin und her zu gehen.

»Sie sollten sich ausruhen«, hatte ein befreundeter Arzt vor Jahren zu ihm gesagt. »Am besten ein Leben lang.«

»Danke«, hatte er geantwortet und das Honorar bezahlt, dann war er gegangen. Er redete sich ein, dass ein Körper, der imstande war, so viele Versehrtheiten und Krankheiten in sich zu tragen, von Grund auf stark sein müsse. Und vielleicht war es ja tatsächlich so. Jedenfalls hatte er diesen Arzt nicht wieder aufgesucht, die Freundschaft war beendet.

Das Ende der kalten Tage war mit dem Föhn gekommen. Anfang Juli fiel der Wind von den Dolomitenkämmen und brachte Licht und Wärme ins Tal. Mahler saß mit bloßen Füßen im taunassen Gras vor dem Haus, trank Milch und aß saftige, an der Kruste schwarz gebrannte Brotkanten ohne Aufstrich. Er mochte die Hofbutter nicht, er misstraute ihrem matten, gelblichen Glanz in der Morgensonne und fand außerdem, dass sie ein wenig nach Jauche schmeckte. Anstatt sie sich aufs Brot zu schmieren, fettete er seine Wanderschuhe damit ein. Dann ging er in den Ort, ließ sich beim Grobschmied vier doppelt gerahmte Fliegengitter fürs Schlafzimmer anfertigen und bestellte am Hof des alten Karnerbauern einen Handtrog voll frischer, glattgestrichener, nach Heu und Kräutern duftender Rahmbutter.

Die Wärme tat seinen Gliedern gut, er fand wieder Gefallen an der Bewegung. Er wanderte übers Tal nach Aufkirchen und Radsberg oder in südlicher Richtung zum Toblacher See, über dessen schwarzer Oberfläche die Regenbogenlibellen schwirrten, und weiter durch die lichter werdenden Wälder bis hinauf zum Lungkofel. Am Wegrand kickte er die Köpfe von den Löwenzahnstängeln und auf den Wiesen pfiff er die Vogelstimmen nach. Er liebte die Vögel und kannte viele mit Namen. Wenn er ihre Namen nicht kannte, gab er ihnen welche. Er nannte sie Einsinger, Schwarzhäubchen oder Wilde Dirn.

Er begann wieder zu arbeiten. Das Komponierhäuschen war mittlerweile trocken, überall auf dem Boden, auf dem Schreibtisch, dem Abstellhocker und dem Klavier lagen auf losen Blättern notiert halbfertige Partituren für die New Yorker Philharmoniker, und mit Ende des Sommers würde er das Lied von der Erde vollendet und die Neunte in eine brauchbare Fassung gebracht haben.