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Wenn die Toten auf ihr Leben zurückblicken könnten, wovon würden sie erzählen? Einer wurde geboren, verfiel dem Glücksspiel und starb. Ein anderer hat nun endlich verstanden, in welchem Moment sich sein Leben entschied. Eine erinnert sich daran, dass ihr Mann ein Leben lang ihre Hand in seiner gehalten hat. Eine andere hatte siebenundsechzig Männer, doch nur einen hat sie geliebt. Und einer dachte: Man müsste mal raus hier. Doch dann blieb er. In Robert Seethalers neuem Roman geht es um das, was sich nicht fassen lässt. Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem Bild menschlicher Koexistenz.
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Seitenzahl: 245
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Zeit:5 Std. 21 min
Wenn die Toten auf ihr Leben zurückblicken könnten, wovon würden sie erzählen? Einer wurde geboren, verfiel dem Glücksspiel und starb. Ein anderer hat nun endlich verstanden, in welchem Moment sich sein Leben entschied. Eine erinnert sich daran, dass ihr Mann ein Leben lang ihre Hand in seiner gehalten hat. Eine andere hatte siebenundsechzig Männer, doch nur einen hat sie geliebt. Und einer dachte: Man müsste mal raus hier. Doch dann blieb er. In Robert Seethalers neuem Roman geht es um das, was sich nicht fassen lässt. Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem Bild menschlicher Koexistenz.
Robert Seethaler
Das Feld
Roman
Hanser Berlin
And you who loiter around these gravesThink you know life.
Edgar Lee Masters, Spoon River Anthology
Der Mann blickte über die Grabsteine, die wie hingestreut vor ihm auf der Wiese lagen. Das Gras stand hoch und Insekten schwirrten in der Luft. Auf der bröckeligen, von Holunderbüschen überwucherten Friedhofsmauer saß eine Amsel und sang. Er konnte sie nicht sehen. Seit einer Weile schon hatte er es mit den Augen, und obwohl es mit jedem Jahr schlimmer wurde, weigerte er sich, eine Brille zu tragen. Es gab Argumente dafür, doch er wollte sie nicht hören. Wenn ihn jemand darauf ansprach, sagte er, er habe sich nun mal so eingerichtet und fühle sich wohl in der zunehmenden Verschwommenheit seiner Umgebung.
Wenn das Wetter gut war, kam er jeden Tag. Er schlenderte eine Weile zwischen den Gräbern umher und setzte sich schließlich auf eine Holzbank unter einer krummgewachsenen Birke. Die Bank gehörte ihm nicht, aber er betrachtete sie als seine Bank. Sie war alt und morsch, niemand sonst würde einer solchen Bank trauen. Er jedoch begrüßte sie wie einen Menschen, strich mit der Hand über das Holz und sagte »Guten Morgen« oder »War eine kalte Nacht, was?«
Es war der älteste Teil des Paulstädter Friedhofes, der von vielen nur das Feld genannt wurde. Früher lag an dieser Stelle die Brache eines Viehbauern namens Ferdinand Jonas. Es war ein nutzloser Flecken, übersät von Steinen und giftigen Butterblumen, und der Bauer war froh, ihn bei erster Gelegenheit an die Gemeinde loszuwerden. Wenn er schon fürs Vieh nicht taugte, war er doch für die Toten genug.
Kaum jemand kam noch hierher. Das letzte Begräbnis hatte vor Monaten stattgefunden, der Mann hatte vergessen, wer es war. Umso deutlicher konnte er sich an ein Begräbnis vor vielen Jahren erinnern, als man an einem verregneten Spätsommertag die Blumenhändlerin Gregorina Stavac in die Erde ließ. Über zwei Wochen hatte Gregorina unbemerkt in der Lagerkammer ihrer Blumenhandlung gelegen, während sich vorne im Verkaufsraum der Staub auf den welkenden Schnittblumen sammelte. Zusammen mit einer Handvoll anderer Trauergäste hatte er am Grab gestanden und erst den Worten des Pfarrers und dann nur noch dem Rauschen des Regens gelauscht. Er hatte nie mehr als ein paar Worte mit der Blumenhändlerin gewechselt, doch seit sich einmal beim Bezahlen ihre Hände berührt hatten, fühlte er sich merkwürdig verbunden mit der unscheinbaren Frau, und als die Friedhofsgärtner zu schaufeln begannen, liefen Tränen über seine Wangen.
Fast jeden Tag saß er unter der Birke und ließ seine Gedanken schweifen. Er dachte über die Toten nach. Viele, die hier lagen, hatte er persönlich gekannt oder war ihnen zumindest einmal in seinem Leben begegnet. Die meisten waren einfache Paulstädter Bürger gewesen: Handwerker, Geschäftsleute oder Angestellte in einem der Läden an der Marktstraße und ihren kleinen Seitenstraßen. Er versuchte, sich ihre Gesichter zu vergegenwärtigen, und setzte seine Erinnerungen zu Bildern zusammen. Er wusste, dass diese Bilder nicht der Wirklichkeit entsprachen, dass sie vielleicht gar keine Ähnlichkeit mit den Menschen hatten, die sie zu Lebzeiten gewesen waren. Doch das war ihm gleichgültig. Das Auf- und Abtauchen der Gesichter in seinem Kopf machte ihm Freude, und manchmal lachte er leise in sich hinein, mit vornübergebeugtem Oberkörper, die Hände überm Bauch gefaltet, das Kinn auf die Brust gesenkt. Hätte ihn in einem solchen Moment jemand aus der Ferne beobachtet, vielleicht einer der Gärtner oder ein verirrter Friedhofgänger, so hätte er den Eindruck haben können, der Mann betete.
Die Wahrheit ist: Er war überzeugt davon, die Toten reden zu hören. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber er nahm ihre Stimmen ebenso deutlich wahr wie das Vogelgezwitscher und das Summen der Insekten um ihn herum. Manchmal bildete er sich sogar ein, aus dem Schwarm der Stimmen einzelne Wörter oder Satzfetzen herauszuhören, doch so angestrengt er auch lauschte, schaffte er es doch nie, die Fragmente zu etwas Sinnvollem zusammenzusetzen.
Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden. Natürlich würden sie vom Leben sprechen. Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte.
Aber vielleicht hatten die Toten gar kein Interesse an den Dingen, die hinter ihnen lagen. Vielleicht erzählten sie von drüben. Davon, wie es sich anfühlt, auf der anderen Seite zu stehen. Abberufen. Eingegangen. Aufgenommen. Verwandelt.
Dann wiederum verwarf er derartige Gedanken. Sie erschienen ihm rührselig und geradezu lächerlich, und ihn überkam der Verdacht, dass die Toten genau wie die Lebenden nur Belanglosigkeiten von sich geben würden, weinerliches Zeug und Angebereien. Sie würden Beschwerde führen und Erinnerungen verklären. Sie würden quengeln, zetern und verleumden. Und natürlich würden sie über ihre Krankheiten reden. Vielleicht würden sie sogar ausschließlich über ihre Krankheiten reden, über ihr Siechtum und ihr Sterben.
Auf der Bank unter der krummen Birke saß der Mann, bis die Sonne hinter der Friedhofsmauer unterging. Er breitete die Arme aus, als wollte er den Flecken Erde vor sich abmessen, dann ließ er sie sinken. Er sog noch einmal die Luft ein. Sie roch nach feuchter Erde und Holunderblüten. Dann stand er auf und ging.
Auf der Marktstraße war der Feierabend herangebrochen und die Geschäftsleute trugen Kisten und Ständer mit Unterwäsche, Spielwaren, Seifen, Büchern oder billigem Ramsch in ihre Läden zurück. Überall war das Knattern von Rollläden zu hören, und vom Ende der Straße gellten die Rufe des Obst- und Gemüsehändlers, der auf einer Kiste stehend die letzten Melonen unter die Leute verteilte.
Er ging langsam. Ihm graute bei dem Gedanken, den Abend am Fenster sitzend zu verbringen und auf die Straße hinunterzuschauen. Hin und wieder hob er die Hand, um den Gruß von jemandem zu erwidern, den er nicht erkannte. Die Menschen mussten denken, er sei ein zufriedener Mann, froh um jeden Schritt auf dem sonnenwarmen Pflaster; doch er selbst fühlte sich unsicher und fremd in seiner eigenen Straße.
Vor der Auslagenscheibe an Buxters ehemaliger Pferdefleischerei blieb er stehen und beugte sich zu seinem Spiegelbild heran. Er hätte sich selbst gerne als jungen Mann gesehen. Aber in den Augen, die ihm entgegenblickten, war kein Funken mehr, der seine Vorstellungskraft hätte entzünden können. Sein Gesicht war einfach nur alt und grau und ziemlich aus der Form geraten. Immerhin hatte sich in seinem Haar ein hellgrünes Blättchen verfangen. Er schnippte es weg und blickte zurück. Auf der anderen Straßenseite lief die verwirrte Margarete Lichtlein und zog ihren Handwagen, gefüllt mit Einkäufen, die sie nie gemacht hatte. Er nickte ihr hinterher, dann ging er weiter. Er lief nun schneller als zuvor. Ein Gedanke war ihm gekommen, oder vielmehr eine Ahnung, die Zeit seines Lebens betreffend: Als junger Mann wollte er die Zeit vertreiben, später wollte er sie anhalten, und nun, da er alt war, wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie zurückzugewinnen.
Das war der Gedanke des alten Mannes. Noch wusste er nicht, welchen Nutzen er daraus ziehen sollte, jedenfalls wollte er jetzt erst einmal nach Hause, denn mit Sonnenuntergang wurde es kühl. Er würde zu seinem Vorratsschrank gehen und sich einen kleinen Schluck genehmigen. Dann würde er seine weiche braune Hose anziehen und sich an den Küchentisch setzen, und zwar mit dem Rücken zum Fenster. Er war nämlich der Meinung, nur auf diese Weise, mit dem Rücken zur Welt, in aller Ruhe und ganz ohne Ablenkung, ließe sich ein Gedanke zu Ende denken.
Als ich starb, hast du bei mir gesessen und meine Hand gehalten. Ich fand keinen Schlaf. Ich brauchte schon lange keinen Schlaf mehr. Wir redeten. Wir erzählten uns Geschichten und erinnerten uns. Ich sah dich an, so wie ich dich immer gerne angesehen hatte. Du warst kein schöner Mann. Du hattest eine viel zu große Nase und müde Lider, und deine Haut war blass und fleckig. Du warst kein schöner Mann, aber du warst mein Mann.
Erinnerst du dich: Ich war neu an der Schule, und schon am ersten Tag fragtest du mich im Lehrerzimmer, was mit meiner Hand los sei. Sie ist verkrüppelt, sagte ich, kann man nichts machen. Du hast sie genommen und angesehen. Dann zeigtest du aus dem Fenster und sagtest, siehst du den Baum dort? Seine Äste sind nicht verkrüppelt, sondern einfach nur krumm, und zwar deshalb, weil sie der Sonne entgegenwachsen. Ich fand das, ehrlich gesagt, ziemlich gefühlsduselig. Aber es gefiel mir, wie du mit dem Daumen über meine Finger strichst. Und ich mochte diese unglaublich große Nase. Ich glaube, ich fand dich ein bisschen scharf.
Fünfzig Jahre später hieltest du immer noch meine Hand. Es kam mir vor, als hättest du sie nie losgelassen, und das sagte ich dir auch. Du lachtest und meintest, das stimmt, hab ich auch nicht!
Ich weiß nicht mehr, was meine letzten Worte waren. Aber natürlich waren sie an dich gerichtet, wie könnte es anders sein. Ich habe dich noch gefragt, ob du das Fenster öffnen würdest. Ich dachte, ich könnte ein wenig frische Luft gebrauchen. Aber dann? Was habe ich dann gesagt?
Ich kann mich jedoch gut an meine ersten Worte an dich erinnern. Es war noch vor der Unterhaltung im Lehrerzimmer. Ich kam am Morgen und sah, wie du vor mir den Schulhof überquertest. Ich hielt dich an und fragte dich nach dem Weg zum Direktorenzimmer. Entschuldigung, sagte ich, ich bin neu hier, können Sie mir helfen? Ich fragte dich, obwohl ich den Weg kannte. Du sagtest nur, kommen Sie mit, Fräulein, und liefst dann schweigend voran. Du liefst mit großen, schweren Schritten, den Oberkörper leicht nach vorne geneigt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, so wie du immer gelaufen bist. Die Morgensonne schien, und der Schatten des Eingangstors legte sich als breitgefächertes Streifenmuster über die Betonfläche. Ich trug ein mintgrünes Bleistiftkleid mit einem weißen Kragen. Ich hatte das Kleid von einer Tante geschenkt bekommen und in stundenlanger Arbeit auf meine Größe zurechtgeschneidert. Den Kragen hatte ich aus einem alten Hemd meines Vaters geschnitten und angenäht. Damals hatte ich die Hoffnung, er gäbe meiner Erscheinung etwas Selbstbewusstes und Forsches. Doch schon während ich hinter dir über den Hof lief, kam er mir altmodisch und steif vor, und ich schämte mich.
Ist es nicht seltsam: Ich erinnere mich an die Farbe des Kleides, das ich vor so vielen Jahren trug, aber ich kann mich nicht erinnern, in welcher Jahreszeit ich starb.
Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass du Lehrer sein könntest. Ein Teil von mir saß wohl noch mit Schulranzen und Zöpfchen im Klassenzimmer, also mussten in meiner Vorstellung alle Lehrer alt sein. Alte, graue Frauen und Männer, die nach Kaffee und Kreide rochen und deren Autorität sich mit den Jahren abgewetzt hatte wie die Ärmel ihrer Wollwesten. Du aber warst jung. Du trugst ein zerknittertes Hemd mit offenem Kragen und Ledersandalen. Niemand trug zur damaligen Zeit Sandalen. Vielleicht dachte ich, du wärst der Vater eines Schülers oder der Schulwart, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls kein Lehrer. Vielleicht dachte ich auch nichts von alledem, während ich hinter dir auf das Schulgebäude zuging, sondern betrachtete nur die Hände auf deinem Rücken. Deine Fingerkuppen sahen so rosig aus, als glühten sie, als leuchteten sie aus eigener Kraft, ganz aus sich selbst heraus.
Du öffnetest das Fenster. Deine Gestalt als Schattenriss. Der Vorhang, der sich für einen Augenblick in der Zugluft bauscht. Das Licht. Es muss immer noch Tag gewesen sein. Oder schon wieder Tag? Als du aufgestanden bist, um zum Fenster zu gehen, hast du meine Hand abgelegt. Du hast sie nicht einfach losgelassen, du hast sie auf das Kissen neben meinen Kopf abgelegt, und ich atmete die letzten Atemzüge meines Lebens in meine kleine, verkrüppelte Hand hinein.
Du mochtest keinen Kaffee. Der Kaffee schwärzt nicht nur die Zähne, sondern auch die Herzen, sagtest du im Lehrerzimmer, schau dich um: eine Kollegenschaft der schwarzen Herzen, alle miteinander Kreaturen des Teufels! Einige lachten. Die meisten taten, als hätten sie nichts gehört. Nur das alte Mathegenie Juchtinger nahm dich beim Wort. Er stieß die Fenster auf und ließ die warme Luft herein. Erleuchte uns Gesellen der Finsternis, rief er und blinzelte mit seinen entzündeten Augen ins Sommerlicht hinaus.
Ich lag im Bett und lauschte dem dumpfen Rauschen der Heizungsrohre in der Wand. (Also war es Winter?) Die Schmerzen, die so lange an mir gerissen hatten, trug ich nur noch als leise Erinnerung in mir. Irgendwann waren sie plötzlich weg, aber ich wusste, dass diese Erleichterung nur den Anfang des endgültigen Abschieds bedeutete. Doch es blieb noch ein wenig Zeit. Und du hast an der Bettkante gesessen und meine Hand gehalten. Und wir erzählten uns …
Kommen Sie mit, Fräulein! Ich habe die Ironie in deinen Worten nicht gleich verstanden. Mir kam die Anrede selbstverständlich vor. Wir gingen hintereinander über das Schattengitter auf der Betonfläche. Ich konnte unsere Schritte hören, deren Hall die von der Sonne geröteten Mauern zurückwarfen. Wir gingen schweigend. Aber jetzt fällt mir ein: Wir haben doch noch gesprochen, kurz bevor wir in den Schatten der Vorhalle eintauchten. Vorsicht, sagtest du. Und ich sagte: Ja. Aber wovor wolltest du mich warnen?
Deine Gestalt am Fenster. Die leicht nach vorne gesunkenen Schultern. Dein schmaler, schmaler Rücken. Dahinter, auch jetzt noch, deine verschränkten Hände. Wie oft habe ich dich so stehen sehen? Von dem Tag an, als wir die Wohnung bezogen, liebtest du es, auf die Straße hinunterzusehen. Manchmal, wenn ich vom Nachmittagsunterricht oder vom Einkaufen zurückkam, sah ich dich schon von weitem dort oben am Fenster stehen. Hatte ich schwere Einkaufstüten bei mir, stellte ich sie ab, um dir zu winken. Weichselstraße 11, zweiter Stock. Wer hätte gedacht, dass unsere erste gemeinsame Wohnung auch unsere letzte sein würde?
Als wir das Schulgebäude betraten, warst du plötzlich verschwunden. Sicher war es der Kreislauf, ich hatte in der Nacht kaum geschlafen und am Morgen nichts gegessen, und für einige Augenblicke stand ich in einer schwankenden Dunkelheit. Als ich wieder auftauchte, warst du schon an der großen Treppe. Ohne dich nach mir umzusehen, liefst du rasch hoch, immer zwei Stufen auf einmal. Und ich hinterher. Unsere Schritte klapperten und hallten in der kühlen Stille.
Du hast meine Hand gehalten. Mit dem Daumen hast du über meine Finger gestrichen, über diese schiefen Ästchen. Deine andere Hand lag in deinem Schoß. Wenn du erzähltest, waren deine Augen geschlossen. Hinter den Lidern huschten die Augäpfel den Bildern hinterher. Das Tageslicht lag auf deinem Gesicht. Dann das Licht der Nacht. Oft hörte ich das Ticken der Armbanduhr in deinem Schoß, und die Tage und Nächte zogen vorüber, als wären sie zu Stunden geschrumpft. Manchmal schliefen wir miteinander ein, und als wir aufwachten, war es wie vorher.
Du fragtest mich, woher ich eigentlich käme, und ich stellte mich dumm. Ich komme von draußen, sagte ich, woher denn sonst? Ich glaube, ich kam mir damit ziemlich verwegen vor. Unten im Hof war jetzt das helle Rufen und Schreien der Kinder zu hören. Mit einem kollektiven Seufzen begann das Lehrerzimmer sich zu bewegen. Der alte Juchtinger schloss zuerst das Fenster und dann die Augen. Dein Daumen lag still. Von draußen ist weit her, mein Fräulein, aber jetzt sind Sie hier!
Du legtest meine Hand auf dem Kissen ab. Der Stoff fühlte sich glatt und kühl an. Mein warmer Atem. Das Knarren der Dielen unter deinen Schritten. Dein Rücken, deine Schultern im Rahmen des offenen Fensters. Um dich herum schien das Licht zu pulsieren. Ich glaube, ich hörte einen Rasenmäher knattern. Oder war es der Schneepflug? Habe ich dir gesagt, du sollst das Fenster wieder schließen? Habe ich von morgen gesprochen? Habe ich dir gesagt, dass ich dich liebe? Erinnerst du dich?
»Es gibt auf dieser Welt Schafe und Wölfe, aber es gibt keine Wahl. Du kannst es dir nicht aussuchen, verstehst du? Es ist keine Entscheidung, es ist Schicksal. Aber du hast Glück: Du bist ein Wolf. Du bist stark und ausdauernd. Du wirst nicht gefressen. Du frisst. Niemand weiß, wie Wolfsfleisch schmeckt. Das Schicksal ist auf deiner Seite. Du bist einer von uns.«
Ich war zehn, als Papa das zu mir sagte. Er arbeitete in der Bank, und in seinem Schrank hingen etwa zwanzig Krawatten und eine Reihe gebügelter und gebürsteter Anzüge. »Es ist gut, wie es ist, und es wird immer noch besser«, sagte er, wenn er auf der Couch saß und im Zimmer umherblickte. Mama, die neben ihm saß, legte ihre Hand auf seine und nickte. Ihre Finger spielten mit den langen schwarzen Haaren auf seinem Handrücken. Ich habe nie begriffen, ob sie die Haare mochte oder hasste. So wie sie an ihnen zog und zupfte, sah es aus, als wollte sie sie ausreißen.
Auch meine erste Erinnerung hat mit Haaren zu tun. Ich bin winzig klein und sitze auf dem Boden hinter einem Vorhang. Irgendwo steht ein Fenster offen, der Vorhang bewegt sich, durch den Stoff flimmert Sonnenlicht. Dann wird er weggezogen und meine Mutter steht da und weint. Vielleicht lacht sie auch, in meiner Erinnerung macht das keinen Unterschied. Sie hebt mich hoch. Ihre Haare riechen nach Küche und Sonntagmorgen. Sie sind lang und blond und ich habe das Gefühl, als könnten sie meinen ganzen Körper bedecken, als könnte ich in Mamas Haaren verschwinden.
Später zogen wir in eine Dachwohnung hinter der Marktstraße. Die Wohnung war eng und niedrig, aber ich konnte die Tauben auf den umliegenden Dächern beobachten. Manchmal ließ sich ein Turmfalke blicken, und in der Abenddämmerung torkelten Fledermäuse über den Schornsteinen wie kleine, betrunkene Schatten.
Ich sammelte Käfer, Fliegen und andere Insekten. Ich versuchte sie lebendig zu fangen und steckte sie in eine kleine Metalldose. Wenn man die Dose ans Ohr hielt, konnte man ihnen beim Sterben zuhören. Dann trockneten sie langsam aus und wurden hart wie Kieselsteine.
Papa ging zur Bank, ich ging zur Schule und Mama legte jeden Morgen vor dem Frühstück unsere Sachen über die Stuhllehnen: einen frischen Anzug für ihn und Hemd und Hose für mich. Sie tat das mit einem merkwürdig verschobenen Lächeln. Fast alles tat sie mit diesem schiefen Lächeln im Gesicht. Ich konnte nicht genau sagen, was es bedeutete, aber ich hatte die Vorstellung, sie sei vielleicht stolz auf uns.
Ich wurde größer, hatte Freunde, interessierte mich für Mädchen, und die Schule machte mir keinerlei Probleme. Alles war, wie es sein sollte. Ich glaubte verstanden zu haben, dass das Leben eine lohnenswerte Angelegenheit war. Ohne zu wissen, wohin er mich führen würde, war ich sicher, den richtigen Weg gefunden zu haben.
Dann geschah etwas. Es war Spätsommer, ich war gerade siebzehn geworden. Wir waren zu dritt und überquerten den Schulhof, eine weite, schattenlose Betonfläche. Vor uns erhob sich das gusseiserne Tor zur Straße. Es war hoch wie ein Einfamilienhaus, schwarz mit goldenen Spitzen, die in der Nachmittagssonne leuchteten. Über den Himmel zog ein Schwarm Seidenschwänze und warf einen flirrenden Schatten auf den Hof. Einige Augenblicke bewegte sich der Schwarm hoch und nieder wie ein Schleier im Wind, ehe er plötzlich hinter dem Schulgebäude absank und verschwand. Es war heiß. Auf dem Beton waren die Kaugummis von Generationen von Schülern weich geworden und klebten bei jedem Schritt unter den Sohlen.
Auf der Straße stand Johannes Storm, ein Junge aus der Nachbarklasse. Er war nicht besonders groß, aber seine Schultern waren breit und kräftig, sein Brustkorb ausladend wie ein Fass. Er hatte einen großen, kindlichen Kopf und kurzes, blondes Haar. Seine Augen standen eng beisammen, und wenn er mit jemandem sprach, konnte er ihm kaum ins Gesicht sehen. Außerhalb der Schule hatte niemand mit ihm zu tun. Doch jeder wusste, dass er bei seiner Mutter lebte, einer derben Frau, die vor den Läden an der Marktstraße den Gehsteig schrubbte und die Auslagenscheiben putzte.
Er stand da und rauchte. Dabei starrte er auf den Boden, als gäbe es dort etwas ungemein Interessantes zu entdecken. Wir stellten uns vor ihm auf und ich sagte, er solle mir eine Zigarette geben. Er schüttelte nicht einmal den Kopf. An seiner Schläfe glänzte eine Kette winziger Schweißperlen. In der linken Hand hielt er die Zigarette, die rechte steckte in seiner Hosentasche. Ich sagte, ich wolle keinen Ärger, nur eine Zigarette. Er antwortete nicht. Auf der Straße schepperte ein mit Schutt und Metallteilen beladener Laster vorüber. Die Hand des Fahrers hing aus dem Seitenfenster, seine Finger klopften auf dem Blech den Takt zu einer unhörbaren Musik. Der Laster bog ab, das Scheppern verhallte. Aus dem Schulgebäude drang das Geschrei einiger Mädchen, dann knallte ein Fenster zu und es war still.
»Wolltest du nicht eine Zigarette, Gerd?« Meine Freunde standen einen halben Meter hinter mir. Damals galten wir als unzertrennlich. Nur wenige Jahre später konnte ich mich nicht einmal mehr an ihre Gesichter erinnern.
Ich trat einen Schritt an Storm heran. »Du möchtest doch bestimmt keinen Ärger«, sagte ich. »Oder? Möchtest du Ärger, Storm?«
Er antwortete nicht. Er stand bloß da, sah auf den Boden und blies den Zigarettenrauch vor sich hin. Dann ließ er den Zigarettenstummel fallen und blickte hoch. Er sah an uns vorbei in Richtung Schulhof, über den jetzt ein paar kleine Kinder rannten. Ich spürte, wie der Schweiß an meinem Nacken hinunterlief. Es fühlte sich an, als würde die Hitze durch jede Pore dringen und mein Inneres komplett ausfüllen. Ich sah ihm ins Gesicht und sagte: »Jetzt fresse ich dich!«
Es ist verrückt, aber ich wollte es wirklich tun. Ich versuchte ihn zu packen und an mich zu reißen, doch ehe ich ihn am Kragen erwischen konnte, zog er blitzschnell seine Faust aus der Hosentasche und versetzte mir einen Schlag in den Magen. Ich kippte mit dem Oberkörper nach vorne, doch ehe ich wegsacken konnte, rammte er mir sein Knie vor die Stirn, und ich taumelte gegen die eisernen Stangen, an denen ich langsam aufs Pflaster sank. Hoch oben sah ich, wie die Goldspitzen sich wiegten wie Schilf im Wind. Storms Kopf tauchte über mir auf. Ich wollte davonkriechen, aber ich wusste nicht wohin, und da schloss ich die Augen und legte die Hände vors Gesicht. Ich spürte mein Ohr, das auf dem Boden pochte, lauter und immer lauter, und für einen Moment war es, als könnte ich durch die Pflastersteine hindurch den Puls der Erde fühlen.
Ich brachte die Schulzeit zu Ende, im Großen und Ganzen erfüllte ich die Erwartungen. Als ich zum letzten Mal durchs Tor trat, drehte ich mich nicht mehr um, sondern hielt den Blick starr nach vorne gerichtet. Ich wollte daran glauben, dass ich mich immer noch auf dem Weg befand.
Mit neunzehn verließ ich Paulstadt, um zu studieren. Als der Bus an einem milden Morgen die Stadt verließ, lachte ich, aber es war ein mattes Lachen, ich traute ihm nicht mehr.
Ich hatte vor, das Studium so schnell wie möglich hinter mich zu bringen und dann Karriere zu machen. Ich besuchte Vorlesungen, schrieb mich in Seminare ein und versuchte mich am Studentenleben zu beteiligen. Wir trafen uns täglich in einer der Kneipen, die um die Universität verstreut lagen. Es wurde viel geredet. Meistens ging es um Politik, und da immer Alkohol im Spiel war, wurden die Gespräche leidenschaftlich. Ich hielt mich mit dem Trinken zurück. Eine unbestimmte Angst saß mir im Herzen, und manchmal, wenn es zu laut wurde oder jemand mit vor Streitlust verzerrtem Gesicht aufsprang, fühlte ich das kalte Entsetzen in mir aufsteigen. »Hört auf«, rief ich dann. »Bitte hört auf!« Aber die anderen lachten bloß, und ich beschränkte mich darauf, stumm am Rande zu sitzen; wenn mich jemand ansah, versuchte ich zu lächeln.
Im zweiten Jahr verliebte ich mich in ein Mädchen. Sie war wunderschön, zumindest dachte ich das. Ihre Haut hatte die Farbe von Blütenhonig und war von keiner einzigen Unreinheit entstellt, kein Fleckchen, nichts. Sie war glatter und weicher als alles, was ich bis dahin gesehen oder berührt hatte. Ich war krank vor Sehnsucht, wenn ich nicht in ihrer Nähe war, doch als ich eines Tages an der Schwelle ihrer Wohnung stand und von der Weichheit ihrer Haut sprach, lachte sie so schallend, dass ich den Widerhall im Treppenhaus noch zu hören glaubte, als ich längst vor Scham und Wut zitternd auf der Straße stand.
Es fühlte sich an, als wäre mein brüchig gewordenes Herz endgültig zerfallen. Ich gab die Studententreffen auf und verbrachte meine Abende alleine auf dem Zimmer. Die Wochen vergingen, ein Tag verlief wie der andere, bis mir jemand die Nachricht in einem blassgelben Umschlag durch den Türspalt schob.
Papa ist tot.
Man liest die Worte und begreift sie nicht. Es ist kein Schmerz und keine Traurigkeit. Es ist einfach nur merkwürdig. Die Zeit um einen herum scheint stillzustehen, verfestigt zu einer Art Gelee, um das die eigenen Gedanken schwirren wie im Herbst träge gewordene Fliegen. Und im Nachbarzimmer läuft immer dasselbe Lied im Radio, immer wieder, immer wieder.
Mama und ich richteten das Begräbnis aus. Es war kein Abschied, es war eine Erledigung. Am Grab weinten wir nicht. Die Bank schickte ein bisschen Geld, und ich bezog wieder mein altes Zimmer, wo ich in einer Schublade die Dose mit den Insekten fand. Ich warf sie nicht weg, doch ich öffnete sie auch nicht. Ich beließ die Dinge an ihrem Platz und richtete mich wieder ein im kleinen Königreich meiner Kindheit.
Mit Papas Tod hatte Mama aufgehört zu lächeln. Das schiefe Lächeln schien sich einfach aufgelöst zu haben. Und mit dem Lächeln lösten sich auch ihr Gesicht und später ihre ganze Person auf. Meine Mutter verschwand fast unmerklich, und erst viele Jahre nach ihrem Tod begriff ich, dass ich alleine war.
Ich kam im Versicherungskontor Lainsam & Söhne unter, wo ich mir mit drei Frauen ein Büro teilte. Unsere Aufgabe war es, Rechnungen zu sortieren und Bilanzen zu prüfen. Eine der Frauen, Sonja, war davon überzeugt, in mir etwas zu erkennen, und eines Abends verabredeten wir uns. Wir tranken Wein und das war ein Fehler, denn danach wollte sie zu mir nach Hause. Ich nahm sie mit und wir saßen auf dem Sofa. Ich erzählte ihr Dinge, die ich mir aus dem Stegreif zusammenreimte, und fast hätte ich nicht mitbekommen, als sie mich zum ersten Mal berührte. Später lehnte sie ihre Wange gegen meine Wange und ich roch an ihr, benommen vom Wein und vom Duft ihrer Haare, und vielleicht wäre alles anders verlaufen, wenn mir nicht ein Malheur passiert wäre. Sie sagte, ich solle mir nichts draus machen, so etwas könne jedem passieren. Dabei streichelte sie mir über den Kopf, wie man einen kleinen Jungen streichelt.
Ein paar Wochen nach diesem Erlebnis kündigte Sonja. Sie wolle den Aufbruch wagen, sagte sie, ein neues Leben beginnen, und während ich zusah, wie sie ihren Arbeitsplatz räumte, hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass sie mit den Dingen, die sie mit einer schwungvollen Armbewegung vom Schreibtisch in ihre Handtasche wischte, auch meine Möglichkeiten als Mann mit sich forttrug.
Ich war verwirrt und fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Dennoch empfand ich auch eine gewisse Erleichterung, und vielleicht hätte ich Sonja schon bald nur noch als verschwommenes Erinnerungsbild in mir getragen, wenn ich sie nicht drei Wochen später an einer Straßenecke in enger Umarmung mit Johannes Storm gesehen hätte.
Es regnete schon seit dem frühen Morgen, ein kalter, nieseliger Novemberregen, die Stadt lag im Nebelgrau der Dämmerung und in den Pfützen zitterten die Lichter der Straßenlaternen und Leuchtschilder. Ich war auf dem Heimweg vom Büro und hastete über die Marktstraße, auf der Herbstblätter trieben wie auf einem dunklen Fluss, als ich die beiden sah. Sie standen unter dem Vordach von Sophie Breyers Tabakladen. Er hielt sie mit beiden Armen, ihr Kopf lehnte an seiner Brust. Sie hatte die Augen geschlossen, er hatte seinen Kopf leicht gehoben und blickte in den Regen. Ich hatte ihn seit der Schulzeit nicht mehr gesehen, er war an den Schläfen grau geworden, doch sein Gesicht mit den eng beieinanderliegenden Augen schien kaum gealtert zu sein. Seine Hand bewegte sich langsam an ihrem Rücken hinunter. Eine Bewegung ging durch seinen Körper, wie ein Frösteln. Dann wandte er sein Gesicht in meine Richtung, und im selben Augenblick sah ich, wie sich seine Nasenflügel weiteten.
Das alles ist lange her. In meiner Erinnerung hat es nicht mehr aufgehört zu regnen, die Welt versank. Jetzt liege ich hier, zwischen meinen Eltern. Es war kein weiter Weg. Aber es ist ruhig, und in manchen Nächten kann ich von weit her ein Heulen hören. Ganz leise zuerst, ein gleichmäßiger, heller Ton, wie das Weinen eines Kindes, dann aber rasch anschwellend, lauter und drängender, bis er die ganze Nacht zu füllen scheint. Ich liege still und lausche dem Geheul der Wölfe, bis es plötzlich abbricht. Dann weiß ich: Es ist nur der Wind, der durch das Loch in der Friedhofsmauer zieht. Durch dieses kopfgroße Loch, dass der verkommene Sohn des alten Schwitters im Bierrausch in die Mauer getreten hat.