Das Dach der Welt - Mira Manger - E-Book
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Mira Manger

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Beschreibung

Eine tragisch-romantische Geschichte um ein berühmtes Bergsteiger-Paar und das Abenteuer ihres Lebens: die Expedition zum höchsten Berg der Erde »Hier oben war ich Zuhause, sicher vor den Härten des Lebens, fernab aller Probleme, die sich auf Meeresspiegelhöhe an mir festbissen. Hier oben konnten sie nicht mithalten.« Alicia Fischer und Robin Voss sind bekannte Gesichter der deutschen Bergsteigerszene. In der schillernden Social-Media Welt gelten sie als das perfekte Traumpaar, doch hinter den Kulissen gehen sie schon lange getrennte Wege – Grund dafür ist Robins Alkoholproblem und die öffentliche Zurschaustellung ihrer Liebe. Für die gesponserte Expedition zum Mount Everest, die sich keiner von beiden entgehen lassen will, müssen sich Alicia und Robin wohl oder übel wieder zusammenraufen. Auf dem Dach der Welt wird den jungen Bergsteigern schließlich klar, dass sie noch immer etwas füreinander empfinden. »Das Dach der Welt« ist der erste Band der Sports-Romance Serie Read! Sport! Love! von Piper Gefühlvoll. Die Bände der Serie stammen von verschiedenen Autorinnen und hängen inhaltlich nicht zusammen, aber in jeder Geschichte stehen Sport und große Gefühle im Zentrum.

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Achtung, dieses Buch enthält Themen wie selbstverletzendes Verhalten, Sucht und explizite Gewaltdarstellung.

 

© 2019 Piper Verlag GmbH, München Redaktion: Cornelia FrankeCovergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.atCovermotiv: Eugenio Marongiu und Blazej Lyjak / shutterstock.com

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

28. März, Berlin

Eins

25. März, Flughafen Friedrichshafen

3. Juli, Oberstdorf

Zwei

26. März, Kathmandu

4. September, Zermatt

Drei

29. März, Khumbu-Tal, 2800 Meter

3. August, Kiel

5. April, Lobuje, 4938 Meter

Vier

5. April, Everest Basislager, 5330 Meter

10. Februar, Sonthofen

16. April, Höhe Camp Zwei, 6500 Meter

Fünf

18. April, Höhe Camp Drei, 7300 Meter

16. November, Oberstdorf

18. April, Höhe Camp Drei, 7300 Meter

Sechs

21. April, Everest Basislager, 5330 Meter.

7. Februar, Kiel

27. April, Everest Basislager, 5330 Meter

Sieben

28. April, Everest Basislager, 5330 Meter

10. März, Kiel

Acht

2. Mai, Südostgrat, 8400 Meter

28. November, Naltschik

2. Mai, Südostgrat, 8400 Meter

Neun

2. Mai, Südostgrat, 8400 Meter

18. September, Eckernförde

2. Mai, Camp Vier, 8400 Meter

Zehn

3. Mai, Camp Vier, 8400 Meter

2. April, Oberstdorf

3. Mai, Südostgrat, 8400 Meter

6. Februar, Oberstdorf

3. Mai, Südostgrat, 8400 Meter

Elf

3. Mai, Camp Drei, 7150 Meter

13. Dezember, Geesthacht

4. Mai, Camp Drei, 7150 Meter

Zwölf

4. Mai, Höhe Camp Drei, 7170 Meter

3. Oktober, Oberstdorf

4. Mai, Camp Drei, 7150 Meter

Dreizehn

5. Mai, Everest Basislager, 5330 Meter

23. März, Selenter See

6. Mai, Kathmandu

Vierzehn

21. Mai, Kathmandu

Vier Monate später

Epilog

18. Dezember, Kyoto

Danksagung

Zitat

»The Mountains are calling and I must go.«

– John Muir

Prolog

28. März, Berlin

Alicia, drei Jahre zuvor

Kurz vor Beginn der Trauerfeier checkte ich noch einmal mein Telefon, während sich die Stuhlreihen mit Gästen füllten. Keine Nachricht. Mein Blick huschte von dem mit Blumen geschmückten Sarg zu der offenen Flügeltür zu meiner Linken. Konnte er nicht wenigstens heute pünktlich sein?

Da erschien Robins hochgewachsene Gestalt endlich in der Tür. Er war völlig verkatert, das sah ich sofort. Ich fasste es nicht. Sein Blick glitt suchend über die murmelnden Gäste. Widerwillig hob ich die Hand, um auf mich aufmerksam zu machen, auch wenn ich ihn heute nicht in meiner Nähe haben wollte.

Er sah scheiße aus. Das blasse Gesicht und die Schatten unter seinen tiefliegenden Augen verrieten mir viel zu genau, was er gemacht hatte, nachdem wir gestern Abend nach einer angespannten Autofahrt von Oberstdorf nach Berlin die letzten beiden Einzelzimmer eines B&B’s bezogen hatten. Aber wenigstens war er gekommen.

Halbherzige Entschuldigungen murmelnd schob Robin sich zu mir in die Sitzreihe und ließ sich auf den Stuhl fallen, den ich mit meiner Handtasche freigehalten hatte. Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu, ließ die Hände in die Taschen seiner Sportjacke gleiten und reckte den Hals, um das gerahmte Bild von Lukas zu betrachten, das ihn grinsend und in Bergsteigermontur am Fuß des Annapurna zeigte.

Die Trauerhalle der Kapelle war ein schmaler, in weiß gehaltener Raum, die rechte Wand regelmäßig von großen Fenstern unterbrochen. Das goldene Sonnenlicht des klirrend kalten Tages fiel herein und machte die Kerzen auf dem Altar fast überflüssig. Ich biss die Zähne zusammen, als leise Klaviertöne im Hintergrund einsetzten und mir die Kehle zuschnürten. Unvermittelt kam der Gedanke auf, dass Lukas dieses Begräbnis gefallen hätte.

»Ist ganz hübsch«, kommentierte Robin die von Grün dominierte Dekoration auf dem Altar und streckte die langen Beine aus, sodass sie unter dem Stuhl seines Vordermanns lagen. Ich wandte mich ab, um nichts Feindseliges zu erwidern. Der schwache Geruch von Rum, der von ihm ausging, machte mich so wütend, dass ich ihm am liebsten hier und jetzt vor allen Leuten eine gescheuert hätte. Gott, ich hasste alles an ihm. Nicht zu fassen, dass er hier betrunken auftauchte. Dass sechs Wochen private Entzugsklinik umsonst gewesen waren.

Als Robin meinem Blick erneut begegnete, strich er sich mit der Hand über die unrasierte Wange und schlang einen Arm um meine Schultern. Mein Hass prallte einfach von ihm ab. Wie immer.

»Tut mir leid, dass ich vorhin nicht aufgemacht hab, als du geklopft hast«, flüsterte er und steckte sich ein Kaugummi zwischen die Zähne.

»Ich habe nicht nur geklopft«, entgegnete ich mit vor Wut gepresster Stimme und krallte die Finger in die Taschentuchpackung, die ich umklammert hielt.

»Ich habe fast deine verdammte Tür eingetreten. Es war so klar, dass du dir die Kante gibst, sobald du ein beschissenes Einzelzimmer – « Ich verstummte, denn eine alte Dame aus der vorderen Reihe hatte sich umgedreht und betrachtete uns mit einer Mischung aus Neugier und Empörung. Der Trauersaal war inzwischen voll besetzt und die schwarzgekleidete Pfarrerin schloss gerade die Tür.

»Es tut mir leid«, wiederholte Robin gedehnt und drückte mich an sich, doch ich machte mich los. Es wurde still im Saal, als die Pfarrerin langsamen Schrittes den Gang zum Altar zurücklegte, kurz vor dem weißen Sarg stehen blieb und dann das Podium bestieg, vor dem ein Mikrofon aufgebaut war.

»Liebe Familie, liebe Freunde, liebe Gäste«, begann sie und die Musik verstummte. Robin wollte mir etwas zuflüstern, doch ich presste den Zeigefinger auf die Lippen und drängte ihn zurück.

»… wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen. Abschied von Lukas Krämer, der Zeit seines Lebens ein begeisterter Alpinist und außergewöhnlicher Sportler gewesen ist. Am 14. März starb er bei einem Schneesturm am K2 in Pakistan. Er wurde nur 36 Jahre alt.«

Die Pfarrerin machte eine taktvolle Pause, als Lukas’ Frau, deren blondes Haar ich in der ersten Reihe erspähte, aufschluchzte.

»Lukas kletterte seit seiner Jugend leidenschaftlich gern, doch 2013 begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt. Er nahm sich ein Jahr Auszeit. Die Firma, in der er als Bauleiter tätig gewesen war, war insolvent gegangen, und er reiste nach Indonesien und in die Antarktis. Dort bestieg er zwei der Seven Summits, die höchsten Berge dieser Erde. Die Mitglieder dieser beiden Expeditionen wurden enge Freunde und Wegbegleiter für ihn. Lukas war ein ehrgeiziger Mann, fest entschlossen die gesetzten Ziele zu erreichen. Susanne, als ich am vergangenen Samstag zu Ihnen fuhr, um diese Rede vorzubereiten, sagten Sie …«

Die Stimme der Pfarrerin blendete ich mit jedem Wort weiter aus. Ein dumpfer Schmerz verkeilte sich in meiner Brust, so wie schon vor zwei Wochen, als Susannes Anruf die Botschaft von Lukas’ Unfall überbracht hatte. Tränen verschleierten meinen Blick.

Vielleicht wäre das alles nicht passiert, wenn er auf dem K2 nicht allein gewesen wäre, dachte ich. Doch damit durfte ich gar nicht erst anfangen. Bergsteigen war ein Extremsport, bei dem stets Unfälle passierten. Lukas hatte die Risiken gekannt, als er im Februar die Expedition begonnen hatte. Wir alle hatten das.

Robin neben mir rührte sich nicht, wie versteinert saß er da, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt. Als ich ihm einen Blick zuwarf, bemerkte ich, dass er die Augen geschlossen hatte. Er schreckte auf, als mein Ellbogen hart gegen seine Rippen stieß.

»Du bist einfach unglaublich!«

»Pssst!«

»2003 lernten die beiden sich in Berlin kennen …«

Voller Wut wandte ich mich von Robin ab. Ich zwang mich, dem weiteren Verlauf der Rede zu folgen, doch es gelang mir nur halb. In mir schlugen tausend Gefühle um sich. Vielleicht sind wir alle Schuld, jeder von uns ein bisschen, und vielleicht würde Sebastian, wenn er jetzt hier wäre und nicht am Kilimandscharo, dasselbe sagen.

»… und heirateten zwei Jahre später, als sich Töchterchen Sarah ankündigte.«

Vielleicht …

»All die Jahre haben sie immer …«

… sind wir alle ein bisschen schuld.

 

Robin ächzte, als ich ihm eine halbe Stunde später mit einem Tritt gegen das Schienbein signalisierte, dass die Trauerfeier vorüber war. Er stemmte sich aus seinem Stuhl hoch und schlängelte sich zwischen den anderen Gästen zum Ausgang der Kapelle.

Draußen pflückte ich ihm die Zigarette aus dem Mund, die er sich gerade anzünden wollte, und warf sie in den Mülleimer.

Robin verdrehte die Augen. »Was soll die Scheiße, Alicia? Ich sollte –«

»Du solltest vielleicht zurück ins Hostel gehen«, unterbrach ich ihn scharf. »Jetzt. Lukas würde sich für dich schämen, wenn er dich hier so sehen würde.«

Anstelle einer Antwort schnaubte er nur.

»Ich mein’s ernst, Robin. Verschwinde hier. Ich mache das alleine.«

Die Trauerformation setzte sich allmählich in Bewegung. Kopfschüttelnd blickte er auf mich herab. »Oh Gott, du kannst so pathetisch sein.«

»Meinetwegen.« Seine Worte trafen mich schon längst nicht mehr. Ich kehrte ihm den Rücken zu. »Geh einfach. Und wenn du heute Nachmittag mit mir zurückfahren willst, bist du besser wieder nüchtern.«

Er konterte meine Worte lediglich mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Eins

25. März, Flughafen Friedrichshafen

Alicia, Gegenwart

Der Kragen meiner Jacke klebte mir noch immer nass im Nacken, als ich aus dem Bus stieg und mir meinen Expeditionsrucksack auf die Schultern wuchtete.

Ein hartnäckiger Platzregen hatte mich an diesem Samstagmorgen von meiner Haustür bis zum Busbahnhof begleitet, und auch jetzt durchnässte er mich im Handumdrehen bis auf die Haut, bevor ich mich unter dem Vordach der Abflughalle ins Trockene bringen konnte. In der Drehtür wehte mir warme, abgestandene Luft entgegen. Ich schob mich hinter schnatternden Touristen in die Eingangshalle des Flughafens.

Dass ich Robin nirgendwo entdeckte, als ich unseren Abschnitt erreichte, überraschte mich nicht. Robin war nicht der Typ, der untätig herumstand und mir die zehn Minuten Verspätung verzieh, natürlich war er schon vorgegangen. Also reihte ich mich allein in die kurze Warteschlange am Terminal ein. Mein Herz klopfte ein paar Takte schneller, als ich mein Flugticket entgegennahm.

Ich gab meinen Rucksack ab, brachte die Sicherheits- und Passkontrolle hinter mich und schloss mich dann einer kleinen Gruppe an, die ebenfalls die Treppe nahm und auf das Gate zusteuerte.

Der Wartebereich war noch recht leer, schließlich würde das Boarding erst in einer halben Stunde beginnen. Robin saß mit dem Rücken zum Eingang auf einer der Bänke und wühlte in seinem Handgepäck herum. Als er mich aus den Augenwinkeln sah, hielt er inne. Ein Grinsen schob sich auf sein bärtiges Gesicht.

»Alicia Fischer«, flötete er, fegte seine Jacke vom Nachbarsitz und wies mich an, mich zu setzen. »Nur zwanzig Minuten zu spät. Rekord, würde ich mal sagen.«

Ich ließ mich auf den Sitz fallen, schälte mich aus der nassen Jacke und strich mir das feuchte, braune Haar aus der Stirn.

»Wow, Bart und Mähne?«, fragte ich, seine Bemerkung zu meiner Verspätung übergehend und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Steht dir, Jesus.«

Seine Haare, die er schon in den letzten Monaten unserer Beziehung hatte wachsen lassen, reichten ihm ein halbes Jahr nach unserem letzten Treffen bis zu den Schultern und sein Bart war ein einziges, dunkles Wirrwarr. Er trug das gleiche schwarze Sweatshirt wie ich, verziert mit dem Logo von Koloss,einem steinernen Riesen.

Plötzlich brach mir der Schweiß aus. Robin schien die Vorbereitungen auf das, was in den nächsten Wochen auf uns zukommen würde, um einiges ernster genommen zu haben als ich. Unter dem Sweatshirt zeichnete sich sein Körper so massiv ab, wie er es zuletzt in Russland gewesen war.

Robin lachte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ja, wie auch immer.« Er machte eine wegwerfende Geste in meine Richtung. »Wird schließlich kalt da oben.«

Ich beobachtete ihn dabei, wie er einen Haargummi vom Handgelenk zog und sich die Haare zu einem Dutt zusammenband.

»Besser?« Das Blau seiner Augen leuchtete viel zu intensiv.

Ich hob die Schultern. »Das ist Ansichtssache …«

Robin schnaubte. »Scheißegal, Mann. Wir fliegen nach Nepal!«

Er klatschte sich mit den Handflächen auf die Knie und wippte von links nach rechts, sodass er einige Male mit dem Arm gegen meine Schulter stieß. Das Leuchten in seinen Augen weckte eine Reihe von Erinnerungen, an die ich jetzt lieber nicht denken wollte.

»Ja«, presste ich stattdessen hervor. »Verrückt. Wir machen es schon wieder.«

»Wir gehen echt den Everest an, Ali!«

Diese verrückte Idee laut ausgesprochen zu hören, entlockte mir ein Lachen, das mehr nach einem Würgen klang. Ich bohrte meine Fingernägel in meine feuchten Handflächen, um mich unter Kontrolle zu halten. »Bescheuert. Einfach nur bescheuert.«

Robin warf mir einen raschen Seitenblick zu. »Und wir werden sogar dafür bezahlt. Übrigens, was sagt dein neuer Freund eigentlich dazu, dass du die nächsten zwei Monate mit mir verbringst?«

Als ich die Augen verdrehte, hob er abwehrend die Hände.

»War nur ’ne stinknormale Frage, okay?«

»Ich hab keinen neuen Freund, Robin. Lass den Scheiß.«

Ausnahmsweise nahm er die Gereiztheit in meiner Stimme wahr, denn anstelle einer Antwort stand er auf.

»Schon klar.« Er grinste. »Ich besorg mir Kaffee. Willst du auch was?«

Ich schüttelte den Kopf und sah ihm nach, als er langsamen Schrittes verschwand. Mein Herz klopfte jetzt so heftig gegen meinen Brustkorb, dass ich für einige Augenblicke die Luft anhielt, um mich zu beruhigen.

Wir gehen echt den Everest an, Ali. Robins Stimme hallte in meinen Ohren wider. Endgültig. Beunruhigend. In knapp einer Stunde würden wir auf dem Weg nach Nepal sein, um die kommenden acht Wochen damit zu verbringen, den höchsten Berg der Welt zu begehen. Oder es zumindest zu versuchen. Ich schluckte schwer.

Robin und ich waren Extremsportler. Bergsteiger, um genau zu sein. Vier große Gipfel lagen bereits hinter uns, zwei davon durch ein Sponsoring finanziert. Und jetzt ermöglichte uns die Koloss GmbH, ein großes, österreichisches Unternehmen für Energydrinks, eine weitere Expedition.

Dennoch könnte ich mich dafür ohrfeigen, dass ich Robin dieses dämliche Versprechen gegeben hatte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, meinen Sponsorenvertrag mit KOLOSS wieder aufzunehmen?

Natürlich würde ich es Robin gegenüber ungern zugeben, nach all den Gipfeln, die wir gemeinsam bestiegen hatten, doch die Wahrheit war, dass ich mich vor den nächsten Wochen fürchtete. In den letzten Monaten hatte sich einfach zu viel verändert. Das sichere Gefühl, was mich früher umgeben hatte, wenn ich mit Robin zu einer neuen Reise aufgebrochen war, wollte sich einfach nicht einstellen. Nicht einmal die Aussicht, morgen in Kathmandu auf das Team zu treffen, konnte mich beruhigen. Zudem machte es mich nervös, wieder in seiner Nähe zu sein. Vielleicht war ich nicht so endgültig über ihn hinweg, wie ich es mir das letzte halbe Jahr eingeredet hatte.

»Hey.«

Robin war zurück, einen dampfenden Becher Kaffee in der Hand. Geistesabwesend blickte er zum Gate und setzte sich wieder neben mich. Sonnenlicht fiel durch die Fensterfront vor uns und beleuchtete seine Züge. Er hatte viel von seiner früheren Gesichtsfarbe verloren.

»Geht’s dir gut?« Es war, als würde ich mich nach all der Zeit immer noch für ihn verantwortlich fühlen. Und womöglich tat ich das auch. Sein Blick flatterte zurück zu mir. Ich starrte stur auf seine feingliedrigen Finger, die den Becher umschlossen.

»Ja. Klar. Und dir?«

Ich setzte mich auf und spannte die Bauchmuskeln an, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. Es wurde Zeit, dass ich mich verdammt nochmal zusammenriss. »Äh … ja«, hörte ich mich mit leichter Verzögerung erwidern. Ein unbehagliches Schweigen breitete sich zwischen uns aus und als einige Minuten später endlich der Aufruf zum Boarding aus den Lautsprechern über uns drang, kam er mir vor wie eine Erlösung.

Robin erhob sich, als die anderen Passagiere Anstalten machten, eine Schlange vor dem Schalter zu bilden.

»Wollen wir?«

»Klar.« Ich nahm meine Tasche an mich, während mir der schmerzlich vertraute Duft seines Deos in die Nase stieg.

Für den kurzen Flug von Friedrichshafen nach Frankfurt gingen wir an Bord einer kleinen Maschine, deren Sitzreihen so eng angelegt waren, dass Robin sich die Knie an der Rückenlehne seines Vordermanns quetschte und wir viel zu dicht beieinandersaßen. Die Sicherheitshinweise der Stewardess rauschten ungehört an mir vorbei, doch als das Flugzeug nach einer halben Ewigkeit endlich abhob, wurde ich ruhiger. Wenigstens konnte ich jetzt nicht mehr kneifen.

Wir erreichten Frankfurt planmäßig gegen zwölf Uhr Mittag. In den zwei Stunden, die wir auf unseren Anschlussflug warten mussten, sprachen wir nicht viel. Worüber sollte man auch sprechen, wenn man sich nach sechs Jahren Beziehung allmählich ein neues Leben aufgebaut hatte, nur um dann auf die hirnrissige Idee zu kommen, mit seinem Ex-Partner auf den verdammten Mount Everest zu steigen.

Als wir an Bord des um einiges größeren Airbus gingen, der uns nach Maskat bringen würde, brach Robin schließlich das Schweigen. »Und, wie läuft’s so bei dir?«, fragte er die unverfänglichste aller Fragen, während er mit den Fingern auf der Lehne seines Sitzes trommelte. »Du gibst doch noch Kletterkurse am Nebelhorn, oder?«

»Es läuft gut«, entgegnete ich beinahe hastig. Ich war froh, dass die unangenehme Stille zwischen uns endlich aufgehoben wurde.

»Und bei dir? Was macht der Job?«

Er wartete, bis sich eine Gruppe Passagiere an seinem Sitz vorbei gequetscht hatte, dann strich er sich die Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus seinem Dutt gelöst hatten.

»Och, es läuft. Schmitti hat einen Haufen Ausrüstung für mich dabei, die man mir zum Testen am Everest zugeschickt hat«, sagte er. »Und sonst arbeite ich immer noch bei Gabriel im Laden.«

Gabriel, der wie Sebastian ein langjähriger Kletterkumpel von uns war, gehörte ein großes Sportgeschäft in Oberstdorf, das sich auf Kletterbedarf spezialisierte. Sebastian Schmitter, oder Schmitti, wie Robin ihn zu nennen pflegte, war unser von KOLOSS zur Verfügung gestellter Bergführer. Sowohl Robin als auch ich vertrauten diesem Mann blind. Wir hatten ihn vor fünf Jahren in Indonesien kennengelernt.

Ich versuchte ein Lächeln. »Klingt gut.«

Auch Robins Mundwinkel hoben sich an. »Schätze schon.«

Und damit setzte das betretene Schweigen wieder ein.

Nach dem halbherzigen Herumgehampel der Stewardess rollte der Airbus auf die Startbahn und beschleunigte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Robin die Augen zusammenkniff. Fliegen hatte noch nie zu den Dingen gehört, die er schätzte.

Irgendwo über dem Schwarzen Meer schlief Robin ein. Sein Gesicht wirkte auf einmal fremd auf mich. Ich redete mir ein, dass es am Bart lag, aber das stimmte nicht. Im Schlaf entspannten sich seine Züge, sodass ich sah, wie ausgemergelt er wirklich war. Die Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter der Haut ab und die Ringe unter seinen Augen bildeten einen heftigen Kontrast zu seiner Blässe. Er wirkte gehetzt, ausgezehrt, erschöpft. Ich riss den Blick von ihm los, als sich ein bösartiger Gedanke in meinen Kopf schob. Hatte ich Alkohol gerochen, als wir miteinander gesprochen hatten? Wenn auch nur für eine Sekunde? Nein. Verdammt nochmal. Es war nicht fair, sofort das Schlimmste zu vermuten. Nein. Der Everest und die KOLOSS-Challenge waren ihm wichtig, vielleicht sogar wichtiger als alles andere. Er würde sich den Trip nicht versauen, nicht damit, nicht nachdem er fast drei Jahre trocken gewesen war. Und trotzdem. Nachdem wir beide unsere Beziehung vor die Wand gefahren hatten, wollten wir dennoch in Kontakt bleiben. Wie es zu erwarten gewesen war, hatte das trotz all der guten Vorsätze nicht geklappt. Seit ich Robin im September letzten Jahres auf der Geburtstagsparty seines Bruders wiedergesehen hatte, sieben Monate nach unserer Trennung, war der Kontakt erneut völlig abgebrochen. Aber ein Wiedersehen hatte gereicht, um uns diese aberwitzige Idee des Everest in den Kopf zu setzen. In einer gemeinsamen Mail hatten wir unseren Ansprechpartnern von KOLOSS die Challenge vorgeschlagen und natürlich waren sie begeistert gewesen. Die Planung hatte sofort begonnen, aber keiner von uns hatte direkten Kontakt aufgenommen. Wahrscheinlich hatte das mit Stolz zu tun, ein Problem, das uns schon immer begleitet hatte.

Auch wenn ich mir das absolut nicht eingestehen wollte, hatte ich keine Ahnung, was inzwischen in Robins Leben passiert war. Er hätte wieder einen Rückfall haben können, ohne dass ich davon erfahren hätte. Er hätte eine dritte Depression entwickeln können, ohne …

»Unsinn«, sagte ich laut zu mir selbst. Ich war völlig paranoid. Wir waren jetzt hier, zusammen, in einem Flugzeug auf dem Weg zum anderen Ende der Welt. Für die nächsten zwei Monate würde sich keiner von uns vor dem anderen verstecken können. So dumm diese Idee auch gewesen war, es war längst zu spät, sie zu überdenken.

 

Mitten in der Nacht landete der Airbus in Maskat. Robin weckte mich, indem er mir ins Ohr pustete, sodass ich aufschreckte und mir ein wenig schmeichelhafter Name für ihn über die Lippen kam. Grinsend trug er für mich mein Handgepäck.

Auf dem Weg zur Schleuse kramte er sein Telefon aus der Hosentasche. »Vier Stunden bis es weitergeht«, sagte er, ein Gähnen unterdrückend und drehte sich zu mir um.

»Okay.« Ich streckte die müden Glieder. Ich hatte kaum ein Auge zugetan, im Gegensatz zu Robin konnte ich in Flugzeugen nur schlecht schlafen. Mein Nacken war steif und hinter meiner Stirn pochte ein dumpfer Schmerz. »Lass uns was essen.«

Das Flughafenrestaurant im Erdgeschoss des Gebäudes war menschenleer, als wir uns an einen Platz am Fenster setzten. Es dauerte einen Augenblick, bis Robin eine Karte auftreiben konnte, die nicht auf Arabisch war. Ich bestellte einen Früchtetee, Hibiskus war meine Lieblingssorte, und eine Portion des Tagessalats. Robin nahm ein Panini und schwarzen Kaffee, den er in Höchstgeschwindigkeit in sich hineingoss.

»Noch, hm, sagen wir sechs Stunden, alles in allem. Dann sind wir in Kathmandu«, bemerkte ich, als ich den Teebeutel im heißen Wasser versenkte und zusah, wie sich die rote Wolke langsam in der Tasse ausbreitete. »Fühlt sich immer noch komisch an, oder?«

Robin sah mich über seine Tasse hinweg an. Als er trank, berührte der Keramikrand die Mulde zwischen seiner Stirn und seiner Nase. »Ziemlich. Wie hast du dich vorbereitet?«

»Ich bin jeden zweiten Tag sechs Kilometer gejoggt und war drei Mal pro Woche im Fitnessstudio«, entgegnete ich. »Und du?«

Robin betrachtete sein Panini ohne großen Appetit. »Hab dieses Mal mit einem Personal Trainer zusammengearbeitet. Kein Bock, wieder kurz vorm Gipfel fast abzukacken wie beim Makalu. Hab zwei Mal die Woche mit ihm Ausdauer trainiert und sonst täglich alleine Krafttraining gemacht.«

»Wow. Das ist viel.«

Robin nickte und zog den Teller an sich, doch er zerpflückte nur langsam die Rinde des Weißbrots. »Mann… Ich freu mich auf Schmitti und André.« Bei dem Gedanken an die beiden kräuselten sich seine Lippen zu einem Grinsen.

Ich hob die Brauen. »Moment mal. André ist auch wieder dabei, echt jetzt?«

Das letzte, was ich gehört hatte war, dass André Hoffmann, unser zweiter Bergführer, das Bergsteigen auf das Drängen seiner Frau Karin schließlich an den Nagel gehangen hatte.

Robin leerte seine Tasse und zuckte mit den Schultern. »Japp, der ist dabei. Konnte wohl die Füße nicht stillhalten.«

»Das wird Karin nicht gefallen«, murmelte ich, eher zu mir selbst als zu Robin, doch der schnaubte missbilligend.

»Hätte sie wissen müssen, bevor sie ’nen bescheuerten Bergsteiger heiratet, oder?«

Ich antwortete nicht. Stattdessen stocherte ich in meinen Salat herum.

»Ist was?« Robin schob seinen Teller endgültig von sich und runzelte die Stirn.

»Alicia. Ist was?«, wiederholte er, als ich nicht sofort reagierte.

Ich seufzte. »Die Challenge macht mir Angst«, gab ich leise zu, wieder ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. Es hatte keinen Zweck, länger um den heißen Brei herumzureden. »Der Everest. Das alles.«

Zu meiner Überraschung beugte Robin sich vor und legte seine Hand auf meine. Es kostete mich alle Willenskraft, nicht vor dieser Berührung zurückzuschrecken, egal wie selbstverständlich sie wirkte. Denn das war sie nicht.

»Hey. Guck mich mal an.«

Widerwillig kam ich seiner Aufforderung nach.

»Du hast bisher jeden Gipfel geschafft. Alles, was du dir vorgenommen hast, hast du geschafft, oder? Der Everest ist nicht anders als der Makalu. Im Ernst. Das sagt jeder.«

»Schon da bin ich fast gescheitert«, murmelte ich und meine Stimme zitterte. Es war so verdammt schwer, seinem Blick standzuhalten. Robin schnalzte ungeduldig mit der Zunge.

»Schwachsinn. Du bist ’ne verdammt gute Bergsteigerin, Alicia. Du hast Erfahrung, du weißt, was du tust. Ich meine, du wirst gesponsert, so gut bist du. Nicht jeder kann von sich behaupten, mit 26 schon so weit gekommen zu sein. Und wir machen das zusammen. Wie immer, okay?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Du glaubst schon? Ist das dein Ernst?« Seine Hand lag warm und schwer auf meiner. Er drückte sie leicht. »Okay. Weißt du was? Ich versprech dir, dass ich den Gipfel nicht besteige, ehe du direkt hinter mir bist. Alles klar? Außerdem ist Schmitti noch da. Bisher war auf den immer Verlass. Er bringt uns da hoch. Wie immer.«

Wie immer. Glaubte er wirklich, dass alles wie immer war? Nichts war wie immer. Ich presste die Lippen aufeinander. Robin meine Zweifel zu beichten, erschien mir albern, kindisch. »Ja. Es ist nur … dieser Berg. Ich weiß auch nicht. Der Everest ist anders.« Das, was ich sagte, klang jämmerlich, das war mir klar, aber es musste raus. »Ehrlich, Robin, wieso tun wir uns das schon wieder an?«

Als er wieder zu grinsen begann, rutschte mir die unschöne Bezeichnung von eben ein zweites Mal raus.

»Um den guten alten Mallory zu zitieren: Weil er da ist!«, rief er theatralisch und warf dabei die Arme in die Luft. In dieser lächerlichen Pose entlockte er mir trotz allem ein leises Lachen.

»Nein, im Ernst«, bat ich ihn, als er seine kleine Darbietung beendet hatte. »Wieso?«

Wieder trafen sich unsere Blicke. Das Blau seiner Iris war mit winzigen, dunklen Sprenkeln besetzt. Das hatte ich beinahe vergessen.

»Weil da oben alles Sinn macht, oder? Man ist völlig unabhängig und frei.« Er lächelte. Es war das erste, ehrliche Lächeln, seitdem wir heute Morgen in Friedrichshafen in die Maschine gestiegen waren. »Und überhaupt, wie heißt es so schön?«

Ich schnitt eine Grimasse, ehe ich antwortete. »Climb that goddamn mountain.«

3. Juli, Oberstdorf

Alicia, anderthalb Jahre zuvor

Die Wohnung lag längst im Dunkeln, als mich die ins Schloss fallende Tür weckte. Ich setzte mich auf und strampelte mich aus der Decke, mit der ich mich auf die Couch verzogen hatte. Im Flur ging das Licht an. Der schmale Streifen, der ins Wohnzimmer fiel, beleuchtete die Uhr über dem Schrank. Es war schon nach Zehn.

Der schwere, süßliche Geruch von Marihuana drang in den Raum, noch bevor er selbst hineinkam. Ich biss die Zähne aufeinander, ehe ich den nächsten Streit riskierte. Stattdessen knipste ich die Stehlampe neben der Couch an und sah schweigend zu ihm hoch, die Beine an den Körper gezogen.

»Wo warst du?«, verlangte ich zu wissen, nachdem ich vergeblich darauf gewartet hatte, dass er den Anfang machte. Doch Robin stand nur da, eine Schulter gegen den Türrahmen gelehnt, die Haare von der Kappe platt an den Kopf gedrückt.

»Unterwegs.«

»Ah. Und da kannst du nicht Bescheid sagen?« Ich erhob mich und ging auf ihn zu. Seine Pupillen hatten die Größe von Untertassen und verschluckten beinahe seine Iris. Sein Anblick widerte mich an, doch routiniert wie ich war, atmete ich tief durch die Nase ein. Wenigstens hatte er nicht getrunken.

»Wird das jetzt zur Tagesordnung? Nach Feierabend dieses scheiß Kraut rauchen?«

Robin stöhnte auf. »Alicia, ich –«

»Was soll das eigentlich?« Ehe er seinen Satz beenden konnte, griff ich nach dem Tütchen auf dem Esstisch und drückte es ihm gegen die Brust. Er nahm es an sich, ohne dass sich eine Regung in seinem Gesicht abzeichnete.

»Das hab ich zwischen deinen Socken gefunden«, erklärte ich überflüssigerweise und wich ihm aus, als er die Hand nach mir ausstreckte. »Werd endlich erwachsen, verdammt nochmal.«

Er folgte mir in die Küche. »Hör mal, ich kann doch –«

Ich drehte mich um. »Was kannst du, hm? Du solltest endlich dein Leben in den Griff bekommen, wenn du wirklich willst, dass das hier funktioniert!« Jetzt schrie ich doch, aber das war mir egal. Wieder streckte er die Hand nach mir aus. Wieder stieß ich sie weg.

»Du bist unmöglich, Robin!« Ich riss den Kühlschrank auf und knallte die Saftpackung auf die Anrichte, nur um irgendetwas zu tun. »Allein das scheiß Sommerfest!«

Robin strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Was ist jetzt schon wieder los? Was ist mit dem Sommerfest?«, murmelte er. Seine müde, nuschelnde Art zu sprechen, machte mich nur noch wütender. Um ein Haar knallte ich ihm die Tür des Hängeschranks vor den Kopf, als ich das saubere Geschirr aus der Spülmaschine einräumte. Irgendetwas musste ich jetzt tun, meine Wut hatte ihren Siedepunkt längst erreicht.

»Ich bin erst seit ein paar Monaten Kursleiterin an der Kletterschule«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und knallte die Teller aufeinander. »Und du … du hast mich vor allen blamiert! Du hast dich benommen wie das letzte Arschloch!« Irgendwo in meinem Hinterkopf wusste ich, dass ich mich nicht fair verhielt. Ich ignorierte es.

»Ich hab doch überhaupt nichts gemacht«, beteuerte er, öffnete die Balkontüre und holte eine Packung Zigaretten aus der Brusttasche seines Hemds. Natürlich. Weglaufen war immer sein erster Instinkt. Ich schnaubte.

»Ach ja? Du warst arrogant und total herablassend. Du … du kotzt mich so an!« Ich riss ihm die Packung aus der Hand und ließ sie ins Spülbecken fallen. Robin knallte die Balkontüre wieder zu und schüttelte den Kopf.

»Sag mal, spinnst du jetzt total?«

»Das kannst du dich selbst fragen!«

»Das ganze scheiß Fest war doch ein Witz! Alles voll mit spießigen Scheißkerlen, die denken, sie sind die Meister ihrer Disziplin. Es ist lächerlich, wie du dir den Arsch für sie aufreißt und versuchst, es ihnen recht zu machen!«

»Jaah, klar, dass beruflicher Ehrgeiz für dich lächerlich ist!«

Er prallte mit dem Rücken hart gegen den Türrahmen, als ich ihn abermals von mir stieß und in der Küche stehen ließ.

Als er sehr viel später ins Schlafzimmer kam, starrte ich schon seit Ewigkeiten an die Decke. Ohne ein Wort legte er sich neben mich, drehte sich auf die Seite und kehrte mir den Rücken zu. Ich wollte etwas sagen, doch ich fand keine Worte. Es war, als sprächen wir längst nicht mehr dieselbe Sprache.

Zwei

26. März, Kathmandu

Robin, Gegenwart

Als wir gegen 14 Uhr Ortszeit den Tribhuvan International Airport erreichten, zog ich mir das Sweatshirt über den Kopf, noch ehe wir die Schleuse erreicht hatten. Das T-Shirt klebte mir an Rücken und Brust. Die Hitze, die uns selbst innerhalb des Gebäudes wie eine Wand begegnete, erschlug mich förmlich. Die sommerlichen Temperaturen in Kathmandu unterschieden sich so sehr von den Regenschauern und Minusgraden, die wir in Friedrichshafen zurückgelassen hatten, dass mein Körper ein paar Minuten brauchte, um damit klarzukommen.

Der Flughafen war vollgestopft mit lärmenden Menschen aus aller Welt, sodass Alicia der altbewährten Methode nachkam und einen Finger im Gürtelriemen meiner Jeans einhakte, um mich auf dem Weg zu den Gepäckbändern nicht zu verlieren.

In der Schlange vor den Kontrollen entdeckte ich André, kurz darauf erschien auch Sebastians zur Glatze neigender, ergrauter Schopf neben ihm. Ich winkte und schob mich durch die wartenden Menschen auf die beiden zu, Alicia im Schlepptau. Als Sebastian mich näherkommen sah, strahlte er.

»Voss!«, dröhnte er und drückte mich kurz, aber herzlich an sich. »Guten Flug gehabt?«

»War okay.« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Schön dich zu sehen, Schmitti.«

»Gleichfalls, Junge. Schöne Sache, dass wir alle zusammen hier sind. Alicia, hallo!« Er riss auch Alicia in seine Arme, während ich André die Hand gab.

»Hey man, freut mich, dass du’s doch noch geschafft hast.«

André, mit Ende Vierzig etwa im selben Alter wie Sebastian, war groß und so dürr, dass ich mich jedes Mal fragte, wie er die nötige Kraft zum Bergsteigen überhaupt aufbrachte. Zweifellos konnte er das, denn er hatte eine beträchtliche Liste an Erfolgen vorzuweisen. Unter anderem hatte er den Everest schon zwei Mal bestiegen.

Eine Falte erschien auf der Stirn des Holländers, halb verdeckt von einer angegrauten Locke, als ich den Konflikt mit Karin andeutete.

»Mich auch, Mann«, entgegnete er und ließ mir ein für ihn seltenes Lächeln zukommen. »Alle guten Dinge sind drei, oder?«

»Klar.« Ich zwinkerte ihm zu. Derweil legte Schmitti den Arm um die Schultern eines dritten, mir Unbekannten im Bunde, der sich während unserer Begrüßung im Hintergrund gehalten hatte. Er hatte leuchtend rotes Haar, war unglaublich sommersprossig und etwa einen Kopf kleiner als ich, wirkte aber kräftig und durchtrainiert. Auch er trug ein Sweatshirt, auf dessen Brust der steinerne KOLOSS-Riese prangte.

»Leute? Das hier ist Maik Bauhöfer, das neuste Mitglied in unserem kolossalen Bunde«, stellte Sebastian den Neuen vor.

»Er ist Naturfotograf und hat sich bereit erklärt, uns diese Saison zu begleiten. Außerdem ist er für den direkten Austausch mit den Social-Media-Leuten verantwortlich.«

Ich trat auf Maik zu, schüttelte ihm die Hand und stellte mich vor. Maik nickte mir mit einer lässigen, aufgeschlossenen Art zu, die ich bei anderen immer bewundert hatte, und drückte meine Hand angenehm fest. »Freut mich.« Er grinste. »Du bist also der Star der Show, hm?«

Ich lachte, hob aber bescheiden die Hände. »Wie man’s nimmt. Aber wahrscheinlich wirst du meine Visage bald nicht mehr sehen können, so oft, wie du sie die nächste Zeit vor der Linse haben wirst.«

Maik schnaubte amüsiert. »Wir werden sehen.«

Ich merkte, wie sein Blick zu Alicia glitt, die soeben an meiner Seite aufgetaucht war und einige Worte mit André austauschte. Ich tippte sie an und sie wandte sich uns zu.

»Ja, und das hier ist Alicia Fischer, meine … äh, Partnerin«, stellte ich sie an Maik gewandt vor.

»Hat KOLOSS eigentlich im Vorfeld unsere Visa beantragt? Weiß da einer was?« André unterbrach die Begrüßungen und blickte fragend in die Runde.

Alicia runzelte die Stirn. »Das sollten wir doch erst vor Ort machen, oder?«

»Ja, deshalb frag ich. Das Visum vor Ort zu beantragen, geht viel schneller.« André warf einen skeptischen Blick auf die Schlange, die sich bereits vor dem Schalter gebildet hatte.

»Okay, gut.« Alicia lehnte sich gegen eine Säule einige Schritte entfernt. Dort stand sie, das dunkle Haar leicht zerzaust von der langen Reise, die rehbraunen Augen, die immer wirkten, als wäre ihnen einen Schuss Gold beigemischt worden, nachdenklich ins Leere gerichtet. Sie wirkte nervös und irgendwie traurig.

»Wie sieht’s diese Saison eigentlich am Everest aus?«, fragte ich, um die Stimmung ein wenig aufzulockern. Sebastian zuckte mit den Schultern. »So geschäftig wie jedes Jahr, würde ich sagen. Auf um die tausend Bergsteiger im Basislager können wir uns schon einstellen. Nicht zu vergessen die ganzen kommerziellen Expeditionen. Aber KOLOSS hat uns einen guten Platz für unser Speise- und Kommunikationszelt gebucht. Ich hoffe wirklich auf eine ruhige Saison. Lawinen und Unwetter können mir gestohlen bleiben.«

Bei dem Gedanken an Naturkatastrophen breitete sich ein hässliches Gefühl in meiner Brust aus. Unwillkürlich nahm Lukas vor meinem geistigen Auge Gestalt an. Drei Jahre war er jetzt schon tot. Ich schluckte.

»Hast recht«, presste ich hervor und räusperte mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. »So ’ne Scheiße braucht keiner.«

Ich warf Alicia einen kurzen Seitenblick zu. Als wir damals von Lukas’ Unfall erfahren hatten, hatte sie zwei Tage lang nur geweint. Kaum merklich zog sie auch jetzt die Schultern hoch, so wie sie es immer tat, wenn sie sich innerlich gegen eine Emotion wehrte. Ich wusste, dass sie ebenfalls an Lukas dachte. Trotzdem brachte sie ein dünnes Lächeln zustande, als sie merkte, dass ich sie beobachtete.

Die Zollformalitäten zu erledigen, dauerte eine Weile. Als wir dann endlich mitsamt unseres Gepäcks nach draußen kamen, war ich froh, das stickige Gebäude hinter mir zu lassen. Innerhalb von zwanzig Minuten, die wir in der feuchten Hitze auf die restlichen Mitglieder unserer Crew warteten, kaute Sebastian Alicia, Maik und mir ein Ohr ab und gab uns einen Abriss seiner neusten Kletteranekdoten, die er im letzten Jahr in den USA und Frankreich gesammelt hatte.

Mit dem nächsten Schwall an Touristen und Geschäftsleuten, die aus dem Flughafen strömten, trafen auch Alexander Herlinger, Basislagerleiter, und seine Freundin Isabell Adams, Camp-Ärztin, ein. Somit war unsere KOLOSS-Crew endlich vollständig.

Isa brach in Gelächter aus, als sie gegen das Sonnenlicht in mein Gesicht hinauf blinzelte.

»Was ist denn mit dir passiert?«, wollte die kleine Britin mit den kurzen, schwarzen Haaren wissen und schloss mich fest in die Arme. »Zweieinhalb Jahre reichen aus, um aus dir einen Hippie zu machen?«

Ich schnitt eine Grimasse. »Ey, das ist Winterfell.«

Schnaubend drehte sie sich einmal um die eigene Achse, bis sie Alicia zwischen den anderen entdeckte. »Alicia, Schatz, wieso erlaubst du so ein Theater? Er sieht aus wie einer von der Kelly Family!«

Alicias Mundwinkel zuckten in die Höhe. Scheinbar nahm sie es mit Humor. »Ach, ich bin dazu übergegangen, ihn nur noch Jesus zu nennen«, entgegnete sie trocken. Die beiden Frauen umarmten sich. »Gute Reise gehabt?«

Isa schnaubte. »Wohl eher nicht. Alex hat sich gestern im Flughafenrestaurant den Magen verdorben. Er musste ja unbedingt von den Shrimps essen.« Sie verdrehte die Augen. »Aber er wär’ ja nicht mein Freund, wenn er einmal auf das hören würde, was ich –«

»Was du was?« Alex war an ihrer Seite erschienen, legte ihr die Hände auf die Schultern und strahlte uns an. »Robin! Alicia! Wahnsinn. Es ist so lange her!« Umständlich schob er sich an Isa vorbei und klopfte mir auf die Schulter, dann zog er Alicia an sich. Sein dunkles Haar, das er sonst immer in einem Zopf getragen hatte, war unter der Kappe mit dem Steinriesen inzwischen kurz rasiert.

»Seid ihr startklar? Gut vorbereitet?«

»Die Challenge wird super. Geht’s dir wieder besser?«, erkundigte ich mich, denn tatsächlich wirkte er noch ein wenig blass um die Nase. Alex schnitt eine Grimasse. »Es wird, es wird. Bin nur noch ein bisschen wackelig auf den Beinen.« Er rückte seine Kappe zurecht und legte den Arm um Isas Schultern. »Wir haben euch letzten Juli am Mount Blanc echt vermisst. Hat was gefehlt ohne euch. Was war denn los?«

»Ehm … « Mein Inneres erstarrte zu Eis. Was zum Teufel sollte ich ihnen sagen? Jetzt war nicht der Moment, um mit der ernüchternden Wahrheit rauszurücken.

»Wir wollten uns richtig auf den Everest vorbereiten«, schaltete Alicia sich ein und schob sich halb vor mich, um mir aus der Patsche zu helfen. Sie unterstrich ihre Worte mit einem strahlenden Lächeln. »Der hatte für uns Priorität. Außerdem war mein Vater schlimm erkrankt, daher wollte ich in der Nähe bleiben. Aber den Mont Blanc holen wir nach. Vielleicht im nächsten Jahr, wenn KOLOSS uns das anbietet.«

»Das tut mir leid.« Isa runzelte mitfühlend die Stirn. »Geht es deinem Vater denn wieder besser?«

»Oh ja. Er hat sich wieder gefangen.« Alicia lächelte ihr zu. Es war verblüffend, wie leicht ihr die dicksten Lügen über die Lippen gingen.

 

Im stickigen Bus, der uns durch das überfüllte Kathmandu fuhr, kam ich mit Alex ins Gespräch.

»Später im Hotel wird Maik ein paar Fotos von dir und Alicia machen, wenn das okay für euch ist«, informierte er mich, als der Bus an einer provisorischen Haltestelle anhielt und von einer Schar australischer Backpacker förmlich überschwemmt wurde.

»Außerdem steht dann planmäßig noch ein kurzes, separates Interview an. Das kommt auf den Blog, damit die Leute vor Beginn eurer Challenge schon was zu lesen haben.«

Ich nickte. Diese Prozedur war nichts neues für mich.

»Okay. Irgendwas, was sonst noch ansteht, bevor wir hier aufbrechen?«

Alex kratzte sich mit seinem Stift nachdenklich am Kinn und zog sein Notizbuch zu Rate, schüttelte aber dann den Kopf. »Nee. Sonst ist alles wie immer, denke ich.«

Eine kurze Pause entstand, in der sein Blick zu Isa und Alicia wanderte, die sich einige Sitzreihen vor uns gedämpft unterhielten. Ich ahnte, was jetzt kommen würde. Dieses Thema war unausweichlich und ich hätte es wissen müssen.

»Alles okay zwischen dir und Ali?«, fragte Alex und packte seine Notizen zurück in den Rucksack. Ich wich seinem Blick aus. Kurz überlegte ich, ihn einfach anzulügen, doch er würde mir sowieso nicht glauben. Dafür kannte er mich einfach zu gut.

»Behalt das erst mal für dich, okay?«, murmelte ich meinen Knien zu. »Also … Das mit ihr und mir ist vorbei. Aber wir wollen das nicht an die Öffentlichkeit tragen. Nicht so kurz vor der Challenge, verstehst du? Ist mit KOLOSS so abgesprochen. Ich bin schon froh, dass Alicia ihren Vertrag doch noch neu aufgesetzt hat. Mit der Trennung hatte sie den alten aufgekündigt.«

»Oh … Okay. Gut zu wissen«, gab Alex zurück und ich sah ihm an, dass er nicht mit dieser Nachricht gerechnet hatte. Natürlich, keiner hatte das. Nicht mal ich. Alicia und ich waren ein verdammtes Traumpaar gewesen. Und ich liebte sie noch immer, da konnte ich mir vormachen, was ich wollte.

»Von mir erfährt es jedenfalls keiner«, setzte Alex nach, aber wir wussten beide, dass dies nicht Isa beinhaltete.

»Danke, Mann. Weiß ich zu schätzen.«

»Klar.« Alex’ Blick traf den meinen. »Aber wenn du sagst, dass ihr mit KOLOSS abgesprochen habt, dass die Öffentlichkeit nichts von eurer Trennung erfahren soll, heißt das dann, dass sie euch einfach nicht mehr als Paar in den Vordergrund stellen, oder erwarten sie Schauspielerei?«

Ich schluckte. »Keine Ahnung. Ich hoffe auf ersteres.«

Wieder entstand eine Pause, die ich nutzte, um aus dem Fenster zu sehen. Der Bus zwängte sich durch die winzigen Straßen von Thamel, dem bunten Touristenviertel Kathmandus. Zwischen dem unmöglichen Verkehr wimmelte es nur so von Straßenhändlern, Fahrrad-Rikschas und Bettlern. Im staubigen Sonnenlicht wirkte die Stadt wie ein überdimensionaler Bienenstock, geschäftig und bunt. Ich hatte sie vermisst.

»Bin froh, wenn wir endlich auf dem Weg nach Lukla sind«, meinte Alex, bevor der Bus erneut hielt und Sebastian uns das Signal zum Aussteigen gab. Alex reichte mir bereits meinen Rucksack von der Gepäckablage über unseren Köpfen. »Ist mir viel zu eng hier.«

Alex hatte recht, Thamel war eng. Das Sankata Hotel, in das Tanja, unsere PR-Agentin, uns einquartiert hatte, lag in einer winzigen Seitenstraße in der Nähe des Marktplatzes. In der schillernden Lobby zwängten sich gut hundert Menschen dicht an dicht, als ich hinter Isa und Alicia eintrat.

»Hört mal zu, Leute«, bellte Sebastian über das Geschnatter der Touristen hinweg, als wir uns in der Schlange vor der Rezeption einreihten. »Tanja hat uns drei Doppelzimmer für Alicia und Robin, Isa und Alex sowie André und mich reserviert. Maik bekommt ein Einzelzimmer. André kümmert sich um die Schlüssel. Am besten warten wir draußen, hier drinnen ist die Hölle los.«

Für einen kurzen Augenblick erstarrte mein Herz. Ich hatte völlig vergessen, Tanja im Vorfeld um zwei Einzelzimmer für mich und Alicia zu bitten. Verdammt.

Nach einem kurzen Hin und Her folgte ich den anderen schließlich hinaus auf den kleinen Vorplatz. Dort kaufte ich mir einen Kaffee aus einem der Automaten, bereute es aber sofort. Er schmeckte abartig. Isa, die schon ein paar Saisons am Everest verbracht hatte, lächelte bei meiner Reaktion.

»In Nepal solltest du lieber auf Tee setzen«, sagte sie und setzte ihre Sonnenbrille auf, als die Wolken der knallenden Sonne wichen und einem strahlend blauen Himmel Platz machten. »Im Basislager gibt es den besten Lasata, danach wirst du keinen anderen mehr trinken wollen.«

»Eigentlich ist Tee nicht so mein Ding, aber wenn er besser ist als das hier, sollte ich ihn zumindest mal versuchen«, pflichtete ich ihr bei und schüttete die braune Flüssigkeit in die Grünanlage.

Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, bis André mit den Schlüsselkarten auftauchte. Er und Sebastian gönnten uns zwei Stunden zum Auspacken und Ankommen, ehe wir uns am frühen Abend in einem der Tagungsräume zur Vorbesprechung der Expedition treffen würden. Danach standen die Interviews mit Maik an. Alles in allem würden wir zwei Tage im Sankata verweilen.

Ich folgte Alicia die steile Treppe zum ersten Stock des Hotels hinauf. Die hölzerne Wandvertäflung war über und über mit Postern des Himalaya-Gebirges tapeziert und ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, als ich in unserem Zimmer ein gerahmtes Foto mit dem zerzausten Profil von Reinhold Messner über der Minibar entdeckte. Sehr geschmackvoll. Ich stellte unser Gepäck ab, dann ließ ich mich auf das Doppelbett fallen, während Alicia im angrenzenden Badezimmer verschwand.

Ich zog die Schuhe aus und vergrub das Gesicht für einen Moment in den Kissen. Ich wusste, dass Alicia lieber ein Einzelzimmer gehabt hätte, auch wenn sie deswegen nie etwas sagen würde. Ich hatte Tanja wirklich darum bitten wollen, uns beiden Einzelzimmer zu buchen, doch zwischen all den Reisevorbereitungen war es irgendwie untergegangen.