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Ein hoffnungsvoller Neuanfang und die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt …
Der berührende Liebesroman vor der gemütlichen Kulisse Schwedens
Die junge Architektin Isabell hat genug von ihrem Leben in Köln und nimmt kurzerhand ein Jobangebot auf Gotland an. Eigentlich ist sie Feuer und Flamme für die anstehenden Veränderungen, doch schon auf der Fähre in Richtung der schwedischen Ostseeinsel fühlt Isa sich wie im Nirgendwo angekommen. Stück für Stück schafft sie es, sich auf die sympathischen Inselbewohner und den Hygge-Lifestyle einzustellen. Bei einem Spaziergang am Strand trifft Isa das erste Mal auf den Fotografen Kian und ist sofort interessiert an diesem gutaussehenden Mann, der die Liebe zur Kunst mit ihr zu teilen scheint. Was Isa nicht weiß: Kian ist schon lange niemandem mehr so nahegekommen wie ihr. Und das hat einen Grund …
Erste Leser:innenstimmen
„Ein herzerwärmender Liebesroman über die Liebe zur Kunst und das Finden des Glücks an einem ungewöhnlichen Ort.“
„Eine romantische Wholesome Romance, die perfekt ist, um dem Alltag zu entfliehen.“
„Ich liebe es, wie die Autorin Isas Charakterentwicklung durch ihre Erfahrungen auf Gotland beschreibt.“
„Die Beschreibungen der schwedischen Insel sind so lebendig und detailliert, dass man sich fühlt, als wäre man selbst dort.“
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Seitenzahl: 444
Die junge Architektin Isabell hat genug von ihrem Leben in Köln und nimmt kurzerhand ein Jobangebot auf Gotland an. Eigentlich ist sie Feuer und Flamme für die anstehenden Veränderungen, doch schon auf der Fähre in Richtung der schwedischen Ostseeinsel fühlt Isa sich wie im Nirgendwo angekommen. Stück für Stück schafft sie es, sich auf die sympathischen Inselbewohner und den Hygge-Lifestyle einzustellen. Bei einem Spaziergang am Strand trifft Isa das erste Mal auf den Fotografen Kian und ist sofort interessiert an diesem gutaussehenden Mann, der die Liebe zur Kunst mit ihr zu teilen scheint. Was Isa nicht weiß: Kian ist schon lange niemandem mehr so nahegekommen wie ihr. Und das hat einen Grund …
Erstausgabe Juni 2023
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-387-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-457-6
Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © photopalace, © BigganVi, © Nanisimova, © corkscrew, © Mulevich Lektorat: Buchgezeiten
E-Book-Version 26.04.2024, 09:59:52.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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The Maine – I’m Sorry
»Und du willst echt auswandern?«
»Niemand redet von Auswandern«, protestiere ich und deute anklagend mit meinem Löffel auf sein Gesicht. »Die Stelle wäre auf ein Jahr befristet.«
»Schweden also.« Alex zieht die Stirn kraus und schiebt mir meinen üblichen Kaffee zu. Einen extra großen Karamell-Latte mit Doubleshot, perfekt wie immer.
»Wieso nicht?« Ich nippe an dem herrlich weichen Milchschaum. Mein Bruder wischt sich die nassen Hände an seiner Schürze ab und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Theke, auf deren anderer Seite ich noch immer ungläubig auf die Mail starre, die vor ein paar Minuten auf meinem Handy aufgepoppt ist. »Professor Walther hat mich für eine Stelle vorgeschlagen. Ein ehemaliger Kollege von ihm arbeitet dort in einem ziemlich großen Architekturbüro.« Ich tippe mir an die Stirn, immer noch nicht in der Lage zu begreifen, was hier gerade passiert. »Ausgerechnet mich.«
»Natürlich hat er dich vorgeschlagen. Du bist gut.« Alex stößt sich von der Theke ab, als die Türglocke hinter mir verkündet, dass soeben Gäste das Bistro betreten. »Aber denkst du wirklich darüber nach, hier alle Zelte abzubrechen?«
Ich seufze und tauche den Löffel in die süße Kaffeesünde vor mir. In meinem Kopf rotieren tausend Gedanken in Endlosschleife. Schweden. Schweden …
Ein neuer Job, eine neue Perspektive. Das Auslandssemester, das ich während meines Studiums nie gemacht habe. Ich könnte endlich eine richtige Architektin sein. Diese Aussicht bringt ein aufgeregtes Ziehen in der Magengegend mit sich.
»Isabell?« Die Stimme meines Bruders reißt mich aus meinen Gedanken.
»Mhm?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Keine Ahnung. Du weißt, dass ich nicht besonders an meinem Job hänge.« Wie so oft wandert meine Laune in den Keller, sobald ich an das winzige Büro an der Deutzer Freiheit denke, in dem man mich nie etwas machen lässt, was über die simpelsten Schritte der Grundlagenplanung hinausgeht.
Alex schnaubt. »Kein Wunder, diese Blutsauger beuten dich ja auch aus. Dein Gehalt ist ein Witz.«
»Denkst du, das weiß ich nicht?«, murmele ich, während die beiden Frauen, die bisher die große Menükarte über der Theke studiert haben, näher kommen, um bei Alex ihre Bestellung aufzugeben. Sofort setzt mein Bruder sein strahlendes Kundenlächeln auf und notiert sich die Wünsche der beiden, ehe er sie bittet, an einem der Tische Platz zu nehmen.
Als sie weg sind, rückt er die runde Brille zurecht, und seine blauen Augen, die meinen so ähnlich sind, durchleuchten mich. »Nachdem du dir so lange für dein Studium den Arsch aufgerissen hast? Das ist das Letzte.« Er schüttelt den Kopf und hält den Siebträger unter die summende Kaffeemühle. Sofort steigt mir der herrliche Geruch frisch gemahlener Bohnen in die Nase. »Was würdest du denn in Schweden verdienen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Professor Walther schreibt, wenn ich Interesse hätte, würde er mir die Nummer seines Kollegen geben.«
»Hör es dir wenigstens mal an«, meint Alex und holt zwei Cappuccinotassen aus dem Regal hinter sich. »Wenn das Geld stimmt, kannst du vielleicht endlich damit anfangen, deinen Studienkredit abzubezahlen.«
Autsch. Sofort schießt mir das Blut in den Kopf und ich weiche Alex’ Blick aus. Mein großer Bruder und ich verstehen uns gut, mehr noch, er ist mein bester Freund, doch ich hasse es, wenn er darauf herumreitet, dass ich auch ein Jahr nach meinem Abschluss kaum etwas des haushohen Studienkredits abbezahlen konnte. Anders als viele meiner damaligen Kommilitonen habe ich nicht gewollt, dass meine Eltern mir das Studium finanzieren. Ich hätte es nicht ertragen, deswegen in ihrer Schuld zu stehen. Deshalb war ich gezwungen, mit einem Haufen Schulden ins Berufsleben zu starten. So ist das nun mal, aber ich bin es leid, ständig daran erinnert zu werden.
Um nichts darauf erwidern zu müssen, greife ich über die Theke hinweg nach dem Tellerhalter neben der Kaffeemaschine und stelle ihm zwei Untertassen hin, drapiere die Löffel darauf und lege zwei Schokoplätzchen dazu. Als Alex das sieht, umspielt ein Lächeln seine Lippen, das fast unter seinem dichten Bart verschwindet. »Es ist Samstag. Deine Schicht beginnt erst um drei, Herzchen.«
»Ich weiß.«
Er seufzt, als er die Härte in meiner Stimme vernimmt. »Tut mir leid, Isa. Ich hätte nichts sagen sollen.«
»Schon gut.« Ich nehme einen besonders karamelligen Schluck Kaffee, der mich ein wenig milder stimmt.
Alex wirft mir eine Kusshand zu und kippt etwas Hafermilch zum Schäumen in die kleine Metallkanne. »Um noch mal auf das Thema zurückzukommen: Du kannst gar kein Schwedisch.«
Nun ist es an mir, zu seufzen. »Hörst du mir denn nie zu? Ich habe im Bachelor einen Schwedisch-Kurs belegt. Davon habe ich zwar so gut wie alles vergessen, aber Schwedisch ist keine sonderlich komplizierte Sprache. Das schaffe ich schon.«
Ich fische einen Schokokeks aus der Schale bei den Tellern, schiebe ihn mir in den Mund und spüre, wie mein Herz aufgeregt zu klopfen beginnt, als vor meinem geistigen Auge unzählige atmosphärische Bilder entstehen, die glatt von Pinterest stammen könnten: Wälder, Seen, Flüsse, rote Holzhäuschen. Freiheit.
Alex, der zu ahnen scheint, was in mir vorgeht, schmunzelt. »Und du würdest nach einem Jahr wiederkommen?«
»Klar. Bevor ihr mich vermisst, bin ich wieder da.«
»Ihr?« Alex lacht. »Ich werde dich höchstens vermissen, weil ich dann eine neue Aushilfe für die Wochenenden brauche.«
»Rede dir das ruhig ein, Bruderherz. Wie wär’s mit Toni? Er hängt oft genug hier rum und hätte keinen Arbeitsweg.«
Obwohl Alex’ Freund schon dreißig ist, lässt er sich mit seinem Psychologiestudium Zeit und könnte meinen Bruder problemlos im Naked Cat unterstützen.
Doch dieser schüttelt energisch den Kopf. »O nein, kannst du vergessen. Für die Gastro ist er völlig unbrauchbar.«
»Das ist natürlich tragisch.« Ich trinke meinen Kaffee aus und schiebe Alex das leere Glas hin. Als sich unsere Blicke treffen, beschließe ich, mir einen brüderlichen Rat einzuholen. »Denkst du, ich sollte es machen?«
Alex lächelt. »Wenn ich mir das Glitzern in deinen Augen so ansehe, hast du dich schon längst entschieden, oder?«
Mein Herz macht abermals einen aufgeregten Satz, als mir klar wird, dass er recht hat. »Wenn die Konditionen stimmen, wüsste ich nicht, wieso ich diese Chance nicht nutzen sollte.« Ich grinse ihn an.
»Du wärst nicht du, wenn du dich nicht sofort in jedes Abenteuer stürzen würdest, das sich dir bietet, Schwesterchen.« Er wirft sich ein frisches Geschirrtuch über die Schulter und zwinkert mir zu. »Also, worauf wartest du? Schreib deinem Prof zurück, schnell.«
Als ich das Naked Cat um neunzehn Uhr schließe, kommt Alex gerade aus der Haustür nebenan, um mich nach Hause zu begleiten, so wie jeden Abend.
»Hi! Ich habe dir was mitgebracht.« Mein Bruder greift in seine Jackentasche, um mir ein kleines gelbes Buch in die Hand zu drücken. Als ich die Aufschrift Wörterbuch Schwedisch-Deutsch lese, muss ich lachen.
»Das ist perfekt. Danke.« Ich stecke das Büchlein in meine Manteltasche und ziehe das Rolltor des Ladens runter. »Du hast für jede Situation das passende Buch, was?«
Alex macht eine wegwerfende Geste. »Bei uns liegt es nur rum und ich dachte, du kannst es vielleicht gebrauchen. Habe ich dir schon gesagt, dass du mir echt fehlen wirst?«
»Nur vier oder fünf Mal«, entgegne ich lässig, was uns beide zum Lachen bringt. Ich schultere meinen Rucksack, und Seite an Seite schlendern wir die Fußgängerzone hinab Richtung Heimat.
»Wann telefonierst du mit diesem Svensson?«, fragt Alex.
»Mein Professor hat geschrieben, ich soll es am Montag gegen zehn probieren.« Sofort ist die Aufregung von vorhin wieder da und mein Magen zieht sich zusammen.
Alex’ gepiercte Lippe kräuselt sich zu einem Grinsen. »Mann, ist das aufregend. Und du kennst wirklich gar keine Details?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß noch nicht mal, wo genau in Schweden das Unternehmen von Svensson ist. Das alles ist ein riesiges Überraschungspaket.«
Genau, wie ich es mag.
»Hoffentlich mitten in Stockholm oder an einem schönen See.« Der träumerische Ausdruck auf Alex’ Gesicht entlockt mir ein Lächeln.
»Würde mir gefallen. Aber vor allem bin ich auf die Architektur dort gespannt. Die skandinavische Moderne ist etwas ganz Besonderes. Der schwedische Architekt Gunnar Asplund war einer der Pioniere dieser Epoche, im Studium haben wir viel über sein Schaffen gesprochen. Dieser Mann ist mein Held!« Während ich von meinem Fachgebiet schwärme, entgeht mir nicht, dass Alex neben mir eine alberne Grimasse schneidet.
»Ich weiß, wir hatten diese Diskussion schon oft, Herzchen, aber ich werde nie verstehen, wie du dich so brennend für Gebäude interessieren kannst. Es sind nur aufeinandergestapelte Steine.«
Ich schnaube. »Unsinn! Bauwerke sind so viel mehr als nur Gebäude! Sie sind Kunst, Kreativität, manchmal eine Botschaft. Ein Statement.«
»Ist deine Wohnung auch ein Statement?« Alex’ Stimme trieft vor Sarkasmus, als wir vor dem hässlichen, mit rotem Backstein verklinkerten Mehrfamilienhaus aus den Siebzigern stehen bleiben, in dessen viertem Stock meine schäbige Einzimmerwohnung liegt.
»Kann man so sagen. Nur nicht gerade im positiven Sinne.« Ich schließe die Haustür auf. »Kommst du mit hoch?«
»Klar, muss doch jetzt jede Sekunde auskosten, die du noch hier bist.«
Auf dem Weg nach oben wächst der Anflug eines schlechten Gewissens in mir, den ich rasch wegschiebe.
Auf meiner Etage angekommen, schließe ich die Wohnungstür auf, und wir betreten mein kleines Reich. Während ich mich meiner Stiefel, des Mantels und des Rucksacks entledige, ist Alex schon auf dem Weg ins Wohnzimmer. Unwillkürlich lächele ich in mich hinein, denn ich weiß genau, was er vorhat.
Als ich ihm wenig später folge, sitzt er auf dem alten Palettensofa, meinen aufgeklappten Laptop vor sich.
»Ich suche nach dem Unternehmen von diesem Svensson«, bestätigt er meinen Verdacht und macht mir Platz. »Wie heißt er mit Vornamen?«
»Henrik oder Hendrik, glaube ich.« Ich lasse mich neben ihn in die Kissen fallen. Auch wenn ich kein Problem damit hätte, mich vom Standort meines potenziellen neuen Jobs überraschen zu lassen, brenne ich nun plötzlich ebenfalls darauf, zu erfahren, wohin es mich verschlagen wird.
»Oh.« Alex’ dichte Augenbrauen wandern in die Höhe, sein Blick ist gebannt auf den Bildschirm gerichtet.
Alarmiert setze ich mich auf. »Was meinst du mit Oh? Gibt’s ein Problem?«
Anstelle einer Antwort dreht Alex den Bildschirm in meine Richtung, sodass ich sehen kann, was er sieht.
»Gotland?« Verständnislos schüttele ich den Kopf. »Noch nie gehört.«
»Eine schwedische Insel. Irgendwo im Nirgendwo.«
Ich rufe die Bildersuche auf und klicke mich durch die ersten Fotos. Bis auf endlose Küsten, Felder und einige mittelalterlich wirkende Städtchen scheint auf dieser Insel tatsächlich der Hund begraben zu sein. Sofort regt sich Enttäuschung in mir. »In diesem Kaff soll Svenssons Unternehmen liegen?«
»Gib mal her.« Alex nimmt den Laptop wieder an sich. Einige Minuten lang schweigen wir, während er das Netz durchforstet. »So klein ist die Insel gar nicht«, sagt er. »Gerade der Bau von Ferienanlagen boomt dort, genau wie auf den benachbarten Inseln. Svensson Arkitekter gibt es seit 2010, es scheint ein solides Unternehmen zu sein. Hier steht, sie restaurieren historische Gebäude, von denen es auf der Insel eine Menge gibt.«
Zumindest ein kleiner Lichtblick. Wenn ich etwas noch mehr liebe als Gebäudeentwurf und Raumplanung, dann ist es die Restaurationsarbeit an alten Bauwerken. Dennoch – ein Jahr auf einer verschlafenen Insel ist nicht gerade das, was ich mir vorgestellt habe.
Alex lächelt mir aufmunternd zu, was ich erwidere, doch es gelingt mir nur halb.
»Danke fürs Recherchieren.«
Als er meinen Blick bemerkt, runzelt er die Stirn. »Du hast was anderes erwartet, oder?«
»Kann sein«, räume ich ein, »aber ich warte das Telefonat ab. Vielleicht ist Svensson Arkitekter es wert.«
Am Montag radele ich nach Feierabend über die Deutzer Brücke zum Naked Cat, wo mein Bruder und Toni das Apartment über dem Bistro bewohnen. Montag ist Gyoza-Tag, und wie immer besuche ich die beiden zum Essen. Und wie immer bin ich spät dran. Die Leuchtreklame mit der Sphynx-Katze im Rollkragenpullover leuchtet noch, obwohl der Laden schon geschlossen hat. Alex vergisst ständig, sie auszuschalten.
Als ich die Klingel mit der Aufschrift A. Berger/T. Marino drücke und die Tür sogleich aufsummt, klopft mein Herz einige Takte schneller. Gleich werde ich meinem Bruder und seinem Freund verkünden, dass ich für ein Jahr aus Köln verschwinde. Eine Situation, die mich unerwartet nervös stimmt.
Die Wohnungstür im zweiten Stock steht offen, Tonis Lachen dringt schallend durch das Treppenhaus, untermalt von Indie-Musik.
»Hallo!«, rufe ich, werfe die Tür hinter mir zu und schiebe mich durch den Flur ins Wohnzimmer, wo die beiden bereits wie bei einer Séance auf dem Teppich vor dem niedrigen Couchtisch sitzen. Dieser ist schon über und über gefüllt mit den Pappschachteln unseres Lieblingslieferdienstes, der köstliche Geruch der Teigtaschen steigt mir in die Nase. Ein Vorteil daran, ständig zu spät zu kommen, ist, nie auf das Essen warten zu müssen. »Tut mir leid, hatte noch zu tun.« Ich lege meine Sachen ab und setze mich auf den freien Fleck zwischen Alex und Toni. »Wieso fangt ihr nicht ohne mich an?«
»Weil wir gut erzogen sind«, entgegnet Toni, der mich frech angrinst. »Außerdem hoffen wir immer noch auf den Tag, an dem du mal pünktlich kommst.«
»Diese Diskussion führen wir jedes Mal und uns allen ist klar, dass das nie passieren wird«, gibt Alex zu bedenken. »Hast du Neuigkeiten, Isa?«
»Ja, wie war dein Telefonat?«, fragt Toni, während er unsere Teller großzügig mit Gyoza und Kimchi belädt.
»Tja, es sieht ganz so aus, als müsstet ihr bald montags nicht mehr ewig auf mich warten.«
Sofort starren mich zwei Augenpaare an.
»O Mann, spann uns nicht so auf die Folter!« Toni rüttelt wild an meiner Schulter. »Sag schon, wie sieht’s aus?«
»Das Angebot klingt perfekt und ich könnte im April anfangen.«
»Also hast du zugesagt?« Alex lehnt sich gegen die abgewetzte Zweiercouch, um deren Plätze wir uns lange gestritten haben, bis wir beschlossen, einfach alle auf dem Boden zu sitzen.
»Noch nicht ganz. Ich soll mich bis Mittwoch melden. Aber entschieden habe ich mich schon, denke ich. Als Nächstes steht also Kündigung, Wohnungssuche und Papierkram an. Ich brauche bestimmt so was wie eine Aufenthaltserlaubnis. Das muss ich alles erst mal in Erfahrung bringen.«
»Wow. Das ging schnell.« Mein Bruder schiebt sich etwas Kimchi in den Mund, wobei er mich nachdenklich, fast besorgt mustert. Er ist eben durch und durch mein großer Bruder. »Hast du Mama und Papa schon davon erzählt?«
»Nein. Ich wollte nicht, dass sie mir da reinreden.«
Eine kleine Falte erscheint zwischen Alex’ Augenbrauen, wie immer, wenn es um unsere Eltern und mein steifes Verhältnis zu ihnen geht.
»Sie würden dir da nicht reinreden, Isa. Gib ihnen doch mal eine Chance, an deinem Leben teilhaben zu können.«
Und da ist es wieder, das einzige Thema, über das Alex und ich endlos streiten können: unsere Eltern.
»Ich erzähle ihnen schon früh genug davon«, murmele ich, den Blick starr auf meine Knie gerichtet. Als ich aufschaue, sieht Alex nicht mehr nachdenklich, sondern traurig aus.
»Wird es dir schwerfallen, zu gehen?«
Ich denke kurz über seine Frage nach, denke an Elif, Marcel und Alina, meine Freunde aus der Uni, die ich seit unserem Abschluss sowieso nur alle paar Monate sehe, weil wir alle viel zu sehr damit beschäftigt sind, Karriere machen zu wollen.
»Nein«, entgegne ich wahrheitsgemäß. »Ihr werdet mir schon fehlen, klar, aber abgesehen von dir hält mich hier nicht viel, Alex.« So war es schon immer – bis auf meinen Bruder gibt es kaum eine Konstante in meinem Leben, und ein herzliches, inniges Verhältnis wie das, was er und unsere Eltern pflegen, habe ich nie gekannt. Auch wenn ich längst erwachsen bin, tut es immer noch weh, zu sehen, wie gut Alex mit ihnen klarkommt, obwohl sie nie wirklich für uns da waren. In dunklen Momenten hasse ich ihn dafür, nur um mich selbst danach noch mehr zu hassen.
»Darauf sollten wir anstoßen.« Toni angelt nach zwei Bierflaschen auf dem Tisch und drückt mir eine davon in die Hand. »Unsere kleine Isa verlässt uns, um allein in die große weite Welt zu ziehen«, verkündet er theatralisch. »Auf Isa! Du hast bestimmt eine gute Zeit in Schweden. Du wirst uns fehlen.«
»Ihr mir auch.« Ich proste ihm zu.
»Auf dich und deinen Mut, Isa«, pflichtet Alex ihm bei und wir alle nehmen einen Schluck. »Wir sind stolz auf dich. Auch wenn ich mir deinetwegen eine neue Aushilfe suchen muss.« Seine Lippen kräuseln sich zu einem kleinen Lächeln. »Aber ich verzeihe dir. Du wirst diese schwedische Firma richtig aufmischen.«
Überwältigt von ihren liebevollen Worten richte ich mich auf und ziehe die zwei in eine feste Gruppenumarmung. »Ich werde euch so vermissen«, murmele ich, und plötzlich wird es trotz der Musik sehr still im Raum. In dieser Stille kann ich förmlich hören, wie mein Plan von Schweden Stück für Stück zur Realität wird.
»Wir müssen jeden Tag facetimen und telefonieren, okay?« Alex’ Stimme klingt belegt.
»Definitiv«, verspreche ich, jetzt ebenfalls nur noch mit mäßig fester Stimme. Als sich unsere Blicke erneut treffen, glitzern Tränen in seinen Augen.
Mahnend richte ich meine Essstäbchen auf ihn. »Wenn du heulst, heule ich auch, also lass es.«
»Ich versuche es ja!«, krächzt er und blinzelt energisch die Tränen weg.
Toni streichelt ihm über den Rücken. »Das wird schon. Hey, wenn Isa weg ist, können wir wenigstens pünktlich essen.«
Das bringt uns zum Lachen, auch wenn es die Traurigkeit nicht ganz vertreiben kann.
Wenn ich male, bin ich frei.
Es ist, als würden mich die schwarzen Kohlestriche auf dem Papier von der Realität abschneiden, mich an einen anderen, friedlichen Ort befördern, weit weg von allem, was mich einengt. Wenn ich male, ruhe ich tief in mir selbst, falle auseinander, setze mich neu zusammen und verschmelze in den Linien, Formen und Texturen meiner Kunst.
Zumindest so lange, bis man mich stört.
Die Hand, die sich wie aus dem Nichts auf meine Schulter senkt, legt mein Herz für ein, zwei Schläge lahm, dann rast es los. Ich springe auf, wirbele herum und reiße mir dabei die Overear-Kopfhörer runter. Vor mir steht ein breit grinsender Adam, die roten Locken kleben ihm nass in der Stirn.
»Whoah! Bist du verrückt geworden?«, schimpfe ich los und boxe ihm gegen den Arm, woraufhin er nur lacht und mir einen Schubser versetzt, der mich zurück auf meinen Hocker befördert.
»Sorry, wollte dich nicht erschrecken.«
»Hast du aber. Was ist denn?« Meine Stimme klingt schroffer als beabsichtigt. Adam ist mein bester Freund, doch es ist mir unangenehm, wenn jemand ungefragt mein Haus und noch dazu meinen privatesten Raum betritt. Selbst wenn dieser Jemand einen Schlüssel hat. »Kannst du nicht die Klingel benutzen wie jeder normale Mensch?«
»Stell dir vor, das habe ich an die zehn Mal getan. Vielleicht solltest du dieda zwischendurch leiser machen.« Er deutet auf meine Kopfhörer, aus denen viel zu laut Bring Me The Horizon dröhnt.
Ich kappe die Bluetooth-Verbindung auf meinem Handy und die Musik verstummt. Allmählich beruhigt sich mein wild rasendes Herz wieder. »Was gibt’s denn?«
Adam verdreht die Augen. »Wir waren verabredet, Kian. Heute ist Dark-Souls-Abend. Ist dein Hirn wirklich so ein Sieb?«
Ertappt werfe ich einen Blick auf die Uhr. Mal wieder habe ich beim Zeichnen die Zeit vergessen.
»Skit. Sorry.« Ich stehe auf, um ihn möglichst unauffällig aus meinem Arbeitszimmer zu drängen, doch Adam rührt sich nicht vom Fleck. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben steht er da, den Blick zwischen mir und meinen Kohlezeichnungen hin- und herwechselnd, als würde er einem Tennisspiel folgen.
»Wieso malst du eigentlich immer nur so düsteren Kram?«
»Weil es mir gefällt, und jetzt raus hier. Willst du ’n Bier?«
Adam grinst. »Verstehe die Frage nicht.«
Endlich lässt er sich von mir aus dem Zimmer bugsieren und ich schließe die Tür hinter uns. Mein schwarzer Husky-Mischling Caliban, der schnarchend im Flur liegt, rührt sich nicht vom Fleck, als wir über ihn hinübersteigen.
»Du bist ein mieser Wachhund«, brumme ich im Vorbeigehen und gehe die knarzende Holztreppe hinab ins Erdgeschoss. Es dämmert schon, von draußen klatscht der Regen gegen die Fenster. Der gekachelte Kamin im Wohnbereich ist beinahe ausgegangen, ich werfe zwei Holzscheite nach. Adam schält sich aus seinem durchnässten Karohemd, um es zum Trocknen über den Stuhl am Feuer zu hängen. Egal, wie schlecht das Wetter auf Gotland ist, Adam hält es fast nie für nötig, eine Jacke zu tragen.
»Wollen wir was bestellen? Du hast bestimmt wieder den ganzen Tag nichts gegessen, oder?« Er mustert mich mit forschendem Blick. »Und deine Haare könntest du dir auch mal wieder schneiden.«
»Ich mag meine Haare«, protestiere ich und fahre mir mit der kohleverschmierten Hand durch die dunkelblonde Mähne, die mir inzwischen fast bis auf die Schultern fällt. »Außerdem habe ich gegessen. Auflauf von der Nachbarin.«
»Die wahrscheinlich auch Angst hat, dass du irgendwann mal umkippst, ohne dass jemand es merkt, du elender Einsiedler-Hipster.« Adam geht an mir vorbei und öffnet den Kühlschrank, in dem bis auf Eistee, Aufstriche und ein paar Flaschen Bier gähnende Leere herrscht. Er reicht mir eine davon. Ich stelle sie auf der Anrichte ab und wasche mir in der Spüle die Farbe von der Haut. »Also: Burger oder Pizza?«
»Pizza.«
»Gute Wahl.« Adam zückt sein Handy. Bei dem magischen Wort Pizza erscheint Caliban am Fuß der Treppe und kommt schwanzwedelnd auf mich zu, um an meiner Hose zu schnuppern.
»Du hast auch Hunger, was?« Liebevoll kraule ich den Rüden hinter den Ohren und hole eine Dose Hundefutter aus dem Regal. Sofort setzt sich Caliban brav hin, wobei er in freudiger Erwartung die Ohren spitzt.
»Wie geht’s dir, Kian?«
Ich halte inne und starre in Calibans leeren Napf. Immer diese Frage, jeden Tag.
»Kann nicht klagen.« Die ehrliche Antwort ändert sich ohnehin nie, deshalb gebe ich sie auch nicht mehr. Halb rechne ich damit, dass Adam mir diese Lüge nicht durchgehen lässt, doch als ich ihn ansehe, hebt er nur eine Augenbraue.
»Und dir?«, frage ich rasch, um die schwere Stille zu füllen, die sich zwischen uns ausbreitet.
»Mir geht’s wunderbar. Das Café läuft und der Frühling bringt die Touristen her, da kann nicht mal das Sauwetter was dran ändern. Übrigens: Wann lässt du dich mal wieder in der Stadt blicken?« Adam öffnet sein Bier und wirft mir den Flaschenöffner zu.
Ich unterdrücke ein Stöhnen. »Keine Ahnung. Wieso?«
»Jedes Mal, wenn ich deine Mutter treffe, weiß ich nicht, was ich ihr sagen soll, Mann.« Er spricht mit ruhiger, beinahe vorsichtiger Stimme, als wäre ich ein rohes Ei, das jeden Moment zerspringen könnte. Ich liebe Adam, sehr sogar, aber ich ertrage es kaum, wenn er so mit mir redet. Dabei meint er es nur gut.
»Du musst ihr gar nichts sagen«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ein Wort über meine Mutter und schon ist es, als würden sich enge Stahlketten um meinen Brustkorb legen. Ich klatsche Caliban sein Futter in den Napf, während mir der Blick meines besten Freundes wie ein Schüreisen im Nacken brennt. Adam ist nicht der Einzige, der seit Monaten eine Reaktion aus mir herauszukitzeln versucht, was meine Eltern angeht. Seit ich Visby verlassen habe, um hier draußen für mich zu sein, meint jeder, mir ins Gewissen reden zu müssen. Dabei bin ich hierhergekommen, um all das endlich hinter mir zu lassen. Um meiner Familie ein für alle Mal den Rücken zu kehren. »Ignorier sie einfach.«
»Wenn sie mich auf der Straße oder im Café anspricht? Wie soll ich das denn anstellen?«
Ich drehe mich um und fasse ihn scharf ins Auge. »Ist mir egal, Adam. Aber ich will nicht darüber reden, okay?«
Anstelle einer Antwort gibt er nur ein Brummen von sich und ich bin froh, dass das Thema vorerst beendet ist.
Nachdem die Pizza geliefert wurde, ziehen wir ins Wohnzimmer um, und Adam startet die PlayStation. Caliban, der mir überallhin folgt, rollt sich auf dem alten Sessel am Fenster zusammen.
»Wie läuft’s mit Ragga?«, frage ich, während der Ladebildschirm von Dark Souls auf meinem TV erscheint.
Adam wirft mir einen raschen Seitenblick zu, ehe er verhalten mit den Schultern zuckt. »Gut, aber unverändert. Wir sehen uns regelmäßig, gehen essen und so. Bisher hat noch keiner von uns das Thema angesprochen.«
»Das Thema?«
»Was aus uns werden soll. Oder auch nicht werden soll.« Er stößt ein Seufzen aus und nimmt sich ein Stück Peperoni-Pizza aus dem Karton. »Dabei macht mich diese Ungewissheit langsam krank!«
»Wieso sprichst du es dann nicht an?«
»Keine Ahnung. Sie ist toll. Ich will sie auf keinen Fall vergraulen, indem ich einen auf Ernst mache.« Mit einem frustrierten Seufzen beißt er in die Pizza.
»Also wartest du, bis sie es tut?«
»Hör auf, mich so auszufragen, Mann«, murrt Adam mit vollem Mund. »Wir lassen es halt langsam angehen.«
Unwillkürlich muss ich schmunzeln. Es ist lange her, dass ich Adam so aufgebracht wegen einer Frau erlebt habe. Auch wenn ich ihm praktisch jedes Wort über sie aus der Nase ziehen muss – für ihn scheint Ragga etwas ganz Besonderes zu sein. Ich kenne sie nur flüchtig, sie ist eine Freundin meines Bruders.
Das Spiel startet und einige Minuten flüchten wir uns schweigend in die düstere Welt von Lordran, bis Adam erneut das Wort ergreift: »Wie sieht’s bei dir aus?«
Seine Frage trifft mich so unvermittelt, dass ich den Controller sinken lasse. »Wie meinst du das?« Ich schinde Zeit, obwohl ich eigentlich genau weiß, wie er es meint.
Adam zuckt mit den Schultern. »Na ja, fühlst du dich nach dem, was passiert ist, schon bereit für einen Neuanfang? Bezogen auf Dating?«
Neuanfang. Dating.
Wie schon zuvor ziehen sich die imaginären Ketten um meinen Brustkorb zu und machen das Atmen unmöglich. Meine Kehle fühlt sich plötzlich an wie mit Schmirgelpapier überzogen; ich nehme einen hastigen Schluck Bier, ehe ich mich zu einer Antwort durchringe. »Ich glaube, dafür brauche ich ein bisschen Zeit.«
Es ist, als würde an meiner Stelle jemand Fremdes sprechen. Ich bin selbst schuld, ich habe das Thema zuerst aufgebracht, dabei will ich das letzte Jahr einfach nur um jeden Preis vergessen und erst recht nicht über eine Zukunft sprechen, die ich nie haben werde. Dass Adam mir diese Frage stellt, ist verständlich, er sorgt sich um mich. Trotzdem fühlt es sich an, als würde er mir ein Messer in die Brust stoßen, mich in einen freien Fall stürzen lassen.
Er lächelt mich traurig an. »Das ist okay. Jeder verarbeitet Dinge anders.«
Ich nicke stumm, unfähig, noch ein weiteres Wort rauszubringen. Adam, der allmählich zu merken scheint, wie sehr mich seine Frage aufgewühlt hat, legt mir die Hand auf die Schulter. Mein Spielcharakter, der gerade tatenlos herumsteht, wird geschlagen, und auf dem Bildschirm wabern in roten Lettern die Worte YOU DIED auf. Wie passend.
In meinem Kopf brennt eine Sicherung durch. Ehe ich weiß, was ich tue, bin ich schon auf den Beinen. Der Pizzakarton rutscht zu Boden und landet auf dem Teppich.
Adam richtet sich auf, in seinen grünen Augen stehen Schreck und Sorge. »Kian. Mann. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Tut mir leid.«
»Schon gut. Caliban muss raus. Bin gleich wieder da.«
Fluchtartig verlasse ich den Raum, der Hund wie ein dunkler Schatten hinter mir. Im Flur werfe ich mir den Regenmantel über und reiße die Haustür auf.
Erst draußen im strömenden Regen kann ich wieder atmen. Caliban jault und setzt sich zu meinen Füßen auf den nassen Rasen. Seine ungleichen Augen, eins braun, eins blau, schauen fragend zu mir auf. »Na lauf schon, Junge.«
Er stürmt davon. Langsam folge ich ihm den matschigen Trampelpfad hinab, der runter zum Strand führt, wo die tosenden Wellen wütend gegen die Kreidefelsen schlagen. Die Ostsee schäumt grau und schmutzig auf und wirkt wie ein Abbild meiner Emotionen. Es ist kalt und ich friere. Der Wind zerrt mir die Kapuze vom Kopf, Regen peitscht in mein Gesicht. Für einen Moment schließe ich die Augen.
Ich muss mich endlich zusammenreißen, loslassen, neu beginnen. Sich hier draußen zu verstecken und vor sich hin zu vegetieren ist keine Lösung, das weiß ich, trotzdem ist es so verdammt schwer, aus diesem Loch zu kommen.
Dabei kann dir niemand helfen, Kian. Adams Stimme geistert durch meinen Kopf, halb übertönt vom Heulen des Windes. So beschissen das auch ist, du musst dir selbst helfen.
Du musst dir selbst helfen.
Du musst dir selbst helfen.
Du musst dir …
Einige Wochen später lande ich an einem Montag um elf Uhr vormittags auf dem Flughafen Kalmar, und nach einer dreistündigen Zugfahrt durch das Grüne erreiche ich am frühen Nachmittag das schwedische Oskarshamn. Der Ort entpuppt sich als eine malerische kleine Küstenstadt mit roten Holzhäusern und urigen Gassen, die aussieht wie eine zum Leben erwachte Postkarte. Hier werde ich mit strahlend blauem Himmel begrüßt – obwohl es ein kalter Frühlingstag ist, wärmt die Sonne mir das Gesicht, als ich den Bahnhof verlasse und mich nach dem Weg zum Hafen umsehe. Diesen zu finden ist nicht schwer, da er unverkennbar das Zentrum der Stadt ausmacht; hier reihen sich unzählige Geschäfte und Touristenangebote aneinander, überall blühen Blumen in gepflegten Hochbeeten. Das Rufen von Händlern und Stadtführern vermischt sich mit den Schreien von Möwen und dem Knarzen der Bootsmasten. Der salzige Meeresgeruch, der mir am Kai in die Nase steigt, lässt mein Herz höherschlagen. Automatisch wird mein Blick von den blauen Weiten des Horizonts angezogen, wo ein paar Schiffe zu sehen sind. Ich liebe das Meer, seine Ruhe und gegensätzliche Wildheit. Es beruhigt mich, ruft mir die Winzigkeit meiner eigenen Existenz in Erinnerung.
Die Fähre der Reederei, bei der ich vorab ein Online-Ticket zur Überfahrt nach Gotland gebucht habe, ist riesig, sodass ich zweimal nachschaue, ob es die richtige ist. Vielmehr habe ich mit einem kleinen Boot gerechnet, das schwankend und ächzend den Anker lichtet.
»Gotland?«, frage ich den Mann, der am Kai die Tickets entwertet.
»Gotland«, bestätigt er und winkt mich weiter.
»Tack.«
Ich betrete die Fähre hinter einer schnatternden Familie und gebe meinen Koffer bei einer jungen Frau ab, die mir eine gute Fahrt wünscht, zumindest glaube ich das. Abermals bedanke ich mich und nehme die Metalltreppe auf das obere Deck, wo schon einige Passagiere versammelt sind. Hier oben pustet mir der kräftige Wind die Haare ins Gesicht. Ich schließe einen Moment lang die Augen. Trotz all der Aufregung fühle ich mich wie trunken vor Glück und auch ein wenig stolz. Den Großteil meiner Reise habe ich hinter mir, habe mich sogar halbwegs verständigen können. In wenigen Minuten nähere ich mich meiner neuen Heimat, und es wird großartig werden. Heute ist der erste Tag meines neuen Lebens. Ein Jahr lang werde ich jemand anderes sein, jemand Neues, vielleicht jemand Besseres. Und obwohl mir das eine Heidenangst einjagt, stößt die Abenteurerin in mir einen stummen Freudenschrei aus.
Auf dem windigen Oberdeck sind viele Sitzplätze frei, doch mich zieht es zur Reling, wo ich mit meinem Handy ein paar Fotos von Oskarshamns Hafen und der Ostsee schieße.
Als wenig später eine für mich unverständliche schwedische Durchsage, die auf Englisch wiederholt wird, über das Deck hallt, erwacht das Schiff unter mir zum Leben, und langsam schippert die Fähre aus dem Hafenbecken in das offene Meer. Die Überfahrt von Oskarshamn nach Visby, der Hafenstadt Gotlands, wird noch einmal drei Stunden dauern, und als wir weiter draußen schließlich an Fahrt aufnehmen, pustet mir der eiskalte Wind so schmerzhaft in die Ohren, dass ich unter Deck Schutz suche. Ich nutze die Zeit, um meinem Bruder ein Update zu meiner Reise zu geben, und hänge ein Foto von Oskarshamn an. Alex reagiert sogleich und wünscht mir für meine weitere Reise alles Gute.
Je weiter wir auf das Meer hinausfahren, desto wolkiger wird der Himmel über uns, und bald darauf prasseln die ersten Regentropfen gegen die Fenster der Fähre. Der Regen verwandelt sich in der nächsten Viertelstunde in einen von stürmischen Böen begleiteten Sturzbach – es wäre wohl besser gewesen, meinen neuen Regenmantel und die Gummistiefel in mein Reiseoutfit zu integrieren. Bei dieser Witterung gerät sogar die große Fähre ziemlich ins Wanken und ich klammere mich an meinem Sitz fest, um nicht den Halt zu verlieren. Zum Glück habe ich nicht wie einige meiner Mitpassagiere mit einem empfindlichen Magen zu kämpfen, wofür ich im Stillen einen Dank an meine atheistische Vorstellung einer höheren Macht schicke.
Die Durchsage, dass wir Visbys Hafen in etwa zwanzig Minuten bei Regen und Sturm erreichen, kommt einer Erlösung gleich. Inzwischen ist mir jegliche Begeisterung für eine Schifffahrt abhandengekommen, ich will diese Fähre einfach nur so schnell es geht verlassen. Die drei Stunden haben sich angefühlt wie sechs und ich sehne mich danach, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Die übrigen Passagiere scheinen das ähnlich zu sehen, denn die zweisprachige Durchsage wird von einem kollektiven erleichterten Stöhnen begleitet.
Visbys Hafen hüllt sich in dämmrigen Nebel, als die Fähre am frühen Abend endlich dort anlegt. Bei der Gepäckvergabe kommt es zu Gedränge; ich halte mich im Hintergrund, um keine Ellbogen in die Rippen gestoßen zu bekommen. Als ich dann endlich meinen Koffer an mich nehme und in einer Traube von Passagieren zum Ausgang gespült werde, ziehe ich mir die Kapuze meines Parkas tief ins Gesicht und trete in den strömenden Regen hinaus.
Das Erste, was ich von Gotland mitbekomme, ist seine eisige Kälte. Jede Windböe schmerzt, und im Handumdrehen ist mein Parka durchnässt. Ich zerre meinen Koffer über den unebenen Asphalt, den die kleinen Rollen kaum bewältigen können. Auf den ersten Blick wirkt Visby grau und trostlos. Sofort wünsche ich mich zurück ins sonnige Oskarshamn.
Ich beeile mich, den ausgestorbenen Hafen hinter mir zu lassen und Schutz im nächsten Bushäuschen zu suchen, das am anderen Ende der Straße steht. Dort angekommen, fische ich mein Handy aus der Tasche, um die Nachrichten meiner neuen Mitbewohnerin Ragga aufzurufen, die mir den Weg vom Hafen zu ihrem Haus auf Englisch beschrieben hat. Natürlich bin ich nicht am richtigen Bushäuschen und muss die Straßenseite wechseln, wobei ein vorbeifahrendes Auto mir mit einem Schwall Pfützenwasser die Hosenbeine durchnässt. Fluchend rette ich mich unter das Dach des Bushäuschens und studiere den Fahrplan.
Ragga hat mich bereits gewarnt, dass die Busse auf Gotland nicht sehr regelmäßig fahren. Ich stoße ein resigniertes Stöhnen aus – der Bus meiner Linie lässt noch etwa eine halbe Stunde auf sich warten. Und natürlich ist weit und breit kein Taxi zu sehen, weder hier noch unten am Hafen. Seufzend lasse ich mich auf die Bank fallen und lehne mich an meinen Koffer. Allmählich wird es dunkel, die Straßenlaternen schalten sich ein. Mit der Dunkelheit kommt auch die Erschöpfung; ich bin müde, hungrig und friere vor Kälte und Nässe. Es war eine verdammt lange Reise, und sie ist immer noch nicht zu Ende.
Mit zitternden Fingern schreibe ich Ragga eine Nachricht, dass ich auf den Bus warte. Kurz darauf antwortet sie und entschuldigt sich dafür, mich nicht abholen zu können, da sie noch arbeitet. Wie ich von unseren Skype-Gesprächen weiß, arbeitet sie als freie Grafikerin und hat früher als Sprachcoach gearbeitet, was die Hoffnung in mir weckt, dass sie mir mit meinen Schwedisch-Kenntnissen vielleicht auf die Sprünge helfen könnte. Vorausgesetzt, wir verstehen uns auch im echten Leben.
Von der Haltestelle Endrevåg aus sind es laut Raggas Infos noch etwa vier Minuten Fußweg zu ihrem Haus, in dem ich ein möbliertes WG-Zimmer beziehen werde. Nachdem ich aus dem Bus gestiegen bin, finde ich mich in einer ruhigen Wohngegend mit gepflegten Einfamilienhäusern wieder, die auf einer leichten Anhöhe liegt. Trotz des Unwetters ist von der Straße aus der hell erleuchtete Hafen zu sehen und tagsüber sicher auch das Meer.
Der starke Regen macht es mir unmöglich, die Hausnummern der umliegenden Häuser zu erkennen, also rufe ich Google Maps auf meinem Handy auf und folge blind der Navigation, Auslandsflat sei Dank. Dabei gebe ich mein Bestes, mein Handy irgendwie vor den Wassermassen zu schützen, was eher schlecht als recht funktioniert. Tatsächlich liegt mein Ziel aber nicht weit entfernt, und als ich endlich in die Einfahrt eines weißen zweistöckigen Holzhauses einbiege, hat meine Odyssee ein Ende.
Ich schleppe mich und meinen Koffer die drei Stufen zur überdachten Veranda hoch und atme erleichtert durch, als mir das Klingelschild verrät, dass ich richtig bin. Mit ein wenig Verzögerung flammt die durch einen Bewegungsmelder gesteuerte Beleuchtung auf. Allerdings liegt das gesamte Haus im Dunkeln da, und die böse Ahnung, dass Ragga noch nicht hier ist, bestätigt sich, als eine Nachricht auf meinem Handy aufleuchtet, in der sie verspricht, in spätestens zehn Minuten da zu sein. Dann verabschiedet sich der Akku meines Telefons.
Völlig erschöpft und immer noch zitternd vor Kälte sinke ich auf die Holzbank neben der Haustür, um abermals zu warten. Das Licht geht wieder aus, Dunkelheit umhüllt mich. Mit Mühe halte ich die Tränen zurück, die mir in den Augen brennen, doch ich werde mich hüten, jetzt wie ein Kind loszuheulen, nur weil meine Ankunft nicht so verlaufen ist, wie ich es mir vorgestellt habe.
Und weil diese Insel nicht so ist, wie ich sie mir vorgestellt habe.
Plötzlich regen sich wieder Zweifel in mir, die seit meiner Ankunft am Flughafen schon die ganze Zeit über leise auf mich eingeflüstert haben. Zweifel an allem, an meiner Reise, meinem neuen Job, mir selbst. Vielleicht bin ich all dem hier nicht gewachsen und werde schneller wieder nach Deutschland abhauen, als ich Knäckebrot sagen kann. Wie eine Versagerin. Ich werde Hendrik Svensson enttäuschen, genau wie Professor Walther und obendrein noch mich selbst. Ich habe zu vorschnell gehandelt, das Angebot überstürzt angenommen. Was habe ich mir nur dabei gedacht, allen Ernstes hierherzukommen? Ich spreche weder die Sprache dieses Landes noch weiß ich, worauf ich mich wirklich eingelassen habe. Bisher ist diese Insel ein einziger Albtraum und womöglich steht mir ein furchtbares Jahr bevor.
Ich blicke auf, als die Scheinwerfer eines Wagens die Einfahrt erhellen. Der Motor stoppt, das Zuknallen einer Wagentür ertönt und jemand platscht über den nassen Asphalt auf die Veranda zu.
»Hej!« Das Licht des Bewegungsmelders flammt wieder auf und präsentiert mir das breite Grinsen meiner neuen Mitbewohnerin. »Tut mir so leid, dass du warten musstest, Isabell! Ich bin gekommen, so schnell ich konnte. Ich bin Ragga, hi!«
Ragga, eine hochgewachsene, blonde Schönheit mit stechend grauen Augen und tätowiertem Hals, eilt auf mich zu und reicht mir die Hand. Ihr Akzent klingt weich und angenehm, wie schon bei unseren Online-Gesprächen ist sie mir auf Anhieb sympathisch.
»Hi. Nenn mich ruhig Isa, das tun alle«, krächze ich mit belegter Stimme. Ragga nickt, schnappt sich meinen Koffer und schließt die Haustür auf.
»Komm schnell rein, ich schmeiß den Kamin an und koche dir einen Tee, du siehst ja halb erfroren aus.«
»Danke.« Ich betrete hinter ihr das Haus und befreie mich von meinem nassen Parka und den Stiefeln.
»Wir packen alles in die Dusche, damit es abtropfen kann«, entscheidet Ragga kurzerhand, nimmt mir meine Sachen ab und öffnet die erste Tür im Flur. »Das hier ist übrigens das Gästebad und … Ach, ich zeige dir lieber alles, wenn du trocken bist!«
Ich höre, wie sie meine Schuhe und die Jacke in die Dusche wirft. Dann huscht sie in den großen Wohnraum, in dem Küchenzeile, Wohn- und Esszimmer miteinander vereint sind. Ich folge ihr.
»Möchtest du Kräuter- oder Früchtetee? Ich setze schnell Wasser auf und hole dir dann trockene Sachen, dein Koffer ist ja auch nass, den stellen wir gleich vor den Kamin, wenn ich ihn angemacht habe«, plappert sie, füllt einen großen Teekessel mit Wasser aus dem Hahn und stellt ihn auf den Gasherd.
»Kräutertee bitte.«
Sie strahlt. »Bin sofort zurück.«
In beeindruckendem Tempo geht sie die helle Holztreppe in das obere Stockwerk hinauf. Kurz darauf kehrt sie mit einem Paar dicken Wollsocken, einer Yogahose und einem Sweatshirt zurück.
»Hier, zieh dich im Gästebad um.« Sie reicht mir die Sachen.
»Vielen Dank, Ragga, das ist sehr nett von dir«, stammele ich, halb überwältigt von der Fürsorge, die sie mir nach so kurzer Zeit schon entgegenbringt.
Sie winkt grinsend ab. »Ach, dank mir nicht. Wir sind doch jetzt Mitbewohnerinnen. Ich freue mich, dass du da bist, Isa.«
Ich lächele sie an. »Ich freue mich auch.«
Wenige Minuten später sitze ich mit einer großen Tasse Kräutertee und trockenen Sachen vor dem Kamin, der inzwischen munter vor sich hin knistert und den Raum in ein gemütliches, warmes Licht taucht. Allmählich tauen meine Füße auf und auch meine aufgewühlten Emotionen haben sich beruhigt. Ragga, die sich ebenfalls umgezogen hat und jetzt eine hellgraue Yogakombi trägt, setzt sich neben mich auf den flauschigen Teppich und prostet mir mit ihrer Tasse zu.
»Skål. Das heißt Prost auf Schwedisch. Und noch mal: Schön, dass du da bist. Ich glaube, wir werden eine gute Zeit zusammen haben.«
»Skål.« Die Keramikränder unserer Tassen berühren sich und ich erwidere Raggas Lächeln. »Das glaube ich auch.«
Tatsächlich tue ich das. Innerhalb weniger Minuten hat Ragga es geschafft, dass ich mich in ihrem Haus rundum wohlfühle, trotz meiner holprigen Anreise und obwohl ich noch nicht einmal mein Zimmer gesehen habe. Die Aussicht, das nächste Jahr mit ihr hier zu leben und sie näher kennenzulernen, bringt ein warmes Gefühl in meiner Magengegend mit sich, das nicht allein vom Tee kommt. Im Gegensatz zu meiner neuen Heimat habe ich wenigstens Glück mit meiner Mitbewohnerin.
»Und, freust du dich auf deine Zeit auf Gotland?«, fragt Ragga, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Ich spüre, wie mein Lächeln ein wenig verrutscht, und setze schnell die Tasse an die Lippen, ehe ich mit einem verhaltenen »Jaah« antworte, das sowieso niemanden überzeugen kann.
Sie runzelt mitfühlend die Stirn. »Deine Ankunft war nicht gerade toll, ich weiß, aber warte bis morgen früh mit deinem Urteil ab. Ich muss erst nachmittags ins Büro und zeige dir die Insel, wenn du willst. Bis dahin ist dieses Mistwetter hoffentlich vorbeigezogen. Wie klingt das?«
»Gar nicht so schlecht. Danke, Ragga.«
Sie strahlt. »Cool! Es wird dir hier gefallen, ganz sicher. Hey, du hast doch bestimmt Hunger, oder?«, wechselt sie das Thema, bevor ich etwas erwidern kann. »Ich habe extra eingekauft. Was hältst du von vegetarischer Bolognese?«
»Klingt fantastisch.« Mein Magen, der heute nicht mehr als einen Kaffee, ein Sandwich und einen Orangensaft bekommen hat, knurrt bei der Erwähnung von Essen sehnsüchtig. »Kann ich dir helfen?«
»Klar, du kannst das Gemüse schnippeln.«
Wir stehen auf und ich folge Ragga in die Küche, wo sie den Kühlschrank öffnet und die Zutaten herausnimmt. »Eigentlich bin ich keine sonderlich gute Köchin, aber ein paar Rezepte habe ich drauf.«
»Geht mir auch so.« Ich nehme das Schneidebrett und die Zwiebel entgegen, die sie mir reicht, und lege beides auf die Arbeitsplatte. »Vielleicht ergänzen sich unsere Gerichte ja gut. Wir könnten uns mit dem Kochen abwechseln, wenn du möchtest.«
»Unbedingt!«
Nachdem das Essen fertig ist und jeder von uns zwei Teller von Raggas köstlicher Bolognese verdrückt hat, zeigt sie mir den Rest des Hauses. Ragga bewohnt ein traditionelles, modernisiertes Schwedenhaus, in dem fast alles aus hellem Holz gebaut ist. Mir gefällt ihre gemütliche, moderne Art zu wohnen sehr. Wie praktisch, dass sie gerade jetzt auf der Suche nach einer Mitbewohnerin war, um eine WG zu gründen und eine neue Freundschaft zu knüpfen. Ihre Ebay-Anzeige kam wie gerufen.
Mein Zimmer befindet sich im ersten Stock mit Blick zur Hafenseite der Insel und hat sogar ein angrenzendes Bad. Als ich mein neues Heim betrete, entfährt mir unwillkürlich ein leises »Wow«. Ragga, die offensichtlich ein echtes Händchen für schlichte, aber stilvolle Einrichtung hat, hat selbst aus dem freien Zimmer etwas ganz Besonderes gemacht: Der Raum mit dem hellen Holzboden und den weißen Wänden ist sparsam eingerichtet, trotzdem hat jedes Möbelstück seinen Platz. Der Kleiderschrank, das Bett, der Schreibtisch, die Regale. Alles ist in Weiß gehalten, nur der flauschige Teppich vor dem Bett, die Bettwäsche und die Stoffvorhänge am Fenster sind von einem warmen Beige. Über dem Bett hängt ein großes Bild, das einen Tannenwald zeigt und mir auf Anhieb gefällt. Zusätzliche Farbtupfer bieten verschiedene Pflanzen auf der Fensterbank und eine bauchige Vase, in der künstliche Kirschblütenzweige stecken.
»Gefällt es dir?« Ragga, die mit verschränkten Armen im Türrahmen steht, zuckt mit den Schultern. »Du kannst es dir natürlich so einrichten, wie du möchtest. In Visby gibt es ein Ikea, wir könnten …«
»Es ist perfekt«, unterbreche ich sie und grinse dabei wie ein Honigkuchenpferd. »Wirklich! Ich liebe es.«
Ragga wirkt sichtlich erleichtert. »Das freut mich. Bevor ich mich dazu entschieden habe, mir einen Untermieter zu suchen, war das hier mein Gästezimmer. Ich habe also nicht viel verändert.«
»Es ist toll.« Ich lasse den Blick abermals durch mein neues Reich schweifen und genieße das Gefühl der Zufriedenheit, das mich dabei durchströmt. »Wie kommt es eigentlich, dass du mit sechsundzwanzig schon ein eigenes Haus hast?«, frage ich neugierig. Ich selbst bin nur zwei Jahre jünger als sie und ein Hauskauf kommt mir utopisch weit weg vor.
Ragga lächelt. »Ach, das war ein Glücksgriff. Das Haus gehörte vorher einer älteren Frau, die aufs Festland zu ihrer Familie gezogen ist. Sie hat es mir günstig verkauft. Warte, ich bringe dir deinen Koffer hoch.« Sie verschwindet und kehrt kurz darauf mit meinem riesigen Gepäckstück zurück, das sie irgendwie die Treppe hinaufgewuchtet hat. »Am besten packst du direkt aus und siehst nach, ob im Koffer nichts nass geworden ist.«
Völlig perplex starre ich sie an. »Das wäre doch nicht nötig …«
»Psst! Habe ich gern gemacht. Wenn du noch was brauchst, sag mir Bescheid, ich bin entweder unten oder in meinem Schlafzimmer. Gute Nacht, Isa.«
»Gute Nacht, Ragga. Und danke. Für alles.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, atme ich ein paarmal tief durch. Dann stecke ich mein Handy an die Ladestation und schreibe Alex, dass ich heil angekommen bin. Auch meinen Eltern hinterlasse ich eine knappe Nachricht. Vielleicht hat Ragga recht; morgen früh sieht die Welt schon anders aus und Gotland präsentiert sich mir von einer besseren Seite. Zumindest hoffe ich das.
Obwohl ich hundemüde bin, befolge ich Raggas Ratschlag und packe meinen Koffer aus, dessen Inhalt glücklicherweise trocken geblieben ist, und hänge die Kleidung in den Schrank. Danach schlüpfe ich in meinen Pyjama, putze mir die Zähne und falle ins Bett, während draußen noch immer der Sturm um das Haus heult.
Am nächsten Morgen steckt mir die anstrengende Anreise merklich in den Knochen. Als Allererstes telefoniere ich mit Alex, um ihm abermals zu versichern, dass es mir gut geht. Auch meinen Freunden in Köln schreibe ich ein paar Nachrichten, dass ich gut in Schweden angekommen bin. Nachdem ich geduscht und meinen wärmsten Pullover sowie eine dicke Beanie angezogen habe, fahre ich meinen Laptop hoch, um mich direkt um die wichtigste Bürokratie zu kümmern. Eine schwedische Steuernummer beantrage ich online und fülle das Formular der Krankenkasse aus, die ich mir schon in Deutschland rausgesucht habe. Zu guter Letzt buche ich mir einen Termin beim Bürgeramt in Visby.
Nachdem die Formalitäten erledigt sind, gehe ich nach unten, wo Ragga schon in der Küche herumhantiert und eine große French Press mit Wasser füllt.
»Hey.«
»Guten Morgen. Bist du bereit für die Inselführung?« Ragga strahlt und sieht an mir hinunter. »Richtig angezogen bist du schon mal. Für April lassen die warmen Temperaturen ziemlich lange auf sich warten.«
»Wenigstens regnet es nicht mehr«, entgegne ich und lasse mir von ihr zwei Tassen reichen, die ich zum Esstisch hinübertrage. »Uns kann also nichts aufhalten, oder?«
»Verdammt richtig.«
Ragga kommt mit der Kaffeekanne und zwei Milchkartons an den Tisch und setzt sich zu mir. »Ich habe eigentlich immer Kuh- und Hafermilch da. Was trinkst du lieber?«
»Hafermilch bitte.«
»Kriegst du.«
Sie reicht mir den Karton und greift nach einer Flasche mit Pumpverschluss, die neben einer großen Vase mit Tulpen in der Mitte des Tisches steht. »Und ich habe noch diesen Sirup, ich bin süchtig nach diesem Zeug. Das ist …«
»Karamellsirup?« Ungläubig wandert mein Blick von der Flasche zu ihr. »Ich liebe Karamellsirup im Kaffee!«
Ragga grinst. »Dann haben wir ja schon mal etwas gemeinsam, Isa.« Sie pumpt eine großzügige Menge des goldenen Safts in ihren Kaffee, kippt Milch dazu und reicht die Flasche dann an mich weiter.
Nachdem auch ich meinen Kaffee mit Sirup und Hafermilch angereichert habe, nehme ich einen Schluck. Das fertige Ergebnis schmeckt beinahe so gut wie meine Lieblingskreation im Naked Cat, was einen kurzen Anflug von Heimweh über mich hineinbrechen lässt, doch ich schiebe diese Regung schnell beiseite. Ich freue mich auf den Tag mit Ragga, und vielleicht ist die Insel nicht so furchtbar, wie ich bisher angenommen habe.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass wir erst in der Altstadt richtig frühstücken«, sagt sie. »Dort gibt es ein Café, das ich dir gern zeigen würde. Es hat die besten Lussekatter.«
»Lussekatter?« Ich verkneife mir ein Lachen, denn an den komischen Klang mancher schwedischer Wörter muss ich mich definitiv gewöhnen.
»Ein schwedisches Hefegebäck. Du wirst es lieben!«
Eine halbe Stunde später sitzen wir in Raggas weißem Volvo und fahren hinunter zum Hafen. Obwohl es nach wie vor trocken ist, zeigt sich der Himmel über uns noch immer wolkenverhangen und grau, weswegen ich den neuen Regenmantel trage. Auch Ragga ist mit Mütze und einer wasserdichten Windjacke bekleidet, die von einem schlichten Schwarz ist und ihr so gut steht, dass ich mir mit meinem kanariengelben Exemplar fast ein wenig albern vorkomme.
Sie stellt ihren Wagen auf dem Hafenparkplatz ab und wir steigen aus. Bei Tageslicht wirkt der Kai mit den vielen Segel- und Fischerbooten schon nicht mehr ganz so trostlos wie gestern – überall tummeln sich Fischhändler und Hafenarbeiter. Trotz der frühen Stunde brutzeln in den Fischbuden schon die Backfische in den Fritteusen und verströmen einen durchdringenden Geruch. Die Ostsee klatscht gräulich und schaumig gegen den Kai, der starke Wellengang lässt die wenigen Schiffe und Fähren, die heute rausfahren, wild hin und her schwanken. Der Wind, der mir ins Gesicht weht, riecht salzig.
»Da wären wir«, sagt Ragga und erscheint an meiner Seite. »Vom Hafen aus geht es in die Altstadt, da drüben.« Sie deutet auf einen mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Weg hinter einem blühenden Tulpenbeet, der in eine schmale Gasse zwischen einigen Geschäften führt. »In Visby sind viele mittelalterliche Gebäude erhalten, sogar die alte Stadtmauer. Das ist sicher interessant für dich, du bist doch Architektin, oder?«
Ich nicke, positiv überrascht, dass Ragga sich meinen Beruf gemerkt hat. »Genau. Lass uns gehen, jetzt hast du mich neugierig gemacht.«
Seite an Seite schlendern wir durch den geschäftigen Hafen auf die Altstadt zu. Ragga hat recht, hier entdecke ich tatsächlich einige interessante Bauwerke, die mein Architektinnenherz höherschlagen lassen. Besonders die mittelalterliche Stadtmauer, die alten, charmanten Schwedenhäuschen und der Dom zu Visby beeindrucken mich. Völlig verzaubert von diesem Anblick mache ich ein paar Fotos und ziehe automatisch meinen Skizzenblock aus der Tasche, um mit schnellen Linien den einzigartigen Torbogen der Ringmauer anzudeuten.
»Was ist das?« Ragga zeigt auf das Büchlein in meinen Händen.
»Oh, das ist mein Skizzenblock, den habe ich immer dabei. Wenn ich Bauwerke sehe, die mich beeindrucken, skizziere ich sie hier drin, um mir ihre Strukturen zu merken. Irgendwann arbeite ich hoffentlich an eigenen Entwürfen, dann möchte ich mich von ihnen inspirieren lassen.«
Ragga lächelt. »Cool. Darf ich mal sehen?«
Ich reiche ihr den Block und sie blättert sich durch die ersten Seiten, die hauptsächlich Gebäudeskizzen von Bauwerken in Köln und der Umgebung zeigen. Sie stößt ein beeindrucktes Pfeifen aus, ehe sie mir den Skizzenblock zurückgibt. »Sieht toll aus, Isa. Du zeichnest echt gut.«
Sofort spüre ich, wie mir die Röte in die Wangen steigt, wie immer, wenn jemand mein Talent lobt. »Danke. Aber das muss ich für meinen Job ja auch.«
»Wann fängst du dort an?«