DAS DING AUS DEM SEE - Greig Beck - E-Book

DAS DING AUS DEM SEE E-Book

Greig Beck

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Beschreibung

DAS DING AUS DEM SEE – ein invasiver Alien-Horror vom internationalen Bestsellerautor Greig Beck. Jahrhundertelang wuchsen Legenden über verschwundene Menschen, über seltsame, entstellte Tiere und über ein unerklärliches Leuchten in den Tiefen des Sees. Als Marcus Stenson den lukrativen Auftrag ergattert, eine Stör-Fischzucht auf dem Gelände einer stillgelegten Papierfabrik am Ufer des Baikalsees zu errichten, glaubt er, das große Los gezogen zu haben. Er weigert sich, den schaurigen Volksmärchen Gehör zu schenken oder sich wegen gelegentlicher Schikanen der örtlichen Mafia zu sorgen. Doch dann werden verstümmelte Tiere im gefrorenen Wald gefunden und Menschen verschwinden. Und schlimmer noch – manche kommen schrecklich verändert zurück. In den Tiefen des Sees regt sich etwas Unirdisches, das hunderttausend Jahre lang gewartet hat. Und die Menschheit wird sich in bloße Wirtskörper verwandeln.

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   Das Ding aus dem See

Greig Beck

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: THE SIBERIAN INCIDENT. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2019. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE SIBERIAN INCIDENT Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Madeleine Seither Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-536-1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Das Ding aus dem See
Impressum
PROLOG
EPISODE 01
KAPITEL 01
KAPITEL 02
KAPITEL 03
KAPITEL 04
KAPITEL 05
KAPITEL 06
KAPITEL 07
KAPITEL 08
KAPITEL 09
EPISODE 02
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
EPISODE 03
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
EPISODE 04
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
EPISODE 05
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
EPILOG
Über den Autor
»Wir wissen mehr über die Oberfläche des Mondes 
als über das Blaue Auge Sibiriens (den Baikalsee).«

WIR WAREN NIE ALLEIN

PROLOG

Baikalsee, Südsibirien – vor 100.000 Jahren

Das Objekt drang dort in den südlichen Teil des sechshundertdreiundsiebzig Kilometer langen Sees ein, wo er am tiefsten war, etwa eintausendsechshundert Meter – über anderthalb Kilometer hinunter an einen Punkt, wo es dunkler war als die Nacht, mit zermalmenden Tiefen und permanenter, unerträglicher Kälte. Sein heftiger Einschlag zerschmetterte die Eisschicht des Sees und brachte sie zum Schmelzen, und Blitz und Überschallknall erzeugten eine Druckwelle, die so groß war, dass sie die Bäume Dutzende Kilometer um den See herum umknickte, und sie riefen eine fünfzehn Meter hohe Verdrängungswelle hervor, die landeinwärts wuchs und den Großteil der tief liegenden Küstenlinie in einen unpassierbaren Sumpf verwandelte.

Riesige Luftblasen sprudelten noch tagelang an der Oberfläche und die Kolonien der seltenen Süßwasser-Baikal-Robben weigerten sich, ihre trockenen Sitzplätze zu verlassen, bis der nahende Hungertod sie schließlich ins Wasser zurückzwang.

Der Homo sapiens hielt sich bereits seit über 250.000 Jahren in Sibirien auf, und eine kleine Gruppe von ihnen beobachtete das Phänomen argwöhnisch. In jener Nacht, in ihrer Höhle zusammengekauert, verspürten sie den Drang, das Gesehene auf den umliegenden Wänden aufzuzeichnen, doch ihre Wissbegierde war sowohl Fluch als auch Segen. Am nächsten Tag machte sich ein kleiner Kriegertrupp auf einen Erkundungsgang zum See.

Viele Tage später kehrte von den sechs fortgegangenen Kriegern nur noch einer zurück. Doch er war nicht mehr derselbe Mann wie bei seinem Aufbruch. Es wurde klar, dass sie Zeuge von etwas Schrecklichem geworden waren.

An diesem Abend bebte die Erde. Der Clan kauerte sich im hinteren Höhlenende zusammen und war vollkommen handlungsunfähig, während die Welt um sie herum zusammenstürzte.

Jahreszeiten kamen und gingen und irgendwann verheilten die Narben in der Landschaft. Die Tiere kehrten zurück, neue Pflanzen wuchsen und das Wasser des Sees beruhigte sich wieder und klarte auf. Das Eis schloss sich über der Einschlagstelle wie Schorf über einer Wunde und die Natur vergaß mehr und mehr. Doch tief unten, in den erbarmungslosen, dunklen Tiefen, vergaß der See niemals.

EPISODE 01

KAPITEL 01

Südöstliche Küste des Baikalsees – 2. Jahrhundert vor Christus

Der Krieg tobte beinahe zweihundert Jahre lang. Blutige Schlachten wurden zwischen der chinesischen Han-Dynastie und dem Stammesverband der Xiongnu ausgetragen, doch für einen letzten Sturmangriff hatte Huo Qubing von der Han-Dynastie eine der größten Armeen aufgestellt, die man seit über einem Jahrhundert gesehen hatte.

Er marschierte anschließend mehr als tausend Meilen weit, um die Streitkräfte des Edlen Prinzen des Ostens anzugreifen. Huos Armee kreiste ihren Feind rasch ein und überrannte ihn. Sie tötete über siebzigtausend Männer an einem einzigen Tag und trieb die übrigen auseinander.

Huos Truppenführer versammelten sich später und General Wei Qing verneigte sich vor ihm, bevor er sagte: »Du hast gesiegt, mein Herr.«

Huo Qubing grunzte und blickte über eine fast endlose Ebene zerschmetterter Leichen. Die Kälte hielt den Gestank zwar gefangen, doch noch immer stieg Dampf wie winzige, scheidende Seelen von den zerfetzten Körpern auf.

»Ich bin nicht nur hergekommen, um zu siegen, sondern auch, um unsere Feinde für alle Zeiten zu vernichten.« Er wandte sich nun wieder seinen Generälen zu. »Tötet sie alle.«

Und so wurden die Überreste der Xiongnu-Armee bis zum Ufer eines eisigen Binnenmeeres verfolgt, das eines Tages als Baikalsee bekannt werden würde. Dort wurden die verbliebenen tausend Xiongnu-Krieger bis auf den letzten Mann abgeschlachtet.

Vor der Rückkehr nach Hause befahl Huo Qubing, dass Vorräte aus den Wäldern beschafft werden sollten. Fleisch von Wild, Bären, Pferden der Xiongnu, und sogar von Wölfen.

Während der folgenden Tage wurden die Männer rastlos und Gerüchte über einen großen Aufruhr draußen auf dem gefrorenen See verbreiteten sich. Sie vernahmen knackende Geräusche und planschendes Wasser in den dunkelsten Nachtstunden, dann begannen plötzlich Männer zu verschwinden – zuerst nur wenige, doch dann immer mehr … und immer nur dann, wenn die Nacht am dunkelsten war. Bald darauf waren Hunderte Han-Krieger verschwunden.

»Deserteure«, verkündete Huo Qubing daraufhin. »Wenn ihr sie findet, exekutiert sie.«

Doch dies diente nur dazu, die Nerven der Männer zu beruhigen, denn keiner der Verschwundenen wurde je wieder gesehen. Und dann gab es noch die Spuren.

Man hatte ihm seltsame Abdrücke gezeigt, die vom See her kamen und wieder zurückführten, zu der Stelle, wo das Eis aufgebrochen war. Huo hatte daraufhin Wachen postiert, doch als zwei seiner getreuesten Männer verschwanden, schloss er sich persönlich der Suche an und folgte den Abdrücken ihrer nackten Füße – bis sie auf eine grausame Scheußlichkeit stießen.

Huo Qubing schluckte schwer, bemühte sich aber, seine Miene unter Kontrolle zu halten, während er auf den Haufen menschlicher Eingeweide und Organe am Seeufer starrte. Er hatte Innereien von Männern schon zuvor gesehen, doch das Unerklärliche an dieser Sache war, dass die Spuren ins dunkle Wasser führten, so als wären die Männer ausgeweidet worden und dann einfach weitergelaufen, als sei nichts geschehen.

In diesem Moment wusste der große Heerführer, dass seine Männer von etwas Bösem ergriffen und in die gefrorenen, tintenschwarzen Tiefen hinabgezogen worden waren. Gegen eine Armee konnte er Krieg führen und siegen, doch er konnte nichts bekämpfen, das er nicht einmal sehen konnte.

Er befahl der Armee, das Lager unverzüglich abzubrechen, und sie marschierten fort. Niemand sprach darüber, was geschehen war, und nach einer Weile wollte das auch niemand mehr.

KAPITEL 02

Boca Ciega Avenue, Madeira Beach Florida – heute

»Ja!« Marcus Stenson legte den Hörer auf und drehte sich zu seiner Frau um, bis über beide Ohren grinsend.

Sara ballte die Hände zu Fäusten. »Hast du ihn?«

Marcus wartete ein paar Sekunden, um die Spannung zu vergrößern, bevor er rief: »Wir haaaben ihn.« Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Ein Fünf-Jahres-Vertrag, mit stillschweigender Verlängerung und weltweiten Rechten.«

Sara sprang in die Höhe. »Ja!« Sie rannte zu ihm, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Dann hielt sie ihn auf Armeslänge von sich weg. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Jetzt geben wir erst mal Geld aus … und zwar jede Menge Geld.« Marcus ging den Businessplan in seinem Kopf noch einmal gedanklich durch.

Der Fünf-Jahres-Vertrag galt für das Züchten des bedrohten Beluga-Störs im unberührten, eiskalten und abgeschiedenen Wasser des Baikalsees in Südsibirien. Diese alte Fischart starb nämlich langsam aus, und die russische Regierung suchte händeringend nach Lösungen, um der Spezies neues Leben einzuhauchen. Marcus hatte ein Angebot eingereicht, das ein Zuchtprogramm beschrieb, welches sich innerhalb von fünf Jahren bezahlt machen und eine gesunde Fischpopulation sowohl für die Wiederbesetzung der Seen als auch für die nachhaltige Zucht hervorbringen würde.

Er hatte bereits Hunderttausende Dollar seines eigenen Geldes investiert, um eine alte, stillgelegte Papiermühle und das umliegende seeseitige Grundstück zu erwerben. Dann hatte er noch mehr Geld ausgegeben, um sich einen Weg durch das Bürokratie-Labyrinth des russischen Staatsdienstes zu bahnen und um sicherzustellen, dass alle politische Spenden, Sondergebühren und Geschenke auch in die richtigen Hände flossen.

Er drehte sich um und hielt einen Finger in die Höhe. »Als Erstes müssen wir jetzt unsere Lieferanten vom Laich und den Beluga-Stören im Fortpflanzungsalter kontaktieren und alle Versprechen, die man uns gegeben hat, offiziell machen.«

»Wie lange bleibt uns, bis …?« Sara zog die Augenbrauen hoch.

Er lächelte, weil er genau wusste, was sie fragen wollte: Wie viel Zeit blieb ihr, bis sie beide dort leben mussten, vielleicht sogar auf Dauer.

Marcus holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Na ja, ich muss nächste Woche erst mal hin und den Stein ins Rollen bringen. Die Störe können erst kommen, wenn wir die Gehege aufgestellt haben, und die sind noch nicht gebaut. Tatsächlich ist noch fast gar nichts gebaut. Ich muss wohl ortsansässige Handwerker suchen und einstellen, da es Teil meiner Angebots-Abgabe war, Arbeitsplätze für die Kommune zu schaffen. Außerdem müssen wir geeignete Gehege-Standorte finden, die sauber und abgelegen genug sind, um zu gewährleisten, dass es keine Kreuzkontamination mit den örtlichen Stör-Arten gibt, die mit Parasiten und Infektionen gespickt sein könnten.«

»Und was machst du in deiner zweiten Woche?«, fragte Sara grinsend.

Marcus lachte und breitete die Arme aus. »Angeln, natürlich.«

In Wahrheit musste er ungefähr eine Million Dinge erledigen, aber auf dem Papier wirkten sie alle durchführbar. Jetzt, da er den Schalter umlegen und seine Pläne in die Tat umsetzen musste, fühlte er sich allerdings ein wenig überfordert.

»Sobald ich dann alles Wesentliche aufgebaut habe, kommst du nach.«

»Und wie lange dauert das?« Sie hob ihr Kinn.

»Vielleicht drei Monate.« Er sah zu ihr auf. »Ist das machbar?«

Sara hatte Biologie studiert, war aber schon früh ins Geschäftsleben gelockt worden. Jetzt führte sie eine Vertriebsberatung, und er wusste, dass sie die Idee, sich aus der aktiven Leitung zurückzuziehen und ihren Stellvertreter die Firma für sie führen zu lassen, schon zur Sprache gebracht hatte. Auch wenn er der Experte für Meeresbiologie war, brauchte er sie bei sich, denn sie war klug, entschlossen und noch dazu eine exzellente Wissenschaftlerin und diejenige mit dem Geschäftssinn. Er war eher ein Träumer, sie die mit dem Blick für Details und Klarheit.

»Drei Monate?« Sie nickte. »Ja, das ist machbar, sogar spielend.« Sie neigte den Kopf. »Werden wir dann im Mühlenhaus wohnen?«

»Ja und nein. Nicht in der Mühle selbst, sondern im Haus des Managers. Bis du ankommst, werde ich es allerdings in einen Palast verwandelt haben.« Er grinste und bemühte sich, zuversichtlich zu wirken.

»Ein Palast, hm?«

Er nickte langsam. »Jap … einer Königin würdig.«

Sie rümpfte die Nase. »Kannst du wenigstens dafür sorgen, dass es drinnen warm ist?«, fragte sie mit einem kleinen Lächeln.

»So warm wie in Florida?« Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ich werde mein Bestes tun.«

Marcus wusste, dass ihr die Kälte einige Sorgen bereitete, schließlich war das Sibirien. Im Sommer war das Seewetter größtenteils warm und mild, unten am Südzipfel gingen die Menschen sogar schwimmen, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen und blauen Lippen.

Unglücklicherweise lag der Ort, an dem sie wohnen und arbeiten würden, weiter nördlich, wo den größten Teil des Jahres über sowohl das Klima des Seegebiets eiskalt war, als auch die Oberfläche des Sees gefroren blieb. Er hatte Berichte gehört, denen zufolge, die Eisschicht des Sees im Winter, wenn es richtig kalt war, bis zu drei Meter dick wurde.

Er sah, dass sich Sara jetzt dem Fenster zugewandt hatte und hinaus über den üppigen grünen Rasen zum funkelnd blauen Wasser des Golfs von Mexiko blickte. Madeira Beach war wunderschön und sie war nun mal ein Strandmädchen durch und durch, daher wusste er, dass sie es dort, wo sie hingingen, schwer haben würde. Sie drehte sich nun mit in die Hüfte gestemmten Händen zu ihm um.

»Solange das Dach nicht leckt und man die Hütte heizen kann, bin ich dabei. Aber denk dran, Freundchen, wir kommen aus Florida und die Mühle steht in Sibirien.«

»Natürlich, keine Sorge.« Er zuckte mit den Schultern. »Wann habe ich dich denn je enttäuscht?«

Sie neigte lächelnd den Kopf. »Tja, da war dieses eine Mal    …«

»Okay, okay.« Er griff nach ihrer Hand und zog sie näher zu sich. Er küsste sie innig, und presste sie dann enger an sich. »Es wird hart werden, das stimmt, aber wir können es schaffen.«

Sie tastete zwischen ihren Körpern hinunter. »Ich glaube, hart ist es schon.« Sie sah ihn mit Verlangen in den Augen an.

»Ich habe schon befürchtet, dass dir das nie auffallen würde.« Er küsste sie erneut.

KAPITEL 03

9.000 Meter über dem Pazifischen Ozean

Marcus saß auf seinem Fensterplatz in der Businessclass. Er hatte genug Platz, um seine ein Meter achtzig große Gestalt mit einem kleinen Hauch von Luxus auszustrecken. Auf dem Klapptischchen vor sich stand ein kühles Bier und er brummte leise vor sich hin, als er seinen Vertriebsplan durchblätterte. Sara hatte diesen für ihn zusammengestellt und es war eine tolle Zusammenfassung der Arbeit, die erledigt werden musste. Er enthielt sogar eine Beschreibung der Fischbestände, die er bald managen würde.

Er wusste, dass ihm unter anderem seine frühere Arbeit an einem ähnlichen Zuchtprogramm daheim, mit gefährdeten Stören in den Becken der Großen Seen, bei der Zuschlagserteilung zum Vorteil gereicht hatte. Angesichts dessen, dass Störe bis zu einhundertzwanzig Jahre alt werden konnten und erst im Alter von zwanzig bis fünfundzwanzig geschlechtsreif wurden, war es ein Generationen-Programm, sofern er nicht irgendwann ein paar zusätzliche DNA-Marker für beschleunigte Reife hinzufügte. Sein Erfolg war eine weltweite Premiere und er hatte sich seine Methode sogar patentieren lassen.

»Und dann kommt schließlich die Magie ins Spiel«, sagte er leise und brummte weiter vor sich hin.

Dennoch lag jahrelange Arbeit vor ihm. Russland verstand das zum Glück und baute mehr auf den nachhaltigen Schutz der wertvollen Fische als auf schnelle Rendite.

Die Verträge spiegelten das ebenfalls wider. Wenn er innerhalb von fünf Jahren bestimmte Leistungsziele erfüllen konnte, würde ihm eine konkurrenzfreie Lizenz über neunundneunzig Jahre erteilt. Das Ganze war ein Familien-Unternehmen, das ihn und seine Erben ein Jahrhundert lang reich machen würde.

Er blätterte jetzt eine Seite seiner Notizen um, fand die Hintergrundinformation über den Fisch und überflog sie noch einmal. Er lächelte unwillkürlich. Es gab so viel zu tun, doch er freute sich auf jede Minute davon.

Der Steward erschien jetzt mit dem Getränke-Trolley und er bat um noch ein Bier. Dieses Mal gab man ihm statt der üblichen getrockneten Nüsse in einem Kunststoffpäckchen eine kleine Käse- und Obstplatte. Wie nett, dachte er und verschlang alles in weniger als einer knappen Minute.

Nachdem er sein Bier ausgetrunken hatte, sank Marcus in seinen Sitz zurück. Er schloss die Augen und ließ sich vom Alkohol und seiner guten Laune davontragen.

***

Marcus erwachte erst wieder, als das Flugzeug bei der Landung durchgerüttelt wurde, und stöhnte leise, als er sich aufsetzte und seinen steifen Nacken massierte. Eine seiner Gesichtshälften war voller Speichel und er blickte sich schnell mit geschwollenen Augen um, um zu sehen, ob ihn jemand beobachtet hatte, während er alles sauber wischte.

Dann beugte er sich vor, um aus dem kleinen, ovalen Fenster auf das frühmorgendliche Moskau zu schauen. Die Stadt war grau, neblig und genauso, wie er sie in Erinnerung hatte … und der Flughafen war geschäftig, modern und ebenso überfüllt wie jeder andere.

Er sah auf die Uhr und seufzte. Er musste dringend einen weiteren Flug nach Irkutsk erwischen und dann einen Zug in die historische Gemeinde Listvyanka nehmen.

Marcus hatte Monate damit zugebracht, Russisch zu lernen, und kam bei den meisten Gesprächen einigermaßen zurecht. In Moskau sprachen zwar viele Menschen Englisch, aber sobald man sich weiter aus der Stadt herausbewegte, war man ohne dortige Sprachkenntnisse oder einen Übersetzer auf sich allein gestellt.

Am Abend kam er endlich an und war zu dieser Zeit seit fast zweiundvierzig Stunden ununterbrochen unterwegs. Mit fünfunddreißig war er zwar noch recht jung und fit, aber im Moment fühlte er sich wie hundert, und alle Knochen, Gelenke und Muskeln in seinem Körper schmerzten.

Er stand jetzt auf der Hauptstraße von Listvyanka und atmete die schneidend kalte Luft ein, die in seiner Nase kribbelte und als geisterhafte Wolke von seinen Lippen wich. Im Sommer waren die Felder, die die Stadt umgaben, herrlich grün und der klare Sonnenschein ließ die Pastellfarben der Gebäude hervorstechen wie eine Bleistiftzeichnung. Doch heute, im schwindenden Licht und unter einem schiefergrauen Himmel, war das Gras braun und der See schimmerte in der untergehenden Sonne wie bitteres Quecksilber.

Nach einigen weiteren Minuten fand Marcus endlich das Belka, sein Hotel, und schleppte seine Koffer durch die Tür, wo er augenblicklich vom luxuriösen, heißen Atem einer Heizung begrüßt wurde. Das sorgte dafür, dass er sich entspannte und sofort schläfrig fühlte.

Das Hotel war innen sehr modern und im Moment recht leer. Während er darauf wartete, dass ihn eine effiziente junge Frau eincheckte, konnte er erkennen, dass sich im Nebenraum eine Bar und ein Restaurant befanden. Er ging ein paar Schritte, um hinein zu spähen.

»Privetstvuyu g-na Gollivud!«

Marcus grinste und die Rezeptionistin sah zu ihm auf. Yuri Revkins herzliche und laute Anrede – »Grüß Gott, Mr. Hollywood!« – war sein üblicher Scherz über Marcus gutes Aussehen, doch er würde wetten, dass jeder Amerikaner, den der große Russe traf, dieselbe Neckerei aushalten musste.

Marcus drehte sich um und winkte. Der Mann hielt ein Bier in die Höhe und zeigte darauf. Marcus war todmüde, und am nächsten Morgen wollten sie bereits recht frühzeitig aufbrechen, doch er glaubte, dass er es trotzdem verkraften würde, einen Happen zu essen, ein Bier zu trinken und mit seinem Freund und neuen Betriebsleiter zu plaudern.

Er zeigte auf seine Koffer. »Ich bringe die zuerst in mein Zimmer, aber dann komme ich runter.« Er hielt fünf Finger in die Höhe.

»In Ordnung.« Der große Russe klatschte in die Hände und rief dem Barmann zu, dass dieser zwei weitere Biere einschenken sollte, plus einen Wodka für jeden von ihnen, gegen die Kälte.

Marcus nahm seinen Schlüssel entgegen und zerrte seine Koffer dann die Treppen hinauf. Als er sein Zimmer gefunden hatte, schloss er auf und drückte die Tür mit der Schulter auf. Innen war alles ordentlich und sauber, und es gab ein Fenster, das auf den See hinausblickte. Er stellte sein Gepäck ab und ging kurz ins Badezimmer. Dort stützte er sich auf das Waschbecken auf und starrte sein Gesicht an. Er hatte rotgeränderte Augen, war blass und sah vollkommen fertig aus – also praktisch genauso, wie er sich gerade fühlte.

Er wusch sich schnell das Gesicht, wechselte sein Shirt und ging dann wieder hinunter, um seinen Freund zu treffen.

Er betrat den Barraum, der nach Zigarettenrauch, Fisch, abgestandenem und frischem Bier und einem beliebten russischen Aftershave mit Pinienwaldgeruch roch, von dem er aus eigener Erfahrung wusste, dass es wie Feuer brannte. Sein Freund sprang sofort auf und breitete seine Albatros-großen Arme aus.

Marcus grinste. »Kamerad.«

Genau wie Yuri aus Spaß behaupte, dass jeder Amerikaner aus Hollywood kam, zog Marcus Yuri gern damit auf, dass jeder in Russland ein alter Kommunist war. Der große Mann zog ihn in eine Umarmung, dann drückte er ihn auf seinen Stuhl und schob ihm ein riesiges Yarpivo-Bier und ein weiteres Glas zu, das bis zum Rand mit ölig aussehendem Wodka gefüllt war.

Marcus war momentan nicht wirklich nach so etwas, aber zum Teufel, er würde so oder so binnen einer Stunde einschlafen. Also hob er zuerst den Wodka.

»Nasdarovje.«

Yuri tat es ihm gleich und trank den Wodka in einem Zug aus. Er knallte das leere Glas auf den Tisch und bestellte noch einen. Er sah Marcus mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an, doch dieser schüttelte den Kopf.

»Nur ein Bier, ich will morgen früh aufwachen.«

Er nahm sein riesiges Glas, hob es zum Zuprosten in die Höhe und trank dann hastig. Das russische Bier war stark, erdig vom Hopfen und er schmeckte außerdem einen Hauch von etwas wie Zimt. Es war sehr gut, deshalb nahm er noch einen weiteren Schluck. Plötzlich spürte er, wie dehydriert er von der langen Reise und der trockenen Luft draußen war.

»Also.« Yuri setzte sich aufrecht hin. »Du hast gewonnen?«

Marcus stellte sein Glas ab. »Ja, wir haben den Fünf-Jahres-Vertrag. Danach …« Er hielt eine Hand mit gekreuzten Fingern in die Höhe.

»Danach wirst du wieder gewinnen … und dann hast du neunundneunzig Jahre.« Er hob sein Glas erneut und leerte die Hälfte seines Biers.

»Vielleicht«, sagte Marcus.

»Nichts vielleicht. Zusammen sind wir unschlagbar.« Yuri nickte zuversichtlich, aber dann zog er seine buschigen Augenbrauen hoch. »Und wann kommt die Prinzessin?«

»Prinzessin Sara kommt in drei Monaten nach. Vorher muss das Haus aber tipptopp sein.« Marcus verzog das Gesicht.

»Guter Plan, denn dann wird Sommer sein. Da ist der See immer am schönsten. Freundlich und warm.« Yuri nickte mit seinem großen Kopf, doch dann sackten seine Mundwinkel nach unten. »Jetzt würde es ihr nicht so gut gefallen.«

Marcus seufzte und nahm noch einen kleinen Schluck. »Vor den Fischen brauchen wir die Menschen, und vor den Menschen brauchen wir einen Ort, an dem wir sie unterbringen können. Das Bruthaus muss betriebsbereit sein, ebenso wie das Labor, die Gehege und die Hütten – es gibt noch viel zu tun.«

»Wir schauen morgen sofort. Dann kann ich bis zum Ende der Woche jemanden mit der Arbeit anfangen lassen.« Yuri schien plötzlich nachdenklich zu werden. »Je mehr Menschen da sind, desto besser. Besser für …« Er verkniff sich die Worte und zuckte stattdessen einfach mit den Schultern. »Man schläft so besser.«

Marcus neigte den Kopf. »Sonst noch was?«

Der große Russe brummte einen Moment lang tief und schüttelte dann seinen bärengleichen Kopf. »Nur zu viel Wodka, glaube ich.« Er hob sein Glas. »Auf morgen früh.«

»Hast du noch ein Boot?«

»Klar, klar. Aber der See ist gefroren, also kein Boot jetzt.« Er grinste. »Aber ich habe auch einen Truck.«

»Es ist aber sicher, richtig?« Marcus Brauen hoben sich angespannt, denn er hatte bisher noch nicht wirklich versucht, auf einer Eisdecke zu fahren.

»Ja, wir fahren auf dem See.« Yuri prostete Marcus wieder zu und trank sein Glas in einem Zug aus.

Auf Marcus' Sicherheitsfrage ging er nicht ein.

KAPITEL 04

Listvyanka, Baikalsee – Hauptkai

Am nächsten Morgen wartete Yuri pünktlich am Anlegeplatz und Marcus hatte sich erheblich bessere Kalt-Wetter-Kleidung in Form einer hellorangenen SeaWorld-Jacke, Stiefeln und Handschuhen angezogen. Auch wenn er erwartete, nicht auf einem Boot, sondern in der Fahrerkabine eines mit Spikereifen ausgestatteten Trucks zu reisen, wusste er, dass die Kälte, sobald sie sich draußen auf der freien Eisfläche befänden, wie ein lebendiges Wesen wäre und versuchen würde, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ihnen durchzudringen.

Zunächst würde Yuri mehrmals hin und her fahren, um Vorräte zu bringen, während sie sich einrichteten, doch irgendwann würde auch er permanent in den Mühlenkomplex ziehen. Von einem seiner Trips würde er auch mit dem Boot auf einem Anhänger zurückkommen, und mit zwei Bobcats, leistungsstarken, kleinen Schneemobilen, die wie Motorräder auf dem Eis sein würden.

Marcus hatte Glück, dass er diesen Kerl kennengelernt hatte. Er hatte viele Vorstellungsgespräche geführt, Yuri war ein erfolgreicher Manager und Tausendsassa, der mit Fischerei, Baugewerbe und vermutlich einem halben Dutzend anderer Dinge, mit denen Marcus sich nicht allzu intensiv befassen wollte, zu tun hatte. Unterm Strich war der Mann allerdings ehrenhaft, zuverlässig, erledigte alle geforderten Dinge und war ein rundum guter Kerl – und nachdem Marcus schon zwei Jahre lang mit ihm zusammengearbeitet hatte, hauptsächlich telefonisch, wusste er, dass er ohne ihn komplett aufgeschmissen wäre.

Yuri öffnete jetzt die Tür des Trucks. »Ihr Amerikaner fallt gern auf, was?«

»Wieso? Das ist meine Lieblingsjacke.« Marcus warf seine Koffer nach hinten und stieg ein. Dann machte er die Daumen-Hoch-Geste und zog seinen Kragen vom Kinn. »Es ist so unfassbar kalt«, sagte er zitternd.

»Diese Temperatur? Das ist doch noch gar nichts.« Yuri streckte die Hand aus, um ihm auf die Schulter zu klopfen. »Warte mal ab, bis der Winter richtig seine Zähne zeigt. Er kann fest zubeißen.« Er brüllte daraufhin vor Lachen und ließ den Truck an.

Marcus stöhnte und drehte sich um, um zu sehen, wie die Stadt Listvyanka immer kleiner wurde, als sie diese hinter sich ließen. Abgesehen vom Rauch, der sich von den Schornsteinen erhob, sah sie absolut verlassen und trostlos aus, als stünde die Zeit dort still.

Marcus lehnte sich jetzt zurück und starrte auf die Eisoberfläche des Sees. Es kam ihm so vor, als würden sie über eine endlose weiße Ebene fahren, die mit glitzernden Zuckerkristallen bestäubt war. Doch er wusste, unter dem Eis war das Wasser kristallklar und an manchen Stellen unvorstellbar tief.

Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich, doch Yuri hatte Sandwiches dabei – Fisch natürlich – mehrere Thermoskannen voll Kaffee und reichlich zusätzlichen Treibstoff. Die Oberfläche des Sees stellte die schnellste Überquerungsmöglichkeit dar, entweder per Fahrzeug oder Boot, aber selbst mit Höchstgeschwindigkeit würden sie einen ganzen Tag lang der Küstenlinie folgen müssen.

Marcus fiel irgendwann in eine Art Trance, während das Ufer unverändert an ihnen vorbeiflog. Sie mussten auch an der gigantischen, überdimensionalen Insel Olchon vorbeifahren. Es war die größte Insel im Baikal. Sie war zweiundsiebzig Kilometer lang und besaß eine Landmasse von siebenhundertdreißig Quadratkilometern. Sie war mit dichtem Wald bedeckt und es gab sogar Menschen, die dort lebten.

Es war vor allem die Größe hier draußen, die Marcus den Atem verschlug. Alles an diesem Ort war riesig, uralt und abgeschieden. Marcus fühlte sich deswegen automatisch winzig und unbedeutend und kam sich wie eine moderne Kreatur vor, die plötzlich in einem altertümlichen fremden Land war.

Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum den Stören diese Gebiete so sehr zusagten. Ihre Evolution reichte immerhin bis in die Trias, ungefähr zweihundertfünfundvierzig Millionen Jahre, zurück. Seitdem hatten sie bemerkenswert wenige morphologische Veränderungen erlebt. Im Grunde genommen gefiel der Evolution, was sie mit den Fischen gemacht hatte, und sie hatte beschlossen, ihre Form so zu belassen, wie sie war – warum auch nicht? Vieles sprach für sie: Sie vertrugen sowohl tropisch heiße als auch eiskalte Gewässer, Salz- und Süßwasser, sie wurden groß und hatten deswegen nicht viele Feinde, und sie waren außerdem gepanzert, mit vier Reihen von Knochenplatten, die den Höckern entsprachen, welche Alligatoren besaßen, und die auch bei einigen Dinosauriern vorhanden gewesen waren.

Der Truck rumpelte jetzt über ein Eisfeld und riss Marcus aus seiner Trance. Er erkannte, dass der Morgen immer noch eine blassorangene Röte am Horizont, und der Himmel wässrig blau war. Doch vor ihnen wirkte das Eis noch immer endlos.

Yuri hatte ihm erzählt, dass er im Winter die beherzteren Taucher in seinem Truck hinausfuhr und Löcher ins Eis schlug, damit sie hineinsteigen konnten, oder er ließ motorisierte Kameras als Mini-Unterwasserfahrzeuge hinab. Marcus hatte einige der Fotos unter dem Eis gesehen, und es war eine äußerst merkwürdige Welt mit einem Himmel aus blauem Eis und tiefschwarzer Dunkelheit darunter.

In diesen dunklen Abgründen mussten sie die Standorte für ihre Fischgehege suchen. Diese sollten nahe an der Mühle liegen, in einer Tiefe zwischen sechzig und hundertfünfzig Metern, und möglichst nicht zu weit draußen, damit in den Sommermonaten nicht die Gefahr bestand, dass die Gehege vom Schiffsverkehr oder von manchen der starken Stürme, die im sibirischen Sommer Ärger machen konnten, beschädigt wurden.

Dort, wo die Mühle stand, war ein Großteil des Sees die meiste Zeit im Jahr über gefroren, und das war eine gute Sache, was den Sturmschutz betraf.

Marcus hielt einen Plastikbecher mit lauwarmem Kaffee in der Hand und lehnte sich im Sitz neben Yuri zurück. Die beiden Männer schwiegen und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Er vermisste Sara schon jetzt, denn sie war sein Fels, seine Seelengefährtin und immer für ein konstruktives Gespräch zu haben. Yuri war zwar eine gute Gesellschaft, aber seine Frau schien irgendwie immer das Beste in ihm zum Vorschein zu bringen.

Er trank seinen Kaffee bis auf den letzten Schluck aus und atmete dann tief ein. Er verspürte plötzlich einen Anflug von Nervosität tief in seiner Magengrube. So viel hing von diesem Projekt ab. Er hatte bereits fast eine Million Dollar für den Kauf der Mühle, der Ausrüstung und für Yuris Anstellung ausgegeben. Selbst die Reisekosten waren erheblich. Und all das bekam er auf Jahre nicht zurück. Der Topf voll Gold am Ende des Regenbogens war vielleicht turmhoch gefüllt, aber der Weg dorthin war voller Risiken, Herausforderungen und Bergen harter Arbeit.

Marcus kam sich auf einmal wie ein Glücksspieler vor, der ein gutes Blatt hatte und all seine Jetons deshalb in die Mitte des Tisches schob, während die anderen Spieler nur lächelten. Er konnte das Gefühl einfach nicht abschütteln, dass da etwas war, von dem er nichts wusste oder was er nicht bedachte.

Er drehte sich jetzt nach links und sah, wie die Landschaft vorbeizog. Sie hatten sämtliche bewohnte Gegenden längst hinter sich gelassen und das Land wechselte nun zwischen endlosen Ebenen braunen, spitzen Grases und bewaldeten Dickichten, die sich bis zum Wasser erstreckten. Es gab auch Klippen aus verwittertem Stein, von denen manche hundert Meter und mehr in die Höhe ragten.

Das Land war wild, alt und mysteriös. Es war ein Ort der Geheimnisse und Rätsel, und es war kein Wunder, dass es Legenden über seine tiefen Wasser und dunklen Wälder gab. Der moderne Mensch war schon seit Jahrhunderten hier, und es gab Höhlenmalereien, die Geschichten über das Land erzählten, welche sich Zehn- oder sogar Hunderttausende Jahre zurück erstreckten.

Sie passierten eine Felsenzunge an der Wasserlinie, wo einige Robben ihre Köpfe hoben, um zuzusehen, wie sie vorbeisausten. Yuri hatte ihm erklärt, dass sie so weit wie möglich von dem leben würden, was ihnen das Land gab, um Geld zu sparen, und dass auch die hier ansässigen Baikal-Robben essbar waren. Doch Marcus glaubte nicht, dass er das über sich bringen würde, da sie ihn viel zu sehr an glänzende Hunde erinnerten.

Allerdings waren sie bei einem ihrer letzten Besuche einer dicht gedrängten Robbenkolonie begegnet, und obwohl die Beluga-Störe viel zu groß waren und zu weit unten im Wasser lebten, als dass die Robben sie jagen könnten, würden sie einen jüngeren Stör durchaus als Mahlzeit betrachten können. Hinzu kam noch, dass seine Netzgehege kein Problem für die Robben darstellen würden, da diese einfach über den oberen Rand des Netzes gleiten oder hineintauchen könnten.

Als Marcus dieses Risiko geäußert hatte, hatte Yuri seine Jacke geöffnet und eine Handfeuerwaffe hervorgeholt. Ehe Marcus etwas hatte sagen können, hatte er zweimal in die Luft gefeuert. Wie durch Zauberhand waren die Robben kurz darauf verschwunden.

»In dieser Gegend sind wir der Boss, nicht die Robben.« Der große Russe hatte anschließend gegrinst und so getan, als würde er Rauch von der Mündung pusten.

Marcus hatte den Kopf geschüttelt und gelacht. »In Russland herrschen wohl andere Sitten, nehme ich an.«

»Nein, schlimmer: Du bist hier in Sibirien.« Yuri hatte Marcus auf den Oberschenkel geschlagen und so heftig gelacht, dass sein Sitz gequietscht hatte wie eine gequälte Maus.

Verdammt richtig, dachte Marcus jetzt. Aber er fragte sich immer noch, warum Yuri der Meinung war, eine Handfeuerwaffe zu brauchen.

Gegen vier Uhr nachmittags drehte sich Yuri zu ihm. »Nicht mehr lang jetzt.« Er zeigte nach vorn.

»Nur noch um diese Kurve.«

Allerdings befand sich diese Kurve noch in weiter Ferne, der Tag war fast vorüber und das Eis schimmerte durch die untergehende Sonne in einem verbrannten Orange, und sobald das Sonnenlicht komplett verschwunden war, würde die Temperatur rapide sinken. Ehe sie sich versahen, würde es weit unter null Grad sein.

Marcus zog sich seinen dicken Pullover-Kragen wieder übers Kinn, während die Heizung in der Fahrerkabine gegen die Kälte draußen ankämpfte. Sein Atem dampfte bereits, doch er entdeckte jetzt endlich Orientierungspunkte, an die er sich von seinen früheren Besuchen erinnerte.

Auch wenn er schon viele Male hier gewesen war, verspürte er ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, weil sein ehrgeiziges Projekt jetzt wirklich real geworden war.

Er lächelte unwillkürlich, als sie die letzte Kurve nahmen. Die Mühle lag so abgeschieden wie nur irgend möglich und war sonst nur per Boot über den eigenen, privaten Anlegeplatz zugänglich. Eine weitere Besonderheit der Lage bestand darin, dass die Kommunikation in manchen Bereichen des Baikalsees bestenfalls unregelmäßig möglich war, an manchen Tagen drang hingegen nichts hinein und nichts heraus.

Marcus war schon zu verschiedenen Jahreszeiten hier gewesen, daher wusste er, dass das Ufergebiet umwerfend war. Der See war während des Winters und für den Großteil des Herbstes und Frühlings eine weiße Wüste, aber wenn es wärmer wurde, entstand hier ein Wunderland aus Wildblumen, und der sommerliche See war so glasklar, dass man sogar den Grund in fünfzig Metern Wassertiefe sehen konnte.

Der Komplex und das umliegende Land, das ihm jetzt gehörte, waren riesig, und darauf befand sich sowohl das Haus des Managers, das fast schon eine Villa war sowie einige kleinere Gebäude für die Angestellten. Das Betriebshaupthaus, das jeder noch immer das Mühlenhaus nannte, würde er zu einem voll funktionsfähigen Brut-Haus und Labor umbauen lassen.

Marcus Lächeln wurde immer breiter, als er sich vorstellte, wie er und Sara am Abend auf der Veranda sitzen, Glühwein schlürfen und über das kristallklare Wasser hinaus blicken würden. Sein Lächeln verwandelte sich kurz darauf in ein Grinsen, denn    er konnte sich deutlich schlimmere Orte zur Familiengründung vorstellen. Er hoffte nur, dass Sara auch so dachte.

Die Nacht brach schnell herein, und als sie die Kurve umrundeten, war das Erste, das Marcus sah, Licht im Haupthaus. »Hey, da ist ja jemand zu Hause.«

Yuri grinste. »Vielleicht der Geist des früheren Besitzers.« Er sah ihn theatralisch an und zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, hier hat mal ein kopfloser Reiter gewohnt. Du gehst am besten vor, ich habe nämlich Angst vor Geistern.«

Der Truck wurde jetzt langsamer, als er sich dem zugefrorenen Anlegeplatz näherte. Sobald sie sich daneben befanden, ließ Yuri den Motor ein paar Mal aufheulen, während sich der Truck über die Schräge der Eisoberfläche aufs Land bewegte, und dann anhielt.

Anschließend steckte er sich seine Pfeife in den Mund, lehnte sich aus dem Fenster und sah zum beleuchteten Haus hinüber.

»Wer ist da drin?«, fragte Marcus.

Yuri schüttelte seinen großen Kopf. »Ich weiß es nicht.« Er wischte sich die riesigen Hände an seinem schweren Strickpullover ab und öffnete dann mit der Schulter die Tür, während die Scharniere unfassbar laut quietschten. »Lass uns rausfinden, wer unsere Gäste sind.«

»Ich glaube, sie haben uns schon entdeckt.« Marcus konnte jetzt vier Menschen über den Pfad auf sie zu kommen sehen. Er und Yuri wichen nicht von der Stelle, doch er sah, wie der große Russe verstohlen nach seinem Revolver tastete, der sich in einem Holster hinten an seiner Hüfte befand.

Marcus wartete stumm, und Yuri ließ die Arme jetzt auch wieder locker neben seinem Körper hängen.

»Privet, Mr. Stenson!« Der Mann, der ganz vorne ging, winkte ihnen zu.

»Zdravstvuyte«, antwortete Yuri und drehte sich dann halb zu Marcus um. »Sie kennen dich offenbar, also sind sie möglicherweise in Ordnung. Der Akzent stammt eindeutig von hier.«

Marcus nickte. Yuri musste nicht übersetzen, weil er die Begrüßung laut und deutlich verstanden hatte. Die Männer sahen ein wenig asiatisch oder mongolisch aus, mit hohen Wangenknochen und Falten über den Augen. Wer immer sie waren, sie waren offenbar hier, um ihn zu treffen.

»Zdravstvuyte, zdravstvuyte.« Marcus trat jetzt vor und der Anführer kam schnurstracks auf ihn zu und streckte seine Hand aus. Marcus ergriff sie und der Kerl drückte seine Hand daraufhin wie eine Wasserpumpe.

»Glückwunsch zu Mühle öffnen. Sie, ähm …« Er sah zum Himmel hinauf, während er sich seine nächsten Worte zu überlegen schien, und ein jüngerer Mann, der ihm bemerkenswert ähnlichsah, trat zu nun vor.

»Mein Vater wollte Glückwünsche zur Wiedereröffnung der Mühle aussprechen.« Er legte dem älteren Mann eine Hand auf die Schulter. »Mein Name ist Nikolai Grudinin und das ist mein Vater, Pavel.«

Marcus nickte. »Vielen Dank.«

Pavel zuckte mit den Achseln. »Mein Englisch besser, wenn, ähm, mehr ich benutze.« Er drehte sich um und sprach dann in schnellem Russisch mit seinem Sohn, der aufmerksam zuhörte und nickte. Er trat zurück und deutete auf die anderen Männer, die bei ihnen waren.

»Bei uns sind Mr. Dimitri Melnikov und Mr. Leonid Luhansk. Wir sind hergekommen, um Ihnen zu helfen … um für Sie zu arbeiten, Mr. Stenson.« Nikolai lächelte.

Neuigkeiten verbreiten sich hier offenbar schnell, dachte Marcus. Er könnte Yuri bitten, sie wegzuschicken, aber ihm fiel auf, dass sie bereits damit begonnen hatten, das Grundstück aufzuräumen, was bedeutete, dass sie nicht arbeitsscheu waren.

»Zuerst mal muss ich feststellen, ob ich euch gebrauchen kann.« Er sprach zwar mit Nikolai, ließ seinen Blick aber über jeden Einzelnen von ihnen wandern. Wieder einmal übernahm Nikolai das Reden.

»Mein Vater ist sehr gut mit Holz, beim Schreinern und mit Maschinen. Unsere Familie lebt schon seit vielen Generationen in dieser Gegend und kennt den See gut.« Er zeigte auf die Männer, die hinter ihm standen. »Dimitri und Leonid sind beide erfahrende Störfischer und ähm … Alleskönner, besitzen ihre eigenen Boote und kennen außerdem den See.«

Der Mann namens Leonid nahm jetzt eine wie selbst gemacht aussehende Holzpfeife aus seinem Mund und grüßte damit.

Nicht schlecht, dachte Marcus. Eigentlich genau die Sorte Menschen, nach denen er gesucht hätte. »Und was kannst du?«

Nikolai grinste. »Ich habe gerade mein Diplom in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Moskau gemacht. Leider gibt es im Moment keine Arbeit für mich. Aber ich bin stark und klug, also …« Er zuckte mit den Schultern.

Marcus nickte. Stark und klug, und seine Sprachkenntnisse sind bestimmt auch sehr nützlich, dachte er. »Ich werde einen Laborassistenten für die Zuchtarbeit brauchen, die wir in Kürze beginnen werden. Lernst du schnell?« Marcus zog die Augenbrauen hoch.

Nikolai nickte ernst. »Oh ja, sehr schnell.« Er zeigte auf das Hauptgebäude. »Wir sind durch die gesamte Mühle gegangen und haben alles sauber gemacht. Sie ist in einem guten Zustand, hat eine hervorragende Bausubstanz, und sämtliche Gefahrenstoffe wurden schon vor Jahren weggeschafft. Wir glauben, wir können sie sehr bald zum Laufen bringen.«

»Das ist sehr gut.« Marcus nickte und war insgeheim ganz schön beeindruckt.

Yuri beugte sich jetzt nah zu ihm und flüsterte: »Ich glaube, das sind Turken, vielleicht auch Jakuten. Gute, ehrliche Menschen, und äußerst fleißig.« Er richtete sich wieder auf und zuckte dann mit den Achseln. »Aber es ist deine Entscheidung.«

»In Ordnung.« Marcus wandte sich wieder den Männern zu. »Ich sage noch nicht Ja, lasst uns erst mal auspacken und dann können wir beim Abendessen weiterreden.«

»In Ordnung, Mr. Stenson.« Pavel klatschte in die Hände. »Wir essen zusammen. Wir machen … machen Stroganoff für Essen.« Er zwinkerte und grinste. »Rentier!«

Marcus lachte leise. »In dem Fall kann ich euch sagen, dass eure Vorstellungsgespräche bisher sehr gut laufen.«

Marcus und Yuri verstauten ihre Vorräte und die Ausrüstung, inspizierten einige der Hütten und das Haus des Managers und trafen die Gruppe dann im Mühlenhauptgebäude zum Abendessen.

Er war von dem Umfang der Arbeiten, die sie bereits erledigt hatten, extrem beeindruckt. Das Innere und Äußere der Mühle, die kleinen Gebäude, das Haupthaus und das umliegende Grundstück waren fast blitzsauber und einige kleinere Reparaturen waren ebenfalls schon ausgeführt worden. Zusätzlich hatten sie angefangen, die Speisekammer aufzustocken.

Diese Jungs wollten den Job anscheinend wirklich und er war gern bereit, zu helfen, wenn die Zeiten für sie gerade mager waren. Außerdem hatte er ja sowieso vorgehabt, Arbeitsplätze für die Einheimischen zu schaffen.

Er würde Yuri trotzdem damit beauftragen, Nachforschungen über sie anzustellen, aber Nikolai hatte ihm bereits sein Diplom gezeigt und er hatte gesehen, dass dieser sogar mit Auszeichnung bestanden hatte, also musste der Junge ziemlich was im Oberstübchen haben. Aber wie viel könnten sie schon über die anderen rausfinden, wenn sie hier nicht einmal Computer besaßen oder online zu finden waren?

Die sechs Männer redeten stundenlang miteinander und lernten sich kennen. Sie sprachen über ihre Herkunft, ihre Leben und ihre Wünsche. Yuri hatte recht damit gehabt, dass sie alle Jakuten waren. Ein alteingesessener heimischer Stamm, der dieses Gebiet schon seit dem siebten Jahrhundert bevölkerte. Wie Marcus vermutet hatte, waren die Jakuten mongolischer Abstammung und noch heutzutage größtenteils Jäger, Viehhirten und Fischer. Doch sie waren auch intelligent, hartnäckig und zäh.

Marcus mochte sie alle auf Anhieb, und er erzählte ihnen im Gegenzug von seinen Plänen und Hoffnungen für die Fischzucht.

Leonid nahm irgendwann seine Holzpfeife aus dem Mund und fragte: »Und Sie hoffen, die Fische zu züchten und ihre Eier zu verkaufen … den Beluga-Kaviar? Alles innerhalb von fünf Jahren?«

»Ja und nein.« Marcus breitete die Arme aus. »Die Beluga-Störe produzieren Millionen von Eiern und von den großen Exemplaren weiß man, dass sie mehrere hundert Pfund Kaviar in sich tragen. Der Kaviar des Beluga-Störs kann bis zu dreitausendfünfhundert US-Dollar pro Pfund wert sein, aber das Problem ist, dass er so gefragt ist, dass die Beluga-Störe nach und nach immer mehr verschwinden.«

»Ich glaube, Sie schaffen das«, sagte Pavel. »Unser Volk traurig und glücklich, wenn Mühle schließen. Traurig, weil wir Arbeit verlieren, aber glücklich, dass sie geht, weil sie Wasser schmutzig gemacht hat.«

Die anderen Männer nickten und Pavel sagte: »Aber das hier ist gut, also helfen wir bei Erfolg.«

Die anderen stimmten zu und Yuri schenkte ihnen eine Runde Wodka ein. Er hob sein Glas. »Auf deinen Erfolg.«

»Auf Erfolg«, rief Dimitri. »Und dass Sie sicher bleiben.«

Die Männer tranken ihr Glas aus, doch Marcus nippte nur, dann senkte er sein Glas. »Was meinen Sie mit sicher?«

Die Männer verfielen daraufhin in Schweigen und Dimitri sah betreten zu Boden. »Ich meine glücklich.«

»Sicher vor was?«, drängte ihn Marcus zum Weitersprechen.

Der Jakut-Russe murmelte etwas, sah aber nicht auf.

Marcus stieß den angehaltenen Atem aus und stellte sein Getränk ab. »Okay, Jungs, was weiß ich nicht?«

Dimitri sah endlich hoch. Er hatte die Stirn gerunzelt, als kämpfe er darum, die richtigen Worte zu wählen. »Es gibt Menschen, böse Menschen, die können es … schwer machen, für neue Betriebe.«

Marcus starrte ihn einen Augenblick lang an, bevor ihm ein Licht aufging. »Oh, verstehe. Du meinst die hiesige Mafia?«

»Man nennt sie Bratwa.« Yuri grunzte herablassend, während sich seine Mundwinkel nach unten zogen. Er wandte sich an Dimitri. »Die haben sogar hier draußen noch Macht?«

»Sie arbeiten, wo sie arbeiten wollen«, sagte Dimitri. »Normal wollen sie nur arenda, Miete. Damit alles gut bleibt.«

Marcus stöhnte auf. »Also Schutzgeld.«

Die Männer nickten ernst.

»Na ganz toll.« Marcus seufzte und hielt Yuri sein Glas hin, damit dieser noch etwas Wodka hineingoss.

Yuri füllte sein eigenes Glas ebenfalls auf. »Man macht einen Kuchen und irgendeiner will immer ein Stück davon abhaben.«

»Und zwar umsonst«, fügte Marcus grimmig hinzu. Er seufzte wieder, denn er hatte schon von ihnen gehört und wusste daher, wie abscheulich und erbarmungslos sie sein konnten.

Das ließ seine Gedanken automatisch zu seinem einzigen Verwandten wandern, seinem älteren Bruder Carter. Marcus starrte seinen Becher an, während er vor sich hin grübelte. Carter war das sprichwörtliche schwarze Schaf der Familie. Er hatte einen Einsatz in Afghanistan mit den Special Forces absolviert. Er sprach zwar nie darüber, war aber eindeutig ein wenig durchgeknallt zurückgekehrt. Eines Abends hatte er schließlich zwei Typen während einer Kneipenschlägerei schwer verletzt. Einer von ihnen hatte Verbindungen zum Polizeichef besessen und Carter war letzten Endes im Gefängnis gelandet.

Als er wieder rauskam, hatte er sich einfach zurückgezogen, und zwar von allem, und jetzt führte er eine Bar irgendwo im Mittleren Westen. Aber das war noch nicht die ganze Geschichte. Denn Carter war vor Marcus mit Sara zusammen gewesen. Sie liebten sie beide, aber Carter war so lange weg gewesen, und eines hatte zum anderen geführt, und bevor er sich versehen hatte, war er mit ihr zusammen gewesen und hatte schließlich um ihre Hand angehalten.

Marcus fühlte sich immer noch beschissen deswegen und fand, dass er eine Tracht Prügel dafür verdiente. Doch das Schlimmste daran war, dass sich sein Bruder nie beschwert hatte. Er hatte offenbar begriffen, dass er für Sara niemals so da sein könnte wie Marcus, und er wollte anscheinend nur, dass sie glücklich war – dass sie beide glücklich waren – und daher war er anscheinend froh, dass sie beide einander gefunden hatten.

Deswegen kam sich Marcus wie ein Arschloch aus der Hölle vor, und das Ganze hatte zu einer nicht enden wollenden Peinlichkeit zwischen den Dreien geführt. Bis zum heutigen Tag hatte er nie erfahren, ob seine Beziehung mit Sara der wahre Grund für Carters Verschwinden gewesen war.

Marcus seufzte und lehnte sich zurück. Er könnte jetzt die Hilfe seines Bruders brauchen, weil er wusste, dass manche Teile Russlands noch immer wie der Wilde Westen waren, und Carter war eine äußerst furchterregende Person mit den passenden Fähigkeiten, die das Ganze untermauerten.

Er rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Vielleicht würde ihm ja ein Weg einfallen, wie er ihn und auch einige seiner früheren Teamkameraden als Security-Team einstellen konnte.

Während er über die Logistik nachgrübelte, machte er sich bewusst, dass das Problem mit Carter darin bestand, dass dieser wie eine Naturgewalt war. Manchmal wies man ihn auf ein Problem hin und er konnte es aus der Welt schaffen … er konnte es aber auch genauso gut verschlimmern. Er war zwar genauso klug wie Marcus, neigte aber dazu, die Dinge eher mit den Fäusten statt dem Verstand zu regeln.

Marcus holte tief Luft, hob den Kopf und richtete seinen Blick auf Dimitri. »Noch etwas, was ich wissen muss?«, fragte er.

Leonid nickte rasch.

»Okay. Was?« Marcus setzte sich aufrecht hin.

»Die Lichter«, sagte Leonid, ohne seine Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

»Lichter?« Marcus runzelte die Stirn.

»Die Lichter«, wiederholte Leonid. »Unter dem Wasser.«

»U-Boote? Taucher?«, fragte Yuri verwirrt.

»Ich glaube nicht, dass hier noch U-Boote unterwegs sind.« Marcus hatte seine Hausaufgaben über den See gemacht. »Es gab 2008 oder vielleicht auch 2009, ein Team von Wissenschaftlern, die versucht haben, den Grund des Sees in zwei Mini-U-Booten zu erreichen. Sie sind fünf Stunden unten geblieben, die Hälfte der Zeit haben der Abstieg und die Rückkehr eingenommen. Aber sie haben es nicht geschafft, weil sie nicht tief genug runterkamen, und danach haben sie es nie wieder versucht.«

»Weil ihnen da unten etwas Angst gemacht hat!« Leonid nickte verstehend.

»Nein, ich glaube, sie waren einfach nicht gut genug vorbereitet«, antwortete Marcus.

»Ihnen hatten noch ungefähr hundertfünfzig Meter gefehlt«, fügte Nikolai hinzu.

Marcus lehnte sich zurück. »Da unten forscht keiner mehr. Zumindest nicht, dass ich wüsste.«

»Ich glaube auch nicht, dass es Lichter von U-Booten oder Tauchern sind«, sagte Leonid nun. »Mein Vater hat mir erzählt, dass er sie schon als Junge gesehen hat, eines Nachts, als es sehr dunkel war, und er noch spät draußen auf dem See zum Fischen mit meinem Großvater war. Er sagte, dass tief unten etwas grün geglüht und sich bewegt hat. Das waren keine U-Boote damals.«

Yuri neigte den Kopf, während er Marcus intensiv ansah. »Was ist denn mit diesen Fischen, die Licht erzeugen können? Da unten ist es schließlich sehr tief und dunkel genug.«

»Nein, in den Tiefen des Baikal gibt es keine biolumineszenten Fische, von denen ich wüsste«, antwortete Marcus. »Warum sich Biolumineszenz nicht im Süßwasser entwickelt hat, ist tatsächlich etwas, das die Wissenschaftler schon seit Jahren vor ein Rätsel stellt.«

»Weil der Ozean viel älter ist«, meinte Nikolai. »Diese Besonderheit zu entwickeln muss ziemlich lange gedauert haben.«

»Das glaube ich auch«, stimmte ihm Marcus zu, und war von dem jungen Mann beeindruckt. »Eine wirklich gute Antwort.«

»Also kein U-Boot, kein Taucher, keine leuchtenden Fische.« Jetzt nickte Yuri. »Dann kann es nur eine Sache gewesen sein.«

Alle wandten sich ihm neugierig zu, und Yuri begann langsam zu grinsen, als er die Wodkaflasche nahm und sie hin und her schwenkte. Marcus kicherte, aber außer ihm tat das niemand.

»Mein Vater war damals nüchtern«, sagte Leonid ruhig. »Denn er hat nie beim Fischen etwas getrunken.«

»Ich habe Geschichten auch gehört«, warf Pavel ein. »Über Lichter und Menschen, die nicht kommen zurück. Ich aber glaube, hauptsächlich, wenn Eis weg ist. Vielleicht … Eis fängt sie manchmal.«

Marcus wurde langsam ein wenig gereizt. »Hat jemand von euch die Lichter denn schon mal gesehen? Ich meine, persönlich, als ihr auf dem Wasser wart, oder von mir aus auch vom Land aus?«

Leonid sah erschrocken hoch. »Niemand geht in den dunkelsten Nächten fischen. Vielleicht, weil niemand sie sehen will.«

»Tja, ich bin mir sicher, dass in diesen dunkelsten Nächten einfach Boote auf dem See sind, und wenn man sich weigert rauszugehen, sieht man sie eben nicht«, antwortete Marcus.

»Das glaube ich nicht«, widersprach ihm Leonid. »Selbst die Robben gehen nicht ins Wasser. Manchmal verlassen die Kolonien sogar ihre Felsplätze, um für ein paar Tage in die Wälder zu ziehen.«

»Im Wald gibt es aber Bären und Wölfe.« Yuri runzelte die Stirn. »Das ist äußerst dumm.«

»Vielleicht glauben sie, dass es dort weniger gefährlich ist als in diesen Nächten in der Nähe des Wassers.« Leonid hob das Kinn. »Sie wissen garantiert mehr als wir.«

»Ach du liebe Zeit.« Marcus fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, bevor er die Männer wieder ansah. »Es gibt nichts, was nicht wissenschaftlich erklärt werden kann … irgendwann.«

Leonid schüttelte den Kopf. »Nicht diese Legenden.«

»Legenden haben wir alle«, fügte Yuri leise hinzu.

»Du weißt auch davon?«, fragte Marcus seinen Betriebsleiter. »Erzähl mir alles.«

Yuri breitete die Arme aus. »Menschen verschwinden.« Er beugte sich vor. »Man nannte diesen Ort einst die Spukmühle.« Er warf den Kopf zurück und lachte. »Aber natürlich nur die abergläubischen Menschen in Sowjet-Zeiten.«

»Aber jetzt doch nicht mehr, oder?« Marcus erkannte, dass keiner der Jakut-Russen seiner Meinung war. »Hört mal, das Wasser hier ist eiskalt und es gibt überall umhertreibendes Totholz. Der See ist so groß, dass er sogar Gezeiten und Strömungen hat. Wenn jemand hineinfällt, besonders nachts, dann bleiben ihm noch ungefähr dreißig Sekunden, um wieder rauszukommen, sonst …« Marcus zuckte mit den Achseln. »… verschwindet er.«

»Nur, dass auch Menschen verschwinden, die einfach nur am Ufer entlang gehen. Sie verschwinden nicht beim Kanufahren, Schwimmen oder Fischen.« Nikolai beugte sich vor. »Mr. Stenson, wussten Sie, dass nur ein paar Jahre, nachdem die Mühle den Betrieb aufgenommen hatte, alle verschwanden?Und mit alle meine ich auch alle … die Arbeiter, die Betriebsleiter, sogar die Bootsbesitzer.«

Marcus stöhnte leise auf. »Ja, ich habe darüber gelesen. Sie hatten gewerbliche Probleme, und deshalb haben sie die Arbeit einfach hingeschmissen.«

Nikolai schüttelte langsam den Kopf. »Das war doch nur die Geschichte für die Öffentlichkeit. Sie sind nie daheim angekommen, weil sie verschwunden sind. Ich glaube, sie haben auch nie versucht, heimzugehen, oder sie haben es versucht, konnten es aber nicht.«

Marcus seufzte. »Ich verstehe.«

Er wusste, dass alle großen Gewässer ihre Legenden hatten, und die meisten davon wurden von abergläubischen Einheimischen verbreitet, oder um leichtgläubige Touristen anzulocken. Es gab die Seemonster, die Fischmänner, die Dinger, die sich bei Vollmond, Neumond oder Halbmond aus den schauerlichen Tiefen erhoben, und sogar Wesen, die man gar nicht sehen konnte und die einfach nur Spuren zurückließen.

»Der See weiß es, denn er hat ein Gedächtnis.« Leonid hielt den Blick auf das Feuer gerichtet.

»Ozero pomnit«, sagte Pavel leise.

»Der See erinnert sich.« Leonids Stirn legte sich in Falten. »Was soll das bedeuten?«

Niemand antwortete.

Marcus seufzte und stand auf. »Meine Herren, ich gehe jetzt ins Bett. Wir können morgen gern weiterreden. Gute Nacht.«

Marcus machte sich auf den Weg zum Haupthaus und stieg kurze Zeit später die Stufen der vorderen Veranda hinauf. Es war ein großes, zweistöckiges Holzcottage. Auf der obersten Stufe drehte er sich um und sah noch einmal auf den gefrorenen See hinaus. Dort draußen gab es kaum Licht, abgesehen von den Sternen und dem derzeit sichelförmigen Mond. In diesem Moment sah er wie eine endlose Ebene aus gefrorener Tinte aus.

Marcus ließ seinen Blick langsam über die Oberfläche schweifen. Wie er erwartet hatte, war dort draußen nichts Besonderes zu sehen.

Er öffnete die Haustür und ging hinein. Er hatte noch viel zu tun und er würde es lächerlichen alten Dorfgeschichten über den hiesigen Schwarzen Mann nicht erlauben, sich ihm in den Weg zu stellen.

»Morgen ist ein neuer Tag«, sagte er leise und schloss mit dem Fuß die Tür hinter sich.

KAPITEL 05

Der Mühlenkomplex, Baikalsee – erster Morgen

Marcus wachte genau im Morgengrauen auf, umgeben von einer Stille, die so allumfassend war, dass sie sich absolut unnatürlich anfühlte. Er lag einfach nur da und starrte zur Decke hinauf. Daheim in Madeira Beach gab es Möwen, die den nahenden Sonnenaufgang begrüßten, das Geräusch von an goldenem Sand brechender Brandung und, wenn er Glück hatte, war Sara schon auf und kochte Kaffee.

Doch hier am See kam er sich vor wie im Innern eines Grabes. Er blinzelte einige Male und spürte die Kälte an seiner Nase, da das Haus noch nicht richtig beheizt war. Er warf die Decken zurück und schwang die Beine über den Bettrand.

»Ahh.« Er riss die Füße hastig wieder hoch und wünschte sich, er könne zurück unter die Decken, oder besser noch, mit Sara zusammen darunter krabbeln. Er vermisste sie jetzt schon furchtbar. Er hatte letzte Nacht versucht, sie anzurufen, hatte aber keinen Empfang gehabt, da das Signal mal wieder komplett verschwunden gewesen war. Irgendeine seltsame Eigenschaft dieser Gegend sorgte dafür, dass die Radio-, Satelliten- und wahrscheinlich sogar die Rauchsignale ständig blockiert waren.

Er setzte die Füße wieder vorsichtig auf den Boden, stand auf und trottete dann zum Fenster, das auf den See hinausging. Dieser war wie eine eisengraue Wüste, die so still und unbewegt war wie eine schmutzige Glasscheibe. Kleine Schwaden kalten Nebels hingen darüber, und von hier aus war es ein Leichtes, zu verstehen, warum die ersten Entdecker ihn für ein Meer gehalten hatten, da auf der anderen Seite kein Ufer zu sehen war. Marcus fand ihn ebenfalls so groß und endlos wie jeden Ozean, auf dem er je gewesen war.

Während er hinausschaute, entdeckte er zwei Männer – Pavel und seinen Sohn Nikolai, vermutete er – die über das Gelände gingen und Feuerholz sammelten. Beide hatten ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen und ihr Atem dampfte in der windstillen Luft wie der von Rennpferden.

Marcus versuchte, die unglaubliche Menge von Aufgaben, die er nun bewältigen musste, zu überdenken, und jetzt, wo er hier war, war es an der Zeit, diese weiterzuentwickeln und Prioritäten zu setzen. Die Reinigung, Renovierung und Einrichtung des Labors war natürlich vorrangig, denn seine Anlagen mussten topp in Schuss sein, damit die Föderale Behörde für Fischerei und Bestandserhaltung die Fische auch freigab. Bevor sie das tat, würde sie ihm nämlich garantiert einen Besuch abstatten wollen.

Er hatte den Vertrag zwar in der Tasche, aber es lagen dennoch mehrere Hürden auf seinem Weg, und wenn er über eine von ihnen stolperte, würde das gesamte Projekt verzögert, mit einer Strafe belegt oder sogar abgebrochen werden, und er zweifelte stark daran, dass es eine Entschädigung für aufgewendete Mittel geben würde, falls so etwas geschah.

»Hängt ja nicht viel davon ab.« Er schnaubte. »Nur einfach mein ganzes Leben.«

Er hörte, wie an einem Ende des Mühlen-Anwesens Holz gefällt wurde, und da er bezweifelte, dass es Yuri war, musste es einer der hiesigen Russen sein. Er entschied spontan, den Männern einen festen Arbeitsplatz anzubieten – vielleicht mit einer dreimonatigen Probezeit, um ihnen erst mal richtig auf den Zahn fühlen zu können.

Denn brauchen konnte er sie auf jeden Fall, und schon nach nur wenigen Stunden hatte er den Eindruck gewonnen, dass sie vertrauenswürdig, ziemlich sympathisch, wenn auch ein wenig abergläubisch waren.

Außerdem konnten sie auf diese Weise direkt heute mit den Umbauarbeiten beginnen. Yuri könnte im Bedarfsfall ja noch weitere professionelle Handwerker für die komplexeren Arbeiten organisieren. Er würde auch Spezialisten für den Laboraufbau hinzuziehen müssen … noch so eine Sache auf seiner Dringlichkeitsliste.

Marcus ging zu seinem Bett zurück, wo in der Nähe eine Schüssel mit Wasser und ein kleines Handtuch auf ihn warteten. Er stand einige Sekunden lang da und schaute darauf hinab, ehe er schließlich vorsichtig die Hände hineintauchte, eine doppelte Handvoll eiskalten Wassers aufnahm und es sich kurzerhand ins Gesicht spritzte. Es war genauso kalt, wie er erwartet hatte, und umgehend war er vollständig wach. Er trocknete sein Gesicht ab. Er fühlte sich zwar erfrischt, konnte sich aber trotzdem nicht dazu durchringen, seinen gesamten Körper mit dem eiskalten Wasser zu waschen, daher zog er sich stattdessen hastig einen dicken Pullover über.

Anschließend lief er pfeifend die Stufen zur Eingangshalle hinunter und öffnete die Tür. Augenblicklich wurde er mit Holzrauch, beißender Morgenluft, und dem Geräusch von Zweigen, die für ein Feuer zerbrochen wurden, konfrontiert.