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Im Dezember 2018 folgten der ehemalige Special-Forces-Soldat Ben Cartwright und ein Team aus naiven Entdeckern den Hinweisen seines Ahnen zu einem Plateau mitten im Dschungel des Amazons. Der Legende nach sollte sich dort alle zehn Jahre ein Portal in eine längst vergessene Welt öffnen. Die wagemutigen Forscher schritten hindurch und fanden eine Welt voller Wunder … und des Grauens. Einzig Ben und seine Jugendliebe Emma überlebten. Doch dann begann sich das Portal wieder zu schließen und Ben blieb auf der anderen Seite gefangen. Emma hat zehn Jahre lang darauf gewartet, dass sich das Portal wieder öffnet. Dieses Mal würde sie vorbereitet sein. Dieses Mal würde sie gut ausgerüstet sein, um zu jenem höllischen Ort zurückzukehren und zu überleben. Alles, worauf sie hofft, ist, dass Ben noch am Leben ist … Die Fortsetzung des Bestsellers PRIMORDIA führt den Leser erneut in eine prähistorische Welt, über Berge, durch Sümpfe, eigentümliche Urwälder und sogar in die Tiefen eines urzeitlichen Ozeans.
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Seitenzahl: 415
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This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: PRIMORDIA 2 – RETURN TO THE LOST WORLD. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2018. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: PRIMORDIA 2 – RETURN TO THE LOST WORLD Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Kalle Max Hofmann
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-421-0
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Es ist nur ein kleiner Komet.
Er trägt den Namen P/2018-YG874, genannt Primordia. Vermutlich kam er vor etwa einhundert Millionen Jahren aus der Oort-Wolke plus/minus ein paar Millionen Jahren.
Seitdem reist dieser winzige Himmelskörper auf einer elliptischen Umlaufbahn durch unser Sonnensystem. Er kommt der Erde näher, passiert sie und fliegt dann zurück zur Sonne, wo er von deren Schwerkraft eingefangen und wieder zurückgeschleudert wird, um eine weitere Runde zu beginnen. Das ist ein Jo-Jo-Spiel, das schon seit Millionen von Jahren läuft und auch noch Millionen von Jahren so weitergehen wird.
Die Erscheinung von Primordia, womit die Zeit gemeint ist, wo er mit bloßem Auge sichtbar ist, gibt sich unspektakulär. Die einzige Besonderheit ist laut Wissenschaftlern die hohe Konzentration von Eisen und seltenen Mineralien in seinem Inneren. Durch Wechselwirkungen entsteht dadurch eine ungewöhnliche magnetische Verzerrung.
Bei seinem langsamen Vorbeiflug an der Erde kommt der Komet einem Gebiet in Südamerika am nächsten, genauer gesagt einem Tafelberg in Venezuela. Man kann ihn nur für ein paar Tage beobachten, doch in dieser Zeit spielen sich merkwürdige Dinge auf diesem Felsplateau ab. Die gesamte Umgebung verändert sich, Durchgänge öffnen sich und kosmische Verbindungen werden geschaffen.
Eine weitere direkte Folge ist ein monsunartiges Tiefdruckgebiet, dessen Auswirkungen die Ureinwohner schon seit Jahrtausenden kennen. Sie nennen es die feuchteste Jahreszeit. Ihnen war schon immer bewusst, dass diese Gegend dann zur Heimat von Göttern und Monstern wurde und keinesfalls besucht werden sollte. Denn die, die dort hingingen, kamen nie zurück.
Ich weiß, dass das wahr ist. Mit einer Ausnahme: Ich selbst bin zurückgekommen.
***
Der Einschlag eines Kometen auf der Erde kann verheerende Folgen haben, abhängig von seiner Größe und Zusammensetzung. Doch selbst, wenn er die Erde nur streift, kann das Effekte hervorrufen, die noch nicht zufriedenstellend erforscht oder auch nur dokumentiert wurden.
So brachte im Oktober 2014 der näherkommende Komet C/2013-A1, genannt Siding Spring, das Magnetfeld um den Mars komplett durcheinander.
Er hielt inne und lauschte angespannt den leisen Geräuschen außerhalb der Höhle. Viele Minuten saß er starr in der fast völligen Dunkelheit, die nur von den ausglühenden Kohlen seines Lagerfeuers in ein teuflisches Rot getaucht wurde.
Nach fünf Minuten der absoluten Stille atmete er tief durch und wendete sich wieder der Aufgabe zu, einen Ast anzuspitzen, indem er ihn an einem rauen Stein rieb. Sein Messer, das inzwischen längst verrostet war, hatte er an das Ende eines geraden Holzstabs gebunden, sodass ein Speer entstanden war – seine einzige Waffe, sein einziger Schutz.
Er hielt inne und betrachtete noch einmal den Höhlenausgang. War dieses sanfte Kratzen an den Felsen ein absichtliches Ertasten, ein Suchen nach dem Durchgang, den er wie jeden Abend verschlossen hatte? Er wusste, dass einige der Kreaturen, die in der Nacht jagten, stark genug waren, um trotzdem hereinzukommen. Fast jede Nacht hörte er die Geräusche des Tötens und des Sterbens dort draußen – doch er wusste, solange sie dort draußen blieben, war er hier drinnen sicher.
Er linste zwischen den langen Strähnen seiner fettigen Haare die Wände hinauf. Er hatte Tage und Wochen damit verbracht, die Innenwände mit Lehm und Schlamm zu beschmieren, wobei er jeden Spalt, Riss oder Durchbruch verschlossen hatte, damit kein Lebewesen, egal wie klein, sein Schlafgemach erreichen konnte. Er wusste, dass in der Nacht so einige Kreaturen auf der Jagd waren, und zwar nicht nur große, sondern auch sehr kleine. Und im Schlaf war er am leichtesten verwundbar.
Er verlagerte sein Gewicht und spürte dabei, wie der getrocknete Schlamm von seiner Haut abblätterte. Er rieb sich regelmäßig damit ein, um seinen Körpergeruch abzuschirmen und Insekten vom Stechen abzuhalten.
Sein Blick suchte aufmerksam die Wände ab. Auf einer von ihren waren hunderte von Markierungen – jeweils vier parallele Striche, die von einem fünften, diagonalen durchkreuzt wurden. So zählte er seine Tage, einen nach dem anderen. Bis jetzt ergaben sie zusammengerechnet 2920 lange, einsame und grauenhafte Tage, die er hier verbracht hatte. Aber es waren immer noch viele, viele mehr, bis seine Chance kommen würde, endlich von hier zu entfliehen.
Nun richtete er seine Aufmerksamkeit auf eine andere Wand, an die er eine Erinnerung gezeichnet hatte, die nun schon acht Jahre her war. Es war seine Motivation und sein Wunschtraum: Ein Diner namens Ricky's Rib Joint, komplett mit einer riesigen Neonschrift auf dem Dach und großen Fenstern, durch die man die Gäste sah. Eine dieser Personen hatte er besonders detailliert ausgestaltet; es war ein Mädchen, das ihn durch die Scheibe hindurch ansah.
Ben Cartwrights Augen wurden feucht, als er an sie dachte und er bewegte seine trockenen Lippen. »Vergiss mich nicht, Emma«, flüsterte er. »Bitte verg–«
Seine Worte blieben ihm im Hals stecken, als er in unmittelbarer Nähe ein Schnüffeln hörte. Dann explodierte der Höhlenausgang nach innen und das monströse Wesen raste direkt auf ihn zu.
»Das Leben ist weitaus kurioser als alles, was der menschliche Geist erfinden könnte.«
Venezuela, tief im Amazonas, auf einem unbekannten Tafelberg
Emma hockte sich hin und griff eine Handvoll Geröll. Sie schaute sich die verwitterten Steinfragmente an und rieb sie nachdenklich mit ihrem Daumen, bevor sie sie wieder fallen ließ.
Sie lehnte ihre Unterarme auf die Knie und drehte langsam den Kopf, wobei sie die Wangen aufblies. Dieser Ort, dieser Tafelberg, in der Landessprache Tepui genannt, befand sich in der Mitte des Nirgendwo, er war nicht kartografiert und nicht erforscht.
Und warum sollte er auch?, dachte sie. Er war wie die Oberfläche eines fremden Planeten – von Rissen durchzogen, ein paar Pfützen hier und da, karge Bäume und ein paar steife Gräser.
Sie schaute sich weiter um und suchte nach etwas, nach irgendeinem Anzeichen, dass hier einmal etwas anderes gewesen war. Während sie so dasaß, kam ein kleiner Sandfisch unter einem flachen Stein hervorgekrochen und verfolgte ein winziges Insekt. Sie schaute zu, wie das Reptil mit seinen purpurroten Augen in zuckenden Bewegungen auf sein Opfer zustürmte.
Desinteressiert wandte sich Emma ab. Hier war nichts, hier gab es keine Geheimnisse zu entdecken. Wenn die feuchteste Jahreszeit zurückkehren würde, so wie sie das wahrscheinlich seit Tausenden oder Millionen von Jahren tat, dann würde alles, was hier war, begraben, versteckt oder sogar zerstört werden. Stattdessen würde man wieder das vorfinden, was vor 100 Millionen Jahren hier existierte. Nur an diesem einen, bestimmten Ort in der Welt.
Was sie verloren hatte, würde sie dann vielleicht wiederfinden können. Sie legte eine Handfläche auf den sonnengewärmten Boden. »Bist du da, Ben?«
Sie hielt einen Moment inne, dann ließ sie die Finger über die Oberfläche des uralten Felsens gleiten. Sie wusste, dass keine Antwort kommen würde – nicht, bevor noch weitere zwei Jahre vergingen und die richtige Zeit gekommen war.
Hinter ihr wartete ein riesiger Helikopter. Der Pilot sah ihr regungslos zu, schließlich war er großzügig dafür bezahlt worden, sein Fluggerät mit zusätzlichen Treibstofftanks auszustatten und darüber hinaus sein völliges Stillschweigen über diese Flüge zuzusichern.
Sie konnte sich sehr gut vorstellen, was er dachte. Vermutlich das gleiche, was jeder andere dachte, dem sie von ihrem Abenteuer erzählt hatte: Dschungelfieber, Halluzinationen, posttraumatische Störungen oder pure Wahnvorstellungen. Das alles waren Vorwürfe, die sie sich bereits hatte anhören müssen.
Doch sie kannte die Wahrheit und schaute auf in den strahlend blauen Himmel. Eines Tages würde der verhängnisvolle Streifen dort auftauchen; der Schweif von Komet P/2018-YG874, genannt Primordia. Erst würde er eine Aurora Australis in der Atmosphäre entstehen lassen und dann würde sein kraftvolles Magnetfeld Raum und Zeit an der Erdoberfläche verzerren. Ein Durchgang würde sich öffnen, genau hier, und sie würde darauf warten.
Emma Wilson stand auf und drehte sich um, wobei sie ihren Zeigefinger hocherhoben in der Luft rotieren ließ. Der Pilot startete sofort die Motoren und die riesigen Rotorblätter setzten sich in Bewegung.
Sie war soweit fertig mit ihren Vorbereitungen, doch eine Sache gab es noch, die sie tun musste.
Venezuela, Caracas, Museum der Wissenschaften
Emma stieg aus dem Taxi und stand nun vor dem bemerkenswerten Gebäude, dessen fantastische Skulpturen und Ornamente von dem großartigen Künstler Francisco Narvaez stammten.
Sie ließ die gesamte Opulenz der Fassade des Museums auf sich wirken, das eines der ältesten des Landes war. Als es eröffnet wurde, nannte man es das naturwissenschaftliche Museum, doch im Laufe der Zeit wurde der Name auf Museo de Ciencias verkürzt – das Museum der Wissenschaften – um der im Verlauf der Jahre immer weiter gefassten Ausrichtung gerecht zu werden. Es war aber auch egal, wie man es nun genau nannte – wie die meisten Orte, die der öffentlichen Bildung dienten, lag es im Sterben. Ein Opfer der schnelllebigen Zeit des Internets und all seiner jederzeit verfügbaren Informationen.
Emma war aus einem ganz bestimmten Grund hierhergekommen. Obwohl es hier einige der besten Sammlungen aus den Bereichen Archäologie, Anthropologie, Paläontologie und Herpetologie des ganzen Landes zu sehen gab, interessierte sie sich für nur eine einzige Sache.
Sie lief die Treppe hinauf und auf die riesigen Türen zu, wobei sie ihr geisterhaftes Abbild in den Glasscheiben sah. Sie waren derart poliert, dass sie wie Spiegel wirkten, und sie betrachtete ihr eigenes Abbild: Die leuchtend grünen Augen, die braunen Haare, die im direkten Sonnenlicht schimmernde, rötliche Akzente hatten, und hier und da gab es noch einige Sommersprossen auf ihren Wangen und der Stupsnase.
Doch als sie näher kam, wurde dieses Abbild immer klarer und detaillierter. Emma blieb für einen Moment stehen und schaute genauer hin. Sie hatte eine Strähne silbrigen Haares direkt über der Stirn, die sie nicht zu färben gedachte, in ihren Augenwinkeln hatten sich zahlreiche Falten gebildet, weil sie so oft in grellem Sonnenlicht unterwegs war. Dazu gab es eine deutliche vertikale Linie mitten auf ihrer Stirn, wahrscheinlich aufgrund von Sorgen. Ihr Gesicht wirkte älter, weiser, und so mancher würde vielleicht sagen: traumatisiert.
Dann ist das eben so, dachte sie, als sie den Kopf schüttelte und die schweren Türen beiseiteschob und sofort eine Erleichterung von der venezolanischen Hitze verspürte. Tief atmete sie den Geruch von altem Holz und Papier ein, von Bohnerwachs und etwas, das vielleicht Konservierungsmittel sein konnte.
Als sie das Klackern sich schnell nähernder Schritte auf dem Marmorboden bemerkte, drehte sie sich um und winkte einem kleinen Mann mittleren Alters zu, der perfekt gepflegtes, zurückgekämmtes, graues Haar hatte und einen makellosen dreiteiligen Anzug trug. Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und griff fest zu. Sie musste ihn auf ihre Seite bringen, und zwar schnell.
»Herzliche Grüße, Misses Wilson!« Der Mann strahlte sie an. »War Ihre Reise zufriedenstellend?«
Sie nickte. »Ja, vielen Dank, Señor Alvarez. Sie sind ja in natura genauso gut aussehend wie auf den Fotos!«
Der Mann strahlte weiter, wurde aber auch etwas rot. Er schüttelte ihre Hand noch ein paar Sekunden länger und wirkte verlegen wie ein Schuljunge.
»Ach, eigentlich brauche ich neue Porträts.« Er deutet auf seinen Kopf. »Meine Haare sind ja inzwischen komplett ergraut.«
»Das steht Ihnen.« Emma sah sich um. »Ein wunderschönes Museum! Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich zu empfangen.«
Er drehte sich um und berührte sie am Ellbogen, wobei seine andere Hand auf einen Gang zeigte. »Ach wissen Sie, bei uns ist es in letzter Zeit sehr ruhig.« Seine Mundwinkel wanderten abwärts. »Die jungen Leute heutzutage sind ungeduldig, sie holen sich ihr Wissen, und vielleicht sogar ihre Weltsicht, aus dem Internet.« Er seufzte.
»Ich weiß, aber die wissen gar nicht, was sie verpassen«, antwortete Emma.
Die beiden liefen schweigend den Gang hinunter, wobei die einzigen Geräusche ihre Schritte auf dem polierten Boden waren, hin und wieder das Quietschen einer der schweren Türen, die sie passierten.
Alvarez hatte nicht übertrieben, stellte Emma fest, denn sie schienen den ganzen Laden für sich allein zu haben. Der kleine Mann hatte beim Gehen die Hände in die Taschen gesteckt und drehte seinen Kopf in ihre Richtung.
»Sie waren also schon mal in unserem Land? Und im Amazonas?«
»Ja, vor acht Jahren.« Sie schnaubte leise. »Vor acht Jahren, drei Wochen und zwei Tagen, um genau zu sein.«
Alvarez' Augenbrauen hoben sich. »So genau wissen Sie das noch?«
Emmas Miene verfinsterte sich. »Sagen wir mal, es gab bleibende Eindrücke.«
Der Mann musterte sie für einen Moment und räusperte sich dann. »Der Dschungel bietet manchen Menschen nicht nur positive Erlebnisse.«
Er lief schweigend ein paar Meter weiter, entschied sich dann aber doch dafür, die Stille mit etwas mehr Small Talk zu füllen. »Wussten Sie, dass der Amazonas immer noch der größte Regenwald der Welt ist?«
Sie lächelte und nickte. »Ja, das weiß ich.«
Er erwiderte das Lächeln. »Aber wussten Sie auch, dass frühere Schätzungen, unser Dschungel wäre 55 Millionen Jahre alt, sich inzwischen als viel zu vorsichtig entpuppt haben? Es gibt in den tiefsten, abgelegensten Gebieten Bereiche, die bis zu 100 Millionen Jahre alt sein könnten.«
Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Sogar das wusste ich.«
»Sie haben wirklich ihre Hausaufgaben gemacht, Misses Wilson, meinen Respekt.« Alvarez legte den Kopf etwas schief. »Das erklärt auch, warum Sie zu den wenigen Menschen auf der Welt gehören, die etwas über unser Artefakt wissen.« Er blieb vor einer verschlossenen Tür stehen und kramte einen Moment in seiner Tasche, bevor er ein großes Schlüsselbund hervorzog. »Ich frage mich nur, wie haben Sie davon erfahren?«
Emma spürte einen Anflug von Aufregung, als sie darauf wartete, dass die Tür sich öffnete. »Ein Professor Michael Gibson von der Universität Ohios hat mir davon erzählt. Er war sich allerdings nicht einmal sicher, ob es stimmte. Er sagte, vielleicht sei es nur eine Geschichte.«
»Das ist ein renommierter Experte für Archäologie, ich habe schon von ihm gehört.« Er steckte einen Schlüssel in das Schloss, hielt jedoch noch einen Moment inne, um sie zu mustern. »Trotzdem haben Sie eine lange Reise auf sich genommen, um etwas zu sehen, das zwar real, aber auch sehr verwirrend ist.«
»Pure Neugier«, sagte sie und hielt ihren Blick auf der Tür.
»Die soll ja laut einem Sprichwort in Ihrer Sprache schon Katzen das Leben gekostet haben, nicht wahr?« Er grinste sie an.
»Nicht nur Katzen«, antwortete sie in böser Erinnerung.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Vermutlich nicht nur Katzen«, stimmte er zu, entriegelte die Tür und schob sie auf. Er schaltete das Licht an und vor ihnen eröffnete sich ein großer Raum voller Ausstellungsstücke, die entweder eingelagert worden waren oder noch auf ihre Klassifizierung warteten.
Emmas Blick wurde sofort von einem großen Schrank an der gegenüberliegenden Wand angezogen, der direkt von einem eigens dafür eingerichteten Lichtkegel angestrahlt wurde, sodass die bronzenen Griffe an den stabil aussehenden Schubfächern nur so funkelten. Sie musste sich beherrschen, nicht einfach an Alvarez vorbeizustürmen. Stattdessen ging sie ruhig hinter ihm her. Er griff nach einer der größten Schubladen, die die gesamte Breite des Schrankes einnahm und zog sie hervor. Emma spürte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug.
»La huella de Dios«, sagte Alvarez in ehrfürchtigem Ton.
Emma flüsterte die Übersetzung: »Der Fußabdruck Gottes.«
Sie starrte das Objekt an, es war eine steinerne Scheibe, etwa sechzig Zentimeter breit und dreißig Zentimeter tief. An einem Rand war etwas, das wie ein menschlicher Fußabdruck aussah, dessen Zehen tief in das Material gepresst worden waren. Eher in der Mitte befand sich der Abdruck einer Art riesiger Echsenkralle, möglicherweise der Fuß eines Dinosauriers. Der Anordnung der Füße nach sah es so aus, als würde die eine Person rennen, die andere ihr folgen. Emma schloss die Augen für einen Moment und spürte, wie das Wasser darin aufsteigen wollte.
»Diese Versteinerung ist auf 100 Millionen Jahre datiert worden, sie stammt also aus der späten Kreidezeit.« Er wandte sich ihr zu. »Dem Zeitalter der Dinosaurier.«
Emma starrte wieder auf das Fundstück, ihr Blick nun verwässert. »Glauben Sie …?« Sie zog die Nase hoch und wischte sich schnell mit dem Ärmel über das Gesicht.
Alvarez nickte. »Es ist unmöglich, ich weiß. Aber dieser Fels wurde mit aller wissenschaftlichen Genauigkeit radiologisch datiert. Doch damals gab es noch keine Menschen. Viele Experten glauben deswegen, dass es der verzerrte Abdruck irgendeines unbekannten Tieres ist. Andere sehen es als Beweis, dass Gott durch unser Land wandelte, um seine Schöpfung zu bewundern.« Er zuckte mit den Schultern und grinste wieder. »Wir nennen es das Surama-Geheimnis, nach dem Ort, wo wir es gefunden haben, inmitten des Amazonas.« Er kicherte. »Ausstellen können wir es nicht, denn wer würde uns schon glauben?«
»Meinen Sie … kann ich es mal berühren?« Sie wandte sich ihm zu und hoffte, dass ihr Flirten sich nun auszahlen würde.
»Wie bitte?« Er schien verwirrt, vermutlich aufgrund des Nachdrucks in ihrer Stimme.
»Es ist wichtig.« Sie starrte ihm in die Augen, doch seine Mundwinkel wanderten nach unten. »Warum? Warum wollen Sie …?«
»Bitte«, drängte sie, »es ist mir extrem wichtig.«
Alvarez Unterkiefer zuckte, offenbar wog er ihre Bitte ab. »Señorita Wilson, Sie müssen sehr vorsichtig sein. Und bitte heben Sie den Stein nicht von der Unterlage.« Er warf einen Blick über seine Schulter. »Machen Sie schnell.« Er beobachtete sie genau.
Emma hob ihre Hand, streckte die Finger aus und näherte sich dem dunklen Stein. Sie fühlte seine Kühle und ließ ihre Finger über die Abdrücke gleiten, ertastete die Ferse und die Zehen.
»Der Stein wurde vor über hundert Jahren in der Mündung eines Flusses gefunden, nach starkem Regen. Er muss aus dem tiefsten Amazonas herbeigespült worden sein.« Alvarez sah zu, wie sie ihre Finger beinahe liebevoll über die Abdrücke gleiten ließ. »Wer oder was auch immer diese Abdrücke gemacht hat, diese Wesen sind seit hundert Millionen Jahren tot.«
»Für mich nicht«, flüsterte sie, zog ihre Hand ruckartig zurück und drehte sich auf dem Absatz um.
»Wie? Das war schon alles?« Alvarez richtete sich auf, als sie sich daran machte, den Raum zu verlassen. »Äh, vielleicht könnten wir uns noch ein bisschen unterhalten, bei einem Kaffee vielleicht, oder …?«
Emma schaute noch einmal über ihre Schulter, als sie die Tür erreicht hatte. »Vielen Dank, Señor Alvarez, aber ich habe sehr viel zu tun und nicht mehr viel Zeit.«
Sie verließ das Gebäude und rannte die Treppen hinunter, wobei ihre Gedanken rasten. Statt sich sofort ein Taxi zu nehmen, ging Emma die Straße hinunter und folgte den prächtigen Alleen, während sie in ihrem Kopf ganz woanders war, in einer anderen Zeit vor vielen, vielen Jahren.
Sie stellte sich Ben in dem dunklen, urzeitlichen Dschungel vor, wie er um sein Leben rannte und verfolgt wurde.
Das letzte Mal hatten sie sich wie dumme Kinder verhalten, die keine Ahnung hatten, worauf sie sich da einließen. Und dafür hatten sie bitter bezahlt, die meisten von ihnen mit ihrem Leben. Doch diesmal würde sie bereit sein. Sie würde ein Team zusammenstellen, das über genug Fachwissen und Feuerkraft verfügte. Sie musste noch einiges erledigen und hatte leider schon viel zu lange gewartet. Doch ihr Entschluss, an Ort und Stelle zu sein, wenn die feuchteste Regenzeit zurückkehren würde, war unumstößlich und brannte in ihrem Herzen noch genau so sehr wie an jenem Tag, als sie von diesem teuflischen Plateau heruntergeklettert war und mit angesehen hatte, wie es sich scheinbar in Luft auflöste.
Personal, Logistik, Zeitfenster und Finanzen jagten durch ihren Kopf und sie achtete auf kaum etwas anderes. Geistesabwesend lief sie durch die Straßen und registrierte plötzlich, dass sie sich in einem ziemlich heruntergekommenen Teil der Stadt befand. Es gab Ecken in Venezuela, da zählte Respekt nicht mehr viel, denn wenn die Zeiten hart sind, werden Menschen ungemütlich. In diesem Viertel war sie keine Frau oder auch nur ein menschliches Wesen mehr, sondern einfach nur ein Ziel.
Als sie an einer dunklen Gasse vorbeiging, packte sie jemand von hinten und drückte ihr eine kleinkalibrige Pistole gegen die Wange. Emma hätte gern ihre eigene Dummheit verflucht, aber mit dem muskulösen Arm um ihren Hals konnte sie nicht mehr sprechen.
Sie ließ zu, dass man sie tiefer in die Gasse hineinzog, wo ein weiterer Mann vor ihr auftauchte. Er war auf den ersten Blick ein zwielichtiger Geselle – mit wulstiger, gebrochener Nase, gelblich gefärbten Augen und vielen Zahnlücken.
Der Druck auf ihren Hals ließ nach.
»Nehmen Sie!« Emma hielt ihre Augen auf den Mann gerichtet, während sie ihm ihre Tasche entgegenhielt. Er riss sie ihr aus der Hand. »Mal sehen, ob heute guter Tag!«, sagte er in brüchigem Englisch und musterte sie. »Aber ich glauben, nicht gut für Sie!«
Der größere Mann, der sie festhielt, schnaubte in ihr Ohr.
»Nehmen Sie das Geld und lassen Sie mich laufen. Ich werde nicht zur Polizei gehen«, sagte sie ruhig.
»Oh, das weiß ich«, entgegnete der Mann mit der gebrochenen Nase und warf einen weiteren Blick auf sie. »Aber ich glauben, wir noch nicht fertig mit so schöne Frau!«
Er wühlte durch ihre größtenteils leere Tasche. »Americano?«
Sie ignorierte ihn, denn sie wusste, was jetzt kommen würde, und der Diebstahl war dabei ihre geringste Sorge. Sie würden sie ausrauben, verprügeln und vergewaltigen, und wenn sie noch ihre Spuren verwischen wollten, würden sie ihr die Kehle durchschneiden. In jeder Stadt der Welt gab es solchen Abschaum.
Ihre Wut schwoll an. Der große Mann hinter ihr verlagerte seine Haltung, um zusehen zu können, wie sein Komplize ihre Tasche ausleerte.
»Letzte Chance«, sagte sie.
Er schüttelte die Tasche aus und verzog das Gesicht. »Bring sie zum Schweigen!«
Die Pistole entfernte sich kurz von ihrer Wange und der fleischige Arm bewegte sich – vermutlich, um ihr eine Hand über den Mund zu legen oder Schlimmeres.
Doch genau auf diesen Moment hatte sie gewartet, denn für einen Sekundenbruchteil hatte er sie nicht mehr voll unter Kontrolle. Sie ließ sich fallen und rutschte durch die Arme ihres Peinigers, der sich nun nach vorn beugte, um sie zu packen. Doch sie rammte ihre Hacken in den Boden, stieß sich ab und jagte wie eine Sprungfeder wieder nach oben, wobei ihr Kopf genau in Richtung seines Kinns raste.
Es war ein Volltreffer – sein Kopf wurde mit einem Krachen zurückgeschleudert und ihre Hand griff nach der Pistole. Sie umschloss seine Hand, legte ihren Zeigefinger auf den seinen und hatte damit Kontrolle über den Abzug. Dann riss sie seine Hand herum, sodass die Mündung der Waffe nun auf das überraschte Gesicht des kleineren Mannes zeigte. Sie zögerte keine Sekunde und feuerte.
Das Ohr des Mannes verwandelte sich in eine Fontäne aus Blut und Knorpeln und er jaulte vor Schmerzen auf, die Augen weit aufgerissen. Er ließ die Tasche fallen, während Emma die Pistole aus der Hand des immer noch benommenen Muskelbergs hebelte. Dann zog sie ihm den Griff über den Schädel und der Hüne kippte um wie ein gefällter Baum.
Sein Kumpan mit der gebrochenen Nase hatte genug gesehen – er drehte sich um und rannte davon. Hinter Emma stöhnte der andere vor Schmerzen mit einem lilafarbenen Fleck auf dem Kinn und einer wachsenden Beule an seinem Schädel.
Routiniert ließ Emma das Magazin aus der Waffe fallen und die letzte Kugel aus dem Lauf springen. Dann warf sie die Einzelteile in einen Mülleimer. Sie sammelte ihre Sachen ein, zog ihre Kleidung gerade und verließ die Gasse.
Seit sie sich durch den Amazonas gekämpft hatte, war sie sehr fleißig gewesen. Sie hatte hart trainiert und ihren Körper gestählt. Sie war zwar beinahe zehn Jahre älter, doch ihr Körper bestand jetzt aus purem Stahl.
Wenn Primordia wiederkommen würde, war sie auf jeden Fall bereit.
***
Emma Wilson lief ganz entspannt zur nächsten Hauptstraße und hielt sich ein Taxi an. Auf der anderen Seite der Straße stand ein Auto mit heruntergelassenen Scheiben. Darin befand sich ein Mann, der ein langes Teleobjektiv auf Emma richtete und in schneller Folge ein Bild nach dem anderen machte.
Als Emmas Taxi losfuhr, ließ er das Objektiv sinken, startete seinen Motor und folgte ihr.
Ohio, Greenberry – 3 Monate bis zur Erscheinung
Emma kniete neben dem Bett von Cynthia Cartwright, nachdem sie ihr eine Tasse lauwarmen Tee gebracht hatte. Sie kam nicht umhin zu bemerken, dass die alte Dame noch fragiler aussah als sonst. Die Tatsache, dass sie ihren geliebten Sohn Ben an den Dschungel des Amazonas verloren hatte, war ihr ganz und gar nicht gut bekommen.
Cynthia hatte sich Emmas Geschichte angehört und ihr jedes Wort geglaubt. Immerhin hatte das gleiche Phänomen schon im Jahr 1908 einen Vorfahren von Ben aus dem Leben gerissen, und es waren seine Aufzeichnungen gewesen, die ihren Jungen an diesen gottverdammten Ort geführt hatten.
So hatte Cynthia Emma zunächst darum gebeten, später angebettelt, dass sie ihren Sohn finden möge. Es war ihr ganz egal, wie lange es dauern würde, was es kostete oder wie gefährlich es wäre. Sie hatte ihr gesamtes Vermögen zur Verfügung gestellt, und Emma hatte ihr versprochen, ihr Möglichstes zu tun.
Unterm Strich hätte Emma es so oder so versucht, aber mit dem Geld der Cartwrights in der Hinterhand waren die Voraussetzungen viel besser. Sie liebte Ben, und er war auch nur dort zurückgeblieben, weil er seine Freiheit geopfert hatte, damit sie entkommen konnte. Wenn er noch lebte, dann würde sie ihn nach Hause bringen oder bei dem Versuch sterben.
Emma schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und ging dann in ihr Büro. Cynthia hatte sie gebeten, bei ihr einzuziehen, und das hatte sie angenommen. Schon bald war sie so etwas wie eine Adoptivtochter der alten Dame geworden.
Sie öffnete leise die Tür zu ihrem Zimmer und huschte hinein. Im Inneren warteten mehrere Computer, Karten und Zeitungsausschnitte, die eine Zeitspanne von hundert Jahren umfassten. Jeder davon berichtete von merkwürdigen Vorkommnissen und der Sichtung bizarrer Kreaturen im Amazonas. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht.
Emma setzte sich und zog ihren Stuhl näher an einen der Bildschirme heran, wo sie die Sternkarte mit den Flugbahnen von Kometen öffnete. Es gab natürlich nur einen einzigen, der sie interessierte: P/2018-YG874, genannt Primordia. Er hatte seine elliptische Kurve um die Sonne längst beendet und war unterwegs zur Erde. In ein paar Monaten würde es zur Erscheinung kommen. Zu diesem Zeitpunkt würden sich die kosmischen Effekte, die Primordia mit sich brachte, bemerkbar machen – aber nur an einem abgelegenen Flecken der Erde: einem Tafelberg im Dschungel Venezuelas.
Sie wusste, dass man diesen Ort kaum erreichen konnte, erst recht nicht, wenn der Komet seine Wirkung tat, denn sein Magnetfeld störte alle elektronischen Geräte. Dadurch konnte man den Ort nicht einmal mit Hubschraubern erreichen und selbst analoge Kompasse drehten durch.
Emma starrte lange auf den Bildschirm. Sie wusste genau, was passieren würde. Auf diesem Plateau würde die Welt auf den Kopf gestellt und ein Schnappschuss der Zeit, zu welcher der Komet das erste Mal die Erde besucht hatte, würde wiederhergestellt. Aber es war nicht nur ein Abbild einer lange vergangenen Epoche, es war wirklich die prähistorische Vergangenheit – es war ein Portal in eine andere Zeit. Dieses Fenster blieb nur für 24 Stunden offen, und wenn es sich schloss, war alles wieder verschwunden. So wie sie es verstand, war der urzeitliche Dschungel natürlich noch da, aber wieder in seiner eigenen Zeit; vor 100 Millionen Jahren.
Und dort war Ben Cartwright jetzt. Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob er noch lebte, ob er in Sicherheit war: diesen gottverdammten Ort selbst wieder zu besuchen.
Sie atmete tief durch und warf einen Blick auf ihre Checkliste. Beim letzten Versuch waren sie dumme Kinder gewesen, die dachten, sie machten einen kleinen Abenteuerurlaub. Komplett naiv und überheblich. Das hatte sich als tödlich herausgestellt.
Diesmal würde sie alles besser machen. Diesmal wusste sie, was auf sie zukam, und sie würde verdammt noch mal sichergehen, dass die Leute und Waffen, die sie mitnahm, der Sache gewachsen waren. Dementsprechend war die Liste nach Wichtigkeit sortiert und ganz oben stand ein Wort: Feuerkraft.
Lincoln’s Roadhouse, Denver, Colorado
Emma zwängte sich durch die Tür und stand dann für einen Moment regungslos im Inneren, bis ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Es war zwei Uhr nachmittags und die Bar war so gut wie leer – bis auf einen Tisch ganz hinten an der Rückwand. Vier kräftige Kerle saßen da, Biergläser und Kurze vor sich aufgereiht, das sogenannte Herrengedeck. Ein bisschen früh für das harte Zeug, dachte sie, aber vielleicht nicht, wenn du mit inneren Dämonen fertig werden musst.
Sie trugen Jeans und Leder, so mancher hätte sie vielleicht für Biker halten können. Sie hatten allerdings nur Stoppeln statt üppiger Bärte und ihre Haare waren zu Bürstenschnitten getrimmt.
Die Tür öffnete und schloss sich hinter Emma, doch sie ignorierte das und konzentrierte sich weiter auf die Männer. Für ihr Befinden sahen sie genauso aus, wie sie es erwartet hatte – ehemalige Soldaten, die entweder beurlaubt oder entlassen worden waren, oder selbst gekündigt hatten. Sie sah, dass einer von ihnen die Ärmel hochgekrempelt hatte, sodass ein auffälliges Tattoo auf seinem Unterarm sichtbar war: Ein Totenkopf, der von einem Schwert durchstoßen wurde und ein Barett trug – dieser Mann hatte zu den Special Forces gehört.
Das sind sie, dachte sie und marschierte schnurstracks auf den Tisch zu. Vier Augenpaare wandten sich ihr zu – musternd, einschätzend, amüsiert vielleicht, aber keinesfalls alarmiert oder abweisend.
»Mein Name ist Emma Wilson. Ich bin die Freundin von Ben Cartwright.«
Die Augen der Männer verengten sich. »Hat er dich hergeschickt?« Der Mann mit dem Tattoo stellte vorsichtig sein Bier ab.
»Auf eine Art schon«, antwortete sie.
»Du meinst also, du warst seine Freundin.« Seine Augen wanderten zurück zu ihr und sein Unterkiefer schob sich nach vorn.
Emma ließ sich nicht beirren. »Nein, ich bin seine Freundin. Ich bin sicher, dass er noch lebt, und ich glaube, nein, ich weiß, dass er eure Hilfe braucht.«
Ein anderer Mann, dessen Bürstenschnitt einen rotblonden Touch hatte, wandte sich ihr zu: »Jetzt weiß ich, wer du bist! Die Tante, die mit unserem guten, alten Big Ben in den Amazonas gefahren ist … und die als einzige diese Expedition überlebt hat!« Sein Blick bohrte sich in ihre Augen. »Acht gehen rein, nur eine kommt raus – du. Was für ein Glück!«
Der Tattoo-Mann hob sein Kinn. »Wie kann es sein, dass es ein Special-Forces-Mitglied wie Captain Cartwright nicht da raus schafft, aber ein kleines Mädchen wie du schon?«
»Also, erstens bin ich kein kleines Mädchen!« Sie starrte die Männer herausfordernd an. »Und zweitens lebe ich noch, weil er mich gerettet hat! Ohne ihn würde ich heute nicht mehr leben. Im Endeffekt ist er dort gefangen, weil er mir die Flucht ermöglicht hat.« Emma stützte ihre Fingerknöchel auf die Tischplatte. »Ich habe geschworen, dass ich ihn rette, und das werde ich verdammt noch mal auch tun!« Sie richtete sich auf. »Aber ich brauche Hilfe.«
Die Männer grinsten und der mit dem Tattoo schnaubte, woraufhin er sich einen Schluck Bier genehmigte – einen großen. Er schüttete beinahe ein Drittel seines Glases in sich hinein. »Wir brauchen alle Hilfe mit irgendwas, Darling.«
Emma war in den vergangenen Jahren öfter in Bens Wohnung gewesen und hatte seine Briefe, seine Aufzeichnungen und alte Fotos studiert. Dadurch wusste sie, dass diese Jungs aus seiner Einheit das waren, was besten Freunden am nächsten kam.
Sie verschränkte die Arme. »Wenn einer von euch in der Klemme stecken würde, dann würde Ben keine Sekunde verschwenden, euch zu helfen. So war er; allzeit bereit für seine Freunde.«
Der Tattoo-Mann schnaubte erneut, diesmal sah er allerdings deutlich weniger entspannt aus. »Schau mal, Ben ist so was wie ein Waffenbruder für mich. Damals wäre ich für ihn gestorben. Aber es ist neun Jahre her. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist, oder mit dir und all deinen Freunden. Aber man verschwindet nicht einfach zehn Jahre im Amazonas und spaziert dann wieder raus. Weißt du, was ich damit sagen will?«
Emma grinste ihn herausfordernd an. »Was, wenn ich dir sagen würde, dass es in ein paar Monaten eine Gelegenheit gibt, ihn zu retten? Dass er dann auf uns warten wird? Ich weiß es ganz sicher.«
Für einen Augenblick saßen die Männer einfach nur da und starrten sich an. Die Mundwinkel des Special-Forces-Typen wanderten nach unten. »Gewöhne dich an den Gedanken, Kleine: Er ist tot.« Er seufzte. »Wenn es eine Chance geben würde, dass er noch lebt …« Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben keine Zeit, auf irgendeine wilde Schnitzeljagd im sogenannten Herzen der Finsternis zu gehen.« Er schaute auf. »Der Amazonas frisst Menschen. Aber das weißt du schon, oder?«
»Ja, das weiß ich. Und genau deswegen brauche ich euch! Ich schätze mal, wir reden hier über ein paar Wochen Arbeit, plus Vorbereitung.« Sie fing an zu grinsen. »Und ich weiß, dass ein Tausender pro Tag für jeden von euch kein schlechter Lohn ist, um auf eine Schnitzeljagd zu gehen!«
Die Männer schauten sich überrascht an, doch dann landete sie einen weiteren Volltreffer: »Dazu gibt es einen Bonus von einhunderttausend Dollar für jeden von euch … wenn wir zurückkommen.«
Der Rothaarige verschluckte sich und richtete sich auf. Der Tattoo-Mann hob sein Bier und leerte es mit einem Zug, dann schob er das Glas wieder auf den Tisch. »Okay, jetzt hast du unsere Aufmerksamkeit.« Er reckte ihr eine riesige Pranke entgegen. »Drake Masterson.« Er deutet auf den Rothaarigen neben sich. »Fergus O'Reilly«, dann auf den nächsten, der die Hautfarbe dunklen Kaffees hatte und dem eine Ohrmuschel fehlte: »Brocke Anderson.« Als letzten nannte er den Jüngsten, aber vielleicht Kräftigsten. Der Mann sah deprimiert aus und hatte etwas in seinem Blick, das sie als Misstrauen interpretierte. Drake deutete mit dem Daumen auf ihn: »Last but not least, das ist Ajax Benson.«
Der Hüne lächelte, doch es war kein Funken Humor oder Freundlichkeit in dieser Geste. Als sich seine Lippen öffneten, entblößte er einen silbernen Schneidezahn.
Sie nickte jedem der Männer zu. »Emma. Emma Wilson.«
Fergus griff hinter sich und zog einen Stuhl vom Nebentisch heran. »Wir haben noch nicht ja gesagt. Aber wie Drake schon sagte, du hast unsere Aufmerksamkeit. Setz' dich und erzähle uns mehr.«
»Klar«, meinte sie und dachte, dass sie die Jungs so gut wie in der Tasche hatte. Sie wandte sich der Bar zu. »Noch eine Runde, für mich das gleiche!«
***
Camilla Ortega rutschte auf einen freien Barhocker und bestellte sich einen Scotch. Dann wechselte sie den Platz und setzte sich ans andere Ende des Raumes, von wo sie einen direkten Blick auf Emma hatte, die nun mit den Männern an einem Tisch saß.
Frau Ortega war seit zwanzig Jahren Journalistin und arbeitete bei einer der prestigeträchtigsten Zeitungen Südamerikas namens Nacional De Venezuela. Fast die Hälfte ihrer Karriere widmete sie nun schon der Frage, was mit der Cartwright-Expedition von 2018 geschehen war.
Sie nippte an ihrem Drink, während sie die anderen beobachtete. Ihre Theorie war, dass die Amerikanerin sie alle ermordet hatte, um sich in das Herz der alten Frau Cartwright zu mogeln und Alleinerbin ihres Vermögens zu werden.
Die Geschichte hatte sich jedoch als Sackgasse entpuppt, aber dann hatte ihr ein Kontakt in der Ausländerbehörde erzählt, dass Emma Wilson nun wieder Reisen nach Südamerika unternahm, und das hatte Camillas journalistische Sinne angeregt. Wilson hatte etwas vor, das spürte sie ganz genau, und sie wusste auch, dass dies vielleicht ihre letzte Chance war, die Wahrheit herauszufinden.
Camilla trank noch einen Schluck und sah weiter zu. Sie hatte zwar keinerlei Beweise, aber sie wusste, dass Mörder früher oder später immer an den Ort ihres Wirkens zurückkehrten. Und genau das hatte Emma Wilson jetzt vor.
Unauffällig zog Camilla ein Notizbuch und einen Stift aus ihrer Tasche und legte sie neben sich auf einen Stuhl. Sie tat so, als würde sie einfach nur ins Leere starren, dabei hielt sie die Gruppe genau im Blick und machte sich ununterbrochen Notizen. Es gab eine besondere Fähigkeit, die sie im Zuge ihrer Karriere erlernt hatte: das Lippenlesen. Während Emma und die Männer ihre Pläne diskutierten, schrieb sie alles mit.
Nach zehn Jahren sah es endlich so aus, als stünde ein kriminelles Puzzle kurz vor der Auflösung. Und diesmal würde Camilla ganz vorn mit dabei sein.
1948, über dem tiefsten Amazonasdschungel – zur Zeit der Erscheinung des Kometen
Der Gefreite John Carter grinste, als er in seiner Corsair-Kampfmaschine über die Baumwipfel donnerte. Die USS Bennington, der riesige Flugzeugträger der Essex-Klasse, war auf dem Rückweg nach Bermuda, und er und ein paar andere Piloten waren ausgesandt worden, das östliche Gebiet des südamerikanischen Kontinents auszukundschaften.
Im Grunde genommen hatte er einen wirklich sicheren Arbeitsplatz. Der Krieg war seit drei Jahren vorbei und es gab nicht einmal mehr verblendete Einzelkämpfer, die ihnen noch gefährlich werden konnten. Nach dem Ende des Konflikts hatten die meisten Männer und Frauen ihren Kriegsdienst an den Nagel gehängt und ihr normales Leben weitergeführt. Für Carter war das jedoch nichts; er liebte die Navy, er liebte das Fliegen, und deswegen war das hier sein Leben.
Und in diesem Moment spürte er ganz genau, warum das so war: Er ging hinunter und kam dem dichten Urwald noch näher. Dann drückte er den Schubregler nach vorn und spürte, wie der riesige Motor von Pratt&Whitney seine 2000 Pferdestärken mobilisierte. Hier oben war er frei wie ein Vogel, und da der Krieg zu Ende war, konnte er seine Flugstunden ohne jegliche Angst genießen.
Carter war einige hundert Meilen von der Ostküste Venezuelas entfernt und befand sich über nicht kartografiertem Dschungel. Er kicherte in Gedanken – war überhaupt irgendetwas davon schon erforscht? Er machte sich jedenfalls keine Sorgen, denn die Corsair hatte eine Reichweite von tausend Meilen und war so unverwundbar wie John Wayne mit seinem Colt. Okay, die Dinger ließen sich ein bisschen schwer auf dem Flugzeugträger landen, deswegen nannte man sie die Witwenmacher mit den schiefen Flügeln, aber er und seine Maschine waren sich so vertraut wie ein altes Ehepaar.
Carter und fünf seiner Kollegen waren über einen Radius von 250 Meilen verstreut und würden noch 200 weitere fliegen, bevor sie zur Bennington zurückkehrten. Bisher war der Himmel strahlend blau, abgesehen von einem kleinen Fleck am Horizont.
Er kniff die Augen zusammen; das war merkwürdig. Es sah ein bisschen wie ein Sturm aus, befand sich jedoch nur über einem vergleichsweise winzigen Teil des Dschungels. So eine Wetterformation hatte er noch nie gesehen. Er meldete es über Funk und bekam die Freigabe, einen genaueren Blick darauf zu werfen.
Carter stieg auf eine Flughöhe von etwa 500 Metern auf und sah, dass die dicken, lilafarbenen Wolken an einer bestimmten Stelle des Dschungels festzuhängen schienen. Als er näher kam, sah er, dass diese Wetterformation auch nach oben hin begrenzt war. Und was am merkwürdigsten war, sie rotierte, wobei sie nach innen immer dichter wurde. Er flog weiter darauf zu und beschloss, über sie hinwegzufliegen, um einen Blick ins Zentrum dieses schleichenden Wirbelsturms zu werfen.
Das sollte sich als keine gute Idee herausstellen. Sobald er sich über den wogenden Wolken befand, sprangen alle möglichen Warnlampen an und zu seinem Entsetzen fing der Motor an zu stottern.
»Tu mir das nicht an, Baby!«
Doch sie tat es – die Maschine schaltete sich einfach ab.
»Mayday, Mayday, ich stürze ab!« Er warf einen kurzen Blick auf seine Instrumente, um seine Position durchzugeben, doch die Zeiger hingen alle fest.
»Mein Gott!« Er wusste, dass das Funkgerät vermutlich auch nicht mehr funktionieren würde, doch die Dinge, die er in seiner Ausbildung gelernt hatte, übernahmen jetzt das Kommando. Auf etwas anderes konnte er sich auch nicht mehr verlassen.
»Hier ist Leutnant John Carter, letzte bekannte Position 5.9701 Grad nördlich, 62.5362 Grad westlich, etwa 240 Meilen von der venezolanischen Küste entfernt. Der Motor ist ausgefallen, ich stürze ab. Ich wiederhole: Ich stürze ab.«
Carter schaute aus dem Cockpitfenster, als sein Flugzeug in die Wolkenschicht eintauchte. Die Sichtweite sank sofort auf null.
Die Corsair war ein fantastisches und effektives Kampfflugzeug, aber sie konnte nicht gut gleiten. Schnell drehte sich die Nase nach unten und sie nahm Tempo auf.
»Was zum …?« Carter hatte das Gefühl, in den Nebelschwaden die Umrisse anderer Flugzeuge fliegen zu sehen, die jedoch größer waren als seine Maschine.
Er war nun nur noch zweihundert Meter über dem Boden und wusste, dass er keine andere Chance hatte, als auszusteigen. Doch in dem Moment, als seine Hand nach oben ging, um das Glasdach zurückzuschieben, brach er durch die Wolken und sah den Dschungel unter sich.
Aber das war nicht der Dschungel, über den er eben noch geflogen war. Um genau zu sein, sah es wie keiner der Dschungel aus, über die er im Verlaufe seiner Karriere geflogen war. Er bestand aus komischen, riesigen Stämmen, deren Blätter eher aussahen wie überdimensionale Grashalme. Dazu gab es fleischige Farne, spindeldürre Zikaden und in der Ferne einen glitzernden See, der das Licht aus einem langsam wachsenden Loch in der Wolkendecke reflektierte.
Carter war erleichtert, dass die anderen Flugzeuge, die er gesehen hatte, immer noch über die Baumwipfel flogen. Aber Moment, das waren gar keine Flugzeuge, das waren gottverdammt riesige Vögel! Oder besser gesagt riesige Fledermäuse mit Krallen an ihren Flügeln!
Ich verliere den Verstand, dachte Carter.
»Mayday, Mayday«, rief er erneut ins Funkgerät, biss die Zähne zusammen und kämpfte mit dem Steuerhebel. Er war ja schon dankbar, dass er überhaupt noch lenken konnte, doch er brauchte einen Ort, an dem er landen konnte. Er stellte alle Klappen auf, um die schwere Nase der Maschine auszugleichen.
Da – in der Ferne sah er eine Lichtung, die sich direkt an einem Abgrund befand und er begann zu beten, als er darauf zuflog. Im letzten Moment erhob sich etwas aus dem Baumkronendach – ein Kopf auf einem Hals, der bestimmt fünf Stockwerke hoch war. Er wandte sich ihm zu und schaute ihn mit feuchten Augen an, woraufhin Carter erschrocken einen Schrei ausstieß und das Ruder herumriss, um auszuweichen.
Doch die Zeit war um und die Schwerkraft obsiegte. Die Maschine prallte hart auf, säbelte erst noch ein paar Baumwipfel ab und stürzte dann auf die mit Geröll übersäte Lichtung zu. Die Nase war zu tief, und statt zu rutschen, bohrte sie sich in den Boden. Dadurch war die Bremskraft viel zu groß, als dass ein fragiler menschlicher Körper sie hätte aushalten können. Mit unbarmherziger Gewalt wurde Carters Kopf gegen die Instrumentenkonsole geschleudert.
Ich hoffe, sie finden mich, war sein letzter Gedanke, bevor die Dunkelheit ihn für immer umfing.
Universität von Kalifornien, digitales Archiv
Emma saß an einem Schreibtisch und durchsuchte historische Zeitungsartikel. Die Daten, die die Universität zur Verfügung stellte, stammten aus ihren eigenen Sammlungen und reichten hunderte Jahre zurück. Inzwischen war das alles dankenswerterweise digitalisiert, deswegen musste sie nicht mehr mit zusammengekniffenen Augen vor einer riesigen Mikrofilmmaschine sitzen und im Schneckentempo eine Seite nach der anderen betrachten.
Stattdessen konnte sie ganz klare Suchparameter eingeben, und so beschränkte sie sich auf Artikel, die aus Südamerika stammten und nicht älter als dreihundert Jahre waren – beschränkt auf Jahre, die mit einer Acht endeten. Denn das war in Bezug auf Primordia die magische Zahl; die elliptische Umlaufbahn ließ den Kometen exakt alle zehn Jahre wiederkehren. Obwohl das Ereignis nur ein paar Tage dauerte, war sie den Einheimischen schon immer als die feuchteste Regenzeit bekannt.
Bei ihrem letzten Vorkommen war Emma im Amazonas gewesen und sie hatte mit eigenen Augen den Schweif des Kometen am Himmel gesehen, er hatte ausgesehen wie eine silberne Augenbraue. Wenn Primordia seinen erdnächsten Punkt erreicht, den man das Perihelion nennt, geschieht etwas Unglaubliches: Raum und Zeit werden verzerrt, und zwar genau über einem riesigen Tafelberg in Venezuela. Das wollte ihr niemand glauben, doch sie wusste, dass es stimmte. Sie hatte es ja selbst erlebt.
Während dieses Phänomens wurden Verbindungen geschaffen und Durchgänge geöffnet, für diese wenigen Tage entstand ein Portal, das direkt in die Hölle führte.
Emma saß wie gelähmt da, als ihre Gedanken sie in ihre Expedition aus dem Jahr 2018 zurückführten. Sie und ihre Freunde waren 100 Millionen Jahre in die Vergangenheit transportiert worden oder diese Vergangenheit war zu ihnen gebracht worden.
Sie hatte in den letzten Jahren versucht, Antworten von Physikern, Theoretikern und sogar Science-Fiction-Autoren zu bekommen und sich selbst in Quantenmechanik einzulesen. Doch all das hatte sie eher noch mehr verwirrt, als dass es geholfen hätte. Was auch immer die Erklärung war, dieses Höllenloch hatte in kaum mehr als 24 Stunden alle ihre Freunde umgebracht, und sie war die Einzige gewesen, der die Flucht gelungen war.
Emma hatte längst aufgegeben, Menschen von ihrer Version der Geschehnisse überzeugen zu wollen. Nur Bens Mutter, Cynthia, hatte ihr geglaubt, und so war Emma schnell klar geworden, dass es ganz allein an ihr lag, Ben zu retten. Als sich das Portal geschlossen hatte, war Ben vom Rest der Welt abgeschnitten worden, und das nur, weil er ihr die Flucht ermöglicht hatte. Nun musste er jeden Tag mit diesen urzeitlichen Monstern verbringen, und sie betete jeden Tag, dass er überleben möge.
Sie schüttelte den Kopf, um auf andere Gedanken zu kommen, und schaute sich die Ergebnisse ihrer Suche an. Sie war sich nicht einmal sicher, wonach sie überhaupt schauen sollte, doch nun hatte sie über zweihundert Ergebnisse, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichten. Schnell überflog sie jeden einzelnen Artikel und warf alles heraus, wo es um Handel, Politik oder Kriege ging. Nach dreißig Minuten hatte sie die Liste auf Daten reduziert, in denen es um merkwürdige Wettervorkommnisse ging, verschwundene Personen oder unerklärbare Funde im Dschungel.
Sie fand sogar einen Artikel über die Benennung eines neuen Kometen im späten 18. Jahrhundert. Primordia. Sie flüsterte den Namen und hasste seinen Klang sofort.
Dann öffnete sie einen Artikel aus der New York Times, der aus dem Jahr 1908 stammte. Die Überschrift lautete: Präsident Roosevelt lobt Belohnung für Riesenschlange aus.
Sie las weiter. Theodore ›Teddy‹ Roosevelt war der 26. Präsident der Vereinigten Staaten gewesen, außerdem ein Entdecker, Soldat und Naturfreund. Offenbar hatte er Gerüchte von einer gigantischen Schlange im Amazonas gehört und eintausend Dollar Belohnung auf dieses Tier ausgesetzt. Faszinierenderweise wurde dieses Angebot erst im Jahre 2002 zurückgezogen und stand zu dieser Zeit bei 50.000 Dollar.
Sie erinnerte sich daran, wie Ben und sie darüber sinniert hatten, ob so ein prähistorisches Tier von dem Plateau entkommen könnte. Es wäre dann ein Einzelgänger, aber potenziell auch der Stoff, aus dem Legenden entstehen. Die rankten sich schließlich um jeden Dschungel.
Als Nächstes fand sie eine Kolumne aus dem Jahr 1928, die sich um eine Expedition drehte, die den im Amazonas verschollenen Entdecker Percy Fawcett wiederfinden sollte. Besonders spannend daran war, dass Fawcett behauptet hatte, eine Anakonda erlegt zu haben, die über zwanzig Meter lang gewesen sein soll. Zudem wollte er riesige Fußabdrücke gefunden haben, die seiner Schilderung zufolge vom Anbeginn der Zeit stammten.
Vom Anbeginn der Zeit. Emma spürte, wie ihr ein Schauer den Rücken herunterlief. Sie glaubte ihm auf jeden Fall, doch vermutlich war sie damit allein.
Auch die nächste Geschichte aus dem Jahr 1948 war höchst spannend: Leutnant John Carter von der USS Bennington war mitsamt seines Corsair-Kampfflugzeugs verschwunden. Emma seufzte, als sie sich an ihn erinnerte. »Für mich bist du nicht verschwunden, ich weiß ganz genau, wo du bist«, dachte sie und lächelte traurig berührt. »Danke, dass du uns dein Flugzeug geliehen hast, Leutnant Carter. Wir haben es zumindest versucht.«
Emma legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, die sie sich daraufhin zu reiben begann. »Wonach suche ich überhaupt?«, fragte sie in Richtung Decke.
Etwas, irgendwas. Sie brauchte Informationen über Wege, die auf den Tafelberg führten – oder von ihm herunter. Oder einen Hinweis darauf, dass man auch schon früher das unsichtbare Portal durchqueren konnte, ohne eine Dekade zu warten. Ein winziger Beweis für das alles würde ihr schon reichen.
Doch sie fand nichts.
Daraus schloss sie, dass ein solches Vorkommnis, so haarsträubend es auch sein mochte, einfach unter dem Radar blieb, wenn es nur alle zehn Jahre einmal im entlegensten Winkel der Welt passierte.