Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Eine kleine Veränderung im Heute kann das Morgen verändern. Eine kleine Veränderung vor über 100 Millionen Jahren aber könnte alles verändern." Zuerst bemerkte niemand, dass sich die Dinge zu verändern begannen. Ein paar Tiere verschwanden. Neue erschienen. Dann tauchten die ersten Monstrositäten auf. Niemand wollte die Wahrheit erkennen, außer Ben Cartwright und die anderen Überlebenden der Abenteuer um jenes Portal in den Tiefen des Amazonas. Nur sie ahnten etwas von der ungeheuren Bedrohung für die menschliche Rasse … Andy Martin lebt unterdessen seinen Traum, durchstreift das prähistorische Amerika und wird so Zeuge der Geburt dieses Kontinents. Doch was immer er in der Vergangenheit tut, sendet Wellen durch die Zeit und verändert unsere Gegenwart. Jeder Tag birgt neue Gefahren, fördert neue urzeitliche Kreaturen zutage, die längst als ausgestorben galten – Kreaturen, die den schlimmsten Albträumen der Menschheit entsprungen zu sein scheinen. Als Primordia, der Komet, wieder an der Erde vorbeizieht, ist die Zeit gekommen. Das Team um Ben Cartwright muss noch einmal in die Urzeit reisen und Andy aufhalten, bevor die Menschheit vernichtet wird. Im dritten Teil seiner prähistorischen Romanreihe, die auf Versatzstücken von Sir Arthur Conan Doyles "Vergessener Welt" basiert, versteht es Beck, der Zeitreise-Geschichte noch einen zusätzlichen Kniff zu verleihen und die katastrophalen Folgen zu skizzieren, die unser Eingriff in urzeitliche Prozesse haben könnte. Ein ebenso spektakuläres wie monströses Vergnügen! "Der atemberaubende Abschluss einer großartigen Trilogie." - Amazon.com
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 419
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.comTitle: PRIMORDIA 3 – RE-EVOLUTION. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2018. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: RE-EVOLUTION Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Kalle Max Hofmann Lektorat: Astrid Pfister
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-489-0
Folge dem LUZIFER Verlag auf Facebook
Für weitere spannende Bücher besuchen Sie bitte
unsere Verlagsseite unter luzifer-verlag.de
Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf deinem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn du uns dies per Mail an [email protected] meldest und das Problem kurz schilderst. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um dein Anliegen und senden dir kostenlos einen korrigierten Titel.
Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche dir keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
»Die Zeit ist ein Weg mit unendlichen Kreuzungen, und unsere Reise wird von Entscheidungen, Ereignissen und Glück beeinflusst. Manche von diesen Routen verlaufen parallel, andere unterscheiden sich erheblich. Wenn wir zurückgehen könnten, um eine andere Wahl zu treffen, dann würden sich unsere Leben, und vielleicht die von Millionen anderer Menschen für immer verändern.«
Re-Evolution: 001
Die Veränderungen waren am Anfang so klein, dass die meisten Menschen sie gar nicht bemerkten. Der auffällig gefärbte Rotkardinal war eigentlich ein recht verbreiteter Vogel, der vom Süden Kanadas im gesamten Osten der USA anzutreffen war, bis hinunter nach Mexiko. Da die Männchen ein brillant leuchtendes Federkleid hatten, das mit einer schwarzen Gesichtsmaske verziert war, und sie außerdem hervorragende Sänger waren, gaben sie ein beliebtes Haustier ab.
Doch eines Morgens gab es einen kurzen Blackout, nur für einen Wimpernschlag, als wäre die Sonne für einen Moment abgedunkelt worden, und danach waren die Rotkardinale verschwunden, und zwar alle.
Es war nicht so, dass der Boden plötzlich mit toten Vögeln übersät gewesen wäre, oder dass sie alle in einen attraktiveren Lebensraum umgesiedelt waren. Nein, es war so, als hätten sie niemals existiert. In Büchern wurden sie nicht mehr erwähnt. Es gab keine Bilder von ihnen, und sie verschwanden auch nicht langsam aus der Erinnerung, sie waren einfach ausradiert. Alles, was blieb, war ein merkwürdig diffuses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Ich bin schon lange der Überzeugung, dass die kleinen Dinge mit Abstand die Wichtigsten sind.«
Am südlichsten Ende Nordamerikas, vor 100 Millionen Jahren
Andy holte gut gelaunt, Zentimeter für Zentimeter, das Segel ein. Er musste vorsichtig und leise sein, denn sein Boot war schon des Öfteren von Kreaturen in Augenschein genommen worden, die in dem warmen, trüben Wasser unter ihm lebten. Wenn sie an ihm vorbeiglitten, drehten sie sich auf die Seite, um ihn mit einem einzelnen Auge zu betrachten. Ihre Körpersprache interpretierte er als interessiert oder gleichgültig, glücklicherweise aber nicht als hungrig.
Er segelte schon seit Monaten, die Küste hinauf, wobei er versuchte, weit genug vom Strand entfernt zu bleiben, um nicht von den Riesenkrokodilen bemerkt zu werden, aber nicht so weit weg, dass er in den Lebensraum der Mosasaurier eindrang.
Ich bin der glücklichste Mann der Welt, dachte er. Doch dann korrigierte er sich: Ich bin der einzige Mann der Welt.
Nachdem er wieder einmal ein gutes Stück seines Weges geschafft hatte, steuerte er das Ufer an und ließ das Boot auf den sandigen Grund laufen, wo es schnell Halt fand und stehen blieb. Er duckte sich hinter die Bordwand und spähte vorsichtig darüber hinweg, um die Umgebung in Augenschein nehmen zu können.
Die Sonne brannte auf seinen Nacken und die Schultern hinab und er schnupperte aufmerksam, um einen ersten Hinweis auf mögliche Gefahren wahrnehmen zu können. Als Erstes roch er warmen Schlamm, in dem Spuren von Salzwasser und Schwefel mitschwangen, und dann noch etwas Süßliches, das möglicherweise von verwesenden Tierkadavern herrührte.
»Gluck.«
»Pssst!« Andy packte den Schnabel des kleinen Pterosauriers mit einer Hand, an der die zwei äußeren Finger fehlten. Er sah das Tier ein paar Sekunden lang vorwurfsvoll an, dann ließ er es wieder los. Das kleine Wesen legte den Kopf schief und musterte ihn mit einem seiner rubinroten Augen, bevor es näher an ihn heranhoppelte.
Andy schüttelte den Kopf und dehnte seine verbliebenen Finger. Die Hand tat immer noch weh, obwohl es schon fast ein Jahr her war, dass er seine Gliedmaßen eingebüßt hatte. Das hat man davon, wenn man auf einem Boot einschläft und eine Hand ins Wasser hängen lässt, dachte er. Dabei hatte er sogar noch Glück gehabt, dass der unbekannte Angreifer eher klein gewesen war und rasiermesserscharfe Zähne gehabt hatte, denn sonst hätte er viel mehr verlieren können als nur seinen Stolz und ein paar Finger.
Er seufzte und wandte sich wieder der Sandbank zu. Der Boden sah schlammig aus, aber nicht wie ein Sumpf. Er hatte eine Flussmündung angesteuert und die kleine Wasserstraße war komplett mit Bäumen überwuchert, sodass sie aussah wie eine verwunschene, grüne Höhle. Links und rechts davon befand sich dichter Dschungel, und auch wenn er nicht komplett undurchdringlich erschien, würde man doch Mühe haben, sich dort hindurch zu kämpfen. Also würde er einfach mit dem Boot weiterfahren, das Segel brauchte er dazu allerdings definitiv nicht. Es sah nicht so aus, als würde sich dort drin auch nur der Hauch einer Brise finden lassen, außerdem würde das Segel sich im schlimmsten Fall in der Vielzahl von Ästen verhaken, die über das Wasser hingen.
»Irgendjemand zu Hause?«, flüsterte er und kicherte dann. Er konnte es kaum abwarten, über die Reling zu springen und sich die Beine zu vertreten. Doch wenn er in all den Jahren eines gelernt hatte, dann, dass die Kreaturen des Dschungels Meister der Tarnung waren und man deshalb jederzeit mit einem Angriff rechnen musste. Vorsicht und Geduld hatten ihn bis jetzt am Leben erhalten, und das wollte er fortführen.
Der Schrei, der jetzt die Stille durchschnitt, ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Selbst das kleine Reptil an seiner Seite drückte sich für einen Moment flach auf die Planken. Andy schaute hoch und dann noch weiter nach oben. Am Ufer stach ein einzelner Baum aus der uniformen Wand des Dschungels hervor, der an die fünfundzwanzig Meter hoch war. Die Äste, die dem Meer zugewandt waren, sahen so aus, als hätte man sie mit einem Sandstrahler bearbeitet. In den verbliebenen Ästen waren gerade einige mittelgroße Pterosaurier in eine Auseinandersetzung verwickelt, bis sie sich schließlich beruhigten und sich wieder niederließen, dann drehten sie sich in Andys Richtung und beobachteten ihn mit ihren tiefschwarzen Knopfaugen.
»Sind das etwa Freunde von dir?«, fragte er seinen kleinen Kompagnon, doch der blieb stumm. Wahrscheinlich hatte ihm die rüde Ausdrucksweise seiner größeren Artgenossen die Sprache verschlagen.
Andy hatte schon lange den brennenden Wunsch gehabt, sein Heimatland zu sehen, lange bevor es überhaupt Länder gab. Er wollte auf Anhöhen stehen, Täler durchqueren und die zerklüfteten Küsten betrachten und all die Landschaften in ihrer frühesten Entstehung erkunden, und dann würde er sich vorstellen, wie sie in der Zukunft aussehen würden.
Er wollte die größten Fundorte von Fossilien besuchen, um dort die später versteinerten Kreaturen lebend anzutreffen. Wie cool wäre das denn bitteschön?Unglaublich cool, dachte er.
Sein Wunsch forderte zwar jegliche Logik und sogar die Realität heraus, aber noch lebte er, und bis jetzt hatte er mit nur zwei Fingern einen lächerlich geringen Preis dafür bezahlt.
»Sind wir endlich da?«
»Häh?« Andy schaute hinab auf das kleine Wesen, das den Kopf schief legte und zu ihm aufsah. Er wusste genau, dass ihm seine Wahrnehmung gerade einen Streich spielte und die immerwährende Einsamkeit mit einem imaginären Freund zu kompensieren versuchte. Ich bin doch nicht wahnsinnig, dachte er und grinste. Jedenfalls noch nicht ganz.
Das kleine, vogelartige Reptil kletterte auf sein Bein und er streichelte zärtlich die ledrige Haut. »Ja, wir sind endlich da.«
Andy schaute lächelnd auf seinen winzigen Freund hinunter. Er hatte das Tier als Baby gefunden, als es nach dem Schlüpfen von der Mutter verstoßen worden war. Einer seiner Flügel war verkrüppelt gewesen und Andys erster Gedanke war es gewesen, es einfach zu essen, doch dann hatte er an die vielen Studien gedacht, die sich um die Intelligenz von Dinosauriern drehten. Wie schlau sind sie wirklich gewesen? Hätte man sie trainieren können? Das wollte er unbedingt herausfinden, also behielt er das kleine Wesen, das schnell eine Bindung zu ihm aufbaute. Umgekehrt galt absurderweise dasselbe.
Was als wissenschaftliches Experiment begonnen hatte, brachte ihm schließlich seinen einzigen Freund in dieser Welt ein. Vor ein paar Jahren hatte Andy sogar angefangen, mit ihm zu reden, und eines Tages hatte der Saurier geantwortet.
Nein, das hat er nicht, rief er sich selbst ins Bewusstsein. Er war ein Wissenschaftler und wusste genug über Medizin, um sich selbst eine Psychose zu attestieren. Tief in seinem Inneren wusste er, dass die Worte, die er immer hörte, lediglich aus seinem eigenen Gehirn kamen. Das Problem war nur: Es war ihm vollkommen egal.
Obwohl er es nicht gern zugegeben hätte, war es wichtig für seine Motivation, einen Gesprächspartner zu haben, selbst wenn es nur ein Tier war. Eigentlich hatte er gedacht, dass es ihm nichts ausmachen würde, allein zu sein, doch das tat es. Von daher war es schön, seine Gedanken mit einem anderen Lebewesen teilen zu können.
Gluck legte seinen länglichen Kopf jetzt auf Andys Oberschenkel und machte es sich auf dem von der Sonne erwärmten Bein bequem. Wahrscheinlich wollte der kleine Pterosaurier das Boot ebenso gerne verlassen wie er selbst.
Auf seiner Reise hatte Andy schon oft das Ufer angesteuert, doch übernachtet hatte er meistens in seinem Boot, das er mit einem primitiven Anker, der aus einem Stein und einer Liane bestand, festmachte. Danach hatte er sich mit dem Segel zugedeckt und gebetet, den nächsten Morgen erleben zu dürfen.
Er wusste, dass der Ozean voller Gefahren war, aber wenn man im Dschungel übernachten wollte, musste man zuerst einen richtigen Unterschlupf finden, zum Beispiel eine Höhle und sich dort verbarrikadieren. Alternativ konnte man auch auf einen Baum klettern oder sich im Schlamm eingraben, so wie es ihm Ben Cartwright erzählt hatte. Doch keine dieser Möglichkeiten war leichter oder sicherer, als einfach nur in einem schaukelnden Boot zu liegen und auf das Beste zu hoffen.
Andy war Paläontologe und was er von seinen Ausgrabungen wusste, war, dass in solchen Flussmündungen, wo Süßwasser auf Salzwasser traf, richtig große Viecher lebten. Sie kamen dorthin, um Eier zu legen, ihre Jungen aufzuziehen und zu jagen. Wenn er sich noch ein Stück den Fluss hinaufbegeben würde, wäre er also auf jeden Fall sicherer als hier, immerhin gab es auch im Wasser Raubtiere, und zwar richtig große.
Andy wartete immer noch ab und beobachtete seine Umgebung. Ungeduld war hier der Killer Nummer eins. Allerdings hatte er nichts mehr zu Essen und sein Trinkwasser bestand nur noch aus einem letzten Tropfen in einem ausgehöhlten Kürbis. Er brauchte dringend Nachschub.
Sein Equipment bestand aus einem Speer, einer Steinschleuder und etwas, das aussah wie ein prähistorischer Tennisschläger – sein selbst gemachtes Fischernetz. Es war irre, wie viele kleine Meereslebewesen ganz nahe an sein Boot heranschwammen, um es zu untersuchen. Er konnte sie einfach aus dem Wasser fischen.
»Hallihallo.« Andy sah eine kleine Herde aus etwa einem Dutzend zweibeiniger Kreaturen bestehend, die sich jetzt dem Wasser näherten. Sie bewegten sich wie Vögel und waren schiefergrau mit pechschwarzen Schwänzen, die sie steif nach hinten richteten. Er wettete, dass sie blitzschnell rennen konnten, und bewunderte die wie choreografiert wirkende Abfolge, in der sie tranken. Es blieben immer ein paar Köpfe in der Luft, die die Umgebung im Auge behielten, doch Geschwindigkeit und Aufmerksamkeit halfen ihnen nur bedingt, da sie nicht unter die Wasseroberfläche schauen konnten, und mit dieser Einschätzung hatte Andy recht, denn der Angriff ließ nicht lange auf sich warten. Eine Art lebendiger Torpedo schoss plötzlich mit unglaublicher Geschwindigkeit und brutaler Kraft aus dem Wasser.
»Wusste ich es doch«, murmelte Andy fasziniert. »Es ist also jemand zu Hause.«
Die Kreatur war über drei Meter lang und sah aus wie eine Mischung aus einem Alligator und einer Robbe. Er leierte daraufhin einige mögliche Kandidaten herunter: »Uberasuchus, auf jeden Fall ein Mosasauroider, vielleicht sogar eine Unterart des Pannoniasaurus – wunderschön!«
Der winzige Pterosaurier richtete sich daraufhin auf und spähte über die Reling.
»Gluck.«
»Ja, schon klar, aber denkst du auch, was ich gerade denke?« Andy grinste. »Für uns war das jetzt echt gut.«
Der Vorteil von diesem Angriff war, dass dieser Räuber zwar groß genug war, um ihn anzugreifen, aber dem Boot konnte er nichts anhaben. Außerdem hatte er gerade erst gefressen.
»Wir schaffen das schon.«
Er hob das Paddel auf und manövrierte das Boot langsam in Richtung der Flussmündung. Das Wasser wurde schnell flacher, nachdem sie eine Sandbank passiert hatten. Im Fluss selbst war das Wasser klar und er sah dünne, silberne Fische darin hin- und herflitzen.
Weiter unten entdeckte er eine zwei Meter lange, ledrige Scheibe, die über den Sand glitt. Der urzeitliche Vorfahre des Rochens war gefleckt wie ein Teppich und hatte einen Schwanz wie ein Hai, kein peitschenartiges Anhängsel wie seine modernen Nachkommen. Andy wusste, dass dieses Tier einer uralten Spezies von Knorpelfischen angehörte, die es schon vor zweihundert Millionen Jahren gegeben hatte – also, aus seiner jetzigen Perspektive seit hundert Millionen Jahren.
Bald wurde das Wasser tiefer und nahm eine dunkelgrüne Färbung an. Insgesamt war diese Mündung bestimmt dreißig Meter breit, doch hier hatte sich der Fluss bereits auf die Hälfte davon verengt. Er paddelte etwas weiter ans Ufer, sodass er wieder den Boden sehen konnte, hielt jedoch genug Abstand, damit ihm kein Jäger vom Ufer aus ins Boot springen konnte. Im Falle eines Angriffs aus dem Wasser hätte er aber trotzdem noch die Chance, schnell an Land zu kommen.
Bei einem erneuten Blick ins Wasser sah er die charakteristischen Schleifspuren von Tintenfischen im Sandboden. Wenn er die Gelegenheit hätte, würde er ein paar von denen fangen, denn sie waren eine großartige Proteinquelle.
Für einen kurzen Moment sah er auch ein paar Einsiedlerkrebse, doch die machten sich schnell aus dem Staub, als er sich ihnen näherte. Es hatte auch nicht viel Sinn, sie zu jagen, da sie bei einem Angriff das eigene Fleisch durch Gift ungenießbar machten, wie er bereits hatte feststellen müssen.
Als er vor sich Ringe im Wasser sah, verstärkte er sein Paddeln und entdeckte bald darauf einige etwa dreißig Zentimeter lange Fische, die sich dem Ufer näherten. Andy verpasste dem Boot noch einen letzten, kräftigen Schwung und ließ es dann treiben. Er ergriff sein Netz, schoss nach vorn und ließ es durch das Wasser sausen.
»Jawoll!« Er hatte einen im Netz und ließ ihn auf das Deck klatschen, wo der muskulöse Körper wild zappelte, was ein trommelndes Geräusch auf dem Holz erzeugte. Andy drückte ihn mit dem Fuß nach unten, um den Lärm zu beenden, und Gluck stürzte sich sofort darauf.
»Hey, wart mal, Kumpel!« Er schob den Pterosaurier beiseite, der ihn entrüstet anstarrte und seine knorrigen Flügel im Protest spreizte, doch dann ließ er die Schultern wieder sinken und senkte seinen gierigen Blick auf den Fisch.
Andy nahm seinen Fuß weg und warf nun zum ersten Mal einen genaueren Blick auf das Tier.
»Wow, irre! Was bist du denn für einer?«
Er war grau, hatte aber keine Schuppen, und ähnelte einem Kugelfisch. Auf seinem stromlinienförmigen Körper hatte er lauter Borsten, einen flachen Kopf, aber keine sichtbaren Kiemen. Das komischste aber waren die kräftigen Vorderflossen, die in winzigen Zehen endeten.
»Sind das da etwa rudimentäre Arme? Synapsid? Therapsid?« So hießen die ersten Lebewesen, die die Umwandlung zu Säugetieren begonnen hatten. »Dich kenne ich aber gar nicht als Versteinerung.« Er wusste aber natürlich, dass Tausende und Abertausende von Spezies niemals als Fossilien gefunden wurden, weil sie einfach nicht am richtigen Ort gewesen waren, oder eine ungünstige Zusammensetzung gehabt hatten, oder einfach verdammt selten gewesen waren.
Das Tier klatschte noch einmal mit seinem Körper auf das Deck und Andy legte erneut seinen Fuß darauf. »Ich frage mich, was in hundert Millionen Jahren wohl mal aus dir wird?« Er kicherte. »Ich meine, was aus dir hätte werden können, wenn ich dich jetzt nicht fressen würde.«
Gluck watschelte nach vorne und pickte noch einmal nach dem Fisch.
»Ich weiß, das ist ein faszinierendes Wesen, aber er wird nun wohl aus dem Genpool der Evolution verschwinden, weil er unser Abendessen ist.«
»Hunger!« Gluck pickte nachdrücklicher.
»Ich weiß, dass du das nicht wirklich gesagt hast.« Andy schob den kleinen Saurier ein Stück zurück, doch er stürmte gleich wieder nach vorn. »Okay, okay.« Andy machte sich daran, den komischen Fisch in Stücke zu schneiden, von denen er einige sofort seinem Wegbegleiter gab, einige selbst aß und andere zum Trocknen in die Sonne legte.
Sam Houston Nationalwald, Montgomery, Texas – Gegenwart
Re-Evolution: 002
Montgomery war bei bestem Willen keine große Ortschaft, ganz im Gegenteil. Hier hatten bei der letzten Zählung nur 621 Menschen gelebt. Es war dünn besiedelt, beschaulich und lag ganz in der Nähe des Nationalparks und dem wunderschönen Conroe-See. Im Sommer war es hier heiß und feucht, die Winter waren mild. Viele waren der Meinung, das Klima hätte eher etwas Subtropisches an sich, wenn man es mit der üblichen trockenen Hitze in Texas verglich.
Niemand konnte genau sagen, wann die ersten Katzen und Hunde verschwunden waren, aber es schien um die Zeit des merkwürdigen Blackouts herum begonnen zu haben. Dieses ungewöhnliche Ereignis hatte nur ein paar Sekunden gedauert und war von den Menschen gar nicht wahrgenommen worden. Aber direkt danach waren die Haustiere, die über Nacht draußen gewesen waren, am Morgen nicht mehr zurückkehrt, und keiner hatte ihr Verschwinden bemerkt.
Ein paar Tage später standen drei Jäger um ihre Beute herum. Sie lag genau vor ihnen, und obwohl einige von ihnen schon die Handys in der Hand hatten, machte niemand ein Foto. Verwirrt starrten sie nach unten.
Es war ein Vogel, zumindest etwas in der Richtung. Vom Schnabel bis zur Schwanzspitze maß er fast drei Meter. Er sah ein bisschen aus wie ein Vogel Strauß, abgesehen davon, dass der Kopf beinahe sechzig Zentimeter lang war, extrem böse wirkte, und die Kanten des Schnabels aussahen wie rasiermesserscharfe Sägen. Die Klauen an den Enden seiner muskulösen Beine hätten eher zu einer prähistorischen Kreatur gepasst, genauso wie die furchterregenden Krallen daran.
Das Federkleid war rot und braun, die Stummelflügel waren eng an den fassförmigen Körper gedrückt.
Mitch Connors, der Dorfarzt und der einzige halbwegs wissenschaftlich Gebildete aus der Truppe, lehnte sich nach vorne und grunzte dann.
»Ein Terror-Truthahn.«
Die anderen wandten sich ihm zu.
Er nickte. »Mir fiel gerade wieder die Bezeichnung ein. Das ist ein Phorusrhacid. Selten, aber um diese Jahreszeit kommen sie manchmal aus den Wäldern.« Er schaute von einem zum anderen. »Erinnert ihr euch nicht?«
Billy Douglas begann langsam zu nicken. »Oh ja, du hast recht. Jetzt erinnere ich mich.«
Kurz darauf erinnerten sie sich plötzlich alle.
Waste Knot Steilwand, Süd-Dakota – 400 Höhenmeter.
Re-Evolution: 003
Ben Cartwright hing an dem Felsen. Er machte gerade eine Pause und atmete tief und bewusst ein und aus. Er drehte sich um und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Die Steilwand, an der Emma und er gerade unterwegs waren, hatte nur einen mittleren Schwierigkeitsgrad, aber sie war wirklich hoch. Dadurch bot sie einen herrlichen Blick über die umgebenden Wälder.
Ulmen, Fichten, Eschen und andere Bäume kämpften um Platz und Sonnenlicht und schufen ein mehrfarbiges Mosaik, das diese atemberaubende Aussicht prägte. Ben grinste. Alles hier sah so einladend und sicher aus, und es fühlte sich einfach heimisch an.
Er konnte nicht anders, als in Gedanken zu einer Situation zurückzukehren, wo er aus ähnlicher Höhe über einen anderen riesigen Wald geblickt hatte, und zwar den Dschungel der Kreidezeit, vor hundert Millionen Jahren. Damals hatte jeder einzelne Quadratkilometer mehr Gefahren enthalten als das gesamte Gebiet, das er jetzt vor sich sah. Hier gab es vielleicht mal einen Bären, einen Berglöwen oder einen unterernährten Wolf, doch in diesem anderen Zeitalter hatte es unzählige monströse Bestien gegeben, für die die weichen, rosafarbenen und unbehaarten Affen namens Menschen nichts anderes gewesen waren als kleine Snacks.
Als er in dieser Zeit gefangen gewesen war, hatte er sich im Schlamm einbuddeln, in Höhlen einmauern und auf Baumwipfeln schlafen müssen. Er hatte Aas essen müssen, Insekten, Gras und alles andere, was er hatte finden können. Sein Körper war in diesen zehn Jahren mit mehr Narben überzogen worden, als er in seiner Karriere als Elitesoldat angesammelt hatte.
Er wollte sich gerade wegdrehen, als ein merkwürdiges Kribbeln durch seinen Körper lief, dann wurde kurz alles schwarz.
»Was zum …?«
Es war genauso schnell wieder vorbei, wie es begonnen hatte, und Ben schaute nach oben, um zu prüfen, ob etwas an der Sonne vorbeigezogen war, doch der Himmel war genauso wolkenlos und tiefblau wie zuvor. Als er wieder hinuntersah, verengten sich seine Augen. Da war doch irgendwas mit den Bäumen – irgendetwas war anders.
Er baumelte für einen Moment an seinem Sicherungsseil und versuchte, darauf zu kommen, was anders war, doch er konnte es nicht sagen.
Wahrscheinlich gar nichts, dachte er und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Sie waren zu Hause und er hatte die Qualen überlebt. Er war in Sicherheit.
Ben grinste, dann lachte er laut auf und warf den Kopf in den Nacken. »Ich bin am Leben!«, rief er begeistert.
»Aber nicht mehr lange, wenn du nicht bald mal Gas gibst.«
Als er diese Stimme hörte, wurde Bens Grinsen noch breiter und er schaute nach oben. Emma war bereits auf dem Gipfel angekommen und stand furchtlos an der Felskante, die Hände in ihre wohlgeformte Taille gestützt. Ihre gebräunten, muskulösen Schultern glänzten von leichten Schweißperlen überzogen in der Sonne.
Ben kicherte und begann wieder zu klettern. Zu Beginn war sie die Expertin im Freeclimbing gewesen, doch inzwischen hatte sie ihn auf so viele Touren mitgenommen, dass er sie gar nicht mehr aufzählen konnte. Dieser Sport hielt ihn in absoluter Top-Form, und obwohl er schon silberne Strähnen im Haar hatte, war er immer noch voll auf Zack. Zumindest seiner Meinung nach.
Er begann jetzt, schneller zu klettern, und seine Arme und Schultern schrien auf. Er wusste schon jetzt, dass er heute Abend ein heißes Bad brauchen würde, am besten in Kombination mit einigen kalten Bierchen.
Als er oben ankam, schüttelte er seine Arme und Hände aus, um den Muskeln eine Erholung zu gönnen. Er grinste sie an.
»Komisch, von da unten sah das alles viel leichter aus.«
Emma lächelte zurück, wodurch sich leichte Fältchen um ihre grünen Augen bildeten. Für ihn war sie immer noch so hübsch wie eh und je, auch wenn die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte und die Sonne ihr noch ungefähr eine Million weitere Sommersprossen verpasst hatte, die sich über ihre Nase und ihre Wangen verteilten. Er konnte sich nicht helfen, aber ihr Anblick brachte sein Herz unwillkürlich dazu, sich fast zu überschlagen.
Sie breitete die Arme aus. »Habe ich Sie nicht gerade rufen hören, wie lebendig Sie sich hier oben fühlen, Captain Cartwright?«
»Allerdings. Aber um sich lebendig zu fühlen, muss man leider erst mal unglaubliche Schmerzen überstehen, habe ich nicht recht?« Er grinste theatralisch.
»Jetzt stell dich mal nicht so an!« Sie trat wieder an den Abgrund heran und spähte hinab. »Sollen wir runterklettern oder den Wanderweg nehmen?«
Er hielt beide Hände in die Höhe und rief: »Zwei Stimmen für den Wanderweg!«
Sie lachte. »Okay, aber dann joggen wir wenigstens. Abgemacht?«
Ben stöhnte auf. »Können wir das Leben nicht auch einfach mal genießen?« Er setzte sich auf einen Felsen und sie nahm neben ihm Platz. Es war neun Jahre her, dass Emma ins dunkle Herz des Amazonasdschungels gereist war, um ihn zu retten und nach Hause zu bringen. Sie hatten beide seelische Narben zurückbehalten, die noch lange nicht geheilt waren, und die Erinnerungen würden sie wohl niemals vergessen.
Ben schaute hinauf in den Himmel. Bald würde der Komet Primordia wiederkommen. Ehrlich gesagt wollte er gar nicht darüber nachdenken, doch jedes Jahr um diese Zeit kreisten seine Gedanken unweigerlich um die damaligen Ereignisse. Es war ein Jahrestag, der sich tief in sein Hirn gebrannt hatte.
Er spürte, wie Emma ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte und machte sich bewusst, dass er der glücklichste Mann der Welt war. Er seufzte und genoss die Aussicht. Nach einem kurzen Moment wunderte er sich allerdings wieder über die Bäume.
»Hey, schau dir mal den Wald an, was stimmt denn damit nicht?«
Sie stand auf und ging zum Abgrund, wo sie ihre Augen mit einer Hand abschirmte. Sie ließ den Blick wandern, schüttelte jedoch kurze Zeit später den Kopf.
»Keine Ahnung, auch wenn ich diese Aussicht liebe, konzentriere ich mich meistens doch eher auf die Felswände.« Sie drehte sich um und lief zu ihm zurück, dann tätschelte sie seinen muskulösen Brustkorb. »Du bist doch der Elitesoldat, der eigentlich einen Blick für die Umgebung haben müsste.«
Sie hatte recht, so war es. Für einen Moment schaute er sie intensiv an, dann wandte er sich wieder den Bäumen zu. Irgendwie war er sich sicher, dass diese Kiefern vorhin nicht da gewesen waren. Sie waren irgendwie riesig, unnormal riesig, und aus irgendeinem Grund kamen sie ihm verdammt bekannt vor.
Er zermarterte sich das Hirn, aber er kam nicht drauf. Dann gab er es auf und lächelte Emma an, deren Blick auf der Landschaft ruhte. Er schlug ihr mit der flachen Hand auf den Po.
»Okay, wer zuletzt unten ist, zahlt das Bier.«
Er sprintete los.
Das Helios-Sternensystem, auch bekannt als unser Sonnensystem
Komet P/2018-YG874, genannt Primordia, hatte seine elliptische Kurve um die Sonne beendet und war wieder auf dem Weg in Richtung Erde. Es würde noch ein paar Monate dauern, bis er seinen erdnächsten Punkt erreicht haben würde, bei dem er mit bloßem Auge sichtbar wäre.
Bis dahin würden sich auch die Auswirkungen des Kometen auf der Erde bemerkbar machen – wenn auch nur an einem einzigen Ort. Einem Tafelberg oder Tepui tief im Amazonasdschungel Venezuelas. Das hatte Primordia schon seit über hundert Millionen Jahren getan, und vielleicht würde es noch hundert Millionen Jahre so weitergehen.
Vielleicht aber auch nicht.
Am anderen Ende des Sonnensystems, in etwa fünfundvierzig Millionen Kilometern Entfernung von der Sonne, befindet sich der Kuiper-Gürtel, eine große Ansammlung von Millionen von Asteroiden. Die meisten von ihnen waren klein und bestanden aus nichts weiter als gefrorenen Gasen wie Methan, Ammonium sowie Wassereis. Sie sind Überbleibsel der Zeit, als das Sonnensystem entstanden ist. Es gab allerdings auch richtig große Exemplare, die aus solidem Stein und Metallen bestanden.
So ein Exemplar schoss nun in den Kuiper-Gürtel. Wie bei einer Runde Billard kollidierte er mit einigen anderen Asteroiden und schoss sie aus dem Weg, sodass sie in die Tiefen des Weltalls geschleudert wurden. Sie flogen in alle möglichen Richtungen, kreuz und quer durch das Sonnensystem und darüber hinaus, doch einer von ihnen steuerte auf ein ganz besonderes Ziel zu: Die Erde.
Re-Evolution: 004
Der Heimflug nach Greenberry in Ohio dauerte nicht mal zwei Stunden. Mehrmals spürte Ben auf dieser Reise ein Kribbeln in seinem Körper, das ihm fast den Magen umdrehte. Er sah das Sonnenlicht kurz flackern, so wie Glühbirnen bei Störungen im Stromnetz. Einmal schaute er dabei Emma an, und ihre Augen verengten sich ebenfalls, also war er offenbar nicht der Einzige, der es bemerkte.
Am frühen Abend wurden sie von einem Taxi an ihrem Familienanwesen abgesetzt. Bens Mutter Cynthia war vor einigen Jahren gestorben und nun war Ben der Eigentümer. Das Grundstück sowie alle beweglichen und unbeweglichen Güter darauf gehörten nun ihm und natürlich seiner Ehefrau Emma.
Ben ließ die Taschen auf der Veranda auf den Boden gleiten und sah auf die Uhr. Zach, ihr sechs Jahre alter Sohn, hatte bei einem Freund übernachtet, aber es war vielleicht die letzte Kletterreise, die sie ohne ihn absolviert hatten, denn nächstes Mal wollten sie ihn mitnehmen. Sie hatten an der Kletterwand im Fitnessstudio bereits mit ihm geübt.
Zach würde nach dem Abendessen bei ihnen abgesetzt werden und Ben schaute jetzt nach Norden, in Richtung der Baumreihe, die das Anwesen begrenzte und überlegte, wie viel Zeit ihm noch für die letzte Aufgabe des Tages blieb. Denn Belle, ihre in die Jahre gekommene Labrador-Hündin, hatten sie bei ihren Nachbarn Frank und Allie untergebracht. Bei ihnen wurde sie stets überfüttert, durfte auf dem Sofa schlafen und wurde nicht mal angemeckert, wenn sie mit dreckigen Pfoten ins Haus kam und die Teppiche verschmutzte. Es war ein Wunder, dass sie danach überhaupt noch zurück zu Ben und Emma wollte, und vermutlich lag das auch nur daran, dass Zach ihr inoffizieller Hundebruder ohne Fell war.
Das Haus war groß und fühlte sich jetzt seltsam verlassen an. Emma hatte die Tür aufgeschlossen und die Taschen hineingeworfen.
»Holst du Belle ab? Schließlich wird sie die Erste sein, mit der Zach sich beschäftigt, wenn er wieder da ist … und nicht etwa mit uns!«
Er wusste, dass sie absolut recht hatte. »Tja, Kinder und ihre Hunde«, rief er nach drinnen, »die kommen immer an erster Stelle, Mama und Papa erst knapp auf Platz zwei.«
»Ich bereite in der Zeit auf jeden Fall schon mal etwas zu essen vor, bis du mit unserem vierbeinigen Fellknäuel zurückkommst.«
»Super.« Ben griff durch die offene Tür ans Schlüsselbrett und schnappte sich den Autoschlüssel. »Ich wünsche mir etwas, das sich auf Kaltes Tier reimt.«
»Altes Tier?« Sie lehnte sich in sein Blickfeld und grinste. »Kein Problem.«
Ben lachte und tänzelte die Stufen hinunter, dann machte er sich auf den Weg zur Garage.
Er startete den SUV, ließ den Motor einmal aufheulen und fuhr dann los. Die Grundstücke in der Gegend waren alle recht groß, von daher würde es bestimmt zwanzig Minuten dauern, zu Frank und Allie zu kommen, die eigentlich nur ein paar Meilen entfernt wohnten. Sie waren ein nettes Paar, etwas älter als Ben und Emma. Er war ein Ingenieur im Ruhestand und sie machte noch ein bisschen IT-Consulting. Ihre eigenen Kinder waren schon erwachsen und weggezogen, sodass das Haus inzwischen viel zu groß für sie war und sie etwas Langeweile hatten. Deswegen nahmen sie gerne jede Gelegenheit wahr, auf Belle oder Zach aufzupassen.
Ben fuhr die Einfahrt hinauf und folgte dem schmalen Weg zur Spitze des Hügels, wo ihr Bungalow stand. Komischerweise kam Belle nicht sofort auf ihn zu gerannt, als sie den Motor hörte, und auch nicht, als er aus dem Wagen stieg.
Er hielt inne und schaute sich um. Wahrscheinlich wird sie gerade wieder gefüttert, dachte er, denn nichts und niemand konnte Belle den Bauch von einem Snack abhalten.
Das Licht der Veranda ging nun an, die Vordertür öffnete sich quietschend und Frank trat mit einer Tasse Kaffee nach draußen und winkte.
»Hallo, Fremder!«
Ben lächelte und ging auf ihn zu. »Howdy, Frank! Schönen Abend.«
»Den habe ich«, antwortete Frank. »Kaffee? Bier?«
»Nein, danke«, antwortete Ben. Er schaute sich um und zog die Schultern hoch. »Wo ist denn das alte Mädel?«
Frank verzog das Gesicht. »Allie?«
Ben grinste. »Ja, klar.« Er ging die Stufen der Veranda hinauf und streckte ihm seine Hand entgegen, die Frank ergriff und schüttelte. »Willkommen zurück, Nachbar. Also, was kann ich denn nun wirklichfür dich tun?« Er ließ Bens Hand los und wartete.
»Ähm, der Flohbeutel?« Ben wartete immer noch darauf, dass dieser merkwürdige Gag zu seiner Pointe gebracht werden würde. »Ihr müsst sie ja dieses Mal wirklich sehr verwöhnt haben, wenn sie sich überhaupt nicht rührt.«
Franks Mundwinkel wanderten weiter nach unten. »Ich verstehe nicht, was du meinst Kumpel.«
Ben mochte Frank, aber nach den Strapazen der Reise wollte er jetzt wirklich nur noch seinen Hund haben und nach Hause. »Belle, meinen Hund, kann ich sie jetzt bitte mitnehmen? Ich bin ein bisschen müde.«
»Dein was?« Frank trat ein Stück zurück, und in diesem Moment kam Allie an die Tür.
»Hallo Ben, willkommen zurück. Ist Emma auch da?« Sie schaute von einem der Männer zum anderen. »Alles in Ordnung bei euch?«
Ben nickte. »Ja, klar. Ich bin nur gekommen, um Belle abzuholen.«
»Belle? Wer ist Belle?«
Jetzt reichte es Ben. »Leute, der Witz zündet irgendwie nicht. Ich will wieder nach Hause. Danke, dass ihr auf sie aufgepasst habt, aber ich muss zurück sein, bevor Zach kommt.«
Franks Gesichtsausdruck wurde nun ernst. »Ich bin mir nicht sicher, was hier los ist, Ben, aber du redest verrücktes Zeug.«
»Belle!« Bens Verwirrung wandelte sich nun langsam zu Ärger. »Mein Hund.«
»Ben, hier gibt es niemanden namens Belle.« Franks Stimme klang nun ebenfalls gereizt und Ben spürte, wie sich das Klima des Gesprächs mehr und mehr wandelte. Er war sauer, aber ihm wurde auch klar, dass Frank keinen Spaß machte. »Mein Hund?«
»Was zur Hölle ist ein Hund?« Frank wandte sich an Allie: »Am besten, du gehst jetzt nach drinnen. Ich regle das schon.«
Allies Stirn lag in Falten, als sie Ben ein angedeutetes Lächeln zuwarf und dann im Haus verschwand, wobei sie die Tür hinter sich schloss.
Ben hatte das Gefühl, gerade in einer Folge von Twilight Zone mitzuspielen. »Mein Hund, Belle. Sie ist ein Labrador. Ihr habt auf sie aufgepasst.«
Frank kam einen Schritt nach vorn und legte seine Hand auf eine von Bens breiten Schultern. »Am besten, du fährst jetzt nach Hause. Ruh dich einfach mal ein bisschen aus.« Er führte Ben zu den Stufen. »Wir haben schon seit Monaten nicht mehr auf Zach aufgepasst, und garantiert nicht auf jemanden namens Belle.«
»Hör auf!« Ben zuckte zurück und drehte sich um. »Belle!«, rief er in Richtung des Hauses. Schnell ging er an Frank vorbei, der am Fuße der Treppe stehen blieb und ihm aufmerksam hinterherschaute.
»Belle!«, rief Ben erneut. Er legte seine Handflächen trichterförmig um den Mund: »Be-eeelle!« Aber es kam kein Hund angerannt.
Er pfiff so laut er konnte. Nichts. Das ergab doch alles keinen Sinn. Die Hündin war gut erzogen, und sobald sie Bens Stimme hörte, kam sie eigentlich sofort zu ihm gerannt.
Ben wirbelte herum. »Der Spaß ist aus, Frank. Wo ist mein gottverdammter Hund?«
Frank war fünfzehn Jahre älter und bestimmt zwanzig Kilo leichter, aber er baute sich jetzt vor Ben auf, so gut es ging. »Junge, ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Du machst meiner Frau Angst und ich bin inzwischen echt sauer. Fahr nach Hause und beruhige dich. Und zwar jetzt sofort.«
Ben ging ein paar Schritte, die Hände in die Hüften gestemmt, dann riss er die Arme in die Luft. »Scheiß drauf.« Er machte sich eigentlich am meisten Sorgen darüber, wie Zach darauf reagieren würde.
Er eilte zu seinem Wagen zurück, stieg ein, ließ den Motor an und rammte seinen Fuß aufs Gaspedal. Dreck und Kieselsteine wirbelten durch die Luft, als er das Auto drehte und auf das Tor zuraste.
Auf dem Weg nach Hause kreisten seine Gedanken wie wild umher. Er wusste, dass er Belle dort abgesetzt hatte. Er hatte gesehen, wie Frank ihr durch das Fell gestrichen hatte, und wie Allie ein Leckerli in das Maul des begeisterten Hundes hatte fallen lassen. Er wusste nicht, was für ein komisches Spiel sie spielten, aber er würde es herausfinden.
Wütend murmelte er auf der Fahrt vor sich hin. Wenn es sein müsste, würde er nachts mit einer Taschenlampe wiederkommen. Schließlich war er ein versierter Spurenleser und außerdem äußerst hartnäckig.
Zurück auf seinem Grundstück hielt er mit quietschenden Reifen vor dem Haus, stieß mit der Schulter die Autotür auf und joggte dann die Stufen hinauf, wobei er immer noch vor sich hin murmelte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke und er blieb abrupt stehen. Vielleicht war Belle ja weggelaufen und es war ihnen zu peinlich gewesen, das zuzugeben. Ben drehte sich um und formte mit den Händen einen Trichter um seinen Mund.
»Belle!« Er wartete ein oder zwei Sekunden und schrie dann erneut: »Be-eeelle!«
Emma kam nach draußen und streckte ihm eine Flasche Bier entgegen. »Was ist denn los?«
Ben wandte sich ihr zu. »Das wüsste ich auch nur allzu gerne.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, wobei er wieder dieses merkwürdige Kribbeln in seiner Magengrube spürte. »Irgendwas ist komisch.« Er seufzte. »Belle … du kennst Belle doch, oder?«
»Äh, ja?« Sie drückte ihm das Bier in die Hand. »Was ist denn mit ihr?« Sie legte die Stirn in Falten.
»Scheiße, ich weiß es nicht.« Er verzog das Gesicht. »Ich habe sie doch bei Frank und Allie abgesetzt, oder?«
»Natürlich hast du das.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo ist sie denn?«
»Sie haben gesagt, sie hätten sie nicht.« Ben schnaubte verächtlich. »Um genau zu sein, haben sie sogar gesagt, sie hätten noch nie im Leben von ihr gehört.« Obwohl er es nicht wollte, wurde seine Stimme immer lauter. »Sie haben außerdem gesagt, sie wüssten nicht, was ein gottverdammter Hund ist.«
»Das ist doch komplett irre, du musst dich verhört haben«, sagte sie.
»Nein, ich habe mehrfach nachgefragt – keine Belle, kein Hund.« Er blickte fragend in Richtung Himmel.
»Das ist doch Blödsinn, dann fahren wir eben noch mal zusammen zu ihnen.« Sie überlegte kurz. »Moment, ich hole schnell ein Foto von ihr.«
Sie nahm ihm das Bier wieder aus der Hand und verschwand im Haus. Ben wartete, wobei das ungute Gefühl in seinem Bauch sich immer weiter ausbreitete. Plötzlich fragte er sich, ob ihm jemand einen Streich spielen wollte, von dem alle wussten, bis auf ihn. Jetzt fehlte nur noch die Auflösung am Ende.
»Ben?«
Er eilte ins Haus und sah Emma am Kamin sitzen, die Arme auf den Sims gestützt. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Weg! Einfach weg!«
Ben trat an ihre Seite und schaute sich um. Auf dem Kaminsims standen die üblichen Gegenstände. Kleine Vasen, ein bunter Stein, den Zach mal gefunden hatte und ein paar Bilder in silbernen Rahmen. Es gab ein Foto von seiner Mutter, seinem Vater, Emmas Eltern, ein paar Aufnahmen vom Haus zu verschiedenen Jahreszeiten, und diverse Schnappschüsse von Zach. Doch das war alles. Insgesamt waren es acht Bilder, so wie immer. Ben neigte den Kopf nach vorn. Eines der Bilder war anders. Wie in Trance machte er mit steifen Gelenken einen Schritt nach vorn. Auf dem Foto sah er Zach nach einem Football-Spiel. Er grinste außer sich vor Freude, weil er den letzten, entscheidenden Touchdown geschafft hatte. Auf der einen Seite lag sein Helm auf dem Boden, und auf der anderen … nichts.
»Wo ist Belle?« Er hob den Bilderrahmen an. »Er hatte seine Hand doch auf ihrem Kopf, und sie saß genau da!« Er zeigte mit dem Finger auf den leeren Rasen.
Emmas Mund öffnete und schloss sich, doch es kamen keine Worte heraus. Sie schaute ihn einfach nur verwirrt an.
Ben hielt sich das Bild ganz nah vor das Gesicht und suchte nach Spuren einer Bildretusche. Das musste doch ein Trick sein. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Was zur Hölle ist hier los?« Er schaute Emma an, die inzwischen ganz blass war. Plötzlich weiteten sich ihre Augen und dann rannte sie in die Küche. Er hörte, wie Schubladen und Schranktüren geöffnet und geschlossen wurden und alle möglichen Dinge herumklapperten. Ben folgte ihr.
»Es ist alles weg.« Sie schaute ihn an und hob die leeren Handflächen. »Ihre Fressnäpfe, ihr Futter, die Spielsachen – alles weg.« Emma schüttelte den Kopf. »Es ist so, als hätte sie nie existiert.«
»Genau wie Frank gesagt hat«, murmelte Ben. »Er hat gefragt: Was ist ein Hund?«
»Das kann doch nicht sein.« Emma nahm ihm das Bild aus der Hand und kniff die Augen zusammen.
Plötzlich spürte Ben einen schweren Verlust, als wäre sein Haustier gerade gestorben. »Aber sie hat doch gelebt.« Er schaute Emma hilflos an. »Was passiert gerade mit uns?« Dann lächelte er schwach. »Wenigstens siehst du es genauso.«
»Beziehungsweise sehe ich es genauso nicht.«
»Mom, Dad?«
Sie schaute Ben erschrocken an. »Zach ist da. Was sagen wir ihm denn jetzt bloß?«
Ihr Sohn kam in die Küche geschossen, dann wirbelte er noch einmal herum und rief zur Tür hinaus: »Bis bald, Tim! Danke, Mrs. Abernathy, tschüss!«
»Danke, Angie«, rief auch Ben und hörte die Mutter von Zachs Freund einen Gruß durch die immer noch offene Tür erwidern, dann schloss sie diese von außen.
Zach grinste sie freudestrahlend an, seine halblangen, schwarzen Haare hingen ihm in die grünen Augen. Er schoss nach vorne, um Emma zu küssen und Ben zu umarmen. Er bemerkte gar nicht, wie mitgenommen sie waren, und eilte zur Speisekammer, um sich einen Keks zu holen. Dann kam er zurück und lächelte sie kauend an, bis er bemerkte, dass etwas nicht stimmte und innehielt.
»Was ist denn los?«
Ben schaute kurz zu Emma. Beide warteten darauf, dass der andere etwas sagte, doch Ben wusste, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, bis Zach nach seinem Lieblingstier fragte, also ergriff er das Wort.
»Zach, wir glauben, dass Belle vielleicht weggelaufen ist.«
Zach legte die Stirn in Falten. »Wer?«
Im Pazifischen Ozean, kurz vor der Küste San Diegos
Re-Evolution: 005
Drake Masterson zog an dem Seil, das das Segel kontrollierte, und ließ das Boot dadurch leicht zur Seite kippen. Er selbst lehnte sich nun nach außen, um das passende Gegengewicht zu bilden. Während sein Wassergefährt an Tempo zulegte, musste er seinen Oberkörper immer weiter über das Wasser hinauslehnen.
Die salzige Gischt spritzte in sein Gesicht, und seine muskulösen Arme umschlossen das elastische Seil und die Ruderpinne mit festem Griff. In der Bucht am Pacific Beach war es um diese Jahreszeit schön warm, eine Gelegenheit, die man auf keinen Fall verpassen durfte.
Drakes Sicherheitsfirma lief momentan richtig gut, sogar so gut, dass er selbst meistens gar nicht mehr vor Ort sein musste. Deshalb konnte er Zeit mit Dingen verbringen, die ihm wirklich wichtig waren – wie das Segeln.
Er hatte ganz bei null angefangen und Unterricht genommen, um die Grundlagen zu erlernen, dann hatte er sich ein Boot gekauft und richtig losgelegt. Hier draußen gab es nur ihn, die Wellen, den Wind und den blauen Himmel. Bei günstigen Bedingungen hatte er das Gefühl, regelrecht zu fliegen, wenn er mit seiner acht Meter langen Catalina Capri 22 über das Wasser fegte, ihres Zeichens ein voll ausgestattetes Rennboot. Er hatte es Nelly getauft, nach seiner Mutter. Es gab sogar eine kleine Kajüte, in der er schon so manche warme Nacht in einer schützenden Bucht verbracht hatte. Er mochte das Gefühl, von den Wellen in den Schlaf gewiegt zu werden, und überhaupt war das Segeln reiner Balsam für seine Seele, nach all diesen Jahren voller Aufregung.
Abgesehen davon gab ihm sein Hobby viel Zeit zum Nachdenken. Es war neun Jahre her, dass er, Helen Martin, Emma Wilson und Ben Cartwright aus dem Amazonasdschungel zurückgekehrt waren. Sie waren alle ziemlich hinüber gewesen, aber am Leben. Alle anderen, die mit ihnen unterwegs gewesen waren, hatten nicht so viel Glück gehabt.
Je mehr Jahre vergingen, umso mehr hatte Drake das Gefühl, das alles wäre gar nicht passiert. Es war einfach so abwegig. Irgendwo im tiefsten Herzen des Amazonas gab es einen Tafelberg, ein Tepui, der alle zehn Jahre zu einer Art Portal in eine hundert Millionen Jahre entfernte Vergangenheit wurde. Man musste das Portal innerhalb von vierundzwanzig Stunden betreten und wieder verlassen, sonst war man dort gefangen. Drake schüttelte den Kopf. In diesen paar Stunden hatten sie fünf gute Menschen verloren. Sogar sechs, wenn man den jungen Mann mitzählte, der unbedingt hatte dortbleiben wollen. Ben Cartwright hatte sogar zehn Jahre dort überlebt. Das müssen die zehn höllischsten Jahre gewesen sein, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte.
Drake war der Meinung, dass alles und jeder, mit dem er in seinem Leben zuvor konfrontiert worden war, gegen dieses Erlebnis verblasste. Selbst seine Zeit als Elitesoldat, als er an der Seite von Ben Cartwright gegen ruchlose und blutrünstige Gegner gekämpft hatte. Das alles war nichts gegen die urzeitlichen Monster gewesen, denen sie im Amazonas gegenübergestanden hatten.
Bei diesem Gedanken lachte er laut auf. Eine Sache war jedenfalls sicher: Er war dankbar für jeden Tag, den er zu Hause war, lebte und sich in einem Stück befand. Drake zog an dem Seil, um das Hauptsegel noch etwas optimaler in den Wind zu drehen. Nellies Bug ging daraufhin noch ein paar Zentimeter nach oben und die Geschwindigkeit erhöhte sich, was Drake unwillkürlich jubeln ließ. Sein Magen kribbelte vor Aufregung, doch dann wurde das Boot so abrupt langsamer, dass er nach vorne geschleudert wurde und beinahe auf das Deck schlug.
»Was zur Hölle ist denn jetzt los?«
Nelly setzte ihren Weg fort und es war auch kein lautes Geräusch von unten ertönt, als wäre sie gegen ein treibendes Objekt wie ein Fass oder eine Kiste gefahren, ganz zu schweigen von einer Sandbank. Aber Drake war sich sicher, dass er mit irgendetwas kollidiert sein musste. Das Komische war nur, dass es sich eher angefühlt hatte, als wäre er in ein Kissen hineingefahren.
Vielleicht war es ja ein Algenteppich, dachte er und schaute über die Reling, wo er plötzlich die Hälfte einer riesigen Qualle vorbeitreiben sah.
»Oh mein Gott«, flüsterte er. Das Ding musste an die drei Meter Durchmesser haben. Er schaute weiter ins Wasser und sah dann die andere Hälfte vorbeitreiben. Sein Boot musste das Riesending praktisch zweigeteilt haben.
»Was für ein Monster!«
Drake hatte schon davon gehört, dass es in den eisigen Gewässern des Nordens Quallen gab, die bis zu einem Meter Durchmesser haben konnten und über fünfzig Kilogramm schwer waren, aber dieses Ding hier war bestimmt fünfmal so groß.
»Komisch.« Er segelte weiter und kreuzte noch eine Stunde lang auf und ab, bevor er zum Segelklub zurückkehrte. Meistens parkte er Nelly in dem kleinen Bootshaus des Klubs, aber bei dem guten Wetter band er sie einfach nur an den Pier, damit er am nächsten Morgen gleich wieder losfahren konnte.
Er schnappte sich seine Sachen, räumte auf, spritzte die Segel, die Seile und das Deck mit Wasser ab und klettere dann auf den sonnengewärmten Holzpier. Dort schloss er die Augen und ließ die Sonne ein Weilchen auf sein Gesicht scheinen.
Das Leben war schön und er fragte sich, was sein bester Freund Ben wohl gerade so trieb. Drake hoffte, dass Emma und Ben ihr eigenes kleines Paradies gefunden hatten, so wie er, denn er hatte wirklich alles, was er sich wünschte. Nun ja, nicht ganz alles, denn leider hatte er Helen verloren, und in diesem Moment vermisse er sie unfassbar. Er wünschte sich, sie wäre jetzt hier, dann könnte er ihr von der Qualle erzählen. Er seufzte und konzentrierte sich auf die wärmenden Sonnenstrahlen auf seinen Wangen. Die Zeiten ändern sich nun mal, dachte er, und so manches bleibt leider auf der Strecke.
Schließlich öffnete Drake die Augen und wandte sich dem Klubhaus zu, das eine Bar und ein Restaurant beherbergte. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und färbte den Horizont orange. Ein paar Schnepfenvögel staksten auf ihren langen Beinen herum und warteten darauf, dass sich die nächste Welle verzog, damit sie den Strand hinunterflitzen konnten, um alle freigelegten Schalentiere aufzupicken. Anschließend eilten sie zurück, bevor sie nass wurden.
Während er dabei zusah, kam eine große Welle, und als die Schnepfen gerade vor ihr weglaufen wollten, schnellte ein Teil davon wie eine Hand aus Wasser nach vorne und stürzte sich auf einen der Vögel. Jetzt sah Drake, dass diese Hand in Wahrheit eine dieser Quallen war, die er im Meer gesehen hatte. Das Ding hatte sich eine der Schnepfen geschnappt und zog sie ins Wasser. Durch den gallertartigen Körper sah Drake, wie das kleine Federtier kämpfte. Es war wirklich grausam.
Drake drehte sich um und hoffte, dass irgendjemand anderes es auch gesehen hatte, doch er war allein.
Wie krank ist das denn?, fragte er sich. Er zog schnell sein Handy hervor und versuchte, ein Bild zu machen, doch der glibberige Jäger und seine Beute waren bereits wieder verschwunden. Vollkommen absurd, dachte er. Heute Abend würde er mit den Leuten im Club darüber reden.
Am südöstlichsten Ende Nordamerikas – vor 100 Millionen Jahren
Andy hörte auf zu paddeln und ließ das rustikale Boot weitergleiten, als der Fluss in eine größere Wasserfläche mündete. Dort fiel ihm eine merkwürdige Stromschnelle auf; direkt unter der Oberfläche musste sich eine Felskante oder ein ähnliches Hindernis befinden. Also würde er entweder paddeln müssen wie ein Irrer oder an Land gehen, um das Boot auf die andere Seite zu ziehen.
Wenn er aussteigen müsste, wollte er jedenfalls direkt festen Boden unter den Füßen haben, ohne erst noch durch das Wasser waten zu müssen, denn der Fluss hatte sich schon vor einer Weile braun eingefärbt und es war unmöglich zu sagen, was sich außer abgestorbenen Pflanzenresten und Schlamm sonst noch darin befand.
Eigentlich machte ihm das nicht wirklich Sorgen, doch dass er in einiger Entfernung etwas aus dem Wasser auftauchen sah, war schon eher beunruhigend. Er konnte es nicht genau erkennen, doch es konnte sowohl ein Süßwasser-Mosasaurus sein als auch ein Riesenkrokodil oder eine Schildkröte von der Größe eines Kleinwagens.
Wenn er versuchen würde, das Boot aus dem Wasser zu ziehen, könnte er eine Schildkröte auf jeden Fall abhängen, aber wenn es irgendwas anderes wäre, würde er zu Fischfutter werden.
»Scheiße«, flüsterte er.
»Gluck.«