Das Dorf der acht Gräber - Seishi Yokomizo - E-Book
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Das Dorf der acht Gräber E-Book

Seishi Yokomizo

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Beschreibung

»Yokomizo beweist, dass er in eine Reihe mit John Dickson Carr, Sir Arthur Conan Doyle und Agatha Christie gehört.« FAZ. 

Das tief in den nebelverhangenen Bergen gelegene Dorf der acht Gräber verdankt seinen Namen einer blutigen Legende: Im sechzehnten Jahrhundert wurden acht Samurai, die dort mit einem geheimen Schatz Zuflucht gesucht hatten, von den Bewohnern ermordet, was einen schrecklichen Fluch über ihr Dorf brachte. Jahrhunderte später kommt ein mysteriöser junger Mann namens Tatsuya in die Stadt und hat eine Reihe von tödlichen Giftmischungen im Gepäck. Der unnachahmlich verschrobene und brillante Kosuke Kindaichi nimmt die Ermittlungen auf ...

»Kosuke Kindaichi, der verschrobene Ermittler, hat mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit Columbo, der 1971 sein Fernsehdebüt gab – was zufällig der Zeitpunkt ist, an dem dieser amüsante Roman in Japan zum ersten Mal veröffentlicht wurde.« The Sunday Times Crime Club.

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Seitenzahl: 450

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Über das Buch

In dem versteckt in den Bergen von Okayama gelegenen Dorf der acht Gräber ist man abergläubisch, denn einer Legende nach soll ein schrecklicher Fluch über dem Ort liegen. Als nun ein Fremder namens Tatsuya auftaucht, werden die bösen Geister erneut geweckt, und ein Giftmörder sucht sich scheinbar willkürlich ein Opfer nach dem nächsten. Der dritte Fall des japanischen Altmeisters Seishi Yokomizo hält unzählige Rätsel und blutige Überraschungen für den kauzigen Privatermittler Kosuke Kindaichi bereit, der entschlossen ist, dem Töten ein Ende zu setzen.

Über Seishi Yokomizo

Seishi Yokomizo (1902-1981) ist einer der berühmtesten und beliebtesten japanischen Autoren von Kriminalromanen. Er wurde in Kobe geboren und las als Junge unzählige Detektivgeschichten, bevor er selbst mit dem Schreiben begann. Allein seine Serie um Kosuke Kindaichi besteht aus 77 Büchern. »Die rätselhaften Honjin-Morde« war der erste Band dieser Reihe und gewann sogleich den ersten Preis für Kriminalautoren Japans.

Bei Blumenbar liegt neben dem ersten auch der zweite Band der Reihe, »Mord auf der Insel Gokumon«, vor.

Ursula Gräfe hat Japanologie, Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert. Seit 1989 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Japanischen und Englischen und hat neben zahlreichen Werken Haruki Murakamis u. a. auch Sayaka Murata und Yukiko Motoya ins Deutsche übertragen.

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Seishi Yokomizo

Das Dorf der acht Gräber

Kriminalroman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Personenregister

Prolog

1 Der verlorene Sohn

Eine unheimliche Warnung

Das erste Opfer

Die schöne Gesandte

2 Ein Verdächtiger

Die Abreise

Die Koicha-Nonne

Zwei alte Frauen

Der Wandschirm

Das zweite Opfer

Kosuke Kindaichi

Der Minderwertigkeitskomplex

3 Die Gottheiten von Acht Gräber

Ein sinnloser Mord

Eine Abneigung gegen sauer eingelegtes Gemüse

Bruder Eisens Reise

Etwas im Tee

Geheimnisvoller Besuch an einem Grab

4 Das vierte Opfer

Ein schreckliches Los

Die diebische Nonne

Abenteuer im Geheimgang

Norikos Liebe

Shintaros Gesicht

Dr. Kuno verschwindet

Ein Geist aus der Vergangenheit

5 Unter der Rüstung

Drei goldene Münzen

Wieder etwas im Tee

Das Ungeheuer in der Höhle

Das verlorene Gold

6 Haruyos große Liebe

Der Teufelsschlund

Die Krise

Liebesbriefe von meiner Mutter

Im Fuchsbau

Ein Porträt

Es regnet Steine

Pfade durch die Dunkelheit

Die Stimme aus der Dunkelheit

7 Grauen am Kreuzweg des Echos

Der Biss in den Finger

Shintaro und Miyako

Leidenschaft im Dunkeln

8 Mit dem Rücken zur Wand

Goldregen

Was danach geschah (1)

Was danach geschah (2)

Was danach geschah (3)

Epilog

Ein glückliches Ende

Glossar

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Personenregister

ERMITTLER

Kosuke Kindaichi – berühmter Privatdetektiv

Kommissar Isokawa – ein alter Freund von Kosuke Kindaichi bei der Präfekturpolizei Okayama

FAMILIE TAJIMI (Haus des Ostens)

Yozo – das verstorbene Familienoberhaupt, Urheber eines sechsundzwanzig Jahre zurückliegenden Massakers im Dorf Acht Gräber

Koume und Kotake – Zwillinge, Yozos Tanten und Tatsuyas uralte Großtanten

Hisaya – Yozos ältester Sohn

Haruyo – Yozos Tochter

Oshima – Dienstmädchen der Familie

FAMILIE DES ERZÄHLERS TATSUYA MÜTTERLICHERSEITS

Tatsuya Terada – Ich-Erzähler, Sohn von Tsuruko

Tsuruko – Tatsuyas Mutter

Ushimatsu Ikawa – Tsurukos Vater, Tatsuyas Großvater, Viehhändler

FAMILIE SATOMURA, SEITENZWEIG DER FAMILIE TAJIMI

Shintaro – Yozos Neffe, ehemaliger Offizier und Kriegsteilnehmer

Noriko – Yozos Nichte, Shintaros jüngere Schwester

FAMILIE NOMURA (HAUS DES WESTENS)

Shokichi – Familienoberhaupt

Miyako Mori – seine Schwägerin, Witwe seines jüngeren Bruders Tatsuo

KLERUS

Myoren – Nonne aus dem Kloster Koicha

Baiko – Äbtissin des Klosters Kensho-in in Bankachi

Choei – oberster Geistlicher des Shingon-Tempels Marooji

Bruder Eisen – Mönch, Stellvertreter von Hochwürden Choei

Kozen – Priester aus dem Zen-Tempel Renkoji

ÄRZTE

Tsunemi Kuno – alter Hausarzt der Familie Tajimi

Shuhei Arai – Arzt aus Osaka, im Krieg nach Acht Gräber evakuiert

DORFBEWOHNER

Yoichi Kamei – ehemaliger Dorfschullehrer

Kichizo – Viehzüchter

Itaru – Vorarbeiter bei der Familie Nomura

Prolog

Das Dorf Acht Gräber liegt inmitten der kalten Berge an der Grenze zwischen den Präfekturen Tottori und Okayama.

Ackerland ist rar, nur hier und da gibt es ein paar Reisfelder von zehn oder zwanzig Tsubo. Das unwirtliche Klima sorgt für magere Ernten, und trotz aller Appelle, die Nahrungsmittelproduktion zu steigern, können die Dorfbewohner kaum ihren eigenen Bedarf decken.

Dennoch kann das Dorf dank anderer Einkünfte relativ gut leben. Seine wichtigsten Einnahmequellen sind die Herstellung von Holzkohle und die Viehzucht. Die Viehzucht wurde erst in den letzten Jahren eingeführt, während die Köhlerei schon immer den Haupterwerb in Acht Gräber darstellte.

Die umliegenden Berge erstrecken sich bis in die Präfektur Tottori, und in den Wäldern wachsen vor allem die Eichenarten Kashi und Spitzeiche in so großen Mengen, dass die Region seit Langem in ganz Kansai für ihre Holzkohle berühmt ist.

In jüngster Zeit ist jedoch die Viehzucht zu einer wichtigeren Einnahmequelle als die Köhlerei geworden. Die einheimische Rinderrasse Chiya-ushi eignet sich hervorragend als Schlacht- und Zugvieh, und der Viehmarkt im nahe gelegenen Niimi zieht Händler aus der ganzen Gegend an. So hält jede Familie im Dorf fünf bis sechs Rinder, die aber nicht immer ihr Eigentum sind, sondern meist einem Grundbesitzer gehören, der die Kälber von den Bauern aufziehen lässt und sie, wenn sie ausgewachsen sind, weiterverkauft. Der Gewinn wird zu einem festgelegten Satz geteilt.

Das heißt, wie in anderen Bauerndörfern gibt es auch hier Grundbesitzer und Pächter, und es herrscht eine klare Trennung zwischen Arm und Reich. In Acht Gräber leben zwei wohlhabende Familien: die Tajimis und die Nomuras. Das Anwesen der Familie Tajimi liegt im Osten des Dorfes und wird daher »Higashiya« – Haus des Ostens – genannt, das der Nomuras ist das »Nishiya« – das Haus des Westens.

Die Einwohner von Acht Gräber, die hier seit Generationen geboren und begraben werden, machen sich wahrscheinlich keine Gedanken mehr über den Namen ihres Dorfes, aber ein Fremder, der ihn zum ersten Mal hört, wird ihn sicher seltsam finden und sich fragen, welches unheimliche Schicksal sich dahinter verbergen mag.

Der unheilvolle Name geht auf einen Vorfall in der der Zeit der Streitenden Reiche vor mehr als 380 Jahren zurück. Als der Daimyo Yoshihisa Amago am 6. Juli des neunten Jahres Eiroku, also 1566, die belagerte Burg Gassan an seinen Feind Motonaga Mori abtreten musste, weigerte sich einer der jungen Samurai zu kapitulieren und floh heimlich mit sieben Gefolgsleuten aus der Burg. Der Legende nach führten sie drei mit dreitausend Ryo Gold beladene Pferde mit sich, um aus der Ferne einen neuen Angriff vorzubereiten. Nach einem langen, entbehrungsreichen Ritt über Flüsse und Berge erreichten sie ein Dorf, in dem die geflüchteten Krieger zunächst mit offenen Armen empfangen wurden. Die Herzlichkeit und einfache Lebensweise der Bergbewohner gefiel den Samurai so gut, dass sie sich vorübergehend niederließen und sogar begannen, Holzkohle und andere Produkte herzustellen.

An Verstecken mangelte es in den Bergen glücklicherweise nicht. Im Kalkstein gab es eine Vielzahl von Höhlen und Grotten, die teilweise so tief und unerforscht waren, dass sich niemand in ihre letzten Winkel wagte. Sie galten als die besten Zufluchtsorte im Falle eines Angriffs. Zweifellos war es diese Beschaffenheit des Geländes, die die Samurai veranlasste, sich längere Zeit im Dorf aufzuhalten. Ein halbes Jahr verging ohne Zwischenfälle, und Dorfbewohner und Krieger lebten in gutem Einvernehmen.

Doch Motonaga Moris Männer machten weiter Jagd auf die Flüchtigen, und ihre Suche führte sie immer tiefer in die Berge. Schließlich befand sich unter den Kriegern auf der Flucht ein mächtiger Mann aus dem Amago-Clan, der, ließe man ihn am Leben, den Boden für weitere Angriffe bereiten würde.

Die Dorfbewohner, die den geflohenen Kriegern Unterschlupf gewährt hatten, begannen um ihre eigene Haut zu fürchten. Außerdem hatten sie ein Auge auf die von Mori ausgesetzte Belohnung geworfen. Vor allem aber lockten sie die dreitausend Ryo Gold, die die Samurai auf ihren Pferden mitgebracht hatten. Wenn es ihnen gelänge, alle Krieger zu töten, würde niemand etwas von dem Gold erfahren. Obwohl Mori davon wusste und seine Männer danach suchten, brauchten sie nur zu leugnen, je von dem Gold gehört, geschweige denn es gesehen zu haben. Als die Samurai in einem Meiler Holzkohle brannten, umstellten die Dorfbewohner diesen und steckten das umliegende trockene Gras in Brand, um den Samurai jeden Fluchtweg abzuschneiden. Dann griffen junge Männer mit Äxten und Bambusspeeren an. Natürlich hatten die Samurai keine Waffen bei sich und mussten sich notdürftig mit Äxten und Schürhaken verteidigen. Außerdem waren sie so stark in der Unterzahl, dass sie den Kampf nicht gewinnen konnten. Einer nach dem anderen wurde getötet, bis schließlich alle acht Krieger erschlagen am Boden lagen.

Die Dorfbewohner enthaupteten sie, steckten den Kohlenmeiler in Brand und kehrten unter Triumphgeschrei ins Dorf zurück. Der Sage nach blickten die acht Köpfe jedoch so anklagend und vorwurfsvoll, dass allen ein Schauer über den Rücken lief. Besonders der junge Anführer versetzte die Dorfbewohner in Angst und Schrecken, indem er, in seinem Blute liegend, das Dorf verfluchte und schwor, seine Bewohner sieben Generationen lang zu verfolgen und gnadenlose Rache zu üben.

Auf diese Weise konnte sich das Dorf zwar das von Mori ausgesetzte Kopfgeld sichern, aber es gelang ihnen nicht, das Versteck mit den dreitausend Ryo Gold zu finden. So verzweifelt sie auch suchten, ganze Wiesen umgruben, Felsen aushöhlten, kurzum das ganze Tal durchwühlten, alles war vergebens. Schlimmer noch, auf der Suche nach dem Gold kam es zu einer Reihe tragischer Unfälle.

Ein Mann fand beim Graben in einer Kalksteinhöhle durch einen Einsturz ein frühes Ende. Ein anderer löste an einer Felswand einen Erdrutsch aus, der ihn in die Tiefe riss und so schwer verletzte, dass sein Bein gelähmt blieb. Ein dritter grub unter den Wurzeln eines Baumes, worauf dieser umstürzte und ihn erschlug.

Nach all diesen unglücklichen Begebenheiten ereignete sich ein Vorfall, der die Dorfbewohner wirklich in Angst und Schrecken versetzte.

Etwa ein halbes Jahr war seit dem Massaker an den acht Samurai vergangen, als eines Tages ein Blitz in eine große Zeder vor dem Haus des Grundherrn Shozaemon Tajimi einschlug und den mächtigen Baum bis zu den Wurzeln spaltete.

Shozaemon Tajimi, der den Überfall auf die fliehenden Krieger befohlen hatte, war fortan von gefährlichen Launen besessen und legte ein derart unberechenbares Verhalten an den Tag, dass seine Familie in ständiger Angst vor ihm lebte. Nach dem Blitzeinschlag zog er plötzlich sein Schwert, tötete mehrere Familienmitglieder, rannte dann auf die Straße und erschlug alle Dorfbewohner, die ihm in den Weg kamen, bis er schließlich in den Wald lief, wo er seinem Leben ein Ende setzte.

Insgesamt gab es mehr als ein Dutzend Verletzte, aber genau sieben Menschen starben durch Tajimis Schwert. Ein Umstand, den die entsetzten Dorfbewohner zu Recht oder zu Unrecht als weiteren Racheakt der acht kaltblütig ermordeten Samurai deuteten.

Um die Geister der acht Krieger zu besänftigen, gruben die Dorfbewohner ihre Leichen, die sie wie Hundekadaver verscharrt hatten, wieder aus, bestatteten sie mit dem gebührenden Respekt, errichteten acht Grabstelen für sie und verehrten sie als Myojin, als Gottheiten. So entstanden die acht Gräber auf einem Hügel hinter dem Dorf und gaben ihm seinen Namen. So wird es seit Urzeiten überliefert.

Geschichte wiederholt sich, heißt es, und so geschah vor nicht allzu langer Zeit ein grausames Massaker, über das alle Zeitungen so ausführlich berichteten, dass das abgelegene Bergdorf landesweit in aller Munde war. Dieses Ereignis stand im direkten Zusammenhang mit den mysteriösen Verbrechen, von denen ich noch berichten werde.

Es geschah in den 1920er Jahren, also vor etwa einem Vierteljahrhundert.

Yozo, das damalige Oberhaupt der Familie Tajimi, also des Osthauses, war sechsunddreißig Jahre alt. Seit Shozaemon war ein Hang zum Wahnsinn über mehrere Generationen in der Familie vererbt worden, und auch Yozo war von klein auf gewalttätig und unberechenbar. Mit zwanzig Jahren heiratete er eine junge Frau namens Okisa, mit der er zwei Kinder bekam, Hisaya und Haruyo.

Yozos Eltern waren früh gestorben, und seine beiden Tanten hatten ihn aufgezogen. Zum Zeitpunkt des Massakers bestand die Familie Tajimi also aus Yozo, seiner Frau Okisa, ihrem fünfzehnjährigen Sohn Hisaya, ihrer achtjährigen Tochter Haruyo sowie den Tanten.

Die beiden waren Zwillinge, nie verheiratet gewesen und hatten sich nach dem Tod von Yozos Eltern um die meisten Angelegenheiten der Familie Tajimi gekümmert. Yozo hatte noch einen jüngeren Bruder, der die Familie aber früh verlassen hatte, um das Erbe seiner Mutter anzutreten, und deren Familiennamen Satomura angenommen hatte. Vor dem Vorfall hatte Yozo also eine Frau und zwei Kinder. Doch dann verliebte er sich Hals über Kopf in die Tochter eines Viehhändlers aus dem Dorf, die gerade die Schule abgeschlossen hatte und als Angestellte im Postamt arbeitete. Sie war neunzehn Jahre alt und hieß Tsuruko.

Yozo war, wie bereits erwähnt, ein gewalttätiger und brutaler Mann. Seine Leidenschaft für die junge Tsuruko war so groß, dass er das Mädchen auf ihrem Heimweg abfing, sie in sein Lagerhaus verschleppte und vergewaltigte. Danach hielt er sie weiter in dem Lagerhaus gefangen, wo sie zum ständigen Opfer seiner wahnhaften Begierden wurde. Laut weinend schrie das arme Mädchen um Hilfe. Yozos Tanten und seine Frau Okisa beschimpften ihn wütend, aber er weigerte sich hartnäckig, auf sie zu hören. Auch Tsurukos verzweifelte Eltern eilten herbei und flehten ihn an, ihre Tochter herauszugeben, aber Yozo ließ nicht mit sich reden. Als alle gleichzeitig auf ihn einredeten und ihn bedrängten, wurden Yozos Augen glasig, und er wirkte so bedrohlich, dass sie klein beigaben.

Schließlich blieb den verängstigten Dorfbewohnern nichts anderes übrig als Tsuruko zu überreden, Yozos Geliebte zu werden. Auch Tsuruko wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Yozo hatte den Schlüssel zum Lagerhaus, und er würde kommen, wann immer er wollte, um sein Verlangen mit Gewalt zu befriedigen.

Tsuruko dachte nach. Sie hatte keine andere Wahl, als Yozos Geliebte zu werden. Vielleicht würde er ihr dann erlauben, das Lagerhaus zu verlassen. So fasste sie ihren Entschluss und bat ihre Eltern, es Yozo zu sagen.

Yozo war natürlich begeistert, holte Tsuruko aus dem Lager und richtete ihr eine Wohnung in einem separaten Haus ein. Sie bekam Kimonos, Haarschmuck, Möbel und allerlei Zierrat. Doch Yozo blieb Tag und Nacht im Haus und verging sich unermüdlich an ihr.

Sein Verhalten entsetzte Tsuruko. Man munkelte, Yozos Begierden seien von solcher Wildheit und Schamlosigkeit, dass keine normale Frau sie ertragen könne. Immer wenn Tsuruko es nicht mehr aushielt, versuchte sie zu fliehen. Doch jedes Mal wurde Yozo so wütend, dass die Dorfbewohner sie in panischer Angst anflehten, zu ihm zurückzugehen. Am Ende musste sie, wenn auch widerwillig, immer nachgeben.

Eines Tages wurde Tsuruko schwanger und brachte einen Jungen zur Welt. Yozo war überglücklich und gab ihm den Namen Tatsuya. Man hoffte, Tsuruko würde sich nach der Geburt in ihr Schicksal fügen, aber auch jetzt schlich sie sich immer wieder mit ihrem Kind auf dem Arm aus dem Haus. Einer der Gründe dafür war, dass Yozos Begierde auch nach der Geburt des Kindes unersättlich blieb. Er war überzeugt, Tsuruko gehöre nun ganz ihm, gebärdete sich immer wahnsinniger, und sein Verhalten überstieg jedes Maß.

Mit der Zeit erkannten Tsurukos Eltern und die Dorfbewohner, dass Tsurukos häufige Fluchtversuche noch einen anderen Grund hatten als Yozos unerträgliche Verrücktheit. Da war nämlich ein junger Mann, mit dem sie seit Langem eine innige Beziehung verband. Er hieß Yoichi Kamei und war der Dorfschullehrer. Aufgrund seiner Stellung und der ganzen Situation konnten sie ihre Liebe nicht öffentlich machen und trafen sich heimlich. Da Kamei nicht aus dem Dorf stammte, sondern dorthin versetzt worden war, gab er vor, sich für die Geologie der Landschaft zu interessieren und unternahm häufige Ausflüge zu den Kalksteinhöhlen, in denen sich das Liebespaar getroffen haben soll. Die Dorfbewohner tratschten gern, und bald kursierten allerlei Gerüchte. »Der Junge kann nicht von Tajimi sein«, hieß es. »Tatsuya ist bestimmt der Sohn von Dorfschulmeister Kamei.«

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Yozo dieses Gerücht zu Ohren kam. Er kochte vor Wut. Er war nicht nur sehr verliebt, sondern auch sehr eifersüchtig. Er packte Tsuruko an den Haaren, schlug und trat sie, zog sie nackt aus und übergoss sie mit eiskaltem Wasser. Dann griff er sich den kleinen Tatsuya, der eben noch sein Augapfel gewesen war, und verbrannte ihm mit einer glühenden Feuerzange Rücken und Oberschenkel.

Wenn sie nichts unternahm, das wusste Tsuruko, würde Yozo sie und das Kind töten. Sie durften nicht bleiben, also schlich sie sich mit Tatsuya auf dem Arm aus dem Haus. Einige Tage verbarg sie sich bei ihren Eltern, aber als sie hörte, dass Yozo seit ihrer Flucht wütete wie ein Verrückter, floh sie aus dem Dorf und versteckte sich bei Verwandten in Himeji.

Während der vier oder fünf Tage, die Yozo auf Tsurukos Rückkehr wartete, war er ständig betrunken. Früher, wenn Tsuruko weggelaufen war, hatten ihre Eltern oder der Dorfvorsteher sie normalerweise nach zwei oder drei Tagen mit einer Entschuldigung zurückgebracht. Aber diesmal vergingen erst fünf, dann zehn Tage, ohne dass es Anzeichen für ihre Rückkehr gab. Yozos Wut steigerte sich bis zur Raserei. Seine Tanten und seine Frau Okisa hatten Angst, auch nur in seine Nähe zu komen. Und die Dorfbewohner trauten sich schon gar nicht, mit ihm zu sprechen.

Schließlich erreichte Yozos Wahnsinn einen neuen Höhepunkt.

Es war eine Nacht Ende April. In den Bergen kommt der Frühling spät, so dass die Kohlebecken noch glühten. Plötzlich wurden die Dorfbewohner durch einen Schuss und einen Schrei aus dem Schlaf gerissen. Doch dabei blieb es nicht, es ertönten noch zwei oder drei Schüsse in rascher Folge. Das Geschrei und die Hilferufe wurden immer lauter. Die Leute liefen hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und sahen sich einem Mann in einer seltsamen Verkleidung gegenüber.

Er trug eine Uniformjacke mit Stehkragen, Gamaschen, Strohsandalen und ein weißes Stirnband, unter das er zwei Taschenlampen geschoben hatte, die wie Hörner wirkten. Um seinen Hals hing eine brennende Lampe als Spiegel, wie ihn diejenigen benutzen, die in der Nacht zur Stunde des Ochsen zum Schrein gehen, um jemanden zu verfluchen. Über seiner Jacke trug er einen Männer-Obi, in dem ein Schwert steckte, in den Händen hielt er eine Flinte. Die Dorfbewohner starrten ihn fassungslos an. Bevor sie zu sich kamen, feuerte der Mann erneut, und einer von ihnen fiel tot zu Boden.

Der Mörder war Yozo.

Derart verkleidet hatte er zuerst seine Frau Okisa mit einem einzigen Schwerthieb niedergestreckt, sie beiseite geworfen und war dann wie von Sinnen aus dem Haus gestürmt. Ohne seine beiden Tanten oder seine Kinder anzurühren, zog er durch das Dorf und erschlug oder erschoss jeden unschuldigen Dorfbewohner, der ihm in die Quere kam.

Spätere Untersuchungen ergaben, dass ein Mann auf sein Klopfen hin arglos die Tür öffnete und sofort erschossen wurde. In einem anderen Haus, in dem ein junges Ehepaar schlief, brach Yozo einen Laden auf, schob sein Gewehr durch den Spalt und erschoss den Ehemann. Die junge Frau, durch den Lärm aufgeschreckt, floh auf die andere Seite des Raumes und flehte mit gefalteten Händen um Gnade. Auch sie wurde mit einem ohrenbetäubenden Knall erschossen. Der Anblick der Braut, die mit gefalteten Händen am Boden lag, trieb den herbeigeeilten Beamten die Tränen in die Augen. Umso tragischer war es, dass sie erst zwei Wochen zuvor nach ihrer Hochzeit ins Dorf gekommen war und mit Yozo nicht das Geringste zu tun hatte.

So wütete Yozo die ganze Nacht, bis er im Morgengrauen in die Berge floh und nach einer Nacht des Grauens endlich die Dämmerung hereinbrach.

Yozo hatte ein beispielloses Blutbad angerichtet. Als am nächsten Tag Scharen von Polizisten und Journalisten aus den umliegenden Städten und Dörfern eintrafen, lagen überall blutige Leichen. Aus fast jedem Haus war das Stöhnen von Sterbenden zu hören. Einige riefen um Hilfe.

Acht Gräber hatte unzählige Schwer- und Leichtverletzte sowie zweiunddreißig Tote zu beklagen, was den Vorfall zu einem in seiner Grausamkeit nie dagewesenen Verbrechen machte. Der Mörder Yozo, der in die Berge geflüchtet war, wurde bis zum Schluss nicht gefunden. Natürlich durchkämmte die Polizei mit Unterstützung der Feuerwehr und Suchtrupps aus einheimischen Jugendlichen die umliegende Landschaft. Jeder Gipfel wurde bestiegen, jedes Tal abgesucht. Auch die Kalksteinhöhlen wurden gründlich überprüft. Die Suchaktion dauerte mehrere Monate, doch Yozos Verbleib blieb bis zuletzt ungeklärt. Gleichzeitig gab es verschiedene Hinweise, dass er noch am Leben war. Man fand den Kadaver einer erschossenen Kuh, von der an mehreren Stellen Fleisch abgetrennt worden war. (Die Rinder verbringen den Winter in Ställen, werden aber im Frühjahr auf die Bergweiden getrieben, wo sie frei umherstreifen und sich an Wildkräutern gütlich tun. Mintunter landen sie sogar in der benachbarten Präfektur Tottori. Ein- oder zweimal im Monat, wenn sie Salz brauchen, kehren sie ins Tal zu ihren Besitzern zurück.) Brandspuren nahe der getöteten Kuh deuteten darauf hin, dass Yozo mit Schießpulver ein Feuer entfacht hatte, um das Fleisch zu braten.

Yozo war also offensichtlich nicht in der Absicht Selbstmord zu begehen in die Berge geflohen, sondern entschlossen, um jeden Preis am Leben zu bleiben, ein Umstand, der die Dorfbewohner erneut in Angst und Schrecken versetzte.

Was schließlich aus Yozo wurde, blieb unbekannt. Jeder mit gesundem Menschenverstand würde ausschließen, dass er über zwanzig Jahre in den Bergen überlebt hatte, doch viele Dorfbewohner hielten hartnäckig an dieser unsinnigen Vorstellung fest. Yozo hatte zweiunddreißig unschuldige Menschen in den Tod geschickt. Jede der acht Kriegergottheiten hatte also vier Opfer gefordert. Wäre Yozo umgekommen, wäre das ein Opfer zu viel gewesen. Diejenigen, die an diese Rechnung glaubten, fügten stets noch hinzu: »Was zweimal geschieht, wird auch ein drittes Mal geschehen.«

Shozaemon, der Vorfahr der Familie Tajimi, hatte das erste Blutbad angerichtet, Yozo das zweite, und man war sich sicher, dass es eines Tages abermals zu einem Massaker kommen würde.

In Acht Gräber war es Brauch, ungezogenen Kindern zu drohen, ein Unhold mit wie Taschenlampen leuchtenden Hörnern würde sie holen. Sofort tauchte das Bild von Yozo mit seinem weißen Stirnband, den darunter geklemmten Taschenlampen, der Lampe auf der Brust, dem Schwert im Gürtel und der Schrotflinte vor den Augen der Kinder auf, und ihre Tränen versiegten augenblicklich. Dieser Alptraum sollte die Bewohner von Acht Gräber für immer begleiten.

Seltsamerweise hatten die meisten, die Yozo getötet oder verstümmelt hatte, gar nichts mit ihm oder Tsuruko zu tun. Umgekehrt kamen die, die tatsächlich in die Geschichte verwickelt waren, größtenteils ungeschoren davon.

Yoichi Kamei, der Lehrer, den Yozo am meisten gehasst haben muss, entging dem Tod, weil er in jener Nacht mit einem Mönch im Nachbardorf Go gespielt hatte. Kurz nach dem Massaker ließ er sich jedoch an eine weit entfernte Schule versetzen, vielleicht weil er den Dorfbewohnern nicht mehr traute.

Als Tsurukos Eltern den Lärm hörten, erkannten sie schnell, was vor sich ging, und versteckten sich in der Strohhütte hinter dem Haus, so dass auch sie ohne einen Kratzer davonkamen. Tsuruko und ihr Sohn, die die eigentliche Ursache des Massakers gewesen waren, hielten sich, wie bereits erwähnt, bei Verwandten in Himeji auf und blieben verschont. Als Tsuruko später von der Polizei vorgeladen wurde, musste sie ins Dorf zurückkehren, wo sie eine Weile blieb, aber die Dorfbewohner grollten ihr zu sehr. Hätte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden und Yozo besser in Schach gehalten, wäre das alles nicht passiert. Der Hass derer, die ihre Eltern oder ein Kind verloren hatten, war einfach zu groß. Verfolgt von dem bösartigen Gerede und getrieben von der Angst, Yozo könne noch am Leben sein, verließ sie kurz darauf das Dorf und wurde nie wieder gesehen.

So vergingen sechsundzwanzig Jahre, und nun, im Jahre 1946, schien sich die Prophezeiung der Alten zu bewahrheiten: »Was zweimal geschieht, wird auch ein drittes Mal geschehen.« Denn erneut kam es in Acht Gräbern zu einer Serie rätselhafter Verbrechen. Doch diesmal waren die Morde kein spontaner Ausbruch wahnsinniger Leidenschaft wie bei den ersten beiden Malen. Stattdessen agierte ein unbekannter Mörder auf so seltsame und heimtückische Weise, dass das Dorf erneut in einen Zustand unsagbaren Grauens versetzt wurde.

Nach dieser etwas weitschweifigen Einleitung ist es nun an der Zeit, mit der eigentlichen Geschichte zu beginnen. Zuvor möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass das, was Sie im Folgenden lesen werden, von einer Person geschrieben wurde, die unmittelbar an den Ereignissen beteiligt war und eine wichtige Rolle dabei gespielt hat. Ich werde Ihnen nicht erzählen, wie ich in den Besitz dieses Manuskripts gelangt bin, da dies für die Handlung unserer Geschichte nicht von Bedeutung ist.

1 Der verlorene Sohn

Seit ich dem Dorf Acht Gräber den Rücken gekehrt habe, sind acht Monate vergangen, und ich bin, glaube ich, endlich wieder zur Ruhe gekommen.

Ich sitze in meinem neuen Arbeitszimmer auf einem kleinen Hügel in einem Vorort im Westen von Kobe und genieße den malerischen Blick auf die Insel Awaji. Während ich in aller Ruhe eine Zigarette rauche, überkommt mich wie so oft ein seltsames Gefühl der Verwunderung darüber, dass ich noch lebe. In Romanen steht häufig zu lesen, dass die Haare eines Menschen über Nacht weiß werden können, aber wenn ich den Spiegel auf meinem Schreibtisch zur Hand nehme, entdecke ich kaum ein weißes Haar. Das überrascht mich angesichts der schrecklichen Erlebnisse, die hinter mir liegen, denn ich habe dem Tod nicht nur einmal ins Auge gesehen. Rückblickend hätte es auch anders kommen können, und ich wäre jetzt tot.

Dass ich heute nicht nur lebe und gesund bin, sondern mich in einer glücklicheren Lage befinde, als ich es mir je hätte träumen lassen, verdanke ich einem Mann namens Kosuke Kindaichi. Wäre dieser kauzige kleine Detektiv mit den zotteligen Haaren, dem unansehnlichen Äußeren und dem Hang zum Stottern nicht aufgetaucht, hätte mein Leben ein vorzeitiges Ende gefunden.

Als der Fall endlich gelöst war und wir das Dorf der acht Gräber verlassen wollten, sagte Kosuke Kindaichi noch etwas zu mir:

»Es ist selten, dass ein Mensch in eine so schreckliche Lage gerät wie Sie. An Ihrer Stelle würde ich das, was Sie in den letzten drei Monaten erlebt haben, zur Erinnerung aufschreiben. Damit Sie es für den Rest Ihres Lebens nicht vergessen.«

»Ich habe selbst schon daran gedacht«, antwortete ich. »Vielleicht wäre es gut, den ganzen Vorfall, solange er mir noch frisch im Gedächtnis ist, in allen Einzelheiten zu dokumentieren. Und dabei auch Ihre Leistungen hervorzuheben. Eine andere Möglichkeit, mich Ihnen erkenntlich zu zeigen, habe ich nicht.«

Ich beschloss, mein Versprechen so schnell wie möglich einzulösen. Allerdings musste ich mein Vorhaben bislang aufschieben, weil ich zum einen körperlich und geistig von meinen grauenhaften Erlebnissen völlig erschöpft war. Zum anderen bin ich kein Schriftsteller und nicht ans Schreiben gewöhnt, so dass ich meinen Entschluss immer wieder hinauszögerte. Glücklicherweise bin ich inzwischen gesundheitlich völlig wieder hergestellt. Die furchtbaren Alpträume haben nachgelassen, und meine körperliche Verfassung ist insgesamt wesentlich stabiler. Zwar habe ich kein großes Zutrauen zu meinen schriftstellerischen Fähigkeiten, aber ich will ja keinen Roman schreiben, sondern lediglich die ungeschminkte Wahrheit über das, was ich erlebt habe, zu Papier bringen. Es geht um einen Tatsachenbericht, eine wahre Geschichte sozusagen. Und vielleicht entschädigt das Abseitige und Schreckliche dieser Geschichte ein wenig für ihre literarische Unzulänglichkeit.

Das Dorf Acht Gräber – allein die Erinnerung daran lässt mich schaudern. Was für ein grauenhafter Name, was für ein grauenhafter Ort. Und dann diese entsetzlichen Ereignisse.

Acht Gräber! Bis zu meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag im vergangenen Jahr hätte ich mir nie träumen lassen, dass ein Dorf dieses grausigen Namens überhaupt existierte, geschweige denn, dass ich etwas damit zu tun haben könnte. Ich wusste nur, dass ich in der Präfektur Okayama geboren wurde, aber nicht in welchem Bezirk oder Dorf. Und es interessierte mich auch nicht. Da ich, solange ich denken konnte, in Kobe gelebt hatte, kannte ich das Leben auf dem Land nicht, und meine Mutter hatte es immer vermieden, über ihren Heimatort zu sprechen und behauptet, dort keine Verwandten mehr zu haben.

Ach, meine Mutter! Ich brauche nur die Augen zu schließen, und schon sehe ich ihr Bild ganz deutlich vor mir. Sie starb, als ich sieben war. Wie jeder Junge, der seine Mutter früh verliert, war ich davon überzeugt, dass es auf der ganzen Welt nie eine schönere Frau gegeben hat als sie. Sie war zierlich, mit kleinen, feinen Gesichtszügen. Ihre Augen, ihre Nase und ihr Mund waren so ebenmäßig wie die einer Puppe. Ihre winzigen Hände waren stets mit den Handarbeiten beschäftigt, die man ihr in Auftrag gab. Sie war zurückhaltend, sprach wenig und ging selten aus dem Haus. Aber wenn sie einmal den Mund auftat, klang ihr weicher Okayama-Dialekt wie liebliche Musik in meinen Ohren.

Was mein kindliches Herz jedoch schmerzte, war der Umstand, dass meine so ruhige und sanftmütige Mutter, nachts von Angstzuständen gequält wurde. Dann richtete sie sich plötzlich im Bett auf, biss sich angstvoll auf die Lippen und begann in rascher Folge unverständliche Worte hervorzustoßen, bevor sie, von Weinkrämpfen geschüttelt, in ihr Kissen zurückfiel. Das geschah oft. Wenn mein Stiefvater und ich durch ihre Schreie geweckt wurden, riefen wir sie beim Namen und schüttelten sie, aber nicht immer kam sie zur Besinnung. Sie weinte und weinte und weinte, bis sie schließlich wie ein Kind in den Armen ihres Mannes einschlief, der sie die ganze Nacht hielt und ihr sanft den Rücken streichelte.

Inzwischen kenne ich die Ursache für diese schrecklichen Anfälle meiner armen Mutter. Bei allem, was sie durchgemacht hatte, war es kein Wunder, dass die Dämonen ihrer Vergangenheit sie immer wieder heimsuchten.

Wenn ich an diese Zeit denke, kann ich nicht umhin, große Dankbarkeit gegenüber meinem Stiefvater zu empfinden. Später habe ich mich wegen einer Meinungsverschiedenheit von ihm losgesagt und bedaure sehr, nie Gelegenheit gehabt zu haben, mich mit ihm auszusöhnen.

Mein Stiefvater hieß Torazo Terada und war Vorarbeiter in einer Schiffswerft in Kobe. Er war fünfzehn Jahre älter als meine Mutter, stattlich und hatte einen rötlichen Teint. Er wirkte ein wenig furchterregend, aber im Nachhinein betrachtet war er ein großherziger, feiner Mann. Wie meine Mutter ihn kennengelernt hatte, entzieht sich bis heute meiner Kenntnis, aber er liebte sie sehr und war auch mir sehr zugetan, und ich erfuhr erst viel später, dass er nicht mein leiblicher Vater war. Er hatte mich sogar als seinen Sohn in sein Familienbuch eintragen lassen. Deshalb verwende ich bis heute seinen Nachnamen und nenne mich Tatsuya Terada.

Aber schon als Kind wunderte ich mich, dass im Familienregister 1923 als mein Geburtsjahr eingetragen war, während auf einem Amulett, das mir meine Mutter geschenkt hatte, 1922 stand. Ich bin also in Wirklichkeit neunundzwanzig Jahre alt, obwohl ich offiziell für achtundzwanzig gehalten werde.

Wie Sie wissen, starb meine Mutter, als ich sieben Jahre alt war. Mit ihrem Tod endete die glückliche erste Hälfte meines Lebens. Das heißt aber nicht, dass mein Leben danach nur noch unglücklich war. Ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter heiratete Torazo wieder. Meine Stiefmutter hätte nicht unterschiedlicher sein können. Sie war groß, heiter und gesprächig. Wie die meisten redseligen Frauen war sie in keiner Weise giftig, und mein Stiefvater war, wie gesagt, ein großzügiger und anständiger Mann, der sich weiterhin um mich kümmerte und mich auf die Schule und später auf eine Handelsschule schickte.

Aber, wie soll ich sagen, wie so oft bei Kindern und Eltern, die nicht blutsverwandt sind, fehlte etwas. Um einen kulinarischen Vergleich zu bemühen: wie ein Gericht, das sehr gut aussieht, aber wenn man es probiert, fehlt eine wichtige Zutat. Und da meine neue Mutter ein Kind nach dem anderen zur Welt brachte, war es nur natürlich, dass ich ihr irgendwie im Weg stand und sie sich mir gegenüber zunehmend distanziert verhielt. Nicht, dass das der Grund gewesen wäre, aber in dem Jahr, in dem ich die Handelsschule abschloss, hatte ich einen Streit mit meinem Stiefvater, lief von zu Hause weg und wohnte eine Zeit lang bei einem Freund.

Was danach geschah, war nichts Ungewöhnliches. Wie jeder gesunde junge Mann wurde ich mit einundzwanzig Jahren in die Armee eingezogen. Bald darauf wurde ich in die Südsee versetzt, wo ich eine schwere Zeit durchmachte, bis der Krieg endete und ich im folgenden Jahr repatriiert wurde.

Bei meiner Rückkehr nach Kobe musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass die gesamte Stadt niedergebrannt war. Auch das Haus meines Stiefvaters war völlig zerstört, und ich hatte keine Ahnung, wo ich die Familie hätte finden können. Dann erfuhr ich, dass mein Stiefvater bei einem Angriff auf die Werft von einem Schrapnell getötet worden war. Zu allem Überfluss war das Handelsunternehmen, in dem ich vor dem Krieg gearbeitet hatte, bankrott, und es war unklar, ob es seinen Betrieb wieder aufnehmen würde.

Ich war völlig ratlos, hatte aber das Glück, dass mir ein guter Freund aus der Schulzeit zu Hilfe kam, der nach dem Krieg eine Kosmetikfirma gegründet hatte. Es war kein sehr zukunftsträchtiges Unternehmen, aber da ich keine andere Wahl hatte, hielt ich mich mit dieser Tätigkeit zwei Jahre lang über Wasser.

Wären nicht die Ereignisse eingetreten, von denen ich gleich berichten werde, so hätte ich dieses armselige und langweilige Dasein wohl für immer fortgeführt.

Doch plötzlich geschah etwas Außergewöhnliches, das einen Hauch von Purpur in mein graues Leben brachte und der Auslöser für ein schwindelerregendes Abenteuer voller blutiger Schrecken war.

So fing alles an.

Es war der 25. Mai 1946, ein Tag, den ich nie vergessen werde. Ich kam gegen neun Uhr zur Arbeit und wurde kurz darauf ins Büro des Abteilungsleiters gerufen.

»Haben Sie heute Morgen zufällig Radio gehört, Herr Terada?«, fragte er und sah mich aufmerksam an.

Ich verneinte.

»Sie heißen doch Tatsuya, und Ihr Vater hieß Torazo, oder?«, fragte er weiter.

»Ja, das stimmt«, antwortete ich und fragte mich, was die Radiosendung von heute Morgen mit meinem Namen und dem meines Stiefvaters zu tun haben mochte.

»Dann sind Sie es. Im Radio war jemand, der Sie sucht, Herr Terada«, sagte der Abteilungsleiter.

Wenn jemand wisse, wo sich Tatsuya Terada, der älteste Sohn von Torazo Terada, aufhalte, solle er sich an eine bestimmte Adresse wenden. Falls Tatsuya Terada selbst die Sendung gehört habe, bitte man ihn, sich persönlich zu melden. So der Aufruf in der Radiosendung. Ich war verblüfft.

»Haben Sie denn eine Ahnung, wer nach Ihnen sucht?«, fragte der Abteilungsleiter. Er hatte sich die Adresse notiert und zeigte sie mir.

»Anwaltskanzlei Suwa, Nitto Building, 4. Stock, Kitanagasa-dori, Bezirk 3.«

Verwunderung überkam mich. Wie Sie meinen bisherigen Ausführungen entnehmen konnten, war ich Waise. Vielleicht waren meine Stiefmutter und meine jüngeren Geschwister, die ich seit dem Krieg aus den Augen verloren hatte, noch irgendwo am Leben, aber es war doch sehr unwahrscheinlich, dass sie mittels eines Anwalts über das Radio nach mir suchten. Mein Stiefvater hätte sich vielleicht Sorgen um mich gemacht und versucht, mich zu finden, aber er war schon lange tot. Eine andere Idee hatte ich nicht. Ich war wie betäubt und ziemlich durcheinander.

»Sie sollten trotz allem hingehen. Offenbar gibt es Leute, die Sie suchen«, ermunterte mich der Abteilungsleiter.

Er bot an, mir den Vormittag freizugeben, und drängte mich, sofort aufzubrechen. Ich glaube, er war neugierig, zumal er selbst im Radio davon gehört hatte.

Ich fühlte mich wie von einem Fuchs überlistet und gleichzeitig wie eine Romanfigur. Jedenfalls befolgte ich seinen Rat und verließ sofort die Firma. Mit einem gewissen Gefühl der Beklemmung, aber auch der Erwartung kam ich in der Kanzlei Suwa im vierten Stock des Nitto-Gebäudes an, wo ich mindestens eine halbe Stunde verbrachte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ein Aufruf im Radio so wirkungsvoll ist und es so schnell eine Reaktion geben würde«, sagte Herr Suwa.

Er war ein sympathischer, etwas korpulenter älterer Herr, was mich sogleich beruhigte. Ich hatte oft in Romanen von korrupten Anwälten gelesen und daher befürchtet, er wollte mich womöglich als Werkzeug für irgendeinen Betrug benutzen.

Zunächst fragte mich Herr Suwa nach meinem Vater und meiner Vergangenheit.

»War dieser Torazo Terada Ihr leiblicher Vater?«

»Nein. Ich war sein Stiefsohn. Meine Mutter hatte mich in die Ehe gebracht. Sie starb, als ich sieben Jahre alt war.«

»Aha. Und das wussten Sie schon als kleiner Junge?«

»Nein, als ich klein war, dachte ich, Torazo sei mein richtiger Vater. Die Wahrheit habe ich wahrscheinlich erst nach dem Tod meiner Mutter erfahren. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.«

»Kennen Sie zufällig den Namen Ihres leiblichen Vaters?«

»Ich fürchte, nein.«

Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass die Person, die mich suchte, tatsächlich mein leiblicher Vater sein konnte. Mein Herz klopfte vor Aufregung.

»Ihre Mutter oder ihr Stiefvater haben also nie über Ihren richtigen Vater gesprochen?«

»Nein, sie haben ihn nie erwähnt.«

Im Nachhinein glaube ich, dass mein Stiefvater alles wusste, aber nie die Gelegenheit hatte, es mir zu sagen. Wäre ich nicht von zu Hause weggelaufen und in Kriegsgefangenschaft geraten und wäre er nicht bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, hätte er mir früher oder später alles erzählt.

So sagte ich es auch Herrn Suwa, und er nickte.

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber kommen wir zur Sache. Entschuldigen Sie, wenn ich misstrauisch erscheine, aber haben Sie irgendwelche Papiere bei sich, die Ihre Identität bestätigen?«

Ich überlegte kurz und holte das Beutelchen mit dem Amulett meiner Mutter hervor, das ich immer bei mir trug.

Der Anwalt nahm es heraus und las die Aufschrift.

»Tatsuya, geboren am 6. September 1922. Aber es ist kein Nachname angegeben. Sie hatten also keine Ahnung. Was ist das für ein Papier?«

Der Anwalt entfaltete das Blatt. Es zeigte eine mit dem Pinsel auf Japanpapier gezeichnete Landkarte. Ich hatte keine Ahnung, was es damit auf sich hatte und warum ich sie besaß. Sie stellte ein verschlungenes Labyrinth dar, in das hier und da geheimnisvolle Ortsnamen wie »Drachenzahn« oder »Fuchsbau« eingezeichnet waren.

Daneben standen einige Verse, die mich an Pilgergebete erinnerten und offensichtlich etwas mit der Karte zu tun hatten, da sie ebenfalls die Begriffe »Drachenzahn« und »Fuchsbau« verwendeten. Dass ich diesen rätselhaften Zettel, der dem Amulett beilag, mein Leben lang so sorgfältig in einer schützenden Hülle aufbewahrte, hatte einen besonderen Grund.

Als meine Mutter noch lebte, hatte sie die Karte manchmal hervorgeholt und darauf gestarrt. Dann leuchteten ihre sonst so traurigen Züge auf, ihre Wangen röteten sich, und ihre Augen glänzten. Am Ende stieß sie immer einen tiefen Seufzer aus.

»Mein kleiner Tatsuya«, sagte sie dann. »Diese Karte ist sehr wertvoll. Pass immer gut auf sie auf. Du darfst sie nie verlieren. Vielleicht wird sie eines Tages dein Glück sein. Also pass auf, dass sie nicht zerreißt, und wirf sie nie weg. Und vergiss eines nicht: Du darfst niemandem davon erzählen.«

Um die Wahrheit zu sagen, hörte ich – anders als in meiner Kindheit – ungefähr ab meinem zwanzigsten Lebensjahr auf, an die vermeintlichen Wunderkräfte dieses Stück Papiers zu glauben. Dass ich es trotzdem aufbewahrt und nicht zerrissen hatte, geschah wohl aus Trägheit. Es störte mich ja nicht.

Wie sehr ich mich doch irrte. Denn die Karte sollte einen entscheidenden Einfluss auf mein Schicksal haben. Doch ich werde später noch Gelegenheit finden, ausführlicher davon zu berichten.

Rechtsanwalt Suwa interessierte sich nicht sonderlich für die Karte, und als ich nichts mehr dazu sagte, faltete er sie behutsam wieder zusammen und schob sie mit dem Amulett zurück in den Beutel.

»Ich zweifle nicht an Ihrer Identität, aber sicherheitshalber habe ich noch eine letzte Bitte an Sie.«

Ich sah ihn fragend an.

»Würden Sie sich bitte ausziehen? Ich möchte mir Ihren Körper ansehen.«

Ich wurde feuerrot.

Denn ich hatte ein Geheimnis, von dem auf keinen Fall jemand erfahren sollte. Seit meiner Kindheit hatte ich mich immer heftig gesträubt, in öffentliche Bäder zu gehen, an schulärztlichen Untersuchungen teilzunehmen oder an den Strand Schwimmen zu gehen. All das war mir ein Gräuel, denn mein Körper ist mit Narben übersät, am Rücken, am Gesäß und an den Oberschenkeln. Es waren die grausamen Spuren von Verbrennungen mit einer Feuerzange. Ich will mich nicht selbst loben, aber abgesehen davon ist meine Haut sehr hell und zart, von fast weiblicher Schönheit. Umso hässlicher stechen die violetten Narben hervor, und umso größer ist das Entsetzen, das sie hervorrufen. Dabei hatte ich nicht einmal eine Ahnung, wie diese Narben entstanden waren. Als Kind hatte ich meine Mutter manchmal danach gefragt, aber jedes Mal brach sie in lautes Schluchzen aus oder bekam einen ihrer Anfälle, so dass ich beschloss, sie nicht mehr zu fragen.

»Mich ansehen? Aber was hat das denn mit all dem zu tun?«

»Wenn Sie die Person sind, die ich suche, haben Sie unverkennbare Merkmale an Ihrem Körper, die man nicht fälschen kann.«

Also fasste ich mir ein Herz und entledigte mich meiner Jacke. Dann zog ich mein Hemd aus. Dann meine Hose. Ich stand nun in der Unterhose da. Ich schämte mich fürchterlich vor dem Anwalt. Nachdem Suwa mich eingehend in Augenschein genommen hatte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Ich danke Ihnen. Das muss sehr peinlich für Sie gewesen sein. Sie können sich wieder anziehen. Ich bin jetzt völlig überzeugt.«

Rechtsanwalt Suwa erzählte mir dann, dass tatsächlich jemand nach mir suche, ein Mann, dessen Namen er mir noch nicht nennen dürfe. Dieser Mann wolle mich adoptieren und für mich sorgen, sobald er meinen Aufenthaltsort wüsste. Er sei wohlhabend, also sollte es mein Schade nicht sein. Suwa würde ihm umgehend Mitteilung machen und sich dann wieder bei mir melden. Er notierte sich meine Adresse und die der Firma, in der ich arbeitete.

Damit endete meine erste Begegnung mit Rechtsanwalt Suwa.

Trotzdem hatte ich das unbestimmte Gefühl, irgendwie hereingelegt worden zu sein. Als ich wieder im Büro war, erzählte ich meinem Abteilungsleiter in groben Zügen, was sich zugetragen hatte. Er sah mich erstaunt an.

»Oho«, rief er. »Das ist ja was! Du bist also der illegitime Sohn eines reichen Mannes.«

Der Chef redete gern, und so verbreitete sich die Geschichte in Windeseile im Betrieb, und ich musste mich die ganze Zeit mit meiner angeblich edlen Geburt aufziehen lassen, was mir ein mulmiges Gefühl gab.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Was jedoch nicht daran lag, dass ich begeistert über meine glücklichen Aussichten gewesen wäre. Vielleicht spielte das auch eine kleine Rolle, aber die Angst überwog. Die schrecklichen Anfälle meiner unglücklichen Mutter und die grässlichen Narben auf meinem Körper waren nicht gerade Stoff für süße Träumereien.

Ich hatte die ungute Vorahnung, dass etwas Schreckliches passieren würde.

Eine unheimliche Warnung

Damals wusste ich noch nichts von einem Dorf namens Acht Gräber und der unheimlichen Legende, die sich darum rankte. Wie hätte ich ahnen können, welches Schicksal mich mit diesem Ort verband?

Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden die seltsame Angst, die ich bei dem Auftauchen eines Fremden verspürte, vielleicht für eine romanhafte Wendung halten, aber das ist sie nicht.

Im Allgemeinen sind Menschen nicht besonders erfreut über extreme Veränderungen ihrer Lebensumstände. In den meisten Fällen überwiegt die Angst die Freude. Auch für mich, der ich mir nicht einmal vorstellen konnte, was die Zukunft für mich bereithalten würde, war diese Sorge ganz natürlich. Kein Wunder, dass ich lieber in Ruhe gelassen worden wäre.

Es war nicht so, dass ich froh gewesen wäre, wenn der Anwalt sich nicht mehr gemeldet hätte. Im Gegenteil, ich wartete ungeduldig auf eine Nachricht von ihm und war niedergeschlagen, als ich am nächsten Tag nichts von ihm hörte. Fünf Tage vergingen, zehn Tage, in denen ich zähneknirschend und wie ein eingesperrtes Tier zwischen Angst und Erwartung hin und her tigerte, ohne dass Herr Suwa sich meldete. Doch irgendwann wurde mir klar, dass er die Sache nicht einfach aufgegeben hatte.

Als ich eines Tages aus dem Büro kam, sprach mich die junge Frau des Freundes an, bei dem ich wohnte. »Herr Terada, heute ist etwas Seltsames passiert.«

»Was denn?«, fragte ich.

»So ein komischer Mann war hier und hat mich über Sie ausgefragt.«

»Ausgefragt? Über mich? Ach, das muss ein Bote von dem Anwalt gewesen sein, von dem ich neulich erzählt habe.«

»Das dachte ich zuerst auch, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Er sah eher aus wie einer vom Land.«

»Einer vom Land?«

»Ja. Bei Leuten vom Land ist es so schwer, das Alter zu schätzen. Aber er trug einen Invernessmantel mit hochgeschlagenem Kragen, eine dunkle Brille und hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen. So konnte ich ihn nicht richtig erkennen. Er machte irgendwie einen unheimlichen Eindruck auf mich.«

»Was hat er denn genau gefragt?«

»Hauptsächlich, wie Sie sich verhalten, was für einen Charakter Sie haben. Ob Sie Alkohol trinken, sich manchmal wie ein Verrückter benehmen und Gewaltausbrüche haben.«

»Wie ein Verrückter? Gewaltausbrüche? Was sind denn das für Fragen?«

»Ja, ich fand sie auch seltsam.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Ich habe natürlich versichert, dass nichts dergleichen auf Sie zutrifft. Und dass Sie ganz im Gegenteil ein sehr umgänglicher und besonnener Mensch sind. Was ja auch stimmt.«

Ungeachtet ihrer freundlichen Worte konnte ich mich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Mir war klar, dass der Anwalt nicht nur alles tun musste, um sich von meiner Identität zu überzeugen, sondern auch meinen Charakter unter die Lupe zu nehmen hatte. Die Frage, ob ich trank oder rauchte, war in diesem Zusammenhang verständlich, aber die Frage, ob ich zu wahnsinnigen Gewaltausbrüchen neigte, war schon ein starkes Stück. Was wollte er damit andeuten?

Ein paar Tage später erzählte mir übrigens der Personalchef meiner Firma, dass er ein ähnliches Gespräch geführt hatte. Offenbar war der Mann im Invernessmantel, mit dunkler Brille und tief ins Gesicht gezogener Mütze auch in meiner Firma aufgetaucht und hatte die gleichen Fragen gestellt wie bei meinem Freund zu Hause.

»Möglicherweise war Ihr unbekannter Vater Alkoholiker und hatte Gewaltausbrüche, wenn er trank. Jetzt befürchtet man vielleicht, dass er Ihnen diese Veranlagung vererbt hat. Aber keine Sorge, ich habe ihm gesagt, dass Sie ganz und gar nicht so sind.«

Der Personalchef, der bereits von meiner unehelichen Geburt gehört hatte, lachte unbekümmert, als er das sagte. Aber mir war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Unheilvolle dunkle Schatten tauchten vor mir auf und bedrängten mich immer mehr.

Stellen Sie sich vor, liebe Leserinnen und Leser, man sagt Ihnen im Alter von siebenundzwanzig Jahren, in Ihren Adern flösse das Blut eines wahnsinnigen Säufers. Was für ein Schock! Natürlich hatte man mir das nicht ausdrücklich gesagt. Aber ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass der Mann, der diese Fragen gestellt hatte, mich darauf aufmerksam machen wollte. Oder nein, nicht nur ich, sondern die ganze Welt sollte es erfahren.

Ich wurde immer nervöser und ungeduldiger. Anstatt diese Ungewissheit zu ertragen, dachte ich daran, Rechtsanwalt Suwa selbst aufzusuchen und ihn zu bitten, mir seine Fragen persönlich zu stellen. Aber während ich noch zögerte, weil ich nichts überstürzen wollte, erhielt ich einen Brief, der mich sehr erschreckte.

Mein Besuch in der Kanzlei Suwa lag nun schon sechzehn Tage zurück. Ich hatte gerade hastig gefrühstückt und wollte mich auf den Weg zur Arbeit machen, als mich die Frau meines Freundes zurückrief.

»Ein Brief für Sie, Herr Terada.«

Ich dachte sofort an Rechtsanwalt Suwa, und mein Herz machte einen Satz, denn ich erwartete seine Nachricht heute oder morgen, und außerdem hatte ich keine Freunde oder Verwandten, die mir schreiben würden. Aber als ich den Brief erhielt, überkam mich wieder eine böse Vorahnung.

Der Umschlag war aus grobem Papier von schlechter Qualität und nicht gerade das Briefpapier, das ein Rechtsanwalt mit einer Kanzlei im vierten Stock des Nitto Buildings verwenden würde. Außerdem waren Name und Adresse des Empfängers in einer sehr unbeholfenen Kinderschrift darauf gekritzelt, offenbar so ungelenk, dass der Umschlag voller Tintenflecken war. Ich drehte ihn um, aber es war kein Absender zu sehen.

Mit klopfendem Herzen erbrach ich das Siegel und fand einen Brief auf einem fleckigen Stück Papier, das aussah wie aus dem Mülleimer, in derselben krakligen Handschrift.

Du darfst das Dorf der Acht Gräber nie wieder betreten. Wenn du es doch tust, wird es böse enden. Die Götter der Acht Gräber sind erzürnt. Wenn du zurückkommst, wird es Blut geben! Blut! Blut! Ein Gemetzel wie vor sechsundzwanzig Jahren wird Acht Gräber in ein Meer von Blut verwandeln.

Ich muss für einen Moment wie betäubt gewesen sein. Aus der Ferne ertönte die Stimme der jungen Frau meines Freundes, und endlich kam ich wieder zu mir. Ich steckte den Brief hastig zurück in den Umschlag und verstaute ihn in meiner Tasche.

»Herr Terada, was ist los? Steht etwas Unangenehmes in dem Brief?«

»Aber nein, warum fragen Sie?«

»Weil Sie so kreidebleich geworden sind.« Die junge Frau schaute mich forschend an.

Wahrscheinlich war es so. Nein, es war bestimmt so. Jeder wäre über eine so schreckliche Nachricht entsetzt gewesen. Um Fassung ringend und um dem fragenden Blick der jungen Frau zu entgehen, verließ ich eilig das Haus meines Freundes.

Da ich von Kindheit an allein war, frage ich selten nach der Meinung anderer und schätze ihr Mitgefühl nicht. Das Bewusstsein, ganz allein auf der Welt zu sein, hatte sich mir seit dem Verlust meiner Mutter tief eingeprägt, so dass ich, ganz gleich, welches Unglück oder welche Widrigkeit mich traf, niemals das Mitgefühl anderer in Anspruch nahm. Es war nicht so, dass ich anderen nicht vertraute, aber engere Beziehungen brachten unweigerlich Erwartungen und Sorgen mit sich. Für mich gab es nichts, was ich nicht allein bewältigen konnte.

O mein trauriger Hang zur Einsamkeit … Aber natürlich konnte ich damals noch nicht wissen, wie sehr ich später wegen meiner Neigung zur Sturheit missverstanden werden und welch furchtbares Unglück ich wegen dieser Veranlagung erleiden sollte.

Ich hoffe nur, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, meine tiefe Erschütterung angesichts dieses Briefes verstehen.

Acht Gräber. Es war das erste Mal, dass ich mit diesem seltsamen und unheimlichen Namen in Berührung kam. Der Name allein klang schon bedrohlich genug, aber noch viel bedrohlicher wirkte der bizarre Inhalt des Briefes.

Du darfst das Dorf der Acht Gräber nie wieder betreten. Wenn du es doch tust, wird es böse enden. Die Götter der Acht Gräber sind erzürnt. Wenn du zurückkommst, wird es Blut geben! Blut! Blut! Ein Gemetzel wie vor sechsundzwanzig Jahren wird Acht Gräber in ein Meer von Blut verwandeln.

Was sollte das bedeuten? Worauf wollte der Verfasser des Briefes wirklich hinaus? Ich hatte keine Ahnung. Und dieses Nichtwissen machte die ganze Sache noch unheimlicher.

Alles, was ich wusste, war, dass es eine Verbindung zwischen dem Brief und den Leuten geben musste, die mich suchten. Seit der Anwalt mich gefunden hatte, gab es mindestens zwei Parteien, die sich für mich interessierten. Der Mann, der mich suchte, und der Verfasser des Briefes.

Oder auch nicht … Ein Gedanke ließ mich plötzlich zusammenfahren. War es möglich, dass beide ein und dieselbe Person waren? Ich zog den Brief wieder aus der Tasche und versuchte, den Poststempel zu erkennen, aber leider war er verschmiert und unleserlich.

Da ich an diesem Morgen so durcheinander war, verpasste ich mehrere Bahnen und kam erst um 8.30 Uhr mit einer halben Stunde Verspätung in der Firma an. Ein Kollege sagte mir, der Abteilungsleiter wolle mich sofort sprechen. Ich ging direkt in sein Büro, wo ich ihn gut gelaunt vorfand.

»Ah, Terada, ich habe schon auf Sie gewartet. Die Kanzlei Suwa hat für Sie angerufen, Sie sollen gleich kommen. Es scheint ein Treffen zwischen Vater und Sohn zu geben. Wenn sich herausstellt, dass Sie einen reichen Vater haben, müssen Sie uns allen einen ausgeben. Hahaha. He, was ist los? Ist Ihnen nicht gut?«

Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe. Wahrscheinlich etwas Belangloses. Ich ließ den verdutzt dreinblickenden Abteilungsleiter zurück und wankte wie ein Schlafwandler aus der Firma. Und betrat die Welt der Angst und des Schreckens.

Das erste Opfer

Wäre ich Schriftsteller, hätte ich die folgende Szene zum ersten Höhepunkt meiner Geschichte machen können. Aber ich besitze dieses Talent nicht, und Tatsache ist, dass der Vorfall, so schrecklich er auch gewesen sein mag, oberflächlich betrachtet ziemlich schnell vorbei war.

Ich gebe ehrlich zu, dass meine Gefühle damals eher unbestimmt waren. Ich begriff, dass ein Mensch gestorben war und auch, wie zerbrechlich das menschliche Leben ist. Aber das ganze Ausmaß des Geschehens wurde mir erst später bewusst.

Als ich in Herrn Suwas Büro kam, fand ich bereits einen Besucher vor. Der Mann hatte einen grau melierten, geschorenen Kopf und trug eine khakifarbene Uniform, die vermutlich von der Armee ausgemustert worden war. Sein rotbrauner Teint und seine nikotingelben, knotigen Finger verrieten sofort seine ländliche Herkunft. Wie der Frau meines Freundes fällt es mir schwer, das Alter von Landleuten zu schätzen, aber er muss zwischen sechzig und siebzig gewesen sein.

Der Mann saß verlegen in einem Sessel, sprang aber auf, als er mich sah, drehte sich um und wandte sich wieder dem Anwalt zu. Intuitiv wusste ich, dass er der Mann war, der mich suchte oder zumindest etwas mit ihm zu tun hatte.

»Kommen Sie, wir haben Sie schon erwartet. Nehmen Sie Platz«, sagte Herr Suwa leutselig wie immer und deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Eigentlich wollte ich Ihnen die gute Nachricht schon früher zukommen lassen, aber Sie wissen ja, wie langsam die Post heutzutage ist. Doch jetzt ist endlich alles geregelt. Darf ich vorstellen?«

Rechtsanwalt Suwa drehte sich zu dem alten Mann im Sessel um.

»Herr Ushimatsu Ikawa, Ihr Großvater, der Vater Ihrer verstorbenen Mutter, also Ihr Großvater mütterlicherseits. Herr Ikawa, das ist Tatsuya, der Sohn von Tsuruko.«

Wir erhoben uns von unseren Plätzen, verbeugten uns kurz und wandten unsere Blicke sofort wieder ab. Für eine erste Begegnung zwischen Großvater und Enkel war die Begrüßung kühl, aber in der Realität geht es eben weniger dramatisch zu als im modernen Theater.

»Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Ihr Großvater nicht derjenige ist, der Sie sucht.«

Wahrscheinlich dachte er, ich sei enttäuscht, weil mein Großvater nicht wie ein reicher Mann aussah.

»Natürlich«, fügte er schnell hinzu, »hat sich Ihr Großvater auch Sorgen um Sie gemacht, aber in diesem Fall ist er nur ein Bote. Es sind vielmehr die Verwandten Ihres Vaters, die Sie finden wollen. Erlauben Sie mir, Ihnen Ihren richtigen Nachnamen mitzuteilen. Er lautet Tajimi. Sie heißen also in Wirklichkeit Tatsuya Tajimi.«

Rechtsanwalt Suwa blätterte in dem Kalender, der auf seinem Schreibtisch lag.