Mord auf der Insel Gokumon - Seishi Yokomizo - E-Book
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Mord auf der Insel Gokumon E-Book

Seishi Yokomizo

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Beschreibung

Der nächste Fall der erfolgreichen klassischen Krimiserie aus Japan — »Japans Antwort auf Agatha Christie.« The Guardian

Der Privatermittler Kosuke Kindaichi reist auf die abgelegene Insel Gokumon, um einer der wichtigsten Familien dort eine tragische Nachricht zu überbringen: Einer ihrer Söhne ist auf einem Truppentransportschiff, das ihn nach dem Zweiten Weltkrieg zurück in die Heimat bringen sollte, gestorben. Doch Kindaichi ist nicht nur als Bote gekommen — mit seinen letzten Worten warnte der Sterbende, dass nun das Leben seiner drei Stiefschwestern in Gefahr sei. Der Ermittler ist entschlossen, dieser mysteriösen Prophezeiung auf den Grund zu gehen und die drei Frauen zu schützen — wenn er kann. Dann beginnt auf der Insel eine Serie grausamer Morde, und auch Kosuke Kindaichi selbst ist in Gefahr. 

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Über das Buch

Der Privatermittler Kosuke Kindaichi reist auf die abgelegene Insel Gokumon, um einer der wichtigsten Familien dort eine tragische Nachricht zu überbringen: Einer ihrer Söhne ist auf einem Truppentransportschiff, das ihn nach dem Zweiten Weltkrieg zurück in die Heimat bringen sollte, gestorben. Doch Kindaichi ist nicht nur als Bote gekommen – mit seinen letzten Worten warnte der Sterbende, dass nun das Leben seiner drei Stiefschwestern in Gefahr sei. Der Ermittler ist entschlossen, dieser mysteriösen Prophezeiung auf den Grund zu gehen und die drei Frauen zu schützen – wenn er kann. Dann beginnt auf der Insel eine Serie grausamer Morde, und auch Kosuke Kindaichi selbst ist in Gefahr.

Über Seishi Yokomizo

Seishi Yokomizo (1902-1981) ist einer der berühmtesten und beliebtesten japanischen Autoren von Kriminalromanen. Er wurde in Kobe geboren und las als Junge unzählige Detektivgeschichten, bevor er selbst mit dem Schreiben begann. Allein seine Serie um Kosuke Kindaichi besteht aus 77 Büchern. »Die rätselhaften Honjin-Morde« war der erste Band dieser Reihe und gewann sogleich den ersten Preis für Kriminalautoren Japans, »Mord auf der Insel Gokumon« ist Kosuke Kindaichis zweiter Fall.

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Seishi Yokomizo

Mord auf der Insel Gokumon

Kriminalroman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Personenregister

PROLOG — Kosuke Kindaichi trifft auf der Insel Gokumon ein

1 Drei Gorgonen

Am Sterbebett des alten Feldherrn

Nahende Schritte

Eine sinnliche Schönheit

2 Wie eine Schlange im Festgewand

Eine Frage des Verständnisses

Das Radioprogramm

3 Wandschirm mit Haiku

Wartet, er kommt bestimmt

Unter dem Helm verborgen, nun eine Grille

4 Wie man eine Tempelglocke anhebt

Der Mann aus dem Meer

Die verpassten Nachrichten

Nachts auf Verbrecherjagd

5 Osayo, die Schamanin

Die Seeräuberfestung

Scheut das an den Baum gebundene Pferd, fallen die Blüten

6 Nachts sind alle Katzen grau

Die wandelnde Tempelglocke

Chushingura, Episode 12

7 Was leicht zu übersehen ist

Nach der Übergabezeremonie

Verrückt ist nicht gleich verrückt

Die Macht des alten Kaemon

EPILOG — Kosuke Kindaichi verlässt die Insel Gokumon

Glossar

Erläuterungen

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Personenregister

POLIZEIBEAMTE

Kommissar Isokawa – alter Freund von Kosuke Kindaichi

Wachtmeister Shimizu – Inselpolizist

PRIVATDETEKTIV

Kosuke Kindaichi – Privatdetektiv, kürzlich aus dem Krieg zurückgekehrt

STAMMFAMILIE KITO

Kaemon Kito – jüngst verstorbenes Oberhaupt der Stammfamilie Kito

Yosamatsu Kito – Kaemons wahnsinniger Sohn

Chimata Kito – Enkel und Erbe von Kaemon Kito. Kosuke Kindaichis Kriegskamerad, auf der Heimreise gestorben

Hitoshi – Chimatas Cousin und Sanaes älterer Bruder, noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt

Tsukiyo – Chimatas Halbschwester, Yosamatsus älteste Tochter

Yukie – Chimatas Halbschwester, Yosamatsus mittlere Tochter

Hanako – Chimatas Halbschwester, Yosamatsus jüngste Tochter

Sanae – Chimatas Cousine, jüngere Schwester von Hitoshi

Katsuno – Geliebte des verstorbenen Kaemon, lebt bei der Familie Kito

Osayo – Yoshimatsus verstorbene zweite Frau, ehemalige Schauspielerin und Mutter von Tsukiyo, Yukie und Hanako

SEITENLINIE DER FAMILIE KITO

Gihei – Oberhaupt

Oshiho – Giheis attraktive zweite Frau

Shozo Ukai – gut aussehender junger Mann, Kriegsheimkehrer, Oshihos Vertrauter, lebt bei den Kitos

WEITERE MITWIRKENDE

Ryonen – Priester des Senkoji

Ryotaku – Novize im Senkoji, angehender Nachfolger von Ryonen

Takezo – Shiotsukuri (Gezeitenmeister)

Makihei Araki – Dorfbürgermeister

Koan Murase – Dorfarzt

Seiko – Barbier

PROLOG

Kosuke Kindaichi trifft auf der Insel Gokumon ein

Mitten in der Inlandsee, etwa dreißig Kilometer südlich der Hafenstadt Kasaoka, liegt die nur wenige Quadratkilometer große Insel Gokumon. Ihr Name bedeutet Höllentor.

Unter einheimischen Historikern sind schon lange verschiedene Theorien über den Ursprung dieses unheilvollen Namens im Umlauf. Am plausibelsten erscheint die Vermutung, dass die Insel ursprünglich Hokumon – Tor zum Norden – hieß. Die Wandlung zu Gokumon, dem Höllentor, erklärt sich aus der Geschichte der Insel.

Seit der Zeit des für seine Verwegenheit berühmten Piratenkapitäns Sumitomo Fujiwara war die Inlandsee etwa tausend Jahre lang berüchtigt für die Seeräuber, die ihr Unwesen dort trieben und regelmäßig die Handelsschiffe auf dem Weg vom asiatischen Festland durch die Kanmon-Straße nach Zentraljapan überfielen. Schon in der Nara-Zeit im 8. Jahrhundert gab es Piraten, und ihre abenteuerliche Geschichte reicht bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein. Besonders während der fast sechzig Jahre andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen um die kaiserliche Thronfolge zwischen der Nördlichen und Südlichen Dynastie im 14. Jahrhundert beherrschten Piraten die Inlandsee.

Damals hielt eine Bande namens Iyo mehrere Inseln besetzt. Ihr Einflussgebiet reichte von der Iyo-Küste bis Hiuchi-nada und Bingo-nada. Die heutige Insel Gokumon war ihr nördlicher Hauptstützpunkt, und angeblich hatten sie ihr seinerzeit den Namen Hokumon – Nordtor – gegeben, woraufhin er irgendwann zu Gokumon wurde.

Es existiert allerdings eine weitere Legende, die nicht historisch belegt ist. Ihr zufolge hauste zu Beginn der Edo-Zeit ein nahezu zwei Meter großer Mann namens Goemon auf der Insel. Nachdem die Kunde von seiner Größe sich in ganz Japan verbreitet hatte, erhielt die Insel den Namen Goemon, was schließlich zu Gokumon wurde.

Es war mir nicht möglich, herauszufinden, welcher der Namen – Hokumon oder Goemon – der ursprüngliche war, aber es herrscht allgemeine Einigkeit darüber, wie es zu der schaurigen Verballhornung »Höllentor« kam.

Während der Edo-Zeit gehörte Gokumon zum Herrschaftsgebiet des Lehensherrn von Chugoku, der Region im Westen der japanischen Hauptinsel. Auf dem von der Außenwelt abgeschnittenen, dicht mit Rotkiefern bewachsenen Graniteiland fristeten mittlerweile nur noch einige Abkömmlinge der früheren Seeräuber ein kärgliches Dasein als Fischer. Also beschloss der Feudalherr, eine Sträflingsinsel daraus zu machen. Von da an wurden sämtliche Verbrecher dorthin verbannt, und der unselige Name Gokumon, was neben Höllentor auch Gefängnistor heißen kann, setzte sich rasch durch.

Niemand weiß, wie viele arme Seelen in den folgenden nahezu dreihundert Jahren nach Gokumon geschickt wurden. Womöglich wurden sogar einige begnadigt, so dass sie am Ende in ihre Heimat zurückkehren konnten. Die meisten jedoch verbrachten ihr ganzes Leben auf der Insel und wurden dort begraben. Viele hatten Kinder mit Fischerstöchtern, das heißt, den Nachfahrinnen der Iyo-Piraten. Wurde ein Verurteilter begnadigt, ließ er Frau und Kinder für gewöhnlich auf der Insel zurück.

Nach der Meiji-Restauration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Verbannungsstrafen abgeschafft, wodurch sich jedoch auf Gokumon kaum etwas änderte. Die dreihundert dort lebenden Familien blieben engstirnig und stur wie eh und je und heirateten weiter ausschließlich untereinander. Somit floss in den Adern der etwa tausend Inselbewohner ausschließlich Piraten- und Sträflingsblut.

Der Grundschullehrer K., der auf einer Nachbarinsel unterrichtete, erzählte mir, wie mühsam sich die Ermittlungen gestalteten, wenn es auf einer der Inseln zu einer Straftat kam. Die Bewohner hatten seit zwei oder drei – schlimmstenfalls seit fünf oder sechs – Generationen untereinander geheiratet, so dass praktisch jede Insel aus einer einzigen Großfamilie bestand. Polizeibeamte aus anderen Landesteilen waren völlig machtlos, weil die Inselbewohner sich stets unweigerlich gegen sie verschworen. Im Falle von Streitigkeiten oder Diebstählen riefen sie zwar die Polizei, doch kaum hatte diese einen Verdächtigen im Visier, einigten die Parteien sich urplötzlich, so dass die Geschichte in der Regel einen unerwarteten Verlauf nahm. »Ach, das Geld wurde mir gar nicht gestohlen!«, hieß es auf einmal. »Ich hatte nur vergessen, dass es hinten im Schrank versteckt war.«

In gewisser Hinsicht erleichterte diese Strategie den Beamten das Leben, auch wenn ihre Ermittlungen unter diesen Umständen beinahe immer im Sande verliefen. Wenn sich die Leute auf den gewöhnlichen Inseln in der Inlandsee schon so verhielten, galt dies umso mehr für Gokumon, wo nur Nachfahren von Piraten und Sträflingen lebten. Zudem wurden diese von den Bewohnern der umliegenden Inseln geächtet, was ihre Feindseligkeit und ihren Argwohn gegenüber Außenstehenden noch verstärkte. Somit war es beinahe aussichtslos für die Polizei, auf Gokumon begangene Verbrechen aufzuklären.

Eines Tages ereignete sich dort eine Reihe ganz besonders abscheulicher und heimtückischer Morde, die ein alptraumhaftes Grauen verbreiteten. Die systematisch geplante Mordserie war derart teuflisch, dass sie dem Namen der Insel alle Ehre machte.

An dieser Stelle sollten wir uns noch einmal vor Augen halten, dass Gokumon keineswegs einsam inmitten der Weiten eines Ozeans lag, sondern nicht allzu weit entfernt von der Küste der Inlandsee. Die Insel verfügte über Elektrizität und ein eigenes Postamt, außerdem verkehrte täglich eine Fähre nach Kasaoka.

Unsere Geschichte beginnt Mitte September 1946, also etwa ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Weiße Drache, so der Name der Fähre, hatte soeben den Hafen von Kasaoka verlassen. Alle Plätze waren besetzt. Die Hälfte der Fahrgäste waren kürzlich zu Wohlstand gekommene Bauern, unterwegs zur Insel Shiraishi, um dort Fisch zu essen. Die andere Hälfte bestand aus Inselbewohnern, die auf dem Festland eingekauft hatten, die meisten von ihnen Fischer oder Fischersfrauen. Die Inseln in der Inlandsee waren mit Fischreichtum gesegnet, aber es fehlten Anbauflächen für Reis, so dass sie regelmäßig zum Festland hinüberfuhren, um Fisch gegen den begehrten Reis einzutauschen.

Der Rumpf der Fähre mit den verdreckten, abgewetzten Tatami war buchstäblich gestopft voll mit Passagieren und ihren Einkäufen. Der Gestank nach Schweiß und Fisch, gemischt mit dem von Farbe, Benzin und Abgasen hätte bei zarteren Gemütern gewiss Brechreiz hervorgerufen, aber die unverwüstlichen Fischersleute waren sowohl seelisch als auch körperlich gegen derartige Anfechtungen gefeit. Unbekümmert hockten sie im Schmutz, schrien und lachten durcheinander und amüsierten sich insgesamt prächtig.

Im hinteren Teil der Fähre saß ein Mann, der mit seiner Aufmachung völlig aus dem Rahmen fiel. Er trug einen traditionellen Hosenrock und einen zerbeulten Filzhut. Zu jener Zeit war selbst bei den Bauern westliche Kleidung gang und gäbe, noch dazu auf einem Ausflug in die Stadt. Auf der Fähre trug nur noch ein weiterer Mann japanische Kleidung, nämlich ein buddhistischer Priester. In jenen Tagen gehörte ein gewisser Eigensinn dazu, sich traditionell zu kleiden, obwohl der Fahrgast mit dem Hut nicht eigensinnig aussah. Seine Haut war schön gebräunt, dennoch wirkte er nicht besonders robust. Er mochte Mitte dreißig sein.

An ein Fenster gelehnt blickte er unverwandt aufs Meer hinaus, ohne auf den Trubel ringsum zu achten. Die von hübschen Inseln übersäte smaragdgrüne Inlandsee bot einen malerischen Anblick, aber die Schönheit der Aussicht schien den Mann nicht zu berühren. Er wirkte schläfrig.

Auf den Inseln Shiraishi und Kitagi gingen zahlreiche Passagiere von Bord, und nur wenige stiegen ein. Drei Stunden nach dem Auslaufen der Fähre und nach einem Halt auf Manabe befanden sich nur mehr drei Fahrgäste auf dem eben noch lärmerfüllten Unterdeck.

Die Unterhaltung zwischen den beiden außer ihm verbliebenen Passagieren weckte offenbar die Aufmerksamkeit des schläfrigen Mannes.

»Oh, Hochwürden!«, rief der eine. »Ich hatte Sie gar nicht bemerkt. Sie haben den Tempel wohl mal allein gelassen. Wo waren Sie denn?«

Plötzlich hellwach, wandte der Mann mit dem Filzhut sich um. Der Sprecher war ein Fischer um die vierzig in einer abgetragenen Khakiuniform. Aber nicht er war es, der die Aufmerksamkeit des Mannes erregte, sondern der angesprochene Priester. Er musste auf die siebzig zugehen, war aber so groß und kräftig gebaut, dass er wie ein Mann in den besten Jahren wirkte. Sein Gesicht ließ auf eine eindrucksvolle Persönlichkeit schließen. Die großen hellen Augen strahlten Wärme aus, zugleich war sein Blick so durchdringend, dass er wohl so manchen in Angst und Schrecken versetzen konnte. Über dem weißen Gewand trug er einen traditionellen Reisemantel, und eine randlose Mütze bedeckte sein geschorenes Haupt.

Der Priester lächelte wohlwollend.

»Sieh an, Takezo, du bist also auch mit der Fähre unterwegs. Das wusste ich ja gar nicht«, sagte er gelassen.

»Wo waren Sie denn, Hochwürden?«, fragte der Mann namens Takezo zum zweiten Mal.

»In Kure, wegen unserer Tempelglocke«, erwiderte der Priester.

»Ach die, die sie im Krieg beschlagnahmt haben. Ist sie denn noch ganz?«

»Ja, sie hat den Krieg überlebt, ohne eingeschmolzen zu werden.«

»Und Sie haben sie abgeholt … Aber wo ist sie denn?«

»Was redest du? Ich bin zwar kein Schwächling, aber die Glocke wäre mir nun doch zu schwer. Ich habe nur die nötigen Formulare ausgefüllt. Holen müssen sie ein paar von unseren jungen Männern.«

»In Ordnung. Auf mich können Sie zählen. Meinen Glückwunsch jedenfalls, dass der Tempel sie wieder bekommt.«

»Ja, sie kehrt an ihren angestammten Platz zurück.« Der Priester lächelte.

Takezo trat ein wenig näher. »Apropos Rückkehr, angeblich kommt Hitoshi bald nach Hause.«

»Hitoshi?« Der Priester sah Takezo scharf an. »Woher weißt du das? Hat sein Regiment die Familie benachrichtigt?«

»Nein, eigentlich nicht, aber einer aus seinem Regiment ist vorgestern plötzlich auf der Insel aufgetaucht. Hitoshi hat ihn beauftragt, seiner Familie mitzuteilen, dass er am Leben ist. Verwundet ist er auch nicht. Er kommt mit einer der nächsten Fähren nach Hause. Sanae war überglücklich. Sie hat Hitoshis Kameraden bewirtet und ihm einen Haufen Geschenke mitgegeben.«

»Aha? Er ist also wieder weg?«

»Ja, er ist nur eine Nacht geblieben und dann mit seinen Geschenken abgereist. Könnte das heißen, dass Chimata auch noch lebt?«

Der Priester schloss die Augen.

»Alles wäre viel einfacher, wenn der Erbe der Stammfamilie unbeschadet nach Hause käme.« Seine Stimme klang bewegt.

Darauf trat der Fremde mit dem Filzhut an ihn heran.

»Darf ich fragen, ob Sie Meister Ryonen sind, der Priester des Senkoji auf der Insel Gokumon?«

Der Priester starrte den Mann überrascht an.

»Ja, der bin ich. Und wer sind Sie?«

Der Mann öffnete seinen Koffer und holte einen Umschlag hervor, aus dem er einen gefalteten Zettel nahm und dem Priester übergab. Offenkundig handelte es sich um eine herausgerissene Notizbuchseite.

»Der Überbringer dieser Botschaft heißt Kosuke Kindaichi …«, las der überraschte Meister Ryonen vor und sah dann dem anderen ins Gesicht. »Das ist Chimatas Schrift!«

Der Mann nickte eifrig.

»Und Sie sind Kosuke Kindaichi?«

Wieder bestätigte der Mann.

»Der Brief ist außerdem noch an unseren Bürgermeister und unseren Arzt gerichtet. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ihn sofort lese?«

»Nur zu.«

Der Priester faltete das Blatt auseinander, überflog die blassen bleistiftgeschriebenen Zeilen und faltete es wieder zusammen.

»Geben Sie mir den Umschlag. Ich werde ihn sicher aufbewahren.«

Er schob den Zettel zurück in den Umschlag und verstaute ihn in einer großen Brieftasche, die er aus seiner Robe zog. Anschließend musterte er den Fremden von oben bis unten.

»Sie brauchen wohl ein angenehmes ruhiges Plätzchen, um sich zu erholen? Chimata schickt sie, weil Gokumon der ideale Ort dafür ist, und betraut Bürgermeister Araki, Dr. Koan und mich damit, uns um Sie zu kümmern?«

Der Fremde nickte.

»Ich hoffe, ich mache Ihnen keine Umstände. Ich habe ein wenig Reis mitgebracht …«

»Seien Sie unbesorgt. Wir mögen arme Inselbewohner sein, aber so arm sind wir auch wieder nicht. Ein Kamerad von Chimata ist uns immer willkommen. Er ist schließlich der Erbe der bedeutendsten Familie auf unserer Insel. Doch eine Frage hätte ich noch, Herr Kindaichi.«

»Und die wäre?«

»Was ist mit dem Erben … ich meine, Chimata Kito? Warum ist er noch nicht wieder zu Hause?«

»A‑a-lso K‑Kito …« Der Fremde geriet ins Stottern.

Takezo nutzte die Gelegenheit, sich einzumischen. »Bitte sagen Sie nicht, er ist gefallen!«

»Nein, zumindest nicht im Krieg. Nach Kriegsende, im August, war er noch am Leben. Er war an Bord eines Schiffes, das uns und andere Soldaten zurück nach Japan bringen sollte.«

»Er ist also auf der Überfahrt gestorben?«

Kosuke Kindaichi nickte. »Die Familie wird noch offiziell benachrichtigt, dennoch hat Kito mich gebeten, sie schnellstmöglich zu unterrichten.«

»Was für eine Tragödie!«, klagte Takezo und barg den Kopf in den Händen.

Wortlos blickten die drei Männer in die Ferne.

Der Priester brach das Schweigen.

»Dieser Todesfall in der Stammfamilie ist sehr vorteilhaft für die Seitenlinie der Kitos, das ist mal sicher!«, bemerkte er in leicht abfälligem Ton.

Mit dröhnendem Motor zog der Weiße Drachen seine helle Schaumspur durchs Meer.

Noch war das smaragdgrüne Wasser der Inlandsee glatt und klar, aber die zunehmende Dünung kündigte das Aufziehen eines Sturmes an. In der Ferne waren immer wieder Explosionen zu hören.

1 Drei Gorgonen

Lesern und Leserinnen, die den Kriminalroman Die rätselhaften Honjin-Morde kennen, ist Kosuke Kindaichi kein Unbekannter. Als junger Mann von Mitte zwanzig hatte er im Jahr 1937 einen mysteriösen Mordfall auf dem ländlichen Anwesen einer vornehmen Familie in der Präfektur Okayama aufgeklärt.

Was hatte er seither zustande gebracht? Nun – eigentlich nichts. Wie alle jungen Japaner hatte er in den Krieg ziehen müssen, und so war die beste Zeit seines Lebens dahin.

Nach zwei Jahren in China wurde er auf verschiedene Inseln in der Südsee versetzt, bis er schließlich in Wewak auf Neuguinea landete.

In einer letzten Schlacht erlitt Kosuke Kindaichis Einheit eine so verheerende Niederlage, dass sie sich auflöste. Die Überlebenden schlossen sich anderen Einheiten an, um sich neu zu formieren. Damals lernte Kosuke den vier Jahre jüngeren Chimata Kito kennen, den man unmittelbar nach seinem Schulabschluss 1935 als Soldat aufs asiatische Festland geschickt hatte. Wie sein Kamerad Kosuke war er am Ende nach Neuguinea versetzt worden.

Der aus Nordjapan stammende Kosuke Kindaichi und Chimata Kito, der von einer Insel in der Inlandsee kam, verstanden sich prächtig. Sie waren unzertrennlich und tuschelten und alberten ständig miteinander.

Chimata litt unter wiederkehrender Malaria, und sooft es zu diesen Anfällen kam, wich Kosuke ihm nicht von der Seite.

Nach 1943 gab es in Neuguinea keine Kämpfe mehr, denn die Amerikaner ließen die kleine dort verbliebene japanische Einheit unbeachtet und rückten andernorts voran.

Kosukes und Chimatas Gruppe wurde demnach zwar vom Feind verschont, war aber auch von der Hauptarmee abgeschnitten. Ihre Lage war hoffnungslos, und sie waren dazu verdammt, diese grauenhaften Tage tatenlos zu erdulden.

Fieber und Unterernährung rafften einen Kameraden nach dem anderen dahin. Wenn jemand starb, kam kein Ersatz. Es fehlte einfach ein weiterer Mann. Je weniger sie wurden, desto stärker wuchs die Verzweiflung der noch übrigen Soldaten. Sie konnten nichts tun, als hilflos in ihren abgetragenen Uniformen und Stiefeln herumzusitzen wie der Mönch Shunkan in seiner tragischen Verbannung.

Und dann war der Krieg zu Ende.

Kosuke Kindaichi wunderte sich ein wenig über die fast übertriebene Ausgelassenheit seines Freundes Chimata Kito. »Ich kehre lebendig nach Hause zurück«, rief er immer wieder überglücklich, als wäre er von einer schweren Last oder aus einem dunklen Gefängnis befreit worden. Seine Euphorie war außergewöhnlich.

Das Ende dieses grausamen Krieges wurde natürlich von den meisten mit Freude begrüßt, schließlich waren sie der entsetzlichen Aussicht entronnen, wie Würmer zertreten zu werden. Dennoch hatte keiner der Kameraden den Tod so sehr gefürchtet wie Chimata Kito. Bei jedem Malariaanfall zitterte er angesichts der Möglichkeit seines Todes vor Angst wie ein kleines Kind in der Dunkelheit. Dabei war er ein großer, kräftig gebauter Mann, den für gewöhnlich nichts zu erschüttern vermochte.

In anderen Situationen legte er eine so enorme Tapferkeit an den Tag, dass diese beinahe hysterische Furcht vor dem Tod nicht zu ihm zu passen schien. Doch schien er regelrecht besessen von der Angst zu sterben. Kosuke fand das ziemlich eigenartig. Aber dann war Chimata Kito doch gestorben, ironischerweise an Bord des Schiffes, dass ihn in die Heimat bringen sollte, keine fünf Tage, bevor er zu Hause gewesen wäre. Und Kosuke Kindaichi brach zur Insel Gokumon auf, um der Familie seines Freundes die Todesnachricht zu überbringen.

Vor seiner Abreise hatte Kosuke noch seinen alten Wohltäter Ginzo Kubo besucht (wir kennen ihn bereits aus Die rätselhaften Honjin-Morde). Dieser hatte ihm eine Warnung mit auf den Weg gegeben, an die er jetzt denken musste.

»Kosuke, mein Junge, vergiss nicht, dass du die Insel Gokumon lediglich aufsuchst, um die Nachricht vom Tod deines Kameraden zu überbringen. Sollte dein Besuch noch einen anderen Grund haben, rate ich dir dringend davon ab. Gokumon ist eine fürchterliche Insel. Kosuke, sag mir die Wahrheit. Was hast du dort vor?«

Ginzo, der seinen jungen Freund besser kannte als jeder andere, hatte ihm besorgt und forschend ins Gesicht gesehen, als wolle er Kosukes Gedanken lesen.

»Sommergras … von all den Ruhmesträumen die letzte Spur …«[1] 

Jäh riss ihn die Stimme des Priesters aus seinen Erinnerungen.

»Wie belieben?«, fragte Kosuke aufgeschreckt.

Der Priester stand am Fenster und schaute über das blaugrüne Meer in eine unbestimmte Ferne.

»Hören Sie diese Geräusche?«

Jetzt vernahm Kosuke sie auch. Sie klangen wie Explosionen.

»Vielleicht werden da Blindgänger unter Wasser gezündet?«

»Ja, das sind die weiter entfernten Explosionen«, erwiderte der Priester. »Die aus der Nähe kommen von der Insel da drüben. Dort sprengen sie die Militäranlagen. Um ›von all den Ruhmesträumen die letzte Spur‹ zu tilgen. Wie in dem berühmten Haiku unseres großen Dichters Basho. Wenn er das miterlebt hätte.«

In diesem Zusammenhang Basho zu zitieren war einigermaßen seltsam, und Kosuke musterte den Priester neugierig von der Seite, bis dieser ihm seinen Blick wieder zuwandte.

»Hier geht es ja sogar noch, aber weiter im Westen sind die Inseln regelrecht von Kratern durchlöchert. Sie sehen aus wie Bienenwaben. Auf einer von ihnen gab es sogar eine geheime Giftgasproduktion. Und jetzt hat man offenbar keine Ahnung, wie man das Gas entsorgen soll. Auf unserer Insel hat das Militär eine Flugabwehrstellung gebaut. Etwa fünfzig Soldaten tauchten auf und durchlöcherten die Landschaft. Alles schön und gut, aber als der Krieg vorbei war, sind sie auf und davon, ohne sich die Mühe zu machen, die Löcher wieder zuzuschütten. ›Das Land ist zerstört, aber seine Berge und Flüsse haben Bestand‹, sagt der chinesische Dichter Dofu. In unserem Fall könnte es eher heißen ›das Land ist zerstört, und seine Berge und Flüsse sind bis zur Unkenntlichkeit verwüstet‹. Ah, schauen Sie – dort liegt Gokumon.«

Niemals würde Kosuke Kindaichi seinen ersten Blick auf die Insel durch das Fenster des Weißen Drachen vergessen. Der Himmel über der Inlandsee war teilweise klar, teilweise wolkenverhangen. Im Westen schien hell die Spätnachmittagssonne, während der Osten der Insel von dichten bleiernen Wolken bedeckt war. Just in diesem Moment fielen Sonnenstrahlen auf die aus dem Meer aufragende Insel.

Bevor sich im Zuge geologischer Verwerfungen die Inlandsee gebildet hatte, waren die Inseln, die sich nun steil aus dem Meer erhoben, Berge gewesen. Auf keiner gab es ebene Flächen. Gokumon war sogar ein besonders extremer Fall. Sein höchster Berg war nicht einmal sehr hoch, dennoch wirkte es, als würde die Insel Hunderte von Metern in den Himmel ragen. Ihre Klippen waren dicht mit Rotkiefern bewachsen. Unter dem grauen, bedrohlich wirkenden Himmel leuchteten weiß verputzte Häuser in der Nachmittagssonne. Kosuke hätte nicht genau erklären können, warum, aber der Anblick war so unheilvoll, dass er erschauerte.

»Sehen Sie dort oben? Da liegt mein Tempel. Und das große weiße Haus darunter gehört der Familie Kito, zu der Sie wollen.«

Doch während der Priester sprach, umrundete die Fähre einen Felsen, so dass Tempel und Haus nicht mehr zu sehen waren. Eine ruhige flache Bucht tauchte vor ihnen auf. Am sanft abfallenden Ufer standen verstreut einige Fischerhütten.

Aus der Bucht steuerte ein Zubringerboot auf den Weißen Drachen zu, um die Passagiere an Land zu bringen. Aufgrund ihrer Steilküste hatte die Insel keinen für eine Fähre geeigneten Anlegeplatz, weshalb die Reederei auf jeder Insel kleine Zubringerboote unterhielt.

»Willkommen zu Hause, Hochwürden«, begrüßte der Bootsführer den Priester, nachdem die Fähre vor Anker gegangen war. »Ah, und du bist auch wieder da, Takezo. He, Yoshimoto, dieses Paket lieferst du bei Shimura auf Shiraishi ab, ja? Und grüß die kleine Miyo von mir! Hahaha.«

Sobald die drei Passagiere umgestiegen waren, drehte das Boot und tuckerte Abgaswölkchen in die Luft blasend ans Ufer.

»Hochwürden, übernachtet dieser Herr bei Ihnen?«

»Nein. Er ist Gast der Familie Kito. Er wird eine Weile bei uns auf der Insel bleiben. Er soll sich wohlfühlen.«

»Ja, natürlich. Und darf ich fragen, wie es mit der Glocke gelaufen ist?«

»Ich habe die Erlaubnis bekommen, sie abzuholen. In zwei oder drei Tagen schicke ich ein paar junge Männer los. Ich hoffe, du hilfst ihnen. Sie ist schwer, der Transport ist kein Kinderspiel.«

»Natürlich, mache ich doch gern. Aber was für ein Umstand. Warum wurde sie überhaupt erst beschlagnahmt?«

»Was soll’s? Seit wir den Krieg verloren haben, ist sowieso alles ein einziges Durcheinander.«

»Wie recht Sie haben, Hochwürden. So, da wären wir.«

Sie hatten kaum angelegt, als es aus den Wolken über der Insel zu tröpfeln begann.

»Sie haben Glück«, sagte der Bootsführer. »Ein bisschen später, und Sie würden bis auf die Haut durchnässt.«

»Stimmt, es sieht nach einem ordentlichen Wolkenbruch aus.«

Gleich hinter der Anlegestelle führte eine Straße steil bergauf.

»Takezo, lauf doch bitte zu den Kitos hinauf und richte ihnen aus, dass ich einen Gast mitbringe«, sagte der Priester.

»Wird gemacht.«

»Und dann schau auch gleich beim Bürgermeister und Dr. Koan vorbei und richte ihnen von mir aus, sie möchten in die Residenz kommen.«

»Mache ich.« Takezo trabte den Hügel hinauf, während die beiden anderen ihm folgten.

Alle, denen sie unterwegs begegneten, verneigten sich respektvoll vor Meister Ryonen und blieben dann stehen, um Kosuke Kindaichi hinterherzustarren.

Bei einem Besuch dieser Insel, verehrte Leserinnen und Leser, würden Sie sofort erkennen, welche Macht dem Priester eines solchen Ortes zukommt. Die Fischer, nur durch dünne schwankende Planken davon getrennt, ein nasses Grab zu finden, wie sie selbst es gern ausdrückten, waren sehr gläubig und überzeugt, dass der Vertreter ihres Glaubens Macht über Leben und Tod besaß. Daher verfügte der Bürgermeister auf Gokumon über eine weit geringere Autorität als der Priester, der sogar die Leiter der örtlichen Grundschule einstellte und entließ, wie es ihm beliebte.

Nachdem Kosuke und der Priester das Fischerdorf durchquert hatten, wurde der Weg noch steiler. Während sie seinen Windungen den Berg hinauf folgten, erblickte Kosuke über sich ein großes Herrenhaus, das mit seinen weiß verputzten Mauern und dem mächtigen überdachten Nagaya-Tor auf den Granitfelsen thronte wie eine kleine Burg. Dahinter waren die Ziegeldächer mehrerer Gebäude zu erkennen. Es war dies die Residenz der Stammfamilie Kito, der die größte Fischereiflotte auf Gokumon gehörte.

Kaum hatten Kosuke Kindaichi und der Priester das Tor durchschritten, als ein Mann in einem alten, verblichenen Bowler auf sie zu eilte. Der Kies spritzte unter seinen weiß bestrumpften Füßen in den Holzsandalen auf, und die weiten Ärmel seines umhangartigen Mantels flatterten, als wäre er eine Fledermaus.

»Meister Ryonen, Takezo hat mir gerade Bescheid gesagt …«

»Lass uns drinnen reden, Dr. Koan, ja?«, entgegnete der Priester.

Der Mann mit der Metallbrille und dem struppigen Ziegenbart hatte sich offenbar in großer Hast angezogen und trug Haori und Hakama unter seinem Umhang. Er war Mitte fünfzig, und Kosuke Kindaichi schloss aus den Worten des Priesters, dass es sich um den Inselarzt Dr. Koan Murase handelte.

Jenseits des langen, tunnelähnlichen Eingangs lag eine weitere eindrucksvolle Tür, die ins Haupthaus führte. Eine Frau kam herausgelaufen, kniete vor dem großen Wandschirm im Flur nieder und verbeugte sich mit aufeinandergelegten Händen. Kosuke Kindaichis Augen weiteten sich. Nie hätte er sich träumen lassen, dass es auf dieser gottverlassenen Insel eine Frau von solch erstaunlicher Schönheit geben könnte.

Sie war vermutlich Anfang zwanzig. Dichtes gewelltes Haar fiel ihr bis über die Schultern. Sie trug ein schlichtes braunes Kostüm, und ihr einziger Schmuck war ein schmales, zu einer Schleife gebundenes rotes Band am Kragen ihrer weißen Bluse.

»Guten Tag!«, sagte sie liebenswürdig, während sie mit ihren schönen Augen zu den Besuchern aufsah. Grübchen ließen ihr Lächeln noch bezaubernder erscheinen.

»Sanae, ich habe Ihnen einen Gast mitgebracht«, sagte der Priester. »Sind die Mädchen zu Hause?«

»Ja, sie sind drinnen.«

»Gut. Dann lassen Sie uns hineingehen und auf den Bürgermeister warten. Er müsste bald hier sein.«

Umstandslos betrat der Priester das Haus, als wäre es sein eigenes. Die junge Frau musterte Kosuke ein wenig misstrauisch, errötete aber, als ihre Blicke sich trafen. Sie beeilte sich, den Priester einzuholen.

»Was ist eigentlich los, Ryonen?«, fragte der Doktor. »Du hast mir ausrichten lassen, ich solle die Familie möglichst schnell benachrichtigen, also bin ich hergeeilt, allerdings ohne zu wissen, warum. Bitte sag mir jetzt, wer unser Besucher ist.«

»Hat Takezo nichts gesagt?«

»Nein, nur, dass ich mich beeilen soll.«

»Macht nichts, lass uns einfach hineingehen und später reden«, sagte der Priester. »Übrigens, Sanae, gerade habe ich von Takezo erfahren, dass Hitoshi gesund und munter ist.«

»Ja, ist das nicht schön?«

»Das sind gute Nachrichten. Zumindest … Oh, da kommt unser Bürgermeister.«

Makihei Araki, der Bürgermeister des Dorfes, war etwa im gleichen Alter wie Koan, der Arzt, aber klein und stämmig, eher breit als dick. Koan dagegen war lang und dünn wie ein Kranich. Außerdem hatte er anscheinend in der Eile seinen alten, abgetragenen Morgenmantel angelassen.

»Was gibt es denn so Dringendes?«

Sein Ton war würdevoll, wie es einem Dorfbürgermeister entsprach.

»Wir haben auf dich gewartet. Lass uns reingehen.«

Kaum hatte der Bürgermeister seine Schuhe ausgezogen und das Haus betreten, krachte ein Donnerschlag, als hätte jemand ein mit Teeschalen vollgepacktes Tablett fallen lassen, und es fing an, in Strömen zu gießen.

»Du meine Güte, was für ein Wolkenbruch«, murmelte der Doktor und zwirbelte sein spärliches Ziegenbärtchen.

Hagelkörner prasselten auf den Weg, den sie soeben genommen hatten, und bald war der Garten des Anwesens von einem weißen Teppich aus Eis bedeckt.

Rasch wurden die Gäste in ein geräumiges, etwa zehn Tatami, großes Empfangszimmer geführt.

»Wir bleiben hier, Sanae. Könnten Sie die Mädchen bitten, so schnell wie möglich zu kommen? Wahrscheinlich müssen Sie sich noch schminken, das kann dauern, hahaha. Also dann, nehmt Platz. Es ist wirklich dunkel hier drin, nicht wahr? Koan, mach mal Licht.«

Im Hellen fielen Kosuke zwei Fotografien ins Auge, die in der Tokonoma hingen. Beide zeigten junge Männer in Armeeuniform. Bei dem einen handelte es sich eindeutig um seinen Freund Chimata Kito, der auf der Heimreise von Neuguinea gestorben war. Demzufolge musste der andere dieser Hitoshi sein, den der Priester gerade Sanae gegenüber erwähnt hatte. Seine Gesichtszüge waren ihren sehr ähnlich, und Kosuke vermutete, dass sie Geschwister waren.

Der Priester setzte sich und sah den Arzt und den Bürgermeister an.

»Ich will euch erklären, warum ich euch hergebeten habe. Dieser Herr hier, Kosuke Kindaichi, ist ein Kriegskamerad von Chimata.«

Der ziegenbärtige Doktor starrte Kosuke verblüfft an. Der Bürgermeister schürzte die Lippen. Keiner der beiden Männer sagte etwas.

»Er hat uns einen Brief von Chimata mitgebracht.«

Koan und der Bürgermeister richteten ihre Blicke auf den Zettel in der Hand des Priesters.

»Was ist mit Chimata passiert? Sag schon!«

»Ich fürchte, er ist tot. Er ist auf dem Schiff, das ihn in die Heimat bringen sollte, verstorben.«

Koan ließ die Schultern sinken. Sein Ziegenbart zitterte. Der Bürgermeister stöhnte und verzog kummervoll das Gesicht. Kosuke Kindaichi würde diesen Moment des angespannten Schweigens zwischen den drei Männern nie vergessen. Die unheilvolle Atmosphäre der Angst, die sich unter ihnen ausbreitete, ging ihm durch Mark und Bein.

Grauen füllte wie eine ansteigende Flut ihre Augen.

Draußen prasselte es noch immer, als wäre im Garten ein Wasserfall.

»Sanae, wo ist der Besuch?«, ertönte eine vulgäre Frauenstimme aus dem Inneren des Hauses. Irgendwo wurde eine Schiebetür geöffnet.

»Was? Hier ist niemand.«

»Bestimmt im großen Tatamizimmer.«

»Was für ein Besuch überhaupt, Yukie?«

»Vielleicht Ukai?«

»Unsinn. Ukai würde doch nicht durch den Vordereingang kommen. Er würde sich heimlich durch die Hintertür schleichen.«

»Zu wem?«

»Du weißt genau, dass er zu mir kommt.«

»Du spinnst doch. Er kommt zu mir.«

»Warte kurz. Sitzt mein Obi richtig?«

»Ja, sieht gut aus. Schön gebunden.«

»Trotzdem fühlt er sich komisch an. Bindest du ihn noch mal für mich, Tsukiyo?«

»Hana, ich sage doch, er sitzt gut. Wenn du noch länger brauchst, ist der Besuch weg. Yukie, du bist gemein. Warte gefälligst auf uns. Du kannst nicht einfach allein vorgehen!«

Lärm, lautes Stimmengewirr und Schritte kamen näher, bis schließlich die Umrisse der Mädchen hinter den Shoji auftauchten. Man hörte sie tuscheln.

»Wer ist das? Nie gesehen.«

»Er sieht sowieso nicht besonders gut aus«.

Die Mädchen kicherten, und Kosuke konnte nicht verhindern, dass er knallrot wurde.

Der Priester lächelte gezwungen.

»Kommt rein, Mädchen, Schluss jetzt mit dem Getuschel. Sagt unserem Gast anständig Guten Tag.«

»Oh nein, sie haben uns gehört!«

Die Tür ging auf, und unter kokettem Gekicher betraten drei junge Frauen nacheinander den Raum. Sie trugen Kimonos mit langen Ärmeln im Stil junger Geishas und hatten ihre prachtvollen Obis bis unter die Schultern gebunden.

Sie knieten nieder und neigten die Köpfe, so dass die künstlichen Blumen in ihren Haaren unwirklich wippten und schwankten.

Kosuke starrte sie unverwandt an und musste schlucken.

»Herr Kindaichi, darf ich vorstellen?«, sagte der Priester. »Das sind Chimatas jüngere Schwestern: Tsukiyo, Yukie und Hanako. Sie sind nacheinander im Abstand von einem Jahr geboren, demnach achtzehn, siebzehn und sechzehn.«

Man hatte ihnen klassische japanische Namen gegeben, die jeweils das Zeichen für Mond, Schnee und Blumen enthielten. Beim Anblick der drei schönen, eigentümlich frühreifen Mädchen überkam Kosuke Kindaichi eine düstere Vorahnung. Erstmals wurde ihm bewusst, wie schwierig seine Mission war. Wie ein sterbender Fisch hatte Chimata Kito in der drückenden Hitze des überfüllten Rückführungsschiffs gelegen. Kurz vor seinem Ende hatte er nach Luft ringend ständig die gleichen Sätze wiederholt. »Ich will nicht sterben. Ich … ich … darf nicht sterben. Ich muss nach Hause. Sonst werden meine drei Schwestern ermordet. Aber … mein Ende ist nah. Kindaichi, bitte, ich flehe dich an, fahr an meiner Stelle nach Gokumon. Vergiss den Zettel nicht, den ich dir geschrieben habe. Kindaichi, ich habe bis jetzt nichts gesagt, aber ich weiß längst, wer du bist. Aus der Zeitung. Fahr nach Gokumon! Bitte! Rette meine Schwestern … meine Cousine …« Damit hauchte Chimata Kito sein Leben aus.

In der feuchten, stinkenden und drückenden Hitze des Schiffes, das sie in die Heimat bringen sollte.

Am Sterbebett des alten Feldherrn

»Sie wohnen im Tempel, Herr, nicht wahr? Im Senkoji?«, erkundigte sich der Barbier bei Kosuke. »Dort sind Sie gut versorgt, aber ein bisschen unbequem ist es gewiss doch.«

»Eigentlich nicht. Ich bin an Unbequemlichkeiten gewöhnt. Und außerdem kann ich momentan nirgendwo anders hin.«

Der Barbier lachte. »Sie sagen es. Neulich war ich in Osaka. Es ist furchtbar dort. In den Städten kann man heutzutage nicht mehr leben.«

»Woher stammen Sie denn ursprünglich?«, fragte Kosuke. »Sie sind bestimmt nicht von hier, das sieht man doch.«

»Ich bin so was wie ein Vagabund. Ich war schon überall in unserem Land. Am längsten in Yokohama. Irgendwie fühle ich mich den Menschen im Osten verbunden. Sie kommen doch auch von dort, mein Herr?«

»Nein, ich bin wie Sie ein Vagabund«, antwortete Kosuke. »Am Ende hatte es mich bis nach Neuguinea verschlagen.«

»Aber das war im Krieg.« Wieder lachte der Barbier. »Da hat man keine Wahl. Aber ursprünglich sind Sie doch aus Tokio, oder?«

»Vor meiner Einberufung habe ich zumindest dort gelebt. Aber als ich zurückkam, war mein Haus vollständig niedergebrannt. Also habe ich beschlossen, erst mal von Insel zu Insel zu reisen.«

»Beneidenswert. Sie haben keine körperlichen Beschwerden und sind bei guter Gesundheit?«

»Stimmt, mit mir ist alles in Ordnung. Allerdings bin ich seelisch ziemlich erschöpft.«

»Kein Wunder. Immerhin hat man Sie gezwungen, in einem sinnlosen Krieg zu kämpfen. Genießen Sie Ihre Zeit im Tempel. Das steht Ihnen zu. Außerdem sind Sie Gast des reichsten Fischereibetriebs auf der Insel. Soll ich Ihnen einen Scheitel ziehen?«

»Nein, aber Sie könnten es noch ein bisschen kürzer schneiden.«

»Nun, über Geschmack lässt sich nicht streiten. Sie haben eine Menge Haar. Ein Wunder, dass Sie überhaupt mit dem Kamm durchkommen.«

»Ich gebe mir Mühe. Ich war zu Tode betrübt, als die Armee alles abrasiert hat. Ich sah dermaßen blöd aus, wie ein geschorenes Schaf.«

»Hahaha. Mit der Matte können Sie sich wenigstens nicht erkälten.«

Der Mann, er hieß Seiko, war der einzige Barbier auf der Insel. Er hatte zwar einige Zeit in Yokohama verbracht, war aber sehr stolz auf seinen Tokioter Akzent, der allerdings wie auch Kosuke Kindaichis Aussprache ziemlich fragwürdig und eher ein selbsterfundenes Kauderwelsch war.

Kosuke betrachtete sich in dem halb blinden alten Spiegel, von dem die Quecksilberbeschichtung überall abblätterte, und überlegte, wie er das Gespräch fortführen sollte. Denn der eigentliche Grund für seinen Besuch beim Barbier war der Inselklatsch, den er hier zu erfahren hoffte.

Seit seiner Ankunft waren zehn Tage vergangen, und ihm wurde zunehmend bewusst, in welch seltsamer Lage er sich befand. Chimata Kitos Brief öffnete ihm zwar alle Türen, und er wurde überall zuvorkommend behandelt, indes war diese Höflichkeit rein äußerlich. Unter ihrer Maske der Freundlichkeit verbargen alle einen Panzer von undurchdringlicher Härte. Natürlich war ihm bewusst, dass die Bewohner von Gokumon jedem Außenstehenden mit Misstrauen begegneten, dennoch schienen sie ihm gegenüber besonders wachsam und argwöhnisch zu sein.

Die Nachricht von Chimata Kitos Tod hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet und die Gemüter aufs Äußerste erregt. In den Mienen der Bewohner spiegelte sich Unruhe, ja sogar Angst. Wie erfahrene Fischer, die an den dunklen Wolken am Horizont das Herannahen eines Sturms erkennen, spürten sie offenbar den dräuenden Schatten eines unabwendbaren Schicksals.

Aber warum das alles? Warum löste Chimata Kitos Ableben eine solche Panik auf der Insel aus? Was versetzte ihre Bewohner in derartige Alarmbereitschaft? Kosuke war überzeugt, dass es etwas mit Chimatas letzten Worten zu tun hatte: »Kindaichi, ich flehe dich an, fahr an meiner Stelle nach Gokumon. Sonst werden meine drei Schwestern ermordet. Fahr nach Gokumon! Bitte! Rette meine Schwestern … meine Cousine.«

Der Haarschnitt war fertig, und der Barbier machte sich daran, Kosuke zu rasieren.

»Die Kitos sind also reich?«

Kosuke bemühte sich um einen möglichst beiläufigen Ton, verzog aber ein wenig das Gesicht, weil der Barbier beim Einseifen nicht eben sanft mit ihm umging.

»Sie sind die Herren aller Fischer auf Gokumon. Und nicht nur das. Sie sind die einflussreichste Familie in der ganzen Gegend.«

»Kann man mit Fischerei wirklich so viel Geld verdienen?«, fragte Kosuke.

»Haufenweise.«

Seiko erklärte ihm bereitwillig die Sachlage. Offenbar waren die Fischer in drei Klassen eingeteilt. Auf der untersten Stufe standen die, die weder ein eigenes Boot noch ein Netz besaßen. Ihnen gehörte gar nichts. Ihre Stellung entsprach der der armen Pachtbauern in ländlichen Gebieten. Das waren die meisten. Auf der nächsten Stufe standen die Männer, die über ein Boot und ein Netz verfügten, beides allerdings in sehr begrenztem Maßstab: ein kleines Schleppnetz, das zwei oder drei Hilfskräfte auswerfen konnten, und ein Boot, kleiner als ein Trawler. Ihr Status entsprach etwa dem unbedeutender Landbesitzer. Über diesen beiden Klassen standen schließlich die Fischereiunternehmer, die wie die Großgrundbesitzer alles kontrollierten, aber weit einflussreicher waren als sie.

»Ich habe früher in einem Bauerndorf gewohnt. Die Grundbesitzer waren auch nicht besonders gut dran. Der Unterschied zwischen ihnen und den Pächtern ist mal so, mal so. Aber in den meisten Dörfern gehen vierzig Prozent der Reisernte an den Grundbesitzer und sechzig Prozent an die Bauern. Mit anderen Worten: Der Grundherr schöpft vierzig Prozent von allem ab, ohne einen Finger krumm zu machen. Allerdings bauen die Pächter öfter eine zweite Ernte an, die sie behalten dürfen, was eine große Hilfe ist. Aber in der Beziehung zwischen Unternehmer und Fischern gibt es solche Vergünstigungen nicht.«

Den Bossen gehörten also die Fischereirechte, die Boote und die Netze. Sie steckten den gesamten Fang ein und zahlten den Fischern einen Tageslohn. Eine andere Gegenleistung mussten sie nicht erbringen.

»So ist das also«, sagte Kosuke. »Es funktioniert wie bei den Kapitalisten und den Arbeitern in der Stadt.«

»Ja, so ungefähr. Bei einem besonders großen Fang bekommen die Fischer eine Prämie. Ist der Fang jedoch schlecht, erhalten sie dennoch ihren Tageslohn. In jedem Fall geht der komplette Fang an den Unternehmer. Um arbeiten zu können, brauchen die Fischer Boote und Netze. Die stellt er zur Verfügung, und dafür sind sie ihm verpflichtet. Es gibt alle möglichen Arten von Netzen und Fanggeräten. Netze für Seebrassen, dann sogenannte Tsubo-Netze, die aufgestellt werden, damit sich Fische und andere Meerestiere hineinverirren, oder Sardinennetze, mit denen man hier aber keine Sardinen wie in der Kanto-Region fängt, sondern diese winzigen Iriko, die eingesalzen und getrocknet gegessen werden. Jedenfalls gehören all diese Netze dem Unternehmer. Und dann braucht man noch ein paar große Fischkutter. Die Kosten sind also beträchtlich.«

Und die ganze Zeit trennte nur eine dünne Planke sie von einem nassen Grab, wie die Fischer mit Vorliebe sagten. Sie lebten stets nur für den Augenblick, tranken, spielten, hurten und waren ständig auf Vorschüsse angewiesen. Im Grunde war das Verhältnis zwischen dem Inhaber des Fischereibetriebs und seinen Männern feudalistischer als das zwischen Grundbesitzern und Pächtern auf dem Land.

»Ein Boss muss Härte an den Tag legen, denn die Männer, mit denen er zu tun hat, sind keine braven Bauern, sondern raue Fischer. Er muss für sie sorgen, darf ihnen aber auch nicht zu viel durchgehen lassen. Seine Autorität muss unter allen Umständen unangetastet bleiben. Der im letzten Jahr verstorbene Kaemon Kito war ein Meister auf diesem Gebiet.«

Endlich kam das Gespräch auf die Familie Kito, aber Kosuke ließ sich seine Neugier nicht anmerken.

»Und dieser Kaemon war der Vater von Chimata?«, fragte er scheinbar nebenbei.