Die rätselhaften Honjin-Morde - Seishi Yokomizo - E-Book
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Die rätselhaften Honjin-Morde E-Book

Seishi Yokomizo

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Beschreibung

»Japans Antwort auf Agatha Christie« The Guardian.

Es ist der Winter 1937, und der Ort Okamura befindet sich in heller Aufruhr: schon bald wird die renommierte Ichiyanagi-Famile ihren Sohn vermählen. Aber unter den Tratsch über das anstehende Fest mischt sich ein besorgniserregendes Gerücht: ein maskierter Mann streift durch das Städtchen und fragt die Leute zu den Ichiyanagis aus. In der Hochzeitsnacht dann erwacht die Familie durch einen furchtbaren Schrei, auf den eine unheimliche Melodie folgt. Ja, der Tod ist nach Okamura gekommen und hat keine weitere Spur als ein blutiges Samurai-Schwert hinterlassen, das im reinen Schnee im Hof des Hauses steckt. Der Mord am frisch vermählten Paar gibt Rätsel auf, war doch das Schlafzimmer von innen verschlossen. Doch der private Ermittler Kosuke Kindaichi will den Fall unbedingt lösen ...

  • Ausgezeichnet mit Japans wichtigstem Preis für Kriminalliteratur.
  • Für alle, die es lieben, beim Lesen mitzuraten: ein klassischer Locked Room Mystery (Geheimnis des verschlossenen Raums).
  • »Ein Kriminalfall klassischer Güte. Vergleiche mit Sherlock Holmes sind absolut gerechtfertigt: Verwirrungen, falsche Fährten und ein faszinierender Einblick in die japanische Gesellschaft.« Japan Times.

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Seitenzahl: 219

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Über das Buch

Es ist der Winter 1937, und das Dorf O. befindet sich in heller Aufruhr: Schon bald wird die renommierte Ichiyanagi-Familie ihren Sohn vermählen. Aber unter den Tratsch über das anstehende Fest mischt sich ein beängstigendes Gerücht: Ein maskierter Mann streift durch den Ort und fragt die Leute zu den Ichiyanagis aus. In der Hochzeitsnacht erwacht die Familie durch einen furchtbaren Schrei. Das frisch verheiratete Paar wird tot aufgefunden. Es gibt keine Spur außer einem blutigen Schwert, das im reinen Schnee im Hof des Anwesens steckt. Das Verbrechen gibt Rätsel auf, denn Tür und Fenster des Raums waren von innen verschlossen. Doch der Privatdetektiv Kosuke Kindaichi will den Fall unbedingt lösen. 

Seishi Yokomizo gilt als Japans beliebtester Autor klassischer Kriminalromane und versteht sich meisterhaft auf das raffinierte Spiel mit seinen Lesenden.

Über Seishi Yokomizo

Seishi Yokomizo, 1902-1981, ist einer der berühmtesten und beliebtesten japanischen Autoren von Kriminalromanen. Er wurde in Kobe geboren und las als Junge unzählige Detektivgeschichten, bevor er selbst mit dem Schreiben begann. Allein seine Serie um Kosuke Kindaichi besteht aus 77 Büchern. »Die rätselhaften Honjin-Morde« ist der erste Band dieser Reihe und gewann sogleich den ersten Preis für Kriminalautoren Japans.  

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Seishi Yokomizo

Die rätselhaften Honjin-Morde

Kriminalroman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

1 Der Mann mit den drei Fingern

2 Die Erben des Honjin

3 Der Klang der Koto

4 Das Unheil

5 Ein etwas anderer Verwendungszweck für Koto-Plektren

6 Sichel und Koto-Steg

7 Eine Lagebesprechung

8 Kosuke Kindaichi – Privatdetektiv

9 Das Katzengrab

10 Ein Gespräch über Kriminalliteratur

11 Zwei Briefe

12 Ein Grab wird geöffnet

13 Kommissar Isokawa ist schockiert

14 Kosukes Experiment

Auszug aus dem Memorandum von Dr. F., Teil I

15 Eine Familientragödie

Auszug aus dem Memorandum von Dr. F., Teil II

16 Die Generalprobe

Auszug aus dem Memorandum von Dr. F., Teil III

17 Mord im unbeabsichtigt verschlossenen Raum

Auszug aus dem Memorandum von Dr. F., Teil IV

18 Tiefrote Spinnenlilien

Personenregister

Glossar

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

1 Der Mann mit den drei Fingern

Bevor ich mit der Niederschrift dieser seltsamen Geschichte begann, wollte ich mir zunächst einen Überblick über den Schauplatz des grausigen Verbrechens verschaffen, weshalb ich mich eines Nachmittags im Vorfrühling mit meinem Spazierstock in der Hand auf den Weg zu dem berüchtigten Anwesen machte.

Seit ich im Mai des vergangenen Jahres, als die Bombenangriffe ihren Höhepunkt erreichten, in dieses Dorf in der Präfektur Okayama evakuiert worden war, hatte jeder, dem ich dort begegnete, mir mindestens einmal von den »Koto-« oder »Honjin-Morden«, wie manche sagten, im Haus der Familie Ichiyanagi erzählt.

Sobald die Leute hören, dass ich Kriminalromane schreibe, fühlen sie sich im Allgemeinen bemüßigt, mir von jedem Mordfall zu berichten, von dem sie einmal Kenntnis erlangt haben.

Offenkundig war den Dorfbewohnern meine berufliche Tätigkeit zu Ohren gekommen, so dass mir nun jeder von diesen Morden erzählte. Für sie konnte es natürlich kaum einen denkwürdigeren Fall geben, und doch waren sich die meisten der grausamen Ausmaße dieses Verbrechens nicht bewusst.

Solche kolportierten Geschichten sind normalerweise für mich nie so interessant wie für den Erzähler, geschweige denn, dass sie sich als Vorlage für ein Buch eignen würden. Das war bisher noch nie vorgekommen. Doch dieser Fall war anders. Als ich zum ersten Mal davon munkeln hörte, war ich sofort fasziniert. Der Bericht, den ich schließlich von Dr. F. erhielt, dem Arzt, der unmittelbar mit dem Fall zu tun gehabt hatte, versetzte mich in höchste Aufregung. Dies war kein gewöhnlicher Mord. Der Täter hatte seine grässliche Tat bis in jede Einzelheit geplant. Mehr noch, sie war würdig, das Etikett Locked Room Murder Mystery zu tragen – ein Genre, an dem sich jeder anständige Kriminalautor irgendwann in seiner Laufbahn versucht.

Der Mord hatte in einem Raum stattgefunden, den der Mörder weder betreten noch verlassen haben konnte. Die Rekonstruktion der Abläufe bedeutete eine reizvolle Herausforderung für mich als Schriftsteller. Meinem geschätzten Freund Eizo Inoue zufolge sind sämtliche Werke des großen John Dickson Carr Varianten der sogenannten Locked Room Murder Mystery, des »Mordes im verschlossenen Raum«. Von Berufs wegen hegte ich seit Langem die Absicht, mich eines Tages an diesem Genre zu versuchen, und nun fiel mir ein solcher Fall unerwartet in den Schoß. Es mag makaber klingen, aber eigentlich schulde ich dem Mörder Dank für die derart teuflische und perfide Methode, mit der er brutal einen Mann und eine Frau erstach.

Als ich die Geschichte hörte, durchforstete ich sofort mein Gedächtnis, welche mir bekannte Romane ähnliche Fälle behandelten. Das Geheimnis des gelben Zimmers von Gaston Leroux und Arsène Lupin – Der Zahn des Tigers von Maurice Leblanc kamen mir als erste in den Sinn, dann Der Mordfall Canary und Der Mordfall Terrier, beide von S. S. Van Dine, und schließlich The Plague Court Murders von Carr. Sogar in Murder Among the Angells von Roger Scarlett glaubte ich, eine Variante zu erkennen. Allerdings unterschied sich der Honjin-Mordfall, dem ja eine wahre Geschichte zugrunde lag, deutlich von den genannten. Vielleicht hatte der Mörder einfach eine Auswahl solcher Romane gelesen, die einzelnen Finten genau unter die Lupe genommen und sich passende Versatzstücke für seinen eigenen Entwurf herausgesucht. Das wäre zumindest eine Theorie.

Das Geheimnis des gelben Zimmers verfügt über die größte Ähnlichkeit mit dem Fall, allerdings weniger die Fakten als Schauplatz und Atmosphäre betreffend. Hier ist der Tatort ein Zimmer mit gelber Tapete, im Honjin-Mordfall sind Pfeiler, Balken, Decke und Läden ockerrot gestrichen. Ocker war kein ungewöhnlicher Farbton für Innenräume in dieser Region, auch das Haus, in dem ich wohnte, war in dieser Farbe gestrichen, nur dass das leuchtende Rot mit den Jahren einem dunklen bräunlichen Schimmer gewichen war. Im Gegensatz dazu war der Raum, in dem der Mord geschah, vor Kurzem gestrichen worden und erstrahlte vermutlich in frischem Rot. Die Tatami waren ebenfalls ganz neu sowie auch die Fusuma, die die beiden Haupträume trennten. Zudem stand in dem größeren von beiden ein mit Blattgold überzogener Wandschirm. Das einzige Unschöne darin war wohl das in seinem eigenen karmesinroten Blut liegende Brautpaar.

Eine Seite an diesem Fall faszinierte mich besonders, nämlich die zentrale Rolle, die das traditionelle japanische Saiteninstrument, die Koto, darin spielte. Sobald ein kritischer Moment erreicht war, ertönte auf geheimnisvolle Weise die Koto. Dies übte auf mich, einen hoffnungslosen Romantiker, einen ungeheuer starken Reiz aus. Ein Mord in einem verschlossenen ockerroten Raum und der Klang einer Koto – auf mich als Schriftsteller wirkten diese Motive unwiderstehlich wie eine köstliche Droge, und ich fürchtete, ihre Wirkung würde nachlassen, wenn ich mich mit dem Schreiben nicht beeilte.

Aber ich will nicht vorgreifen. Von meinem Haus bis zum Anwesen der Familie Ichiyanagi waren es ungefähr fünfzehn Minuten zu Fuß. Es liegt in einem Weiler namens Yamanoya, etwas außerhalb des Dorfes O. Nördlich von Yamanoya befindet sich eine kleine Hügelkette mit drei sanften Erhebungen, die mich irgendwie an die Arme eines Seesterns erinnerten. Unterhalb eines dieser Arme erstreckt sich das Anwesen der Familie Ichiyanagi.

An der Westseite des Seesternhügels fließt ein Bach, und auf der Ostseite führt ein Weg am Anwesen vorbei ins Dorf H. Bach und Weg treffen unterhalb des Hügels zusammen, und auf dem etwa eineinhalb Hektar umfassenden dreieckigen Grundstück dazwischen liegt das Anwesen. Es ist also im Norden von den Hügeln, im Westen vom Bach und im Osten vom Weg nach H. gesäumt. Das Haupttor liegt ein wenig zurückgesetzt am Weg auf der Ostseite.

Ich ging vom Weg ein Stückchen hinauf zu dem mit schwarzen Ziernieten beschlagenen Tor. Links und rechts davon erstreckte sich eine insgesamt über hundert Meter lange imposante Mauer. Bei einem Blick durch das Tor stellte ich fest, dass sich dahinter eine weitere Einfriedung befand, die die Aussicht auf das Innere versperrte. Das Ganze mutete hochherrschaftlich an.

Von dort ging ich zur Westseite um das Anwesen herum und folgte dem Bach nach Norden, wo ich am nördlichsten Ende der Außenmauer auf eine baufällige Wassermühle und eine einfache lehmgepflasterte Holzbrücke stieß. Ich überquerte sie, stieg den Hang hinauf und kroch durch das wuchernde Bambusdickicht. Oben auf dem Hügel hatte man in südlicher Richtung das gesamte Anwesen in Blick.

Unmittelbar unter mir lag das Dach des Nebengebäudes, in dem der schreckliche Mord geschehen war. Nach dem, was ich im Dorf gehört hatte, war es ursprünglich für die Witwe Itoko, die Herrin des Anwesens, gebaut worden, weshalb es nur über zwei Räume verfügte, der eine acht und der andere sechs Tatami groß. Zu diesem eher kleinen Bau gehörte ein nach Südwesten ausgerichteter Garten mit Bäumen, Büschen und Zierfelsen, der im Verhältnis fast zu weitläufig erschien.

Ich werde dieses Nebengebäude noch ausführlicher schildern, doch als ich jetzt darüber hinweg nach Süden blickte, staunte ich zunächst über das prachtvolle nach Osten weisende Haupthaus und betrachtete die von der erweiterten Familie bewohnten Räumlichkeiten dahinter sowie die unregelmäßig verstreut liegenden Speicher und Schuppen.

Haupthaus und Nebengebäude waren durch einen hohen Zaun mit einem einfachen Gartentor aus Ästen und Bambus getrennt. Zaun und Tor waren unterdessen fast bis zur Unkenntlichkeit verrottet, aber zur Zeit des Mordfalls mussten sie noch in so stabilem Zustand gewesen sein, dass sie die auf die Schreie hin herbeigeeilten Bewohner aufhielten.

Damit hatte ich genug gesehen. Nachdem ich mich wieder aus dem Bambusdickicht herausgearbeitet hatte, machte ich mich auf den Weg zum Rathaus in O. an der Südseite des Dorfes, wo es kaum noch Häuser gab. Ging man von dort weiter nach Süden, erstreckten sich bis zur nächsten Ortschaft K. nur noch von einer breiten zweispurigen Straße durchschnittene Reisfelder. Nach etwa vierzig Minuten Fußmarsch gelangte man an eine Bahnstation. Das heißt, für Zugreisende gab es keine andere Möglichkeit, nach O. zu gelangen, als über diese Straße, so dass unweigerlich jeder am Rathaus vorbeikam, dem gegenüber sich eine Gastwirtschaft mit Lehmboden und großem Fenster befand. Fuhrleute und Händler kehrten hier ein. Vor allem jedoch wurde in diesem Wirtshaus zum ersten Mal die Person gesehen, die im weiteren Verlauf eine zentrale Rolle bei den sogenannten Honjin-Morden spielen sollte – nämlich der Mann mit den drei Fingern.

Dies geschah am 23. November des Jahres Showa 12, also 1937, vor Sonnenuntergang und damit zwei Tage vor dem tragischen Ereignis.

Die Okamisan, also die Wirtin, saß auf einem Holzhocker vor ihrer Kneipe und plauderte mit zwei Stammgästen, einem Fuhrmann und dem Rathausdiener, als aus Richtung K. der Mann die breite Straße entlanggehumpelt kam und vor dem Wirtshaus haltmachte.

»Könnten Sie mir sagen, wie ich zum Anwesen der Ichiyanagis komme?«

Die Okamisan, der Rathausdiener und der Fuhrmann verstummten und wechselten einen Blick, nachdem sie die Aufmachung des Mannes beäugt hatten. Er gehörte nicht gerade zu den Leuten, denen man einen Besuch bei den vornehmen Ichiyanagis zutraute. Seinen ramponierten Filzhut hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, außerdem trug er einen Mundschutz. Die Haare, die unter dem Hut hervorschauten, waren verfilzt, und sein Kinn war voller Bartstoppeln. Jedenfalls erschien er der Wirtin und ihren Freunden höchst zwielichtig. Er trug keinen Mantel, hatte aber wegen der Kälte den Kragen seiner schmutzstarrenden, abgewetzten Jacke hochgeschlagen. Seine Hose war auch nicht sauberer und an den Knien durchgescheuert. Auf seinen Schuhen lag eine graue Staubschicht, und die Sohlen hatten sich gelöst. Alles an diesem Mann wirkte verwahrlost. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber er musste um die dreißig sein.

»Zum Anwesen geht’s da lang. Aber was hast du denn mit der Familie Ichiyanagi zu schaffen?«

Streng musterte der Rathausdiener den Mann, der ständig blinzelte und hinter seiner Maske etwas Unverständliches murmelte.

Just in diesem Augenblick näherte sich aus der gleichen Richtung, aus der der Mann gekommen war, eine Rikscha.

»He«, rief die Okamisan, »da kommt gerade der Herr, nach dem du suchst. Der Herr Ichiyanagi, dem das Anwesen gehört.«

Der Fahrgast in der Rikscha war ein Mann um die vierzig mit strenger und etwas düsterer Miene. Er trug einen dunklen Anzug und saß kerzengerade in seinem Sitz. Er blickte stur geradeaus, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Die vorstehenden Wangenknochen und die markante Nase verliehen seinen Zügen eine gewisse unnahbare Härte.

Bei diesem Mann handelte es sich um Kenzo, das derzeitige Oberhaupt der Familie Ichiyanagi. Die Rikscha fuhr an der Gruppe vorbei und verschwand hinter der nächsten Biegung.

Der Fuhrmann wartete, bis sie außer Sichtweite war, ehe er sich der Okamisan zuwandte.

»Man munkelt, der junge Herr hat eine Braut gefunden. Ist das wahr?«

»Scheint so. Die Hochzeit soll übermorgen stattfinden.«

»Was? So bald schon? Das kommt ja plötzlich.«

»Wenn er zu lange wartet, gibt es bestimmt wieder alle möglichen Einwände. Dem will er zuvorkommen. Die Hochzeit ist jetzt beschlossene Sache und wird stattfinden. Wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hält ihn so schnell nichts auf.«

»Deshalb ist er bestimmt ein so großer Gelehrter geworden«, sagte der Rathausdiener. »Immerhin hat er die Zustimmung der Alten erhalten.«

»Natürlich ist sie nicht einverstanden. Aber am Ende musste sie wohl nachgeben, heißt es. Je mehr sie sich gewehrt hat, desto sturer wurde der junge Herr.«

»Wie alt ist er denn jetzt? Um die vierzig?«, fragte der Fuhrmann.

»Genau«, antwortete der Rathausdiener. »Und es ist seine erste Ehe.«

»Ein verliebter Mann in mittleren Jahren ist leidenschaftlicher als ein junger.«

»Außerdem ist die Braut erst fünf- oder sechsundzwanzig«, sagte die Okamisan. »Eine Tochter von Rinkichi, heißt es. Die hat einen guten Fang gemacht. So was nennt man ein gemachtes Nest. Dabei sieht sie nicht mal besonders aus.«

»Darauf kommt es nicht an. Sie ist Lehrerin an einer Mädchenschule, also klug und tüchtig, das macht sie zu einer guten Partie für den jungen Herrn. Mädchen ohne Ausbildung sind heutzutage nicht mehr gefragt.«

»Sie wollen doch nicht etwa noch studieren, um sich einen reichen Ehemann zu angeln, Frau Wirtin?«

»Was denkst du denn!«

Die drei brachen in Gelächter aus.

»Okamisan, entschuldigen Sie«, meldete der fremde Mann sich zögernd zu Wort. »Könnte ich vielleicht einen Schluck Wasser haben? Meine Kehle ist wie ausgedörrt …«

Die drei wandten sich entgeistert um. Sie hatten seine Existenz völlig vergessen. Die Okamisan warf ihm einen missbilligenden Blick zu, brachte ihm dann aber doch ein Glas Wasser. Der Mann bedankte sich und schob zum Trinken die Maske hoch. Wieder wechselten die Dörfler einen Blick.

Der Mann hatte eine lange Narbe auf der rechten Wange, wo anscheinend ein tiefer Schnitt genäht worden war. Die Narbe verlief von seinem rechten Mundwinkel über die ganze Wange, als hätte jemand ihm das halbe Gesicht aufgeschlitzt. Offenbar sollte die Maske ihn weniger vor Staub und Krankheiten schützen, als vielmehr die Narbe verbergen. Außerdem fiel den dreien ein weiteres grausiges Merkmal ins Auge, als er das Glas umfasste. Er hatte nur drei Finger an der rechten Hand. Der Ringfinger und der kleine Finger waren Stümpfe. Nur Daumen, Zeige- und Mittelfinger waren vollständig.

Der Mann mit den drei Fingern trank sein Wasser aus, dankte der Okamisan und humpelte in die Richtung, in die die Rikscha gefahren war. Die drei Dorfbewohner starrten ihm nach.

»Was war das denn für einer?«

»Was der wohl von den Ichiyanagis will?«

»Ein widerwärtiger Kerl. Und sein Maul! Das Glas benutze ich nie wieder!«

Die Okamisan stellte das benutzte Glas ganz ans Ende des Regals, eine Entscheidung, die sich in den nächsten Tagen als ausgesprochen hilfreich erweisen sollte.

Falls Sie zu den Lesern und Leserinnen gehören, die darauf achten, was zwischen den Zeilen einer Geschichte steht, und sich Einzelheiten merken, haben Sie vielleicht schon erraten, was ich sagen will. Nämlich, dass man nur drei Finger braucht, um eine Koto zu spielen. Denn die Saiten werden mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger gezupft.

2 Die Erben des Honjin

Nach Aussage der älteren Leute im Dorf stammte die wohlhabende Familie Ichiyanagi ursprünglich gar nicht aus O., sondern aus der Nachbarstadt K., was sie bei den engstirnigen Dörflern von vorneherein unbeliebt machte.

K. lag früher an der alten Chugoku-kaido, einem Abschnitt der Hauptverbindungsstraße zwischen Ost- und Westjapan. In der Edo-Zeit war dort eine Raststation für Reisende gewesen, und die Ichiyanagis hatten damals ein sogenanntes Honjin geführt, ein Gasthaus, in dem ausschließlich Adlige übernachteten. Als jedoch der Shogun gestürzt und Ende der 1860er Jahre das kaiserliche System wiederhergestellt wurde, ahnte das Oberhaupt der Familie Ichiyanagi, dass der Verlust ihres Honjin bevorstand. Er verfügte über die Weitsicht, mit seiner Familie an ihren jetzigen Standort zu ziehen, bevor das alte Feudalsystem gänzlich zusammenbrach. Er machte sich die unruhigen Zeiten zunutze und erwarb eine Menge Ackerland zu günstigsten Preisen, so dass er bald einer der reichsten Grundbesitzer der Gegend war. Deshalb beschimpften die Alteingesessenen die Ichiyanagis gern als eine Bande von Emporkömmlingen und nannten sie »Kappa« – im allgemeinen Sprachgebrauch eine Art Wasserkobold und ein lokales Schimpfwort für aus K. Zugezogene.

Zum Zeitpunkt des grausigen Mordfalls lebten mehrere Personen auf dem Anwesen. Erstens Itoko, die Witwe des früheren Familienoberhaupts und Hausherrin, damals siebenundfünfzig Jahre alt. Sie trug ihr Haar stets sorgfältig zu einem für ihr Alter noch sehr vollen Knoten frisiert und gab sich immer höchst würdevoll. Aus einer Familie zu stammen, die einst ein Honjin geführt hatte, war ihr ganzer Stolz, und die Dorfbewohner nannten sie nur die »alte Gnädige«.

Die Witwe Itoko hatte fünf Kinder, aber nur drei lebten damals auf dem Anwesen, darunter ihr ältester Sohn Kenzo, der an einer renommierten Privatuniversität in Kyoto Philosophie studiert hatte. Nach seinem Abschluss unterrichtete er noch einige Jahre an seiner Alma Mater, zog sich jedoch ein Lungenleiden zu und wohnte wieder bei seiner Mutter, da er sich schonen musste. Dennoch war er ein engagierter Wissenschaftler, und seine Isolation hinderte ihn nicht daran, seine Studien fortzuführen. Er schrieb Bücher, verfasste Artikel für Fachzeitschriften und wurde mit der Zeit ein anerkannter Gelehrter.

Anscheinend lag es auch gar nicht so sehr an seiner schlechten Gesundheit, dass er mit vierzig noch unverheiratet war. Er war einfach zu sehr mit seinen Studien beschäftigt gewesen, um sich mit derartigen Dingen zu befassen.

Die Nächstjüngere war Itokos ältere Tochter Taeko. Sie hatte einen Geschäftsmann geheiratet und lebte damals in Shanghai, war also nicht unmittelbar von den Ereignissen jener Nacht betroffen. Itokos zweitältester Sohn Ryuji arbeitete als Arzt in einem großen Krankenhaus in Osaka. Auch er hatte sich in der bewussten Nacht nicht auf dem Familiensitz aufgehalten. Allerdings war er dorthin geeilt, sobald er von dem furchtbaren Unglück hörte, und hatte daher Einblick in die Geschehnisse unmittelbar danach. Er war zu jenem Zeitpunkt fünfunddreißig Jahre alt.

Nach Ryujis Geburt hatten Itoko und ihr Mann viele Jahre lang keine Kinder mehr bekommen, so dass alle schon dachten, es würde keinen weiteren Familienzuwachs geben, aber nach einer Wartezeit von nahezu zehn Jahren wurden noch ein Sohn und acht Jahre später eine Tochter geboren. Der Junge erhielt den Namen Saburo, das Mädchen nannten sie Suzuko. Zum Zeitpunkt des Mordes war Saburo fünfundzwanzig und Suzuko siebzehn Jahre alt.

Saburo war das schwarze Schaf der Familie. Er war von der Mittelschule verwiesen und anschließend auf eine private Berufsschule in Kobe geschickt worden, die er ebenfalls hatte verlassen müssen. Als der Mordfall sich ereignete, war er beschäftigungslos und faulenzte einfach nur zu Hause herum. An Intelligenz schien es ihm nicht zu mangeln, aber er begeisterte sich für nichts. Zudem war ihm auch eine gewisse Verschlagenheit zu eigen, und er genoss die allgemeine Verachtung des Dorfes.

Dagegen konnte einem Suzuko, die Jüngste, nur leidtun. Vielleicht lag es daran, dass ihre Eltern schon älter waren, als sie sie bekamen, jedenfalls war sie ein zerbrechliches kleines Wesen und blühte wie eine zarte Blume im Schatten. Sie war kränklich und dadurch etwas langsam. Nicht, dass sie geistig behindert gewesen wäre, in manchen Dingen war sie sogar äußerst begabt. Sie spielte so gut Koto, dass man sie beinahe als musikalisches Genie bezeichnen konnte. Hin und wieder hatte sie auch erstaunliche Geistesblitze, aber meistens verhielt sie sich wie ein Kind von sieben oder acht Jahren.

Neben der unmittelbaren Kernfamilie Ichiyanagi gab es noch einen Seitenzweig, dessen Oberhaupt Ryosuke, der damals achtunddreißigjährige Cousin von Kenzo und seinen Geschwistern, mit seiner Frau Akiko und ihren drei Kindern auch auf dem Anwesen lebte. Da diese Kinder eindeutig nichts mit dem Mordfall zu tun hatten, lasse ich sie unbeachtet.

Ryosuke war ein gänzlich anderer Typ als sein Cousin Kenzo. Er hatte lediglich die Grundschule abgeschlossen, war aber gut im Rechnen und weltgewandt. Somit war er sehr geeignet, die Familienangelegenheiten der Ichiyanagis in die Hand zu nehmen, was ihn zu Itokos engstem Vertrauten machte, da ihr exzentrischer ältester, dauerhaft abwesender zweiter und unzuverlässiger dritter Sohn ihr kaum eine Hilfe waren. Ryosukes Frau Akiko hatte keine besonderen Eigenschaften. Sie war, was man damals eine gute und fügsame Ehefrau nannte.

Das Anwesen der Ichiyanagis wurde also von sechs Erwachsenen bewohnt: der Witwe Itoko, Kenzo, Saburo, Suzuko, Ryosuke und Akiko. Sie führten einen konservativen, traditionellen Lebensstil. Alles war friedlich bis zu dem Moment, als Kenzo seine Verlobung bekannt gab. Es war, als hätte jemand einen großen Kieselstein in einen ruhigen Teich geworfen, auf dem sich die Wellen nun immer weiter ausbreiteten. Kenzos Auserwählte hieß Katsuko Kubo und war Lehrerin an einer Mädchenschule in Okayama. Die Familie Ichiyanagi hatte nichts gegen Katsuko persönlich, aber ihre Herkunft – ihre sogenannte »Abstammung« – war ein Problem. Dieses Wort, das in Großstädten kaum noch gebräuchlich ist, spielt in ländlichen Gegenden bis heute eine Rolle. Damals, so könnte man sagen, prägte die Abstammung eines Menschen sein ganzes Leben. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand man sich in einer Zeit des Umbruchs, in der die Bauern zunehmend weniger gezwungen waren, vor der Oberschicht oder den Reichen zu buckeln. Mit Japans Niederlage waren solche gesellschaftlichen Zwänge mit großem Getöse in sich zusammengefallen. Dennoch galt Herkunft noch immer viel. Der Anspruch auf Respekt und der Stolz, die mit der Geburt in eine angesehene Familie einhergingen, waren in den ländlichen Gemeinden noch lebendig, wobei auch genetische Defekte keine Rolle spielten. Kam zum Beispiel in der Familie eines angesehenen Gemeindemitglieds, das im Shogunat Dorfvorsteher gewesen war, ein männliches Kind mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung, Epilepsie oder Ähnlichem zur Welt, hatte es aufgrund seiner Abstammung dennoch Anspruch darauf, zu gegebener Zeit Dorfvorsteher zu werden. Das gilt heute noch, und im Jahr 1937, in dem unsere Geschichte spielt, galt es umso mehr. Für die Ichiyanagis gab es also nichts Wichtigeres als das stolze Gefühl, dass ihre Vorfahren einst ein Honjin geführt hatten. Ihre Abstammung bedeutete ihnen alles.

Katsuko Kubos Vater hatte früher als Pächter in O. gelebt. Allerdings war er um einiges unternehmungslustiger gewesen als die anderen Bauern. So hatte er mit seinem jüngeren Bruder das Dorf verlassen und sich nach Amerika eingeschifft. Die Brüder arbeiteten auf Obstplantagen, bis sie genügend Geld gespart hatten, um nach Japan zurückzukehren und etwa vierzig Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt eine eigene Obstplantage zu gründen. Beide Brüder heirateten. Leider starb der ältere kurz nach der Geburt seiner kleinen Tochter Katsuko. Seine junge Witwe ließ Katsuko in der Obhut ihres Schwagers und kehrte in ihr Dorf zurück. So wuchs Katsuko bei ihrem Onkel auf. Sie erwies sich als ein sehr fleißiges Kind, und ihr Onkel scheute keine Kosten für die Ausbildung seiner Nichte. Nach ihrem Abschluss an einem Lehrerinnenseminar in Tokio nahm sie eine Stelle an einer Mädchenschule in Okayama an, die nicht allzu weit von ihrem Zuhause entfernt lag.

Die von Katsukos Vater und Onkel gegründete Obstplantage florierte, und der Onkel legte den Anteil seiner Nichte stets gewissenhaft beiseite. Sie arbeitete also nicht als Lehrerin, weil sie ihren Lebensunterhalt verdienen musste, sondern aus freien Stücken, denn sie besaß ein eigenes Vermögen. Aus Sicht der Familie Ichiyanagi spielte es jedoch keine Rolle, wie gebildet, klug oder intelligent sie war, nicht einmal ihr Vermögen zählte. Für sie war und blieb Katsuko die Tochter des früheren Kleinbauern Rinkichi Kubo, ohne Namen und ohne Stammbaum.

Kenzo hatte Katsuko kennengelernt, als er in Kurashiki vor einer Gruppe Studenten und Studentinnen einen Vortrag hielt. Nach ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn mehrmals aufgesucht, um ihn um Hilfe bei ihrer fremdsprachlichen Lektüre zu bitten. Als sie sich etwa ein Jahr kannten, machte Kenzo ihr überraschend einen Heiratsantrag.

Wie bereits erwähnt, war die Familie Ichiyanagi strikt gegen diese Heirat, allen voran Itoko und Kenzos Cousin Ryosuke. Von Kenzos Geschwistern war es seine Schwester Taeko, die sich am meisten gegen die Verlobung wehrte und ihm deshalb sogar einen bitterbösen Brief schrieb. Andererseits besaß er die Unterstützung seines mittleren Bruders Ryuji, der Itoko ermahnte, ihrem ältesten Sohn keine Steine in den Weg zu legen, obwohl er nie direkt mit seinem Bruder darüber sprach.

Kenzo reagierte überhaupt nicht auf die ganze Aufregung und zog es vor, sich in Schweigen zu hüllen. Und wie immer siegte am Ende das Wasser über das Feuer. Den Gegnern ging nach und nach die Luft aus, ihre Stimmen verklangen, ihre Schritte wurden langsamer, und schließlich mussten sie mit säuerlichem Lächeln und resigniertem Achselzucken ihre Niederlage hinnehmen.

Die Hochzeit fand am 25. November 1937 statt, und noch in derselben Nacht wurde das abscheuliche Verbrechen begangen. Bevor ich jedoch zu den blutigen Einzelheiten komme, muss ich einige scheinbar unbedeutende Vorfälle erwähnen, die wie eine Art Ouvertüre dem Mord vorangingen.

Sie ereigneten sich am Tag vor der Hochzeit, also am 24. November, und zwar am Nachmittag. Schauplatz war das Wohnzimmer der Familie Ichiyanagi, wo Itoko und Kenzo Tee tranken und ein ziemlich unangenehmes Gespräch führten. Unweit von ihnen saß Suzuko, die Jüngste, stillvergnügt in ihr Spiel mit einer Puppe vertieft. Sie störte nie jemanden, wo immer sie sich aufhielt, schien die Welt um sie herum zu versinken.

»Aber das ist seit Generationen Tradition in unserem Haus.«

Itoko hatte sich bei der Wahl der Ehepartnerin ihres Sohnes nicht gegen ihn durchsetzen können und war offenbar noch immer nicht in der Lage, ihren Unmut zu verbergen.