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Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird der aus Nord-Griechenland stammende Lehrer, Manos Michelakis, nach Kalozoia, dem "Dorf der Witwen" geschickt. Dort waren die männlichen Bewohner ab dem Alter von 15 Jahren als Vergeltungsmaßnahme von den deutschen Besatzern hingerichtet worden. In dem Dorf flüchten sich die Witwen, die daran glauben, dass Gott sie für ihre Sünden bestraft habe, in eine eigene, für Fremde unverständliche Gedankenwelt. In ihrem Eifer verbieten sie sogar den Kindern das Spiel, denn dies sei eine Sünde. Manos Michelakis trifft daher auf den heftigen Widerstand der Frauen, als er zusammen mit dem Kollegen vom Nachbarort den Versuch unternimmt, diese freudlose, depressive Struktur aufzubrechen. Viele Ereignisse, die im Roman eindrucksvoll geschildert werden, basieren auf den historischen Recherchen des deutsch-amerikanischen Autors. Im Verlauf seiner Reisen durch Kreta sammelte Stephan D. Mc Neal zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen. Mit diesem Buch trägt er dazu bei, dass das - heute vielen Menschen in Deutschland weitgehend unbekannte - Leiden der griechischen Bevölkerung während der deutschen Invasion (und in den Jahren danach) nicht vergessen wird.
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Seitenzahl: 377
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allen Griechen,
Männern, Frauen und Kindern,
die durch die deutsche Besatzung 1941 – 1945
ihr Leben bei sogenannten
„Vergeltungsaktionen“
verloren
Möge die Erinnerung an sie niemals verblassen
und uns immer eine Mahnung sein
Vorwort von Ulrich Roth, Journalist
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
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Kapitel
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Prolog
Glossar
Orte
Historische Personen
Griechische Begriffe
Griechische Namen und deren Kurzform oder Bedeutung sofern vorhanden
1947, zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, verschlägt es den aus dem Norden Griechenlands stammenden Manos Michelakis nach Kalozoia, ins „Dorf der Witwen“. Dort soll der junge Mann seine neue Stelle als Dorfschullehrer antreten. Am Beispiel der Menschen, die in dieser fiktiven kretischen Ortschaft leben, erinnert der Autor eindringlich daran, welche schrecklichen, bis in die heutige Zeit nachwirkenden Ereignisse sich während der deutschen Besatzungszeit - und danach in den Wirren des griechischen Bürgerkriegs – abgespielt haben. Erschießungskommandos wüten in Dörfern, deren Einwohner verdächtigt werden, Untergrundkämpfer zu unterstützen. Soldaten plündern Lebensmittelvorräte und brennen zahllose Häuser nieder. Die gnadenlosen Vergeltungsmaßnahmen der deutschen Besatzer, denen oft die gesamte männliche Bevölkerung zum Opfer fällt, stürzen ganze Dorfgemeinschaften in größte existenzielle Not.
In Kalozoia flüchten sich die Witwen, die glauben, von Gott für ihre Sünden bestraft worden zu sein, nach dem Krieg in ihre eigene, strenge Welt. Ihren Kindern verbieten sie sogar das Spielen, weil sie es für eine gottlose Sünde halten. Manos Michelaki trifft daher auf heftige Widerstände, als er zusammen mit einem befreundeten Kollegen aus dem Nachbardorf den Versuch unternimmt, diese freudlos-depressiven Strukturen aufzubrechen.
Viele Ereignisse, die im Roman eindrucksvoll geschildert werden, basieren auf den historischen Recherchen des deutsch-amerikanischen Autors. Im Verlauf seiner Reisen durch Kreta sammelte Stephan D. Mc Neal zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen. Mit diesem Buch trägt er dazu bei, dass das - heute vielen Menschen in Deutschland weitgehend unbekannte - Leiden der griechischen Bevölkerung während der deutschen Invasion (und in den Jahren danach) nicht vergessen wird.
Am Anfang fand er es eigentlich sehr angenehm, dass der alte Mann so schweigsam war, doch nun, nach mehr als zwei Stunden auf dem Karren, durchgeschüttelt von der holprigen Straße, hätte sich Manos Michelakis doch ganz gerne etwas unterhalten. Aber außer einem mürrischen Seitenblick und dem so typischen Schnalzton, was einem Nein gleichkam, war der Mann nicht bereit, etwas von sich zu geben.
Verstohlen schaute Manos von Zeit zu Zeit zu dem Mann, und dabei fragte er sich, welches Alter dieser Kreter wohl haben mochte. Das schwarze Haar war voll und glänzte im Licht der heißen Sonne fast wie Anthrazitkohle. Der das Gesicht bedeckende Vollbart wies nur an wenigen Stellen einige graue Haare auf, und doch waren in dem braun gegerbten Gesicht die Falten eines alten Mannes deutlich zu erkennen.
Etwas besonderes jedoch waren diese Augen, und ohne es wirklich zu wollen, erinnerten sie ihn an seinen Großvater, der die selben klaren und hellen, bläulich schimmernden Augen hatte, die alles und jeden zu durchdringen schienen. Sie waren nicht eisig, oh nein, das auf keinen Fall, aber doch von einer seltsamen Kraft, die bemerkenswert war.
„Nun Söhnchen“, wurde Manos aus seinen Gedanken gerissen. „Hast du mich jetzt auch wirklich genau betrachtet?“
Erschrocken drehte sich der junge Mann in die Richtung des Alten, und gleichzeitig schoss eine sichtbare Röte der Verlegenheit in sein Gesicht.
„Verzeiht“, entgegnete er schnell, nachdem er sich etwas gefangen hatte. „Doch ihr erinnert mich an meinen Großvater.“
Ein leises Lachen ertönte und zum ersten Mal war im Gesicht des Mannes ein kleines Lächeln zu erkennen.
„Ausgerechnet einer vom Festland will mir sagen, dass ich ihn an seinen Großvater erinnere.“
„Er stammt aus Kreta“, warf Manos schnell ein, und im gleichen Moment brachte der neben ihm sitzende Mann die Pferde zum Halten. „Söhnchen, keine Witze an einem solch heißen Tag, nur um sich bei mir etwas beliebt zu machen. Diese Tour zieht bei mir ganz und gar nicht!“
„Bei der Mutter Gottes,“ Manos stemmte die Arme in die Seite und warf dem Anderen einen scharfen Blick zu. „Er stammte aus Kandanos, im Bezirk Chania.“
„Ich weiß wo Kandanos liegt, denn noch bin ich nicht senil!“ Leicht zogen sich die buschigen Augenbrauen zusammen. „Und wie ist sein Name?“
„Manos Michelakis, Sohn von Vangelis.“ Schnell legte Manos seine rechte Hand auf die Brust. „Ich wurde nach ihm benannt.“
Mit einem leichten Schlag der Zügel auf den Rücken der Pferde brachte der alte Mann den Wagen wieder zum rollen.
„Mit Verlaub Manos,“ wieder wurde ihm ein ernster Blick zugeworfen, „aber was macht ein Kreter auf dem Festland?“ Erneut kam ein kleiner Lacher über die Lippen des Alten. „Hat sich wohl den Ärger einer anderen Familie eingehandelt und das Weite gesucht?“
„Nein, er war Priester.“
„Moment!“ Abrupt brachte der Alte das Gefährt zum stehen und drehte sich schnell zu Manos, der sich vor lauter Überraschung unwillkürlich etwas zurücklehnte: „Du sagtest Manos Michelakis aus Kandanos und Priester? Habe ich das jetzt richtig verstanden?“
„Ja, so ist es!“
„Himmel, Kreta ist doch eine verdammt kleine Insel!“
„Wie bitte?“ Jetzt war Manos total verwirrt über das, was der alte Mann gerade gesagt hatte, denn er konnte sich keinen Reim darauf machen, was er damit meinte.
„Ich komme aus Floria, einem Ort vor Kandanos, und in meiner Jugend kannte ich einen jungen Mann, einen Manos Michelakis!“ Heftig schlug der Mann sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel, was allerdings bei den Pferden dazu führte, dass diese leicht erschraken und zu tänzeln anfingen. „Und dieser Manos war wahrlich ein wilder Geselle im angenehmen Sinne, hinter dem alle Mädchen der umliegenden Orte sich umdrehten, wenn er auf einem der Feste auftauchte. Himmel, wie konnte der beim Tanzen hochspringen und wenn er zu singen anfing, hingen alle Augen der holden Weiblichkeit an seinen Lippen.“ Er unterbrach sich mit einem kleinem Lacher. „Böse Zungen sagten, wahrscheinlich aber auch nur um den Priester zu ärgern, dass die Kirche nur wegen ihm und seinem Gesang so gut gefüllt war.“
„Irgendwie kommt mir das bekannt vor,“ unterbrach Manos rasch. „Meine Großmutter hatte ihn mit einer solchen Geschichte immer gerne hoch gezogen.“
„Junge, kannst du dir vorstellen wie viele Tränen vergossen wurden, als er sich plötzlich aufmachte um Priester zu werden? Olivenhaine hätte man damit ein ganzes Jahr bewässern können.“
Jetzt rutschte Manos ein herzhafter Lacher heraus, denn wieder hatte er in seiner Erinnerung so manch spaßigen Moment vor Augen, bei dem die Großmutter den Großvater mit entsprechenden Bemerkungen aufzog. Schnell entspann sich dann für alle Zuhörer ein heiterer Disput, der jedoch gleichzeitig erkennen lies, welch große Liebe diese beiden Menschen verband.
Doch im gleichen Moment, als ihm diese Erinnerung kam, war auch wieder die unendliche Trauer aufgetaucht, dass sowohl der Großvater, als auch die Großmutter nicht mehr lebten.
„Sag Manos, wo war dein Großvater dann Priester?“
Kurz musste Manos überlegen, bevor er antwortete: „In Panos Kerdilia. Das ist bei Serres, also ganz im Norden.“
„Aber nicht das Kerdilia?“
„Doch, das Kerdilia!“ Manos betonte seinen Satz in der gleichen Weise, wie sein Nebenmann. „Aber da war er schon lange weg, bevor die Deutschen sich über den Ort hermachten. Mein Vater wurde aber dort geboren, so wie auch zwei seiner Brüder.“
„Und danach?“
„Nach der Pontoskrise brauchten sie einen Pfarrer in Mesovouno.“
„Ach du Scheiße“, rutschte es dem alten Mann heraus, während er gleichzeitig weit die Augen aufriss.
Ein seltsames, unangenehmes Schweigen entstand und jeder wusste vom dem Anderen, dass auch dieser das schreckliche Schicksal des erwähnten Ortes kannte. Doch weder wollte der alte Mann weiter nachfragen, noch Manos weiter darauf antworten.
Wieder setzte sich der Karren in Bewegung und die beiden kretischen Pferde fielen sofort in den für ihre Rasse typischen Trab.
„Ich wurde in Patras in einem Krankenhaus geboren“, unterbrach Manos nach einer Weile das fast unerträgliche Schweigen der beiden Männer. Dann blickte er mit einem frechen Lächeln den alten Mann an: „Doch bislang kenne ich nicht euren Namen!“
„Kostas Ioannis Verikakis.“ Schnell reichte der Mann ihm die Hand und schien sichtlich froh zu sein, wieder etwas sagen zu können. „Bauer, Fuhrmann und eingesetzter Bürgermeister.“
„Angenehm.“ Manos lächelte noch etwas breiter, dann tippte er mit dem Zeigefinger auf sich selbst. „Manos Georgios Michelakis, neuer Lehrer in Kalozoia.“
„Ach du Ärmster! Da haben sie dir aber ein feines Örtchen ausgesucht.“
„Wie soll ich das nun wieder verstehen?“ reagierte Manos etwas verwirrt .
„Das wirst du früh genug merken, wenn du dort bist!“ Ein leichtes Kopfschütteln folgte dieser Aussage, auf die sich Manos keinen Reim machen konnte.
„Halte dich einfach an Papa Ioannis und seine Frau, die Konstantina, wenn es Probleme geben sollte. Ich wohne im nächsten Ort und wurde für meinen Ort und Kalozoia vorübergehend als Bürgermeister eingesetzt, bis ein Neuer gewählt werden kann.“
„Wie? Was meinst du mit gewählt werden kann?“ Seine Verwirrung nahm noch eine Spur zu, und langsam dämmerte es ihm, warum ihm der Schulrat in Iraklion deutlich gemacht hatte, er sei der richtige Mann für einen solchen Ort.
„Junge Junge, du kommst in das Dorf der Witwen!“
Als habe ihn irgend etwas in der Magengrube getroffen, zuckte Manos unwillkürlich zusammen. Doch jetzt und hier, auf dem Pferdewagen wollte er nicht weiter nachfragen. Eine innere Ahnung war in ihm aufgekommen, aber darüber wollte er mit dem Mann, der ihm nun sympathisch geworden war, nicht sprechen.
„Darf ich fragen, wie alt der Herr Bürgermeister ist?“ fragte Manos mit leicht humorigen Tonfall.
„Wenn du mich noch einmal Herr nennst, Söhnchen, dann fliegst du vom Wagen und gehst den Rest des Weges auf deinen Quadratlatschen!“
„Aber nur, wenn ich nicht mehr Söhnchen genannt werde“, gab Manos grinsend zurück.
„Hast du auch wieder Recht!“ Kostas zwinkerte mit dem rechten Auge.
„Wie alt ist dein Großvater jetzt?“
„Er wäre jetzt vierundachtzig Jahre alt.“ Manos senkte leicht seinen Kopf, und kurz schlossen sich seine Augen.
„Dann weißt du ja, wie alt ich bin.“ Plötzlich stockte Kostas. „Was heißt hier, er wäre jetzt vierundachtzig?“
„Meine Großeltern sind in Mesovouno...“ Manos unterbrach sich und senkte den Blick. Kostas wusste sofort, was der junge Mann damit sagen wollte. Auch er schwieg und versuchte, sich das Gesicht des jungen Freundes von damals ins Gedächtnis zu rufen.
Der steinige, von Oleanderbüschen gesäumte Weg stieg weiter an, und trotzdem verblieben die beiden kräftigen Pferde in ihrem gleichmäßigen Schritt. Fast schien es Manos, als würden ihnen die Steigungen nichts ausmachen. Er hatte schon viel von der Pferderasse dieser Insel gehört und hatte jetzt, wo er auf dem Kutschbock saß, zum ersten Mal die Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Die Tiere lenkten ihn ab von den trüben Gedanken und Erinnerungen, die plötzlich wieder da waren, und vor denen er eigentlich auf der Flucht war. Nichts anderes war der Grund, warum er sich vor wenigen Wochen in Athen sofort dazu bereit erklärt hatte, die Lehrerstelle auf Kreta anzunehmen. Obwohl er auch in der Nähe seines Wohnortes eine geeignete Stelle bekommen hätte, wäre er noch zu nahe an den Erinnerungen gewesen, die ihn einfach zu sehr schmerzten.
„So mein lieber Schulmeister“, unterbrach Kostas endlich die Stille, als sie den Anstieg geschafft hatten und sich unter ihnen im Tal, an einen Hang geschmiegt, eine kleine Ortschaft zeigte. „Es wird langsam Zeit für einen guten Kaffee für uns und frisches Heu für die Pferde.“
„Ist das Kalozoia?“ fragte Manos, wobei er sich leicht nach vorne beugte, denn am Ortseingang stand eine Kirche im byzantinischen Stil, für den er schon immer großes Interesse zeigte.
„Oh nein! Dahin ist es noch eine Fahrt von gut zwei Stunden.“ Verschmitzt schaute Kostas ihn an. „Und für mich wird es endlich Zeit, dass ich meine Medizin bekomme!“
Etwas in der Art, wie Kostas das Wort Medizin betonte, machte Manos stutzig und so sah er ihn zunächst fragend an, bevor er die Frage laut aussprach: „Wie, du brauchst Medizin?“
„Ja sicher!“ Wieder blitzte der schelmische Blick des alten Mannes auf, den man nicht so recht deuten konnte. „Ich mach' es nur meiner noch lebenden Mutter nach, die gerade hundertdrei Jahre alt geworden ist. Morgens, mittags und natürlich auch am Abend zum Essen ein Glas kretischen Raki!“
Manos blieb der Mund offen stehen. Er wusste zwar, dass die Leute auf Kreta sehr alt werden konnten, doch einhundertunddrei Jahre war für ihn eine kaum vorstellbare Altersangabe für einen Menschen.
„Und deine Mutter lebt noch?“ fragte er erstaunt.
„Und wie die lebt. Die rennt den ganzen Tag herum wie ein junges Wiesel, versorgt nebenbei noch die Nachbarin, die leider nicht mehr so gut auf den Beinen und in meinem Alter ist.“ Versonnen blickte Kostas in die Ferne. „Jeden Morgen um Fünf raus aus den Federn, zu den Ziegen, diese füttern und melken, danach zur Nachbarin und anschließend, sofern eine Morgenandacht in der Kirche ist, kannst du sie noch vor dem ersten Glockenschlag an ihrem Platz finden.“
„Und sie lebt bei dir im Haus?“
„Nein, in Magarikari am Fuß des Psiloritis, bei meiner jüngsten Schwester.“ Mit der rechten Hand wies Kostas in eine Richtung, doch war es zu dunstig, als dass man den mächtigen Berg hätte erblicken können.
Kostas brachte den Wagen wenig später auf dem kleinen Platz des Ortes zum Stehen, stieg ab, ohne auf Manos zu warten, und lenkte seine Schritte zum Kaffeehaus. Dicht gedrängt saßen an den Tischen Männer, die sich entweder konzentriert dem Tavli widmeten oder lautstark Karten mit entsprechenden Kommentaren auf die Tischplatte knallten. Manos blieb nichts anderes übrig als Kostas zu folgen. Er sprang vom Wagen, nur um sich schon im nächsten Moment restlos beobachtet vorzukommen.
Die zumeist alten Männer musterten Manos mit kritischen Blicken, und er hegte den Verdacht, dass Kostas mit purer Absicht nicht an einem der vorderen Tische Platz genommen hatte. Damit ihn die Leute besonders gut unter die Lupe nehmen konnten, dachte Manos.
Mit einem fragenden Blick setzte er sich an den Tisch, was Kostas komplett ignorierte und nur kurz fragte: „Kaffee?“ Manos nickte und ohne auf den Besitzer oder eine Bedienung zu warten, rief Kostas in das Lokal hinein: „Mitso, zwei Kaffee.“ Schnell wandte er sich an Manos. „Milch, Zucker?“
„Ohne alles“, antwortete Manos.
„Zwei mal Sketo und zwei Raki!“
Manos wollte eigentlich einwenden, dass es vielleicht noch etwas zu früh für Raki sei, doch er ließ es bleiben, denn in solchen Dingen, das hatte ihm der Großvater beigebracht, versteht der Kreter keinen Spaß und wäre zutiefst beleidigt.
„Kostas, du alter Pferdeschinder“, rief plötzlich einer der Männer vom Nebentisch und sofort drehten sich alle Köpfe in Kostas' Richtung. „Wen hast du denn da mitgebracht?“
„Den neuen Lehrer von Kalozoia“, beantwortete der Angesprochene die leicht spöttische Frage.
„Oh je, der Ärmste,“ kam es von einem anderen Tisch herüber und Manos hob nur kurz den Kopf, schloss dabei die Augen und dachte sich seinen Teil. „Die Weiber haben einen ganz schönen Verbrauch“, sagte der Wirt, der plötzlich neben ihnen stand und Kaffee, Raki und Wasser auf den Tisch stellte, wobei er Manos mit einem breiten Grinsen ansah, das dieser mit einem schiefen Lächeln quittierte.
„Dimitri Gavalas, würdest du bitte aufhören, den armen Jungen zu verunsichern“, warf Kostas ein.
„Ich meine ja nur“, antwortete der Wirt. „Aber sei doch ehrlich mein Freund, drei Lehrer in einem Schuljahr, das sagt doch schon einiges!“
„Mitso, du machst den besten Kaffee in der ganzen Gegend, aber von solchen Dingen hast du keine Ahnung.“ Kurz blickte Kostas zu Manos, dann wieder zum Wirt. „Zugegeben, die Frauen sind etwas schwierig!“
„Schwierig sagst du?“ Mit einem fast schon zynischem Lachen unterbrach der Wirt Kostas. „Wenn ich an den Drachen von Marianna denke, dann bekomme sogar ich eine Gänsehaut.“
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Manos, wie einige Männer zustimmend nickten. Doch da er diese Marianna noch nicht kannte, wollte er sich keine voreilige Meinung bilden. Er nahm sich jedoch vor, sich den Namen gut zu merken.
„Du bist und bleibst ein altes Lästermaul“, sagte eine weibliche Stimme und unvermittelt stand die Frau von Dimitris am Eingang des Lokals. „Ich frage mich wirklich, welcher Teufel mich geritten hat, dich als meinen Mann zu nehmen!“
„Agira“, sagte Kostas schnell, bevor Dimitris etwas sagen konnte: „Wenn dein Mann mal stirbt, dann gibst du bestimmt ein großes Fest!“
„Und was für ein Fest, Kosta! An das wird man sich in hundert Jahren noch erinnern“, antwortete Agira und blickte frech zu ihrem Mann, dem die Kinnlade herunter geklappt war und der nun abwechselnd Kostas und seine Frau betrachtete.
Ein Lachen, in das fast alle Anwesenden einstimmten, hallte über den Platz, und Dimitris versuchte krampfhaft, eine ernste Mine in sein Gesicht zu zaubern, was ihm sichtlich schwer fiel.
„Seht ihr jetzt, meine lieben Freunde, was ich nun schon seit vierundvierzig Jahren mitmache?“ platzte Dimitris plötzlich heraus. „Also habt bitte etwas Erbarmen mit mir!“
„Na ja, das mit dem Erbarmen, das ist so eine Sache“, sagte Kostas lächelnd und blickte in die Runde. „Unser aller Erbarmen ist nicht so leicht und einfach zu erlangen.“
„Schon verstanden!“
Schnell war der Wirt im Inneren des Kafeneion verschwunden, um kurze Zeit später mit einer Tonflasche wieder aufzutauchen. Gemächlich ging er von Tisch zu Tisch und füllte die kleinen Gläser mit neuem Raki. Auch das von Manos wurde gefüllt, was diesen überraschte. Und von allen Seiten wurde dem Wirt, als das Glas gehoben wurde, ein „Eviva“ zugerufen.
„Kostas, du sollst Papa Ioannis und seine Frau bei Papa Georgi abholen“, sagte Dimitris, nachdem er sich zu ihnen an den Tisch gesetzt hatte.
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Papa Ioannis und seine Frau Konstantina waren angenehme Leute, wie Manos schnell feststellen konnte. Als sie zum Haus des anderen Geistlichen kamen, saßen die beiden Priester und ihre Ehefrauen an einem großen, mit einigen religiösen Büchern bedeckten Holztisch, vertieft in eine angeregte Unterhaltung, so dass sie der junge Lehrer nicht stören wollte. Doch kaum wurden er und Kostas erblickt, schon erhoben sich die beiden Priester und lächelten ihn freudig an, so dass er keinen Rückzieher mehr machen konnte.
„Ah, der neue Lehrer“, begann der scheinbar jüngere Priester, dessen wallender Bart fast keine grauen Haare zeigte. Und mit einem witzigen Seitenblick zu Kostas: „Mit unserem alten Griesgram von Kostas gut ausgekommen?“
„Nachdem er seine Medizin erhalten hat, ist er ganz pläsierlich“, antwortete Manos, was Kostas mit einem gespielt ernsten Gesichtsausdruck quittierte.
„Ja, ja, Kostas und seine angebliche Medizin“, mischte sich nun Konstantina mit einem leichten Lächeln auf den Lippen in das Gespräch ein. „Anstatt täglich einen Apfel für seine Gesundheit zu nehmen, was ihm sicherlich auch keine Kopfschmerzen bereiten würde, trinkt er lieber seinen Raki!“
„Meine liebe Prespitera“, Kostas hob schnell seine rechte Hand, „wir Männer könnten noch immer glücklich und zufrieden im Paradies leben, hätten wir der verführerischen Weitergabe des Apfels widerstanden und nicht von ihm gegessen. Du siehst also, dass ich sehr wohl einen triftigen Grund habe, mich so weit wie möglich vom Apfel fernzuhalten. Und soweit ich mich erinnere, steht nichts Negatives über Raki in der Bibel.“
„Oh, der Himmel verschone mich,“ Papa Ioannis lachte hell auf. „Jetzt beginnt der Herr Bürgermeister auch noch die Bibel nach seiner Passion auszulegen. Mir bleibt auch nichts erspart!“
„Da wird jemand bei Papa Ioannis mindestens vier Stunden zur Beichte sitzen müssen“, bemerkte Papa Georgios trocken, was wiederum alle Anwesenden, selbst Kostas, zum Lachen brachte. Dann wendete er sich Manos zu. „Herr Michelakis, wir müssen noch schnell in die Kirche. Haben sie Lust, mit uns zu kommen?“
So etwas brauchte man Manos nicht zweimal zu fragen, denn schon seit seiner Kindheit, und angeregt durch den Großvater, interessierte er sich für die alten Kirchen. Zu einer besseren Zeit hätte er sicherlich Archäologie oder zumindest Geschichte studiert. Aber es waren halt keine guten Zeiten für das ohnehin schon schwer gebeutelte Griechenland. Auf dem Festland tobte ein in seinen Augen sinnloser Bürgerkrieg und das Land versuchte sich von der schrecklichen Besatzungszeit der Deutschen zu erholen. An allen Ecken und Enden war das tägliche Leid deutlich zu sehen, und es schien kein Ende nehmen zu wollen. So war er froh, überhaupt als Lehrer eine Anstellung gefunden zu haben, aber wann immer sich die Gelegenheit bot, eine der alten Kirchen zu besuchen, tat er es auch.
Eingerahmt von den beiden Priestern ging Manos wieder die Hauptstraße entlang, vorbei an dem Kafeneion, dass noch immer gut gefüllt war, zu jener Kirche, die Manos schon bei der Einfahrt in den Ort von außen bewundert hatte.
„Nun, Herr Lehrer“, sprach Papa Georgios Manos an. „Was schätzen sie, wie alt unsere Kirche ist?“
Manos wiegte den Kopf hin und her und ließ kurz seinen Blick über das Bauwerk gleiten. „Wenn ich die angebauten venezianischen Bauelemente weglasse, dann muss diese Kirche mindestens vierhundert Jahre alt sein. Wahrscheinlich ist sie sogar noch älter!“
Anerkennend nickten die beiden Priester. „Sie müssen noch zweihundert Jahre drauflegen“, sagte Papa Georgios stolz, bevor er an die Tür trat und sie mit einem großen Schlüssel öffnete.
Was für eine Ausstattung, was für eine Bemalung an den Wänden und der Decke. Manos konnte sich nicht sattsehen an dem, was sich seinen Augen in dieser von außen so unscheinbaren Kirche bot. Und er musste sich ehrlich eingestehen, noch niemals eine solche Ansammlung von Byzantinischer Kunst gesehen zu haben.
„Wahnsinn!“ rutschte es ihm unwillkürlich heraus, was die beiden Priester mit einem Lächeln beantworteten. Sie verstanden sehr gut, was in dem jungen Mann vor sich ging; nichts anders war auch mit ihnen passiert, als sie zum ersten Mal in diesen Kirchenraum getreten waren.
„Der Maler“, begann Papa Georgios seine Erklärung, ,,kam direkt aus Konstantinopel, etwa um das Jahr vierzehnhundert. Neben dieser Kirche gibt es noch eine weitere in dem zerstörten Dorf Artos, das bei Agios Konstantinos in der Nähe von Roustika liegt, wo es auch das bekannte Kloster Profitis Ilias gibt.“
Manos drehte sich langsam im Kreise, während er seinen Blick über die verschiedenen Wandmalereien schweifen lies. Er hatte zwar vorher schon einige dicke Bücher mit schwarz-weißen Abbildungen in der Athener Universitätsbücherei gesehen, doch niemals in Farbe.
Unvermittelt blieb jedoch sein Blick auf der Ikonostase haften. Verwirrt schaute er die Priester an, denn er fürchtete schon, einem Trugbild zum Opfer gefallen zu sein. Leider nein! Sie hatte keine einzige Ikone, nur die leere Holzkonstruktion stand erhaben vor ihm und trennte den hinteren, den heiligen Bereich ab.
„Wo sind denn die Ikonen?“ fragte er erregt, und gleichzeitig überkam ihm eine Ahnung, was sich hier abgespielt haben musste.
„Das ist die Tragik dieses Ortes“, sagte Papa Georgios, während er sich auf einen Stuhl setzte. „Im Herbst einundvierzig, nachdem die Deutschen die Insel erobert hatten, kamen plötzlich Leute mit Listen in der Hand, angebliche Wissenschaftler und Kunsthistoriker, die die Ikonen einfach entfernten.“
„Warum das denn?“ Manos schüttelte den Kopf. „Die Deutschen sind doch katholisch oder protestantisch, unsere Heiligen sind doch nicht ihre Heiligen!“
„Angeblich, so die Aussage gegenüber meinem leider schon verstorbenen Vorgänger, sind die Leute aus Athen extra hier her gekommen, um die wertvollen Ikonen vor Zerstörungen durch vielleicht aufkommende Kriegshandlungen zu schützen.“ Papa Georgios machte ein kleine Pause, in der man ihm deutlich die Verbitterung ansehen konnte. „Aber die Ikonen kamen nie zurück, als der Krieg aus und die Deutschen abgezogen waren. Und in Athen, wo nachgefragt wurde, hatte auch niemand eine Ahnung, was mit den Kunstwerken geschehen war. Bis heute sind sie verschwunden.“ Papa Georgios senkte den Kopf und machte ein Kreuzzeichen. „Auch das kleine Ortsmuseum, das mein Vorgänger liebevoll gepflegt hat, wurde ein Opfer des gierigen Raubzuges. Ganz gezielt nahmen die deutschen Archäologen die minoischen, griechischen und römischen Artefakte mit.“
„Und nichts von alledem kam zurück?“ In Manos stieg wieder jene leise Wut auf, vor der er eigentlich hierher geflüchtet war. Die Kirche jedoch verhinderte, dass er regelrecht aus der Haut fuhr, und darüber war er auch dankbar.
„Nein, leider”, stellte Papa Ioannis traurig fest. „In meiner Gemeinde haben sie nach dem Raubzug der Deutschen, und nachdem sich die Nachricht darüber schneller verbreitete, als die angeblichen Kunstkenner auftauchen konnten, die wertvollen Ikonen versteckt und durch billige Kopien oder Farbdrucke ersetzt. Sonst wäre unsere Mutter Gottes aus dem sechzehnten Jahrhundert, die im Kloster Preveli gemalt wurde, sicherlich auch verloren gegangen!“
Nun setzte sich auch Manos auf einen der einfach gearbeiteten Holzstühle mit dem Korbgeflecht als Sitzfläche, und versuchte sich vorzustellen, wie der Kirchenraum früher einmal ausgesehen haben könnte.
„Und es gibt keine Fotografien von den Ikonen?“ fragte er schließlich.
„Nein!“ Etwas mürrisch schüttelte Papa Georgios den Kopf und sah Manos traurig an. „Wer hätte denn damit rechnen sollen. Ausgerechnet die Deutschen, die doch für ihre Kunst und Kultur bekannt sind, die uns unsere Geschichte mit ihren Ausgrabungen erst so richtig aufgezeigt haben, sie nahmen sich einfach, was sie für wertvoll hielten. Selbst die Türken haben während ihrer langen Besatzungszeit unsere Kirchen und Klöster bis auf wenige Ausnahmen immer respektiert. Aber die Deutschen waren hinter den Sachen her wie der Teufel hinter den armen Seelen!“
Plötzlich hatte Manos das untrügliche Gefühl, mit einer gewissen Absicht in die Kirche gelockt worden zu sein. Kurz sah er die beiden Priester an.
„Es gibt einen bestimmten Grund, warum sie mir unbedingt die Kirche zeigen wollten. Habe ich recht?“ Ohne den Priestern Zeit für eine Antwort zu lassen, platzte Manos mit seiner Vermutung heraus: „Das hat doch bestimmt mit dem Dorf der Witwen zu tun!“
„Was hat man ihnen über Kalozoia erzählt?“ fragte Papa Ioannis, der sich nun ebenfalls setzte, nachdem er einen Stuhl genau gegenüber von Manos gestellt hatte.
„Eigentlich nur so viel, dass es anscheinend für Lehrer ein schwieriger Ort sei.“
„Nicht nur für Lehrer! Auch für uns Geistliche ist er wirklich nicht einfach.“ Manos bemerkte, dass der Priester bei diesen Worten seine schwarze Gebetsschnur nervös durch die Finger gleiten ließ. Nach einer kleinen Pause begann er mit seinen Ausführungen.
„Das hiesige Gebiet hier war während der Besatzung eine Region des Widerstandes, in der die Andarten immer wieder Aktionen gegen die deutschen Soldaten oder Einrichtungen unternahmen. Mal sprengten sie ein Lager in die Luft, mal kappten sie die Telefonleitungen oder lieferten sich mit den umherstreifenden Patrouillen ein Katz- und Mausspiel, kurzum, sie machten es den Besatzern wirklich schwer.
Dies war allerdings nur möglich, weil fast alle Bewohner der umliegenden Dörfer den Andarten auf verschiedenste Art und Weise halfen. Sie boten den erschöpften Kämpfern Unterschlupf, versorgten sie mit Essen und Kleidung. Die Frauen wuschen und flickten die zerschlissenen Uniformen oder was immer sie trugen. Es wurde Geld gesammelt, damit neben Waffen auch wichtige Medikamente und Verbandszeug angeschafft werden konnten, die dann über versteckte Wege und Pfade zu den Andarten gebracht wurden.
Oben in den Bergen, gut versteckt in einer der vielen Höhlen, gab es eine Funkstation der Engländer, und vor der nahen Küste gingen von Zeit zu Zeit in den versteckten Buchten U-Boote vor Anker, um entweder neue Leute zu bringen, abzuholen, oder Waffen und Funkanlagen zu liefern. Die Hirten und Dorfbewohner dienten als Führer oder Träger und die jungen Burschen, die flink wie die Hasen waren, übernahmen wichtige Botengänge für die verschiedenen Andartengruppen.
Irgendwann hörten die Deutschen damit auf, ständig in der Gegend den Andarten nachzujagen und blieben lieber in ihren gesicherten Stellungen, denn sie mussten einsehen, dass ihnen die Gesuchten immer wieder durch die Lappen gingen. Ohne dass er offiziell verkündet wurde, entstand eine Art Waffenstillstand, an den sich beide Seiten auch im eigenen Interesse hielten.
Eines Tages aber änderte sich die ganze Situation abrupt. Mag sein, dass die Deutschen einen neuen Befehlshaber hatten oder es mit der Entführung dieses Generals Kreipe zusammenhing. Die Besatzer begannen wieder in die Dörfer einzufallen, um nach den Andarten oder versteckten Engländern zu suchen.
Eine deutsche Einheit, die kurz zuvor ein Dorf in der Nähe von Kalozoia durchsucht und geplündert hatte, wurde von den Andarten angegriffen, weil die Deutschen einige der männlichen Bewohner mitgenommen hatten. Bei diesem kurzen und heftigen Gefecht wurden die Geiseln befreit, wobei vier der deutschen Soldaten starben und einige verwundet wurden. Da den Andarten die Munition ausging und man auch die Befreiten sicher nach Hause bringen wollte, zogen sie sich rasch in die Berge zurück. Manche Leute sagen noch heute, wenn die Andarten mehr Munition gehabt hätten, hätte kein Deutscher diesen Tag überlebt.“
Papa Ioannis machte eine kleine Pause, wollte, dass sich seine Worte bei Manos festsetzen konnten. Während der Erzählung des Priesters hatte sich Manos von Zeit zu Zeit an die linke Schulter gegriffen und dabei sein Gesicht verzogen, was dem Priester ziemlich merkwürdig vorkam. Doch wollte er jetzt nicht nachfragen, sondern setzte seinen Bericht fort.
„Es kam, wie es leider kommen musste.” Papa Ioannis schlug das Kreuzzeichen über seiner Brust. „Nur zwei Tage später umstellten die Deutschen in den frühen Morgenstunden das gesamte Dorf. Die Leute fühlten sich eigentlich sicher, denn keiner der Bewohner war aktiv bei den Andarten, und so konnte keiner von ihnen verstehen, was dann geschah.
Wie die Hunnen stürmten die Soldaten in die Häuser, trieben alle männlichen Bewohner über fünfzehn Jahre auf dem Dorfplatz zusammen und führten jene, die gehen konnten, ab. Diejenigen Alten aber, die bettlägerig waren oder in den Augen der Deutschen nicht fähig, mit den Abgeführten Schritt zu halten, wurden in den Häusern erschossen oder mit dem Bajonett niedergemacht. In zwei Häusern verbrannten alte Männer in ihren Betten, weil die Deutschen ohne jede Rücksicht Feuer gelegt hatten.
Die Frauen und Kinder, die Jugendlichen, die das Glück hatten, noch zu jung zu sein, jagte man aus den Häusern und erklärte ihnen, dass es verboten sei, den Ort wieder zu betreten. Dann begannen die Deutschen, das Dorf gründlich zu plündern. Auf bereitgestellten Fuhrwerken transportierten sie ihre Beute ab. Hirten aus einem anderen Dorf mussten die Schafe und Ziegenherden zum Standort der Deutschen treiben. Zum Abschluss ihrer Aktion setzten die Soldaten das Dorf in Brand, dem dann viele Häuser zum Opfer fielen.
Noch hatten die Frauen die vage Hoffnung, dass ihre Männer, Väter und Söhne zur Zwangsarbeit in das entfernte Iraklion gebracht würden, doch schon bald wurde ihnen bewusst, dass die Männer spurlos verschwunden waren. Sie begannen in der Umgebung zu suchen. Vier Tage später und einige Kilometer entfernt wurden die Leichen der Vermissten in einem abgelegenen Seitental entdeckt.“
Wieder legte Papa Ioannis eine Pause ein, bekreuzigte sich erneut und sprach lautlos ein kleines Gebet. Dabei blickte er zu Manos, um dessen Reaktion zu sehen. Doch der Lehrer saß mit eisigem Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl und rieb sich wieder die linke Schulter, genauer gesagt das Schlüsselbein. Papa Georgios war aufgestanden und zündete eine der Kerzen an, die in einem der großen messingfarbenen Ständer steckte.
„Nachdem sie den damaligen Priester geholt hatten, begannen die Frauen sofort damit, die Männer, die teilweise schon von Geiern und wilden Hunden schrecklich entstellt worden waren, so zu begraben, wie sie die Leichen gefunden hatten.“
Manos nickte nur und hielt die Augen geschlossen. Er atmete einmal kräftig aus, sonst war ihm keine Reaktion anzumerken. Ganz im Gegensatz zu den anderen Lehrern vor ihm, unterbrach er nicht die Ausführungen des Priesters, was diesen nun doch überraschte.
„Die Frauen fingen damit an, an der Fundstelle der Ermordeten einen Friedhof mit einer Kirche zu errichten. Und damit kommen wir zu einem Problem, mit dem sich der Lehrer herumschlagen muss. Neben der Arbeit an den abgebrannten und teilweise zerstörten Häusern, den notdürftig zusammen gezimmerten Hütten, neben der Arbeit auf den Feldern und in den Olivenhainen laufen die Frauen ständig auf den Friedhof und nehmen dazu auch noch ihre Kinder mit. Selbst die Kleinsten lassen sie nicht zu Hause, was natürlich einen ordentlichen Unterricht nicht mehr zulässt.“
„Verstehe“, kam es kurz von Manos, aber auch nicht mehr. Doch deutlich war ihm anzusehen, dass irgendetwas in ihm arbeitete, denn mehrmals zog er die Stirn in Falten. Schließlich blickte er Papa Ioannis sehr ernst an. „Und eine Frau mit dem Namen Marianna ist sozusagen die treibende Kraft hinter allem?“
„Oh”, Papa Ioannis war sichtlich überrascht. „Sie haben also schon von ihr gehört?“
„Ja, im Kafeneion.“ Manos verzog leicht die Mundwinkel. „Und wenn ich ehrlich bin, dann wurde sie mir als regelrechter Dorfdrachen beschrieben.“
„So würde ich das nicht sagen!“ Papa Ioannis suchte nach den richtigen Worten. „Zugegeben, sie ist sehr schwierig und es ist wahrlich schwer, mit ihr zurecht zu kommen, doch andererseits muss man sie auch verstehen! Sie hat neben dem Mann ihre beiden Söhne und den ältesten Enkel verloren.“
„Das gibt ihr allerdings noch lange nicht das Recht, bestimmen zu wollen, was im Ort geschieht“, mischte sich nun Papa Georgios ein, während er wieder auf seinen Stuhl Platz nahm. „Papa Ioannis, sei ehrlich, sie greift sogar dich und die Kirche an und meckert an Konstantina herum, wenn sie sich erdreistet, etwas anderes als Schwarz zu tragen.“ Und mit einem Blick zu Manos: „Selbst die Schuluniform ist ihr zu hell und sollte, wenn es nach ihr gehen würde, in tiefstem Schwarz eingefärbt werden.“
Manos produzierte ein schiefes Lächeln auf sein Gesicht, das seinen Unmut über das Gehörte ausdrücken sollte und gleichzeitig die Priester hoffen ließ, dass der neue Lehrer nicht so leicht zu beeindrucken war. Kurz blickten sich die beiden Geistlichen an und Papa Georgios nickte leicht.
„So genug der Vorinformationen!“ Papa Georgios klopfte sich leicht auf die Oberschenkel. „Ich glaube, wir sollten nun zu unseren Frauen gehen, denn wie ich sie kenne, warten sie schon ungeduldig mit dem Essen auf uns.“ Ein kurzes Augenzwinkern folgte. „Und wir wollen doch dem immer hungrigen Kostas nicht die besten Stücke überlassen.“
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Nach einer ausgiebigen Mahlzeit, die all jene kretischen Spezialitäten bot, die Manos auch in der Küche seiner Großmutter kennengelernt hatte, machte man sich mit zwei Pferdefuhrwerken auf den weiteren Weg. Papa Georgios und seine Frau nutzten die Gelegenheit, um mit einem Ikonenmaler, der in Kostas Dorf lebte, in Verbindung zu treten, damit endlich die fehlenden Ikonen im Kirchenraum ersetzt werden konnten. Zwar wusste der Priester von Kostas, dass der Maler zur Zeit sehr viele Aufträge zu erledigen hatte, doch Papa Georgios meinte, dass die Hoffnung immer zuletzt sterbe.
Manos vermutete jedoch noch einen weiteren Grund für die gesellige Fahrt, da die beiden Priester ausgiebig darüber sprachen, dieser Marianna einmal ordentlich die Leviten zu lesen; denn in ihren Augen war es ja diese Frau, die bislang jeden Lehrer mit ihrer unangenehmen Art regelrecht aus dem Dorf getrieben hatte. Und das, so Papa Georgios, könne ja wohl nicht angehen.
Die Route führte über eine Bergstraße, von der man immer wieder einen faszinierenden Blick auf das tiefblau schimmernde Libysche Meer werfen konnte. Dann ging es wieder durch enge Täler, die so karg und schroff waren, dass dort nur wenige Pflanzen einen Halt zum Wachsen fanden. Manos, der alles aufmerksam in sich aufnahm, fand Gefallen an dieser Natur, die so anders war als das, was er bislang gesehen hatte. Selbst diese abweisende Landschaft barg für ihn eine seltsame Schönheit in sich, die einem anderen Betrachter vielleicht verschlossen blieb.
Die Männer ließen die Zugpferde bewusst im Schritttempo gehen. So bekam Konstantina genügend Zeit, Manos die wild am Straßenrand wachsenden Pflanzen und Kräuter zu erklären. Sie wies ihn besonders auf jene hin, die man als Medizin oder Tee verwendete. Sie wusste auch die Namen jeder Gewürzpflanze, die in schmackhaften Speisen zum Einsatz kam. Manos erkannte schnell, dass er es mit einer ausgemachten Expertin zu tun hatte.
Papa Ioannis war derjenige, der sich in der Fauna, der Tierwelt, auskannte. Oft deutete er in den Himmel, folgte dem Flug eines Vogels, betrachtete dessen Flügelform, und schon waren Falken, Bussarde, Geier, ja sogar einmal ein Adler am Himmel auszumachen. Einmal überkam den Priester regelrechte Begeisterung, als sich in einem der steilen Felshänge ein Krikri, ein kretischer Steinbock, mit mächtigem Gehörn zeigte. Auch Manos war fasziniert, denn noch nie, nicht einmal im Zoo, hatte er dieses Tier zu Gesicht bekommen.
Kostas allerdings fluchte und schimpfte vor sich hin, denn es ärgerte ihn, kein Gewehr mitgenommen zu haben. Zu gerne hätte er einen der vielen Hasen, eine wilde Ziege oder, wie er bissig meinte, diesen Krikri jagen wollen, der ihm in seiner Sammlung noch fehlen würde.
Konstantina verpasste ihm einen ordentlichen Rüffel, denn sie war entschieden dagegen, dass diese Steinböcke noch immer gejagt wurden, wo es doch von dieser Art kaum noch welche auf der Insel gab.
Grimmig verzog Kostas das Gesicht, zog es jedoch vor zu schweigen. Denn er wusste zu genau, dass die resolute Frau des Priesters in diesen Dingen so gar nicht mit sich reden ließ. Punkt, aus, basta lautete ihre Devise.
Der leichte, vom Meer her aufgekommene Wind machte die Fahrt angenehm und Manos genoss die Landschaft, saugte sie innerlich auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Nun verstand er auch, warum seine Großmutter immer so schwermütig davon sprach, dass Kreta für sie ein Paradies, eine Insel der besonderen Art sei. Sie lasse einen, der einmal dort gewesen sei, nie wieder los. Jetzt, auf dieser beschaulichen Fahrt konnte er die Großmutter, die oft unter Heimweh gelitten hatte, erst vollkommen verstehen.
Nachdem sie einen steilen Hügel umfahren hatten, zeigte sich plötzlich eine Ortschaft, die am Berghang zu kleben schien. Kostas blieb einige Momente auf der Kuppe stehen. Er blickte zu Manos nach hinten, der es sich zusammen mit Konstantina auf der Ladefläche des Pferdefuhrwerks gemütlich gemacht hatte.
„Willkommen in meinem geliebten Dorf Agios Georgios”, rief der alte Mann stolz und wies mit einer Hand auf den Ort.
„Ich bin mir fast sicher”, Manos zwinkerte in Richtung Konstantina, „dass es nun wieder an der Zeit ist, dass unser ärmster Kostas seine Medizin einnehmen muss!“ „Das fürchte ich auch”, antwortete sie und warf Kostas einen belustigten Blick zu.
Kostas schaute jedoch wieder schnell nach vorne und antwortete mit einem leichten Zügelschlag, damit die Pferde sich wieder in Bewegung setzten. Papa Ioannis schaute lächelnd zu den beiden anderen zurück, denn er mochte jetzt schon die Art des jungen Lehrers, der so gar nicht auf den Mund gefallen war. Inständig hoffte er für die vielen Kinder, die sich in Kalozoia befanden, dass dieser junge Mann sich von Marianna nicht den Schneid abkaufen lassen würde.
Papa Ioannis wusste von seinem Vorgänger, der zusammen mit seiner Frau in der kleinen Dorfschule den Unterricht abgehalten hatte. Doch leider war auch er unter den Opfern der brutalen Erschießung durch die Deutschen gewesen, und seine Frau war aufs Festland zu ihrer ältesten Tochter gezogen, sobald dies wieder möglich gewesen war. Sie war nicht von hier und fühlte sich nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr wohl auf der Insel.
Über zwei Jahre hatte es im Dorf nach dem tragischen Geschehen keinen ordentlichen Unterricht mehr gegeben. Und als er und seine Frau, damals noch ohne ihre vier Kinder, als Pfarrerehepaar in den Ort zogen, versuchten sie so gut es ihnen möglich war, den Kindern, die noch nicht lesen und schreiben konnten, die Grundbegriffe beizubringen. Doch auch als ihre eigenen Kinder nach einigen Monaten endlich in den Ort nachkamen, gab es immer wieder Tage, gerade im Frühsommer, an denen der Unterricht zu einer reinen Familienangelegenheit wurde, weil alle anderen Dorfkinder nicht in der Schule erschienen.
Entweder arbeiteten die Kinder auf den Feldern, bei den Schafen und Ziegen, oder aber, was Papa Ioannis mit großer Sorge zur Kenntnis nahm, auf dem einige Kilometer entfernten Friedhof, wo sie zusammen mit ihren Müttern beim Bau der Kirche oder der Umfassungsmauer mithelfen mussten. Den Frauen erschien dies alles wichtiger als die schulische Ausbildung der Kinder, was der Priester einfach nicht verstehen konnte.
Mit dem ersten Lehrer kamen auch einige Maurer vom Festland in den Ort, die beim Wiederaufbau helfen sollten. Doch von diesem Moment an tauchten andere Probleme auf, mit denen weder Papa Ioannis noch Kostas, der bereits als Bürgermeister eingesetzt war, gerechnet hatten.
Aber das wollte er dem jungen Lehrer zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen. Papa Ioannis war erst einmal froh, dass sich einer gefunden hatte, der zu seinem Dorf geschickt werden konnte. Und der erste Eindruck gefiel ihm, ließ eine gewisse Hoffnung wieder aufkommen, die er fast schon verloren hatte.
Wie kann es anders sein, dachte sich Manos, Kostas hält wieder vor einem Kafeneion. Er verdrehte die Augen, was Konstantina mit einem kleinen Lachen quittierte.
„Das ist sein eigenes Lokal“, sagte sie schnell, bevor Manos vielleicht dem alten Mann, der erstaunlich flink vom Wagen sprang, einen Kommentar an den Kopf werfen konnte.
Ein junger Bursche mit blonden Haaren sprang rasch heran, hielt die beiden Pferde fest, bis alle abgestiegen waren und führte das Gespann hinter das Haus. Nach kaum einer Minute stieß er zu den anderen, die Neugierde war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Manos“, der Junge war neben Kostas getreten, der seine Hand auf dessen Schulter legte. „Das ist mein Enkel Stavros, er wird dir gleich dein Zimmer zeigen und dein Gepäck hochbringen.“
Verwundert blickte Manos in die Runde, bevor er antwortete: „Wie? Ich schlafe hier und nicht in Kalozoia? Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“
Sofort merkte man Kostas an, dass es etwas gab, was auch ihm ganz und gar nicht gefallen wollte. „Die Lehrerwohnung ist immer noch nicht ganz fertig.“ Er druckste herum, sah zu Papa Ioannis, der sich jedoch aus dem Gespräch heraushalten wollte. Es sah fast schon witzig aus, wie Kostas sein Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte und dabei eine seltsame Miene zog. „Es gab da gewisse Schwierigkeiten mit dem Baumaterial!“
„Sag`s doch wie es ist“, warf Papa Ioannis leicht erregt ein: „Der feine Herr Bauunternehmer aus Athen hat sich mal wieder das ganze Baumaterial unter den Nagel gerissen. Der will es einfach nicht einsehen, dass die Leute ihr Dorf hier und nicht an einer anderen Stelle wieder aufbauen wollen. Da kann er noch so viele auf dem Reißbrett entwickelte Häuser hinstellen.“
Manos verstand kein Wort von all dem, was da gerade an sein Ohr drang, doch bemerkte er am Gesichtsausdruck des Priesters, dass hier etwas ablief, was dessen Missfallen erregte. Unwillkürlich kratze er sich am Kinn.
„Können wir das vielleicht drinnen besprechen,“ sagte Kostas fast schon verzweifelt, denn einige Köpfe der Leute, die an den Tischen vor dem Kafeneion saßen, drehten sich bereits in ihre Richtung. Und ohne auf eine entsprechende Antwort des Priesters zu warten, verschwand der alte Mann im Inneren des Lokals.
„Lasst euch erst das Zimmer zeigen“, sagte Konstantina, während Papa Ioannis und Papa Georgios, der in der Zwischenzeit hinzu getreten war, in dem Lokal verschwanden. „Wenn Papa Ioannis und Kostas loslegen, dann ist es besser, nicht in ihrer unmittelbaren Nähe zu sein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Der alte Kostas ist ein herzensguter Mensch, aber wenn ihm etwas gegen den Strich geht, dann ist er wie ein alter Maulesel, genauso stur und dickköpfig!“
„Verstehe”, antwortete Manos und lächelte Stavros an, der noch immer wie ein begossener Pudel an der gleichen Stelle stand. Sofort strahlte der Junge zurück und mit einer Handbewegung forderte er Manos auf, ihm zu folgen.
„Sie sind der neue Lehrer?“ fragte Stavros, als sie hinter dem Haus eine steinerne Treppe zu einen Anbau des Kafeneion hoch stiegen.
„Ja“, antwortete Manos. „Und du? Gehst du noch zur Schule?“
Stavros blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. „Oh ja!“ breit grinste er Manos an. „Ich will ja auch studieren. Und nächstes Jahr, wenn ich alle Prüfungen schaffe, dann kann ich hoffentlich auf das Gymnasium gehen.“
Manos nickte zufrieden und folgte dem Jungen, der schnell eine Tür öffnete, jedoch nicht in das Zimmer trat, sondern erneut Manos mit einem breiten Lächeln ansah. „Das ist ihr Zimmer. Mama meinte, es habe die beste Aussicht auf den Ort und die umliegenden Berge.“
Manos nickte kurz, trat ein, drehte sich einmal um die eigene Achse und war überrascht, mit welcher Liebe dieses Zimmer eingerichtet war. Sofort erkannte er, dass eine Frau bestimmte, wo welcher Einrichtungsgegenstand seinen Platz hatte. Unwillkürlich dachte er dabei an seine Mutter und ihre Leidenschaft, ständig die elterliche Wohnung neu zu gestalten.
Als Manos, nachdem er seine Reisetasche ausgepackt hatte, wenig später in den Gastraum zurückkehrte, war er ziemlich überrascht, neben den beiden ihm bereits bekannten Priestern noch einen dritten sitzen zu sehen. An einem großen runden Tisch befanden sie sich zusammen mit Kostas mitten in einer heftigen Diskussion. Eigentlich wollte sich Manos an einen anderen Tisch setzen, doch Papa Georgios gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er bei ihnen Platz nehmen sollte. Etwas zögerlich folgte er der Aufforderung.
„Das ist Papa Polichronos“, begann Papa Ioannis den anderen Priester vorzustellen. „Er ist der arme Pfarrer dieses Ortes.“ Bei den letzten Worten warf er einen amüsierten Blick in Richtung Kostas, der aber wie gewohnt so tat, als habe er nichts verstanden.
Papa Polichronos erhob sich und Manos, selbst nicht gerade klein von Statur, musste zu dem Priester leicht nach oben blicken. Er wirkte auf ihn mehr wie ein Herkules, denn wie ein Geistlicher. Auch der Händedruck, den er erhielt, hatte es in sich, so dass er sich die Frage stellte, was einen solchen Hünen wohl bewogen hatte, in den Priesterstand einzutreten. Doch solche Fragen, sagte er sich rasch, sind Fragen, die man nicht laut stellt.
„Herzlich willkommen.“ Tief und sonor war die Stimme des Geistlichen und passte so richtig zu dem großen Mann. „Sie sind also der neue Löwenbändiger?“
„Kann man so sagen“, antwortete Manos lächelnd. „Nur habe ich leider meine Peitsche vergessen. Doch bin ich mir sicher, dass ich im Pferdestall von Kostas etwas Passendes finden werde.“
„Papa Ioannis, ihr habt Recht. Dieser Lehrer ist wahrlich nicht auf den Mund gefallen.“ Dann blickte Polichronos direkt in Manos' Augen: „Frauen ohne Männer, Mütter ohne Söhne und Kinder ohne Väter, dass ist es, was auf sie zukommt. Wird sicherlich nicht leicht, nach all dem, was in dem Dorf geschehen ist.“
„Papa Ioannis und Papa Georgios waren so frei, und haben mir schon so manches erklärt.“
„Ich war damals schon als Priester hier in dieser Gemeinde und ich erinnere mich noch immer mit Schrecken daran, wie einige Frauen auf der Suche nach ihren Männern im Dorf erschienen sind!“ Papa Polichronos setzte sich,