Das dreizehnte Opfer - Stuart MacBride - E-Book
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Das dreizehnte Opfer E-Book

Stuart MacBride

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Beschreibung

Der Nummer-1-Bestseller aus Großbritannien

Die Zeitungen nennen ihn den „Gratulator“. Er kidnappt Mädchen kurz vor deren dreizehntem Geburtstag und schickt den Eltern jedes Jahr ein Foto seines Opfers. Fotos, auf denen der grausame Mord an den Entführten Bild um Bild festgehalten ist. Bis mit dem letzten Foto auch jede Hoffnung stirbt. Vor fünf Jahren verschwand auch die Tochter von Detective Constable Ash Henderson. Alle glauben, Rebecca sei von zu Hause fortgelaufen, denn Henderson hat niemandem erzählt, dass er ein Jahr nach ihrem Verschwinden die erste Postkarte erhielt. Man hätte ihn sofort von dem Fall abgezogen. Doch Henderson hat zu viel geopfert, um Rebeccas Mörder zu finden. Nun, zwölf Jahre nach der ersten Entführung, scheint er ihm so nahe zu sein wie nie zuvor. Und doch nicht nahe genug ...

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Buch

Die Zeitungen nennen ihn den »Gratulator«. Er kidnappt Mädchen kurz vor deren dreizehntem Geburtstag und schickt den Eltern jedes Jahr ein Foto seines Opfers. Fotos, auf denen der grausame Mord an den Entführten Bild um Bild festgehalten ist. Bis mit dem letzten Foto auch jede Hoffnung stirbt. Vor fünf Jahren verschwand auch die Tochter von Detective Constable Ash Henderson. Alle glauben, Rebecca sei von zu Hause fortgelaufen, denn Henderson hat niemandem erzählt, dass er ein Jahr nach ihrem Verschwinden die erste Postkarte erhielt. Man hätte ihn sofort von dem Fall abgezogen. Doch Henderson hat zu viel geopfert, um Rebeccas Mörder zu finden. Nun, zwölf Jahre nach der ersten Entführung, scheint er ihm so nahe zu sein wie nie zuvor. Und doch nicht nahe genug …

Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Stuart MacBride________________________________________

Das dreizehnte Opfer

Thriller

Aus dem Englischenvon Andreas Jäger

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel»Birthdays for the Dead«bei HarperCollinsPublishers, LondonAbdruck einiger Zeilen aus »Da Song o’ da Papa Men« von T. A. Robertson © 2009 erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Shetland Museum and Archives

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Januar 2014

Copyright © der Originalausgabe

2012 by Stuart MacBride

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: getty images / Photodisc / Joseph Clar; FinePic®, München

Redaktion: Eva Wagner

AB · Herstellung: Str

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-10434-4

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Jane

Bitte …

1

Ein greller Blitz, wie eine Explosion in ihrem Kopf. Messerstiche in ihren Augen, Glassplitter im Gehirn. Und dann Dunkelheit. Sie wirft sich auf dem Stuhl nach hinten; das Holz knarrt unter ihr.

Sie blinzelt. Einmal, zweimal. Ein heißes, orangeblaues Glühen an der Innenseite ihrer Augenlider. Tränen rollen ihr über die schmutzigen Wangen.

Bitte …

Zitternd zieht sie Luft und Rotz durch die Nase ein. Es riecht nach Erde und Staub, dazu der bittere Zwiebelgestank von Schweiß und ein Hauch von Pisse – wie damals, als die Maus sich hinter den Herd verirrt hatte und dort gestorben war. Ein kleiner pelziger Körper, versteckt im Dunkeln, wo er langsam vor sich hin schimmelte und gammelte, stinkend wie eine verdorbene Wurst, die jedes Mal, wenn sie den Herd einschalteten, aufs Neue gegrillt wurde.

Bitte … Ihr Mund formt das Wort hinter dem Knebel aus Klebeband, aber es kommt nur ein gedämpftes Stöhnen heraus. Ihre Schultern tun weh – die Arme sind hinter dem Rücken verdreht, und ihre Hand- und Fußgelenke brennen von den Kabelbindern, die sie an den harten Holzstuhl fesseln.

Sie wirft den Kopf in den Nacken und blickt blinzelnd zur Decke hinauf. Langsam bekommt der Raum wieder Konturen: nackte Holzbalken, fast schwarz verfärbt; Spinnweben; eine Neonröhre, die summt wie eine Wespe unter einem Wassserglas. Die Wände mit hässlichen Flecken verschmiert. Eine riesige Kamera auf einem Stativ.

Dann die Stimme. Er singt »Happy birthday to you«, aber ganz stockend und unsicher, als ob er Angst hätte, sich zu verhaspeln.

Das ist doch verrückt. Total bescheuert ist das. Sie hat ja noch gar nicht Geburtstag; erst in vier Tagen …

Wieder ein flatternder Atemzug.

Das passiert doch nicht wirklich. Das muss ein Irrtum sein.

Sie blinzelt die Tränen weg und starrt in die Ecke. Er kommt jetzt zum großen Finale, hält den Kopf gesenkt, während er den Text murmelt. Nur dass es gar nicht ihr Name ist, den er singt, sondern ein ganz anderer: Andrea.

Oh, Gott sei Dank.

Er wird es doch irgendwann merken, oder? Dass es ein Irrtum ist. Sie sollte gar nicht hier sein: Andrea sollte hier sein. Andrea ist diejenige, die an diesen Stuhl gefesselt sein sollte, hier in diesem versifften kleinen Zimmer voller Dreck und Spinnen und dem Gestank nach sterbenden Mäusen. Er wird es verstehen.

Sie versucht es ihm zu sagen, aber der Knebel verwandelt alles in ein unverständliches Gebrummel.

Sie ist nicht Andrea.

Sie sollte nicht hier sein.

Er stellt sich wieder hinter die Kamera, räuspert sich ein paarmal, holt tief Luft und leckt sich die Lippen. Er klingt wie ein Moderator vom Kinderfernsehen: »Sag ›Cheese‹!« Wieder ein Blitz, der ihre Augen mit glühenden weißen Pünktchen füllt.

Es ist ein Irrtum. Das muss er doch sehen – er hat das falsche Mädchen erwischt, er muss sie gehen lassen.

Sie blinzelt. Bitte. Das ist nicht fair.

Er tritt hinter der Kamera hervor und reibt sich die Augen. Starrt eine Weile auf seine Schuhe hinunter. Wieder ein tiefer Atemzug. »Geschenke für das Geburtstagskind!« Er knallt einen ramponierten alten Werkzeugkasten auf den wackligen Holztisch neben ihrem Stuhl. Der Tisch ist mit braunen Spritzern übersät. Als ob jemand vor Jahren Johannisbeersaft verschüttet hätte.

Es ist aber kein Johannisbeersaft.

Sie presst die Lippen hinter dem Knebel zusammen, ein Tränenschleier lässt das Zimmer verschwimmen. Der Atem stockt ihr in der Kehle, verwandelt alles in kurze, abgehackte, zittrige Schluchzer.

Sie ist nicht Andrea. Es ist alles ein Irrtum.

»Ich habe …« Eine Pause; er tritt von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe etwas ganz Besonderes … nur für dich, Andrea.« Er öffnet den Werkzeugkasten und nimmt eine Zange heraus. Die rostigen Backen glänzen im schwachen Licht.

Er sieht sie nicht an. Zieht die Schultern hoch, bläht die Wangen auf, als ob er kotzen müsste, reibt sich mit dem Handrücken über den Mund. Setzt noch einmal dieses angedeutete Lächeln auf. »Bist du bereit?«

Manchmal ist es besser, etwas nicht zu wissen

Montag, 14. November

2

Oldcastle FM plärrte aus dem Radio, das auf der Arbeitsplatte in der Küche stand.

»… wow, das ging so richtig ab, was? Es ist acht Uhr fünfundzwanzig, und Sie hören Sensational Steves fetziges Frühstücks-Quiz!« Ein schrilles Trööööt, wie von einer altmodischen Autohupe.

Ich zählte fünfunddreißig Pfund in Zehnern und Fünfern ab und legte die Scheine auf das Erinnerungsschreiben der Post, dann kramte ich in meiner Hosentasche und glich die Differenz zum Rechnungsbetrag mit Münzen aus. Vierzig Pfund und fünfundachtzig Pence. Genug, um Rebeccas Post für ein weiteres Jahr an mein Postfach weiterleiten zu lassen.

Die Ausbeute dieser Woche bestand aus einem Modekatalog von Next, drei Bettelbriefen von Wohltätigkeitsorganisationen und einem Schreiben von der Royal Bank, die ihr eine Kreditkarte andrehen wollte. Ich versenkte alles im Papierkorb. Alles bis auf die Geburtstagskarte.

Ein schlichter weißer Umschlag, ordnungsgemäß frankiert und mit einem Adressaufkleber versehen:

Rebecca Henderson19 Rowan DriveBlackwall HillOldcastleOC15 3BZ

Die Adresse war mit einer Schreibmaschine getippt, kein Laserausdruck; die Buchstaben ins Papier gehämmert, das »e« ein wenig nach oben verrutscht. Genau wie bei allen anderen.

Der Dampf aus dem brodelnden Wasserkocher erfüllte die Küche.

Ich ging mit einem Geschirrtuch zum Fenster und wischte ein Guckloch in die beschlagene Scheibe. Die herablaufenden Tropfen sammelten sich auf dem schimmelgeschwärzten Holzrahmen.

Der Garten war ein Gewirr aus fransigen Silhouetten, die Sonne ein verschmierter Feuerball, der Kingsmeath in Gold und Schatten tauchte. Grau verputzte städtische Arbeiterhäuser, die Dachpfannen mit einem Ausschlag aus Flechten überzogen; die glänzenden Schieferdächer der Wohnblocks; eine Grundschule mit Maschendrahtzaun drumherum – ein gedrungener, abweisender Klotz, die Fenster erleuchtet.

»Haha! Okay, zurück zu unserem kleinen Kuckucksnest-Quiz. Also: Christine Murphy glaubt, die Antwort lautet ›Akute polymorphe psychotische Störung‹.« Ein elektronisches Quaken. »Hmm, sieht aus, als hätten die Stimmen in Ihrem Kopf danebengelegen, Christine. Na, vielleicht klappt’s beim nächsten Mal.«

Die Zigarrenkiste war rau unter meinen Fingerspitzen. Etwas größer als eine altmodische Videokassette, dekoriert von einem Kind, das gerade alt genug war, um mit einer stumpfen Schere und Kleber hantieren zu dürfen. Die meisten Pailletten waren schon vor Jahren abgefallen, und der Glitter erinnerte inzwischen eher an Splitt als an irgendetwas sonst, aber es war der gute Wille, der zählte. Genau die richtige Größe zum Aufbewahren von selbst gemachten Geburtstagskarten.

Ich hob den Deckel an. Der holzige Duft nach alten Zigarren kämpfte gegen den Schimmelmief der Küche und die undefinierbaren Gerüche aus dem Abfluss an.

Ganz oben auf dem Stapel lag die Karte von letztem Jahr: »HAPPYBIRTHDAY!!!« stand da, quer über ein Polaroidfoto gekrakelt – ein quadratisches Bild in einem weißen Plastik-Rechteck. Das Ding war eine echte Antiquität – Polaroid stellte die Filme schon gar nicht mehr her. In der oberen linken Ecke war die Ziffer 4 eingeritzt.

Ich griff nach dem neuesten Umschlag, schob die Klinge eines Küchenmessers unter die Lasche, schlitzte ihn am Falz entlang auf und zog den Inhalt heraus. Ein Schwall dunkler Schuppen regnete auf die Arbeitsplatte herab – das war neu. Sie rochen nach Rost. Ein paar landeten auf dem Saum des Geschirrtuchs und verwandelten sich in winzige rote Tupfer, als sie von dem feuchten Stoff aufgesogen wurden.

O Gott …

Das diesjährige Foto war auf eine einfache weiße Karte aufgeklebt. Mein kleines Mädchen. Rebecca. In irgendeinem Keller an einen Stuhl gefesselt. Sie war … Er hatte ihr die Kleider weggenommen.

Ich schloss einen Moment lang die Augen. Meine Knöchel schmerzten, und ich biss die Zähne so fest zusammen, dass es in meinen Ohren rauschte. Du Schwein. Du verdammtes, dreckiges Schwein.

»Bleiben Sie dran, liebe Hörer, denn gleich nach den Nachrichten haben wir noch einen köst-li-chen Scherzanruf für Sie, aber vorher noch ein Golden Oldie: Tammy Wynette mit ihrer Betonfrisur und ihrem Hit ›Stand by Your Man‹. Guter Rat übrigens, meine Damen.« Wieder die schrille Hupe.

Rebeccas blasse Haut war blutverschmiert, voller Schnittwunden und Brandmale und Blutergüsse; die Augen weit aufgerissen, schrie sie hinter einem Knebel aus Klebeband. Die Ziffer 5 war in die Ecke des Fotos geritzt.

Fünf Jahre, seit sie verschwunden war. Fünf Jahre, seit das Schwein sie zu Tode gefoltert und seine Tat mit Fotos belegt hatte. Fünf Geburtstagskarten, jede schlimmer als die zuvor.

Der Toast sprang heraus, und der Geruch von verbranntem Brot breitete sich in der Küche aus.

Tief durchatmen. Tief durchatmen.

Ich legte Karte Nummer fünf in die Kiste, oben auf die anderen. Und schloss den Deckel.

Du Schwein …

Heute wäre sie achtzehn geworden.

Ich stellte mich an die Spüle und kratzte das Schwarze von den Toastscheiben ab, während Tammy langsam in Schwung kam. Die Butter verfärbte sich gelblich grau, als ich sie mit demselben Messer aufs Brot strich. Zwei Scheiben Plastikkäse aus dem Kühlschrank, runtergespült mit Milchtee und zwei Entzündungshemmern. Ich kaute und versuchte dabei, die zwei lockeren Zähne oben links zu schonen. Die Haut an der geschwollenen Wange war wund und spannte. Finster starrte ich durch das Stückchen Fensterscheibe, das ich gerade saubergewischt hatte.

Lichtflecken tanzten auf dem King’s River – die Sonne war endlich hinter den Bergen hervorgekommen und verwandelte Oldcastle in ein Flickenmuster aus Blau- und Orangetönen. Im Mittelgrund erhob sich Castle Hill über der Stadt, eine breite Granitzunge mit einer schroffen Felskante auf der einen Seite und steilen, gewundenen Gässchen mit Kopfsteinpflaster auf der anderen. Viktorianische Sandsteinhäuser, die Farbe im Licht der Morgensonne wie getrocknetes Blut. Die verfallenen Festungsmauern der Burg ganz hoch auf dem Hügel erinnerten an abgebrochene Zähne.

So war das, wenn man hier wohnte – man konnte jeden Morgen aufstehen und über die baufälligen Betonkästen seiner schäbigen Sozialsiedlung hinweg bis zu den schmucken Vierteln von Oldcastle hinüberschauen. Und so bekam man es Tag für Tag unter die Nase gerieben – auch wenn du noch so lange zu den besseren Wohnlagen rüberstarrst, du sitzt immer noch in diesem verdammten Kingsmeath fest.

Achtzehn wäre sie geworden.

Ich breitete das Geschirrtuch auf der Arbeitsplatte aus und nahm den Plastikbehälter mit den Eiswürfeln aus dem Gefrierfach. Biss die Zähne zusammen und bog das Ding, bis das Eis knackte und knirschte – ein besserer Soundtrack zu meinen schmerzenden Fingern als die olle Tammy Wynette.

Die Eiswürfel kullerten auf das Geschirrtuch. Ich faltete es zu einer Art Keule zusammen, mit der ich ein paarmal auf die Arbeitsplatte eindrosch. Dann fischte ich einen gebrauchten Teebeutel aus der Spüle, hängte ihn in einen sauberen Becher und goss ihn auf. Ich gab vier Stück Zucker und einen Schuss Milch dazu, klemmte die Zigarrenkiste unter den Arm und nahm alles mit ins Wohnzimmer.

Die Gestalt auf der Couch hatte sich unter einem offenen Schlafsack zusammengekauert. Ich riss die Vorhänge auf.

»Na los, du fauler Sack, raus aus den Federn!«

Parker stöhnte. Sein Gesicht sah schlimm aus: die Augenpartie geschwollen und lila verfärbt; eine Nase, die nie wieder gerade sein würde; aufgesprungene Lippen; ein riesiges Hämatom auf der Wange. In der Nacht hatte er geblutet, auf dem Schlafsack waren Flecken. »Mmmmmmmmmnnnfff …«

Ein Auge ging auf. Der Teil, der eigentlich weiß sein sollte, war leuchtend rot, die Pupille geweitet. »Mmmmmnnnfff?« Sein Mund bewegte sich kaum.

Ich hielt ihm das Geschirrtuch hin. »Was macht der Kopf?«

»Ttsswwwehhhhh …«

»Geschieht dir recht.« Ich hielt den Eisbeutel an Parkers Wange, bis er selbst danach griff. »Was habe ich dir über Big Johnny Simpsons Schwester gesagt? Aber du hörst ja nie –« Mein Handy klingelte – ein schrilles Läuten wie von einem altmodischen Telefon. »Herrgott noch mal …«

Ich stellte den Teebecher neben Parkers Kopf auf den Boden, zog eine Blisterpackung Tabletten aus der Hosentasche und reichte sie ihm. »Tramadol. Und wenn ich wiederkomme, bist du gefälligst verschwunden. Susanne kommt später noch vorbei.«

»Nnnng … wss gbrchnnn …«

»Und würde es dich sehr überfordern, ab und zu mal aufzuräumen? Das ist ja die reinste Müllkippe hier.« Ich schnappte mir meinen Autoschlüssel und die Lederjacke. Dann fischte ich das Handy aus der Tasche. In der Mitte des Displays prangte der Name Michelle.

Fantastisch. Als ob es das noch gebraucht hätte, um mir den Tag zu versauen.

Ich drückte die grüne Taste. »Michelle.«

Ihr Highlands-and-Islands-Akzent klang abgehackt und spitz. »Leg das hin!«

»Du hast doch mich angerufen!«

»Was? Nein, nicht du – Katie.« Gedämpfte Hintergrundgeräusche. »Ist mir egal, du legst das jetzt hin. Du kommst noch zu spät!« Dann wieder an mich gewandt: »Ash, würdest du bitte deiner Tochter sagen, dass sie aufhören soll, sich wie ein verzogenes kleines Gör aufzuführen?«

»Hi, Daddy«, säuselte Katie mit einer Stimme, als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Ich blinzelte. Nahm die Zigarrenkiste in die andere Hand. Versuchte mir ein Lächeln abzuringen.

»Sei lieb zu deiner Mutter. Sie kann nichts dafür, dass sie morgens immer so unausstehlich ist. Und sag ihr nicht, dass ich das gesagt habe!«

»Tschau, Daddy!«

Und dann war Michelle wieder dran. »Jetzt steig schon ein, sonst kannst du was …« Ich hörte eine Autotür knallen. »Katie hat nächste Woche Geburtstag.«

»Rebecca hat heute Geburtstag.«

»Nein.«

»Michelle, sie ist –«

»Ich rede nicht darüber, Ash. Du hast versprochen, dass du dich um den Saal kümmern wirst, und –«

»Fünf Jahre.«

»Nicht mal einen lausigen Zettel hat sie hinterlassen! Wie undankbar muss man sein …« Eine Pause; ich hörte, wie sie die Luft zischend durch die zusammengebissenen Zähne einsog. »Warum müssen wir uns das jedes Jahr aufs Neue antun? Wir sind Rebecca völlig egal, Ash. Fünf Jahre und nicht mal ein einziger Anruf. Also, hast du nun einen Saal für Katies Party organisiert oder nicht?«

»Es ist alles geregelt, okay? Alles reserviert und bezahlt.« Na ja, fast …

»Montag, Ash: Ihr Geburtstag ist am Montag. Heute in einer Woche.«

»Ich sagte doch, es ist reserviert.« Ich sah auf meine Uhr. »Du kommst zu spät.«

»Montag.« Sie legte grußlos auf.

Ich steckte das Handy wieder in die Tasche.

Wäre es wirklich so schlimm, einfach nur über Rebecca zu reden? Sich daran zu erinnern, wie sie gewesen war, bevor … Bevor das mit den Geburtstagskarten anfing.

Oben schob ich die Zigarrenkiste in ihr Versteck zurück – unter einer losen Bodendiele im Schlafzimmer –, dann tappte ich hinunter ins Wohnzimmer und stieß den hoffnungslosen Fall auf der Couch an. »Maximal zwei Tramadol alle vier Stunden, verstanden? Wenn ich heimkomme und deine modernde Leiche auf meinem Sofa finde, weil du eine Überdosis eingeworfen hast, dann bring ich dich um, ich schwör’s!«

»… verlautete aus dem Umkreis der Ermittlungen, dass die Polizei die Leiche einer zweiten jungen Frau freigelegt hat. Es folgen Lokalnachrichten. Die Tayside Police verweigerte jeglichen Kommentar zu Behauptungen, wonach die Eltern des vermissten Teenagers Helen McMillan eine Karte von einem Serienmörder erhalten hätten, der als der ›Gratulator‹ bekannt ist …«

»Was? Nein, du musst lauter reden.« Ich klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, während ich meinen altersschwachen Renault durch den Kreisverkehr bugsierte. Dundee präsentierte sich als düsteres Grau in Grau unter einem lehmfarbenen Himmel. Der Regen klatschte an die Frontscheibe, hochgeschleudert in zwei Fontänen von den Reifen des Audi vor mir. »Hallo?«

»Hallo?«DCI Weber war durch das Dröhnen des Motors, das Quietschen der Scheibenwischer und das Knacken und Rauschen des Radios kaum zu verstehen. »Wie lange, habe ich gefragt?«

»… wo Assistant Chief Constable Eric Montgomery das folgende Statement abgab.«

Der ACC von Dundee klang, als hätte er sich beide Daumen in die Nase gesteckt. »Wir bitten alle Personen, die Helen am Tag ihres Verschwindens im November vergangenen Jahres oder danach gesehen zu haben glauben, sich mit der nächsten Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen …«

Ich drehte das Radio leiser, bis es nur noch ein dumpfes Hintergrundsummen war. »Woher soll ich das wissen?« Die vierspurige Schnellstraße war ein Band aus roten Rücklichtern, das sich bis zur Kreuzung mit dem Kingsway zog. Ein Schild blinkte auf: »STRASSENBAUARBEITEN – RECHNEN SIE MIT VERZÖGERUNGEN.« Was ihr nicht sagt. Ich trat auf die Bremse. Trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. »Könnte Wochen dauern.«

»Das ist doch zum … Was soll ich denn dem Chief erzählen?«

»Das Übliche: Wir ermitteln in verschiedene Richtungen, und –«

»Seh ich aus, als wär ich erst letzte Woche aus dem Loch Ness aufgetaucht? Wir brauchen einen Verdächtigen, wir brauchen einen Erfolg, und wir brauchen ihn jetzt. Da unten am Empfang hat sich die halbe Medienmeute von Schottland versammelt und wartet auf ein Statement, und die andere Hälfte belagert die McDermid Avenue –«

Der Verkehr kam kaum voran – ein paar Meter im Schritttempo, dann Stillstand, dann wieder ein paar Meter. Warum konnte keine Sau mehr anständig Auto fahren?

»– hörst du mir überhaupt zu?«

»Was?« Ich blinzelte. »Doch … aber was können wir da schon großartig machen?« In der anderen Spur tat sich eine Lücke auf, und ich trat das Gaspedal durch, doch der rostige alte Renault reagierte kaum. Hätte doch warten sollen, bis ein Einsatzwagen frei war. »Komm schon, du Miststück …«

Ein Tesco-Sattelschlepper donnerte vorbei und schob sich in die Lücke. Das schmutzige Spritzwasser machte die Windschutzscheibe einen Moment lang undurchsichtig, bis die Wischer es zu einem khakifarbenen Doppelregenbogen verschmierten. »Arschloch!«

»Wo bist du?«

»Komme gerade nach Dundee rein – bei der Toyota-Garage. Der Verkehr ist die Hölle.«

»Okay, neuer Versuch: Du erinnerst dich, dass ich dir gesagt habe, du sollst schön nett zu Sergeant Smith sein? Also, das ist jetzt keine Bitte mehr, sondern ein Befehl. Wie wir inzwischen wissen, war der schleimige Widerling bei den Kollegen von der Grampian Police in der Abteilung ID, bevor wir ihn gekriegt haben.«

Bei der Internen Dienstaufsicht. Ach du Kacke …

Das erklärte allerdings einiges – DS Smith wirkte ganz wie der Typ, der seine Kollegen erst verpfiff und sich dann daran aufgeilte, ihnen eins reinzuwürgen.

Die Schlange rückte noch mal zwei Autolängen vor. »Wieso haben wir ihn dann gekriegt?«

»Gute Frage.«

»Wäre vielleicht nicht schlecht, wenn wir alle eine Weile den Ball flach zu halten versuchen.«

»Meinst du?« Schweigen am anderen Ende. Und dann war Weber wieder da. »Interne Dienstaufsicht. Aus Aberdeen.«

»Ich weiß.«

»Das heißt, sie trauen uns nicht zu, dass wir uns selbst kontrollieren. Wogegen man – ehrlich gesagt – nicht viel einwenden kann, aber trotzdem: Es geht ums Prinzip. Wir brauchen einen Erfolg, und zwar zackig.« Es machte klonk, und dann war Weber weg.

Ja, klar, wir würden einen Erfolg erzielen, und zwar zackig, denn so lief es immer. Dass das offizielle Sonderkommando schon acht Jahre hinter dem Mistkerl her war, hatte da nicht zu interessieren. Weber brauchte einen Erfolg, damit die Kollegen von Grampian und Tayside nicht dahinterkamen, dass die ganzen Gerüchte über das Oldcastle CID der Wahrheit entsprachen – also würde sich auf wundersame Weise der gewünschte Erfolg einstellen.

Ich stellte das Radio wieder laut, und irgendein Boygroup-Mist tönte aus den Lautsprechern.

»Ooh, Baby, swear you love me,

don’t say maybe.

Ooh-ooh – say we – can make it right …«

Das Handy ging wieder los – der altmodische Klingelton war um Längen melodischer als der Müll aus dem Radio. Ich drückte die Taste und klemmte das Handy wieder zwischen Ohr und Schulter. »Was vergessen?«

Eine kleine Pause, und dann eine weibliche Stimme mit irischem Akzent: »Ich glaube eher, dass Sie was vergessen haben, hab ich recht?«

O Gott … Ich schluckte. Umklammerte das Lenkrad fester. Mrs Kerrigan. Mist. Warum war ich auch nur an das verdammte Telefon gegangen? Immer aufs Display schauen, bevor du abhebst.

»Baby, let’s not fight tonight,

let’s do it, do it right …«

Ich räusperte mich. »Ich … Ich wollte Sie sowieso anrufen.«

»Aye, glaub ich Ihnen sofort. Sie sind spät dran. Mr Inglis ist sehr enttäuscht.«

»Let’s do it right, tonight!« Und dann das Solo.

»Ich brauche ein bisschen Zeit, um –«

»Meinen Sie nicht, dass fünf Jahre genug sind? Ich glaub nämlich allmählich, dass Sie mich hier verarschen wollen. Ich will drei Riesen bis Dienstagmittag, okay? Sonst reiß ich Ihnen verdammt noch mal den Arsch auf!«

Drei Riesen bis morgen Mittag? Wie sollte ich bis morgen Mittag drei Riesen auftreiben? Es war unmöglich. Sie würden mir die Beine brechen …

»Kein Problem. Dreitausend. Morgen.«

»Das wär echt super, danke.« Und sie legte auf.

Ich kippte mit dem Oberkörper nach vorne, bis meine Stirn auf dem Lenkrad ruhte. Der Kunststoffüberzug fühlte sich rau an, als ob jemand darauf herumgekaut hätte.

Ich sollte einfach weiterfahren. Einfach durch Dundee durchfahren und mich in den Süden absetzen. Nach Birmingham vielleicht oder nach Newcastle; bei Brett und seinem Freund unterschlüpfen. Wozu hatte man schließlich einen Bruder? Solange sie mich nicht für die Vorbereitung ihrer Hochzeit einspannten. Was sie bestimmt tun würden. Sitzordnung, Tischschmuck, Vol-au-vents, der ganze Mist …

Scheiß drauf.

»Let’s do it, Baby,

let’s do it tonight.« Bombastisches Finale.

Irgendwo hinter mir ertönte eine Hupe. Ich blickte auf, sah die Lücke vor meiner Motorhaube, drückte aufs Gas und schloss wieder zu dem Audi auf.

»Sie hören Tay FM, und das war Mr Bones mit ›Tonight Baby‹. Auf unserem Programm steht heute noch die große Overgate-Tombola, aber zuerst möchte Nicole Gifford ihrem Verlobten Dave noch alles Gute im neuen Job wünschen. Und hier ist Celine Dion mit ›Just Walk Away‹ …«

Oder besser noch: Renn weg, so schnell du kannst. Ich schaltete das Radio aus.

Dreitausend bis morgen. Ganz zu schweigen von den restlichen sechzehn …

Erpressung wäre eine Möglichkeit: nach Oldcastle zurückfahren und ein paar Leute bearbeiten. Bei Willie McNaughton vorbeischauen und fragen, ob er immer noch GHB an Schulkinder vertickt. Das sollte wenigstens ein paar hundert wert sein. Karen Turner hatte dieses Bordell in der Shepard Lane. Und der fette Jimmy Campbell baute auf seinem Dachboden sicher immer noch Gras an … Noch ungefähr ein Dutzend solche »Hausbesuche«, und ich könnte anderthalbtausend zusammenkratzen, vielleicht zwei, wenn’s hochkäme.

Es fehlten noch mehr als tausend Pfund, und ich hatte nichts mehr zu verkaufen.

Vielleicht würde Mrs Kerrigan mich nicht ganz so hart rannehmen, und sie würden mir nur ein Bein brechen. Und nächste Woche würden sie mir dann die Rechnung präsentieren – eine komplizierte Bruchrechnung …

Der Parkplatz war fast leer – nur ein paar silberfarbene Vertreterkutschen und Mietwagen standen in der Nähe des Hoteleingangs. Ich parkte, stellte den Motor ab und starrte eine Weile vor mich hin, während der Regen auf das Autodach trommelte.

Vielleicht wäre Newcastle doch keine so schlechte –

Klonk, klonk, klonk.

Ich drehte mich auf dem Sitz um. Ein fleischiges Gesicht spähte zum Beifahrerfenster herein: schmaler Mund, stopplige Hängebacken, der kahle Schädel tropfnass und glänzend, dunkle Säcke unter den Augen, bläulich graue Haut. Die massigen, runden Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Der Akzent war reinstes Liverpool. »Kommst du jetzt rein, oder was?«

Ich schloss die Augen, zählte bis fünf und stieg dann hinaus in den Regen.

Das winzige Mündchen bog sich nach unten. »Mein Gott, schau dich doch bloß an. Kannst ja alte Omas zu Tode erschrecken mit der Visage.« Er hielt eine braune Papiertüte in der Hand; das Burger-King-Logo war mit etwas Rotem verschmiert.

»Ich dachte, bei der Met hätten sie dir den Liverpooler Slang inzwischen ausgetrieben?«

»Machst du Witze? Nee, nee, der alte Sabir ist ein waschechter Merseyside-Junge, das kannst du mir glauben.« Er zeigte mit einem Wurstfinger auf mein Gesicht. »Wie sieht denn der andere Typ aus?«

»Fast so hässlich wie du.«

Er lächelte. »Also, deine Mam beschwert sich jedenfalls nie, wenn ich’s ihr besorge.«

»Ich gebe zu, sie ist längst nicht mehr so wählerisch, seit sie tot ist.« Ich schloss den Wagen ab, während der Regen auf die Schultern meiner Lederjacke prasselte. »Sind die McMillans hier?«

»Nee, zu Hause. Wir halten uns hier möglichst zurück; wir dachten uns, die wollen sicher nicht, dass ein Sonderkommando von der Staatsanwaltschaft ihr Haus belagert.« Sabir drehte sich um und watschelte auf den Hoteleingang zu. Seine breiten Hüften wiegten sich hin und her, und er setzte die Füße im Fünfundvierzig-Grad-Winkel auf, wie eine Ente. »Der Vater reißt sich noch einigermaßen zusammen, aber die Mutter ist fix und fertig. Wie sieht’s bei deinen aus?«

Ich folgte ihm durch die Automatiktür in eine gesichtslose Lobby. Die Rezeptionistin hing über dem Telefon und kritzelte in einem Kalender herum. »Ich weiß … Mmmh … Na ja, sie ist halt eifersüchtig, das ist alles …«

Sabir ging voran zu den Aufzügen und bearbeitete den Knopf mit dem Daumen. »Wir sind im fünften Stock. Tolle Aussicht: der Tesco-Parkplatz auf der einen Seite, die Schnellstraße auf der anderen. Wie Venedig im Frühling, echt.« Die Anzeige begann von neun abwärts zu zählen. »Nun sag schon – wolltest du nur mal so vorbeischauen, oder willst du was von uns?«

Ich drückte ihm ein Foto in die Hand. Die Tür glitt auf, aber Sabir rührte sich nicht von der Stelle. Er starrte das Bild mit offenem Mund an.

Vom Empfangstresen kam ein Schnauben. »Nein … Ich schwör’s, ich hab nie … Nein … Ich sag doch, sie ist bloß eifersüchtig.«

Die Tür glitt wieder zu.

Sabir ließ die angehaltene Luft entweichen. »Heilige Scheiße …«

3

Der bittere Geruch von Filterkaffee erfüllte den Besprechungsraum im fünften Stock. Eine Wand bestand ganz aus Glas, mit einer Doppeltür an einem Ende, die auf den Balkon hinausführte; die andere war mit vollgekritzelten Flipcharts und Whiteboards zugestellt.

Sabir fummelte seine Burger-King-Tüte auf und fischte eine Handvoll Pommes heraus, während er über den beigen Teppichboden stapfte. Ich folgte ihm.

Am anderen Ende des Raums hockten zwei Männer und zwei Frauen auf den Tischkanten um einen untersetzten Mann herum, dessen rote, mit Grau durchsetzte Haare ein tief gefurchtes Gesicht rahmten: Detective Chief Superintendent Dickie. Er wies mit dem Daumen auf das nächststehende Whiteboard. »Aye, und achten Sie diesmal darauf, dass Sie sämtliche Überwachungsvideos einziehen, die es gibt, Maggie. Lassen Sie sich von den Burschen nicht abspeisen; das ganze Material müsste noch archiviert sein.«

Eine der Frauen nickte; die zu einem nüchternen Bob geschnittenen Haare fielen ihr dabei in das lange, dünne Gesicht. »Ja, Chief.« Sie schrieb etwas in ein Notizbuch.

DCS Dickie lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und lächelte einen Muskelberg mit fliehendem Kinn an. »Byron?«

»Ja, also …« Der hünenhafte Sergeant rückte seine Nickelbrille zurecht. »Als Helen letztes Jahr verschwand, befragte die Tayside Police alle ihre Freunde und Klassenkameraden sowie sämtliche Mitarbeiter des Friseursalons, in dem sie samstags jobbte. Niemand hatte irgendetwas gesehen. Relativ stabile Familienverhältnisse, wollte später Jura studieren. Kein fester Freund. Hobbys: Rennmäuse, Lady Gaga und Lesen.« Er drehte sich um und deutete auf eine Pinnwand mit rund dreißig Porträtfotos von jungen Mädchen, allesamt innerhalb des vergangenen Jahres als vermisst gemeldet – kurz vor ihrem dreizehnten Geburtstag.

Auch Rebeccas Bild hatte einmal dort gehangen …

Eines der Fotos war mit einem roten Rahmen versehen – ein Stoffband, befestigt mit Reißzwecken. Das musste Helen McMillan sein: Haare wie poliertes Kupfer, breites Grinsen, weiße Bluse und eine Krawatte, die nach Schuluniform aussah.

Byrons Miene war nachdenklich. »Laut Bremner betrug ihre Übereinstimmung mit dem Opferprofil nur fünfundzwanzig Prozent.«

DS Gillis, der auf der anderen Seite saß, fuhr sich mit der Hand über seinen brustlangen Wikingerbart. Die langen blonden Locken hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Akzent klang nach Edinburgh-Morningside, seine knarzende Stimme nach sechzig Benson & Hedges am Tag. »Soweit uns bekannt ist, hat Helen nie Tagebuch geführt, deshalb wissen wir nicht, ob sie sich an dem Tag, als sie entführt wurde, mit irgendjemandem treffen wollte. Ihrer Mutter hatte sie gesagt, sie wolle am Samstag, nachdem der Friseurladen geschlossen hatte, noch einen Schaufensterbummel machen – sie wünschte sich zum Geburtstag ein neues Handy. Zum letzten Mal gesehen wurde sie, als sie um siebzehn Uhr siebenunddreißig den Vodafone-Laden im Overgate Centre verließ. Und danach: nichts mehr.«

Dickie machte eine Notiz auf dem Whiteboard. »Unser Bursche scheint ein Faible für Einkaufszentren zu haben. Was ist mit sozialen Netzwerken?«

Sabir räusperte sich. »Wir gehen alles noch einmal durch. Es gibt da diese neue Mustererkennungs-Software, die auch ihre Freunde erfasst. Bis jetzt dreht sich alles nur darum, wer in wen verknallt ist und wie unheimlich süüüüß die Jungs von Five Star Six sind.« Er ließ seine Hand auf meine Schulter fallen; sie roch nach Pommes. »Und jetzt weitere Nachrichten des Tages.«

Alle sahen her und nickten – das heißt, alle bis auf diesen haarigen Wichser, DS Gillis –, und ein paar winkten sogar.

Ein Lächeln vertiefte die Falten um den Mund des Chief Superintendent. »Detective Constable Ash Henderson, wie er leibt und lebt. Was verschafft uns die …« Das Lächeln verflog rasch. »Es ist etwas passiert, nicht wahr?«

»Gestern Nachmittag um vierzehn Uhr dreißig war ein Trupp von städtischen Arbeitern damit beschäftigt, eine Abwasserleitung in Castleview zu reparieren.« Ich zog das Foto heraus, das ich Sabir gezeigt hatte, und reichte es Dickie. Der Hochglanzabzug im Format 20 x 25 zeigte einen Graben. Die Erde war dunkel, beinahe schwarz, in scharfem Kontrast zu dem knallgelben Bagger der Stadtwerke im Hintergrund. Ein zerfledderter Saum aus schwarzer Plastikfolie umgab die verstreuten Knochen – Rippen, Oberschenkelknochen und Schienbeine, alles wild durcheinandergeworfen vom Löffel des Baggers. Der Schädel lag auf der Seite, das rechte Schläfenbein zerdrückt und eingedellt. »Gestern Abend haben wir die Bestätigung bekommen, dass der Zahnstatus übereinstimmt. Es ist Hannah Kelly.«

»Heilige Scheiße …« DS Gillis zupfte grinsend an seinem Wikingerbart. »Wir haben eine! Endlich haben wir eine.«

»Hervorragend.« Dickie stand auf, packte meine Hand und schüttelte sie kräftig. »Endlich ein forensischer Beweis. Ein richtiger, echter Sachbeweis. Keine halb vergessenen Zeugenaussagen, keine unscharfen Aufnahmen von Überwachungskameras, auf denen rein gar nichts zu erkennen ist – nein, konkretes Beweismaterial.« Er ließ meine Hand los, und einen Moment lang sah es so aus, als wollte er mich umarmen.

Ich wich einen Schritt zurück. »Wir haben noch eine weitere Leiche gefunden. Um drei Uhr heute früh, in der gleichen Gegend.«

Sabir klappte mit einer Hand den Laptop auf, in der anderen den halb aufgegessenen Burger. »Wo?« Die Finger seiner linken Hand tanzten über die Tastatur, ein an der Decke montierter Projektor erwachte surrend zum Leben und verwandelte die Wand neben der Tür in eine einzige große Leinwand, auf der sich die Startseite von Google Earth aufbaute.

Ich setzte mich auf die Kante eines Tischs. »McDermid Avenue.«

»McDermid Avenue …« Ein wenig Tastengeklapper, dann schwenkte das Bild zum Nordosten von Schottland und zoomte auf Oldcastle, mit dem glitzernden, gewundenen Band des Kings River, der die Stadt zweiteilte. Immer näher heran, bis der Castle Hill die ganze Wand ausfüllte – die gewundenen Kopfsteinpflaster-Straßen um die Burg herum, die grüne Fläche des King’s Park, der rechteckige Sechzigerjahre-Klotz des Krankenhauses. Noch näher – von Bäumen gesäumte Straßen, Reihenhäuser aus Sandstein mit Schieferdächern und langgezogenen Gärten. Die McDermid Avenue erschien genau in der Bildmitte und wurde immer größer, bis man einzelne Autos erkennen konnte. Die Häuser grenzten an ein Rechteck mit Buschwerk und Bäumen – ein verwilderter Park, durchzogen von einem Netz von Wegen.

DCS Dickie ging zur Leinwand und trat so nahe heran, dass er einen Schatten auf die projizierte Straße warf. »Wo ist der Leichenfundort?« Er trat von einem Fuß auf den anderen und rieb die Fingerspitzen aneinander.

Wahrscheinlich dachte er, damit wäre der Käse schon gegessen: Wir müssten lediglich das Haus identifizieren, in dem die Leiche verscharrt war, dann herausfinden, wer vor neun Jahren dort gewohnt hatte, die Leute verhaften – und alle könnten zufrieden nach Hause gehen. Er tat mir fast leid.

Ich schob Sabir zur Seite, wischte die Sesamkrümel von der Laptop-Tastatur und schwenkte den Mauszeiger auf die Parklandschaft hinter den Häusern. Zwei oder drei Zentimeter neben der Ruine eines Konzertpavillons, tief in einem Brombeerdickicht, machte ich einen Doppelklick. Das Bild zoomte noch ein Stück heran, doch die Auflösung des Satellitenfotos war zu gering, sodass sich alles in große, unscharfe Pixel verwandelte.

Dickie ließ ein wenig die Schultern hängen. »Oh …«

Doch nicht ganz so einfach.

Ich zoomte wieder heraus, bis die McDermid Avenue nur noch eine von mehreren Straßen war, die alle an den Park grenzten: Jordan Place, Hill Terrace und Gordon Street.

Die Frau mit der Topffrisur stieß einen Pfiff aus. »Das dürften schätzungsweise … sechzig, achtzig Häuser sein, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Viele dieser Häuser wurden in den Siebzigerjahren in Wohnungen aufgeteilt; wir haben es also mit rund dreihundert Haushalten zu tun, die alle Zugang zum Park haben.«

»Scheiße.«

Eine kleine Pause, dann reckte Byron das Kinn in die Höhe. »Ja, aber immerhin haben wir jetzt einen Anfang, nicht wahr? Wir haben dreihundert mögliche Spuren, vorher hatten wir null. Wenn das kein Erfolg ist.«

Ich rollte den Klumpen Blu-Tack zwischen den Handflächen, bis er klebrig war, zerriss ihn in vier Stücke und heftete das Blatt Papier an die Wand. Jetzt war der Satz komplett: Acht selbst gebastelte Geburtstagskarten, mit dem Hotelkopierer auf A3 vergrößert. Ich hatte sie in zwei Viererreihen angeordnet, die älteste oben links, die jüngste unten rechts. Bei allen Polaroids war in der oberen linken Ecke eine Zahl eingeritzt: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8. Eine für jedes Jahr, acht Jahre insgesamt.

Die erste Karte zeigte Hannah Kelly in einem verdreckten Zimmer an einen Stuhl gefesselt, die Augen weit aufgerissen, glitzernde Tränen auf den Wangen, der Mund von einem rechteckigen Stück Klebeband bedeckt. Auf dieser Aufnahme war sie vollständig bekleidet; sie trug dieselben Sachen, die sie am Tag ihres Verschwindens angehabt hatte: kurze hellbraune Lederjacke, pinkfarbenes Spaghettitop mit einer Art Logo darauf, Minirock mit pinkfarbenem Karomuster, schwarze Strumpfhose und Biker-Boots. Die Kabelbinder um ihre Fußgelenke waren vor dem Hintergrund des dunklen Leders gerade so zu erkennen; beide Hände waren hinter dem Rücken verborgen.

Sie hatte noch alle ihre Haare – lang und glatt, schwarz wie die Nacht.

Von dem Tag an gerechnet, als die Karte mit der Post gekommen war, wurde sie seit genau zwölf Monaten und vier Tagen vermisst.

Bis zum fünften Foto war Hannah nicht nackt. Jedenfalls nicht ganz. Und auf dem war sie auch schon über und über mit Schnittwunden und Blutergüssen bedeckt, mit kleinen runden Brandmalen, die sich grellrot von der bleichen Haut abhoben.

Dieses wohlbekannte kalte Gewicht legte sich auf meine Brust.

Acht Karten. So würde die Zukunft aussehen: Rebeccas Foto, Jahr um Jahr, jedes schlimmer als das zuvor. Er sorgte dafür, dass ich wusste, was er ihr angetan hatte. Stellte sicher, dass ich es in allen Details zu sehen –

»Ash, alles in Ordnung mit Ihnen?« Dickie starrte mich an.

Ich räusperte mich. »Ja, ja, es ist nur … es ist ziemlich spät geworden gestern Abend; musste ja auf die Ergebnisse des Gebissabgleichs warten.« Ich ging zur Kaffeemaschine und schenkte mir eine Tasse von der abgestandenen Plörre ein, während die anderen auf die Bilder von der zeitverzögerten Foltersitzung starrten. Dann trollten sie sich einer nach dem anderen, bis neben DCS Dickie nur noch das einzige Mitglied des Teams übrig war, das ich nicht kannte. Die zweite Frau – die, die schweigend dagesessen und sich Notizen gemacht hatte, während alle anderen die Entdeckung von Hannah Kellys sterblichen Überresten gefeiert hatten. Die Einzige, die nicht aussah wie eine Polizistin.

Sie betrachtete die Bilder durch eine Brille mit dickem Rahmen, während eine Hand mit einer langen Strähne ihres braunen Lockenhaars spielte. Den anderen Arm hatte sie sich um den Oberkörper geschlungen, als ob sie etwas festhalten wollte. Grau gestreiftes Top, Jeans und rote Converse Hi-Tops, eine hellbraune Ledertasche über die Schulter geschlungen. Wie sie so neben Dickie stand, hätte man meinen können, er habe seine Tochter zum Girls’ Day mitgenommen.

Oder vielleicht seine Enkelin – sie konnte keinen Tag älter als zweiundzwanzig sein.

Ich gesellte mich zu ihnen. Die Hitze des Kaffeebechers übertrug sich auf meine Finger und linderte die Schmerzen in den Gelenken. »Hannahs Eltern sind noch nicht informiert.«

Dickie starrte das letzte Foto der Serie an – es war vor zwei Monaten gekommen, an Hannahs Geburtstag. Sie saß zusammengesunken auf dem Stuhl, die langen schwarzen Haare waren abrasiert, die Kopfhaut voller Schnittwunden und Blutergüsse, das Wort »SCHLAMPE« war in ihre Stirn geritzt. Sie hatte die Augen fest zugekniffen, und glitzernde Tränenbahnen zogen sich durch das Blut auf ihren Wangen. Dickie zog die Nase hoch. »Soll ich es ihnen beibringen?«

Ich seufzte. Schüttelte den Kopf. »Ich mach’s, wenn ich wieder in Oldcastle bin. Sie kennen mich.«

»Hmm …« Eine Pause. »Apropos …« Dickie deutete mit dem Kopf auf die Frau in dem gestreiften Top. »Sie kennen sich noch nicht, oder?«

»Hi.« Sie hörte auf, mit ihren Haaren herumzuspielen. »Dr. McDonald. Also eigentlich Alice. Ich wollte sagen, Sie dürfen Alice zu mir sagen, wenn Sie möchten, oder meinetwegen Dr. McDonald, aber manchmal nennen mich die Leute einfach ›Doc‹, aber das mag ich nicht so; aber Alice ist schon okay …«

»Ash.« Ich hielt ihr die Hand hin. Sie sah sie nur an.

»Okay, alles klar, danke für das Angebot, aber ich stehe nicht so auf Körperkontakt mit Leuten, die ich kaum kenne. Ich meine, da gibt es ja alle möglichen Probleme mit Bakterien und Hygiene – was weiß ich, ob Sie zu den Leuten gehören, die sich nicht die Hände waschen, wenn sie auf der Toilette waren, oder ob Sie in der Nase bohren, oder vielleicht sind Sie einer von den Männern, die sich kratzen und dann an den Fingern schnuppern – ganz zu schweigen von der ganzen Sache mit der persönlichen Distanzzone.«

Vollkommen durchgeknallt, ganz offensichtlich.

Sie räusperte sich. »Tut mir leid. Ungewohnte soziale Interaktionen machen mich immer ein bisschen nervös, aber ich arbeite daran; ich meine, ich habe keine Probleme mit Detective Chief Superintendent Dickie, nicht wahr, Chief Superintendent, bei Ihnen plappere ich überhaupt nicht, oder? Sagen Sie ihm, dass ich nicht plappere.«

Dickie lächelte. »Dr. McDonald ist seit gestern unsere neue forensische Psychologin.«

»Ah.« Das nannte man wohl den Bock zum Gärtner machen – oder in diesem Fall die Ziege … »Was ist denn mit dem Letzten passiert?«

Sie schlang sich den Arm noch enger um die Brust. »Ich glaube wirklich, dass wir den Leichenfundort in Augenschein nehmen müssen. Der Gratulator hat sich diese Stelle nicht nach dem Zufallsprinzip ausgesucht; er muss gewusst haben, dass es sicher war, dass man sie erst Jahre später finden würde; und wenn ich Mädchen ermorden und die Leichen vergraben würde, dann würde ich sie gerne in meiner Nähe haben, damit ich weiß, dass sie vor Entdeckung sicher sind. Sie nicht auch? Ich meine, hier geht es doch im Grunde um Macht und Besitz, nicht wahr?« Dr. McDonald starrte auf die weißen Zehenkappen ihrer roten Converse Hi-Tops hinunter.

Ich sah Dickie über ihren Kopf hinweg an. »Und sie redet also nicht so, wenn Sie beide unter sich sind?«

»So gut wie nie.« Er hob die Hand, als ob er ihr auf die Schulter klopfen wollte.

Sie zuckte zusammen. Wich einen Schritt zurück.

Dickie seufzte. »Ich … ähm … ich lasse Sie dann mal machen.« Er steckte die Hand in die Hosentasche, wo sie kein Unheil anrichten konnte. »Ash? Haben Sie es sehr eilig, nach Oldcastle zurückzukommen, oder hätten Sie einen Moment Zeit?«

Ob ich es eilig hatte? Ich hatte mich immer noch nicht entschieden, ob ich nicht einfach die Rostlaube auf die Straße nach Newcastle lenken und das Gaspedal durchtreten sollte. »So lange, wie Sie mich brauchen.«

»Also …« – ich schob die Glastür zu und lehnte mich an das Geländer – »… bringt sie ihre eigene Zwangsjacke mit, oder wird die aus Ihrem Budget bezahlt?«

Der Blick vom Balkon des Besprechungsraums war genauso trostlos, wie Sabir es versprochen hatte: über die vierspurige Schnellstraße hinweg auf das Kingsway-Einkaufszentrum. Riesige Hallen aus Glas und Metall, daneben ein Parkplatz in Form eines schiefen Dreiecks. Der Himmel darüber war durchgehend grau, das Tageslicht schwächlich und kalt im strömenden Regen. Immerhin war es hier relativ trocken – der Balkon des Zimmers schützte einigermaßen vor den Unbilden des Wetters.

In den Ecken lagen Häufchen von durchweichten Zigarettenkippen; kleine orangefarbene Zylinder, aufgequollen auf den feuchten Fliesen. DS Gillis stand qualmend am anderen Ende des Balkons, sein Bart in Rauch gehüllt, als ob er schwelte, und knurrte etwas in sein Handy, während er auf und ab ging.

DCS Dickie steckte sich eine Zigarette an, nahm einen langen, tiefen Zug, stützte sich mit den Ellbogen auf das Geländer und rieb sich mit einer Hand die Säcke unter seinen Augen. »Was macht die Arthritis?«

Ich beugte und streckte die Finger, und sofort fuhr mir der Schmerz in die Gelenke. »War schon schlimmer. Und Ihr Magengeschwür?«

»Wissen Sie, als ich diese verdammte Ermittlung übernommen habe, war ich unschlagbar. Ein Überflieger, auf dem Weg nach ganz oben … Erinnern Sie sich noch an die Pearson-Morde?« Noch ein Zug an der Zigarette. »Und jetzt? Schauen Sie mich doch an.«

»Was ist denn nun mit Ihrem letzten Profiler passiert?«

Dickie formte Daumen und Zeigefinger zu einer Pistole, hielt sie sich an die Schläfe und drückte ab. »Vor drei Wochen in Bristol – das ganze Hotelzimmer war versaut.« Er blickte sich zum Besprechungsraum um. »Dr. McDonald hat vielleicht nicht alle Tassen im Schrank, aber wenigstens steht nicht zu befürchten, dass wir irgendwann demnächst ihr Gehirn von der Wand kratzen müsssen. Na ja … toi, toi, toi.«

Ich drehte mich zur Glastür um und spähte hinein. Sie stand immer noch vor den vergrößerten Geburtstagskarten und spielte mit ihren Haaren herum. Starrte zu Hannah Kellys blutüberströmtem Körper auf. Ich versuchte ein Lächeln in meine Stimme zu zwingen, wobei ich vielleicht ein bisschen zu stark auftrug. »Ist aber doch nicht Ihre Schuld, oder? Es war doch von Anfang an klar, dass es verdammt schwer werden würde, den Gratulator zu fassen.«

»Wenn wir erfahren, dass er wieder eine hat, ist es immer schon ein Jahr zu spät. Die Spur ist kalt. Keine Zeugen, oder wenn, dann können sie sich an nichts erinnern, oder sie saugen sich irgendeinen Mist aus den Fingern, weil sie zu viel Fernsehen schauen und glauben, dass es das ist, was wir hören wollen.« Dickie schnippte die Asche von seiner Zigarette und starrte die glimmende Spitze an. »Noch vier Monate, dann gehe ich in Rente. Acht Jahre habe ich an ein und demselben gottverdammten Fall gearbeitet, und nicht eine einzige mickrige Spur … Bis jetzt.« Seine Augen verengten sich hinter dem Rauchschleier. »Zwei Leichen, und wahrscheinlich wird es nicht dabei bleiben. Wir werden DNS bekommen und Faserspuren, und wir werden das Schwein schnappen. Und ich werde meine goldene Uhr entgegennehmen und mit hoch erhobenem Haupt heim nach Lossiemouth marschieren, während der Gratulator für den Rest seines verkorksten Lebens in einer versifften Zelle vor sich hin modern wird.«

»Kommen Sie mit, um uns bei den Anwohnerbefragungen zu helfen?«

Eine Pause. »Wär’s vielleicht möglich, dass Sie Dr. McDonald nach Oldcastle mitnehmen? Sie zeigen ihr den Leichenfundort, damit sie ein Gespür für die Umgebung bekommen kann?«

Ja, klar, weil ich ja kein höheres Ziel im Leben hatte, als für eine psychisch labile Psychologin den Babysitter zu spielen. »Kommen Sie denn nicht mit?«

Dickies Mundwinkel gingen auf Talfahrt. »Wissen Sie, warum ich immer noch hier bin, Ash? Warum sie mir den Fall nicht weggenommen und jemand anderen drauf angesetzt haben?«

»Weil keine Sau den Job haben will?«

Er nickte. »Ein Karrierekiller. Apropos … Ich muss Sie noch einmal um einen Gefallen bitten.« Er richtete sich gerade auf und rieb sich mit einer Hand das Kreuz. »Unser letzter Psychologe, Bremner, hat sich nicht bloß umgebracht, er hat auch seine Fallnotizen mit ins Jenseits genommen. Hat alles im Papierkorb des Hotelzimmers verbrannt: den Rauchmelder deaktiviert, Feuer gelegt, und dann – peng.«

Ich steckte die Hände in die Hosentaschen. Es wurde allmählich kalt. »Ich fand ja schon immer, dass er irgendwie nicht ganz sauber war.«

»Er hatte es auch irgendwie geschafft, an den Servern herumzupfuschen. Sämtliche Dokumente mit psychologischen Profilen und Gutachten, die wir hatten – pfft, wie in Luft aufgelöst. Sabir hat versucht, die Daten zu retten, aber Bremner hatte schon so früh mit dem Mist angefangen, dass auch sämtliche Backups im Eimer waren.« Dickie zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte die glimmende Leiche hinaus in den Regen. »Man soll ja nicht schlecht über die Toten reden und so, aber trotzdem …«

»Welchen Gefallen denn?«

»Na ja, Sie sind doch immer noch mit Henry befreundet, oder nicht?«

»Welcher Henry?« Ich runzelte die Stirn. »Sie meinen Henry Forrester? Also, vielleicht mal die eine oder andere Weihnachtskarte, aber gesehen habe ich ihn seit Jahren nicht mehr.«

»Die Sache ist die: Dr. McDonald muss wieder ganz von vorne anfangen; es wäre eine große Hilfe, wenn sie den Fall mit ihm besprechen könnte. Vielleicht hat er ja noch seine Akten von damals?«

»Dann rufen Sie ihn doch einfach an. Er soll Ihnen alles per Kurier ins Büro schicken.«

Drüben am anderen Ende des Balkons klappte Gillis sein Handy zu. Dann drückte er seine Zigarette an der Wand aus und ließ sie zu seinen Füßen auf die Fliesen fallen.

Dickie starrte über das Einkaufszentrum hinweg. »Sie sagt, sie muss ihn sehen. Persönlich.«

Gillis kam auf uns zugestapft. »Haben Sie’s ihm schon gesagt?«

»Was denn?«

Ein Grinsen tat sich zwischen dem nikotingelben Schnauzer und dem Rauschebart auf. »Shetland. Sie fahren mit Doc McDonald rauf, um Ihren alten Kumpel Forrester zu besuchen.«

Ich straffte die Schultern und reckte das Kinn. »Bringen Sie sie doch selbst hin. Sie sind hier schließlich derjenige, der wie ein Wikinger aussieht.«

»Der alte Sack will mit dem Fall nichts mehr zu tun haben. Wir brauchen seine Hilfe, und Sie sind sein Freund. Fahren Sie rauf, und überreden Sie ihn.«

Dickie seufzte. »Nun kommen Sie schon, Ash, Sie wissen doch, wie Henry ist, wenn er mal auf stur geschaltet hat …«

Ich bedachte die beiden mit meinem bösen Blick. »Shetland?«

Gillis starrte mit zusammengekniffenen Augen zurück. »Sie wollen uns also nicht helfen, das Schwein zu schnappen? Im Ernst? Was sind Sie denn für ein Polizist?«

»Es sind doch nur ein paar Tage, Ash; maximal drei oder vier. Ich werde alles mit Ihrem Chef regeln.«

Dr. McDonald war nicht die Einzige, die einen an der Waffel hatte. »Ich gehe nicht nach Shetland! Wir haben gerade zwei Leichen ausgegraben, und –«

»In Oldcastle können Sie im Moment sowieso nicht mehr tun, als Däumchen drehen und auf die Laborergebnisse warten. Ach ja, und dreihundert Anwohnerbefragungen bearbeiten.« Dickie deutete mit einem Nicken auf den Besprechungsraum, wo Dr. McDonald immer noch die Geburtstagskarten angaffte. »Wenn wir den Gratulator schnappen, muss sie für die Vernehmungen auf dem Laufenden sein. Ich will ein umfassendes Geständnis, in Stein gemeißelt, nicht irgendetwas, aus dem er sich sechs Monate später vor Gericht mit Hilfe eines gerissenen Verteidigers wieder rausmogeln kann.«

»Ich bin nicht Ihr Kindermädchen, verdammt! Suchen Sie sich jemand anderen, um –«

»Ash, bitte.«

Ich starrte in den Regen hinaus … Vier Tage lang so weit weg von Oldcastle, wie man nur sein konnte, ohne das Vereinigte Königreich zu verlassen. Vier Tage an einem Ort, wo Mrs Kerrigans Schläger mich nicht finden konnten. Und wenn Henry einmal gesehen hätte, was für eine Katastrophe Dickies neue Kriminalpsychologin war, dann würde er vielleicht seinen runzligen Arsch aus dem Sessel wuchten und mir helfen, das Dreckschwein zu schnappen, das Rebecca ermordet hatte. Vier Tage, um den alten Sack davon zu überzeugen, dass vier Jahre auf Shetland Buße genug waren für das, was mit Philip Skinner passiert war. Es wurde Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen.

Ich nickte. »Okay. Fliegen wir von Aberdeen oder von Edinburgh?«

Gillis’ Grinsen wurde noch breiter. »Witzig, dass Sie danach fragen …«

4

»Würden Sie bitte langsamer fahren?« Dr. McDonald klammerte sich noch fester an den Haltegriff über der Beifahrertür. Ihre Knöchel waren schon ganz weiß, und die Augen hatte sie fest zugekniffen.

Ich schaltete runter und drückte das Gaspedal tief in den Bodenbelag. Ja, es war kindisch, aber sie hatte damit angefangen. Draußen rauschte eine Wohnstraße vorbei, mit Bäumen, die ihre dürren Äste in den grauen Himmel reckten. Ein Nebel von feinen Tröpfchen bedeckte die Scheibe. »Ich dachte, Sie sind Psychologin.«

»Bin ich auch, und es ist nicht meine Schuld, dass ich panische Angst vor Flugreisen habe; ich weiß, das klingt vielleicht unlogisch, weil es statistisch gesehen wahrscheinlicher ist, dass Sie beim Hantieren mit einem elektrischen Toaster ums Leben kommen als bei einem Flugzeugabsturz in Großbritannien – deswegen mache ich auch nie Toast –, aber ich kann nicht …« Sie stieß einen kleinen Quiekser aus, als ich schwungvoll in die Strathmore Avenue einbog. »Bitte! Würden Sie ein bisschen langsamer –«

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