Der Garten des Sargmachers - Stuart MacBride - E-Book
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Der Garten des Sargmachers E-Book

Stuart MacBride

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Beschreibung

Ein teuflischer Serienkiller und ein Haus voll dunkler Geheimnisse ... Der neue Thriller des Nummer-1-Bestsellerautors aus Großbritannien

Als ein Sturm über die schottische Küste hinwegfegt, stürzt ein Teil der Klippen ins Meer. Auch der Garten von Gordon Smith gehört zur abgebrochenen Landzunge, die nun enthüllt, was auf dem Grundstück vergraben war: zahllose Tote. Das Unwetter verhindert eine Bergung der Leichen und vernichtet wichtige Beweise. So weiß niemand, wie viele Menschen Smith getötet hat. Doch Ex-Detective Inspector Ash Henderson ahnt: Er wird weitermorden. Henderson ist entschlossen, Smith in den Highlands aufzuspüren und zu stoppen, selbst wenn er dafür Regeln brechen muss. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn ein junges Mädchen ist bereits in der Gewalt des Killers ...
»Breitwandkino in Technicolor, atmosphärisch und fesselnd! Eine fantastische Lektüre, die das höchste Gütesiegel verdient.« Lovereading

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Seitenzahl: 751

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Buch

Als ein gewaltiger Sturm über die schottische Küste hinwegfegt, stürzt das Haus von Gordon Smith in die Nordsee. Und die bröckelnde Landzunge enthüllt, was er im Garten vergraben hat: zahllose Tote. Das Unwetter verhindert eine Bergung der Leichen, während die Wellen sämtliche Beweise vernichten. So weiß niemand, wie viele Menschen Smith getötet hat. Doch alle ahnen: Er wird weitermorden. Ex-Detective Inspector Ash Henderson ist entschlossen, Smith in den Highlands aufzuspüren und zu stoppen, selbst wenn er dafür Regeln brechen muss. Doch die Zeit läuft. Ein junges Mädchen ist in Smiths Gewalt, die Medien wittern Blut, und der Polizeichef sucht einen Sündenbock …

Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Stuart MacBride

–––––––––––––––––––––––

Der Garten des Sargmachers

Der dritte Fall für Ash Henderson

Thriller

Aus dem Englischenvon Andreas Jäger

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Coffin Maker’s Garden« bei HarperCollinsPublishers, LondonDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2021

Copyright © der Originalausgabe

2021 by Stuart MacBride

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Eva Wagner

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28332-2V001

www.goldmann-verlag.de

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Zum Andenken an Marion Chesney(alias M. C. Beaton)

ein Heißsporn, eine Naturgewalt – und eine exzellente Schriftstellerin, deren Bücher Millionen Menschen Freude brachten –

einschließlich mir

– Sturmtief im Anmarsch –

1

»… nachdem die New Aryan Crusade sich zu dem Bombenanschlag bekannt hat. Der amerikanische Vizepräsident bezeichnete den Anschlag als ›feige und abscheuliche Tat‹ …«

Warum gab es nie irgendwelche guten Nachrichten im Radio?

Margaret hackte eine knackige orange Möhre und warf sie in den brodelnden braunen Topf mit Hackfleisch, während der Regen an das beschlagene Küchenfenster trommelte. »Weißt du was, Alfie? Ich glaube, die Menschen sind einfach alle Pappnasen.«

Keine Antwort – wie üblich. Wenn Alfie erst mal in ein Malbuch vertieft war, konnte man ihn glatt vergessen. Da bekam man noch von einem Gartenzwerg mehr Rückmeldung.

»… läuft der Einsatz zur Rettung der Besatzung der Ocean-Gold Harvester, die an den Klippen bei Clachmara auf Grund gelaufen ist, weiter auf Hochtouren. Wir sprachen mit Sophie O’Brien von der Küstenwache …«

»Ui, hast du das gehört, Alfie? Clachmara! Wir werden im Radio erwähnt, ist das nicht spannend?«

Immer noch nichts.

Also wirklich, da könnte man doch genauso gut allein hier wohnen. Oh, es hat sich ja so romantisch angehört auf der Website: »Die einmalige Gelegenheit, ein reizendes historisches Cottage direkt am Meer zu mieten, mit traditionellem Inventar und Dekor, in sehr begehrter Lage!« Was übersetzt hieß: ein undichtes Dach, holzvertäfelte Wände, die keinen Pinsel mehr gesehen hatten, seit Fred und Rose West ihre Terrasse neu gepflastert hatten, und einfach verglaste Fenster, die schon beschlugen, wenn man sie nur anschaute. Und der Wind pfiff voll durch die Rahmen, wenn man die ganzen Ritzen nicht mit zusammengeknülltem Zeitungspapier stopfte.

Aber wenigstens war es billig.

Eine weitere Möhre wurde in ungleichmäßige Stücke zerhackt, weil runde Möhrenscheiben doch einfach widerlich waren, nicht wahr?

»… äußerst schwierige Bedingungen, aber wir tun, was wir können.«

Der warme braune Duft des Hackfleischs erfüllte die Küche, tröstlich und vertraut wie ein alter Lieblingspulli, und überdeckte den sonst vorherrschenden Mäuse-Schimmel-Geruch. Und hielt die Dunkelheit in Schach.

»Also, ich find’s jedenfalls spannend, du nicht?«

»Wie die Polizei heute meldet, wurde in einem Waldstück südlich der Stadt die Leiche eines Kindes gefunden. Die endgültige Identifizierung steht noch aus, doch es wird vermutet, dass es sich um den vierjährigen Lewis Talbot handelt, der seit dem vierzehnten Oktober vermisst wurde …«

»Armer kleiner Wurm.« Margaret warf die letzten Möhrenstückchen in den Topf. »Deswegen sollst du nie zu fremden Männern ins Auto steigen, Alfie. Oder Süßigkeiten von ihnen annehmen.«

»… schon das dritte Opfer, nachdem in diesem Jahr bereits die Leichen von Oscar Harris und Andrew Brennan gefunden wurden.«

»Obwohl, weißt du was? Halt dich überhaupt ganz von Männern fern, Punkt.« Sie rieb sich den angeschwollenen Bauch und musste vom Sodbrennen sauer aufstoßen. »Ich wäre jetzt nicht in diesem Zustand, wenn ich mich an den Rat gehalten hätte. Nein, dann würde ich morgen meinen Abschluss in forensischer Anthropologie machen, und deine Großeltern würden noch mit mir reden.« Hörst dich aber ganz schön verbittert an, Margaret. Und wessen Schuld ist es, dass du dich hast schwängern lassen?

Ein Seufzer.

»Na, egal, Alfie, wenigstens haben wir uns, nicht wahr?«

Immer noch nichts.

Also wirklich – wie ein Gartenzwerg.

»Und hier kommt Doug mit dem Wetter.«

»Danke, Colin. Tja, Leute, macht euch auf was gefasst, denn von Skandinavien kommt das Sturmtief Trevor auf uns zu, und es wird noch sehr viel schlimmer werden, bevor es wieder besser wird …«

»Och nee, so ein Schhhh…« Margaret kniff die Lippen zusammen und schluckte das Wort hinunter, das Alfie ganz bestimmt nicht in seinem Wortschatz haben sollte. Denn so, wie sie ihn kannte, würde er es gleich morgen im Kindergarten hinausposaunen, und dann würde sie wieder zu einem »Gespräch« mit dieser mondgesichtigen Schreckschraube Mrs Gillespie antanzen müssen. Also, neuer Versuch: »So, mein Mini-Monster, wie wär’s, wenn du Mummy ein bisschen hilfst und ihr aus der Kiste unter der Spüle ein paar Kartoffeln bringst?«

Sie drehte sich um, den Sparschäler in der erhobenen Hand, wie einen Zauberstab, mit dem sie Alfie seinen größten Wunsch erfüllen könnte – solange es nichts Komplizierteres als Kartoffelpüree war.

Sie erstarrte. Mund offen.

»… haben wir alles diesem massiven Tiefdruckgebiet zu verdanken, das von Osten heraufzieht …«

»Alfie?«

Der zerschrammte Holztisch war mit einem Regenbogen aus Filzstiften übersät, gruppiert um einen halb ausgemalten Tyrannosaurus Rex in grellen Lila- und Grüntönen, der aus dem Malbuch herausbrüllte. Daneben ein Glas Milch und ein Schokokeks. Aber Alfies Stuhl war leer.

»Alfie?« Margaret warf den Schäler auf die Arbeitsplatte und wischte sich die Hände an der Schürze ab, während sie zur Tür ging, um einen Blick in den ebenfalls historisch holzvertäfelten Flur zu werfen. »Alfie?«

Die Badtür war nur angelehnt, aber drinnen brannte kein Licht. Nichts als die Dunkelheit eines stürmischen Novemberabends.

»Alfie, bist du Pipi machen?«

Nein – das Bad war leer.

»Alfie?« Sie wurde lauter, als sie die Runde durchs Haus machte – die zwei winzigen Schlafzimmer, das Esszimmer, in dem sich all die Kartons stapelten, die sie noch nicht hatte auspacken können, und das Wohnzimmer mit dem weit aufgerissenen Maul des Kamins und den Wasserflecken an der Decke. »ALFIE!«

Zurück in die Küche.

Tisch. Stifte. Malbuch …

Wo waren seine Gummistiefel? Seine Gummistiefel hätten neben ihren an der Hintertür stehen müssen, aber Alfies rotes Paar war verschwunden. Genau wie sein gelber Anorak und sein Südwester.

Ihre Augen weiteten sich, als sie auf die beschlagene Scheibe starrte, die im Regengeprassel zitterte. Auf das Schwarzgrau dahinter.

O nein.

Margaret riss die Tür auf und stolperte hinaus in die Dunkelheit, wobei sie einen ihrer Hausschuhe verlor. Der Regen stach mit eiskalten, scharfen kleinen Messern auf ihr Gesicht ein. »ALFIE!«

Sie lief um die Hausecke herum zur Straße. Nur eine Handvoll Straßenlaternen funktionierten noch – zitternd im strömenden Regen, gebeutelt vom heulenden Wind, der von der Nordsee her blies, warfen sie ihren schwachen gelblichen Lichtschein auf den rissigen Asphalt. Die Reihe von Laternenpfählen endete zehn Meter hinter ihrem Haus, wodurch alles, was danach kam – was nicht mehr sehr viel war –, in tiefer Finsternis versank. Die das Ende der Welt verhüllte.

»ALFIE!«

Sie lief zur Mitte der Straße, drehte sich um, holte tief Luft und formte die Hände zum Megafon. »ALFIE!«

Moment … was war das für ein Geräusch? Halb übertönt vom Sturmgeheul. Ein ratterndes, grollendes Geräusch. Ein hartes, mechanisches Wump-wump-wump, dazu ein stotterndes Geheul. Dann tauchte in der Ferne ein Licht auf, blendend hell, und mit seinen rot und grün blinkenden Augen stieg ein Hubschrauber über die Klippen auf. Das Heulen der Motoren und das Wummern der Rotoren wurde lauter und lauter.

Und Alfie liebte Hubschrauber.

»ALFIE!«

Margaret stolperte an den verdunkelten Häusern vorbei auf die Klippen zu, schlüpfte unter dem Absperrband mit der Aufschrift »Kein Zutritt« hindurch, das im Wind frrrrrrrte. Die Straße war mit einem zweieinhalb Meter hohen Bauzaun versperrt, der das jeweils letzte »bewohnbare« Haus auf beiden Seiten von den »unbewohnbaren« dahinter abtrennte. Am Maschendraht war ein verblasstes Schild befestigt: »Achtung! – Küstenerosionszone – Zutritt verboten – Lebensgefahr«

Aber niemand machte sich die Mühe, den Zaun instand zu halten, nicht wahr? Sie schoben ihn einfach immer nur ein Haus weiter landeinwärts, wenn wieder mal das traute Heim von irgendeinem armen Schwein in der Nordsee versank. Gut möglich, dass da inzwischen so große Löcher klafften, dass ein Fünfjähriger sich hindurchzwängen konnte.

Sie hievte den Zaun an einem Ende aus seinem Betonsockel, zog ihn so weit zurück, wie die Kette, die ihn mit dem nächsten Element verband, es zuließ, und schob sich zwischen den kalten Metallstangen hindurch in die Dunkelheit auf der anderen Seite. »ALFIE!«

Über ihr drehte der Hubschrauber ab, und sein Scheinwerfer glitt über das regenglänzende Gras. Ein gelber Fleck leuchtete kurz im Dunkeln auf – »ALFIE!« –, dann wanderte der Lichtkegel weiter, und der gelbe Fleck wurde wieder von der Nacht verschluckt.

Margaret strauchelte weiter, wankend im Abwind des Hubschraubers. Vom ramponierten Asphalt in das, was einmal jemandes Garten gewesen war. Sie tastete sich an etwas entlang, das sich wie ein Lattenzaun anfühlte, kletterte drüber. Etwas zerrte an ihr, sie hörte Stoff reißen, verlor auch noch den anderen Hausschuh.

»ALFIE?«

Da stand er, am Rand der Klippe, und schaute hinunter ins Wasser.

O Gott.

Die Klippe. Die, vor der all die Schilder warnten.

Was, wenn sie unter ihm abbrach?

Was, wenn er leicht genug war, aber sie zu schwer, und deshalb ihr Versuch, ihn zu retten, die Katastrophe erst auslöste und sie beide ins Meer stürzten?

Ihre nackten Füße glitschten durch das nasse Gras, als sie sich vorsichtig vorantastete, die Arme nach ihm ausgestreckt. Sie versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, versuchte sich die Panik nicht anmerken zu lassen. »Komm her, Schätzchen, kommt zu Mummy. Es ist gut, es ist alles gut. Komm zu Mummy.«

Er blickte sich zu ihr um und zeigte ein zahnlückiges Grinsen, während er mit dem Finger auf das rot-weiße Ungetüm zeigte, das über ihren Köpfen die Luft umpflügte. »Ein Hubrauscher!«

»Bitte, komm zu Mummy, Alfie. Komm her, du schaffst das.« Sie reckte die Arme nach ihm, schob sich zentimeterweise vor.

Alfies Finger zeigte nach unten. »Bootchen!«

Sie ließ sich auf Hände und Knie fallen und kroch auf ihn zu.

Wenn sie es schaffte, Alfie lebend nach Hause zu bringen, würde sie nie wieder den Anrufen ihrer Mutter aus dem Weg gehen, das schwor sie bei Gott. Sie würde mit dem Trinken aufhören. Sie würde sich ehrenamtlich bei der Obdachlosenhilfe engagieren, bei der Tafel oder wo auch immer.

Noch näher.

Alfie steckte sich den Daumen in den Mund.

Sie würde sogar aufhören, Gary ein Alimente verweigerndes, Kellnerinnen vögelndes Arschloch zu nennen, wenn sie nur ALFIEHEILNACHHAUSEBRACHTE.

Margarets Fingerspitzen bekamen den nassen Saum seines knallgelben Anoraks zu fassen. Sie hob ihn hoch und schloss ihn in die Arme. Dann kniete sie dort am Rand des Abgrunds und drückte ihn fest an sich, atmete den Gummigeruch seiner Regenkleidung ein. »Mach das bloß nie wieder!«

»Guck mal, Mummy, ein Bootchen und ein Hubrauscher!«

»Komm jetzt, ich bring dich nach Hause.« Sie schob einen Arm unter seinen Po, hob ihn hoch, richtete sich auf und drehte sich um.

Der Helikopter der Küstenwache leuchtete über ihnen, sein Scheinwerfer genau auf ein klobiges Fischerboot gerichtet – ungefähr so lang wie ein Doppeldeckerbus, aber doppelt so breit. Als ob es fast so schwanger wäre wie sie. Der blau-weiße Anstrich der Ocean-Gold Harvester war auf dieser Seite wie neu, aber mit der anderen Seite klebte sie an den braungrauen Klippen, die über ihr aufragten. Einer der Ausleger lag verbogen auf dem Deck, der andere ragte ins Wasser, noch mit dem Netz verbunden, das sich im aufgewühlten Wasser blähte, während die Wellen das Boot gegen die Wand aus Erde und Fels warfen.

Fünf Männer drängten sich am Ruderhaus zusammen, alle in neonorangen Überlebensanzügen und Rettungswesten. Sie klammerten sich an die Handläufe des Boots, während einer ihrer Kameraden zum Helikopter hochgewinscht wurde.

Das Boot rutschte in ein Wellental, der Rumpf schrammte kreischend über die Felswand, ehe die nächste Welle es wieder gegen die Klippe schleuderte.

»Will gucken, will gucken!«

»Nein, Alfie, wir müssen jetzt nach Hause gehen, bevor …«

Ein dunkles Grollen drang durch das Heulen des Winds, das Rauschen des Regens und das Wummern der Rotoren.

Es war zu spät.

Die Klippe brach ab.

Margaret schluckte. Zog Alfies Kopf an ihre Brust. »Mach die Augen zu, Schatz. Mummy liebt dich!«

Und dann sackte die Landspitze ab, das Geräusch zerberstender Felsen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse, als eine gewaltige Wand aus Erde und Stein vornüberkippte und über der Ocean-Gold Harvester zusammenschlug. Und sie unter sich begrub. Ein riesiger Gischtschwall spritzte auf, als die Erdmassen das zerschmetterte Boot in die aufgewühlte See drückten, mitsamt allen Seelen an Bord.

Fünf Männer tot, einfach so …

Über ihnen trudelte der Hubschrauber der Küstenwache, als ob er Mühe hätte, das Gleichgewicht zu halten.

Und Margaret starrte ungläubig – nicht auf den Berg von Geröll an der Stelle, wo eben noch ein Boot und fünf Männer gewesen waren, sondern auf die Klippenwand, die vom Scheinwerfer des Helikopters erhellt wurde. Die frisch freigelegte Erde war dunkler, als es die Klippe gewesen war, und das machte es leichter zu erkennen, was daraus hervorschaute.

Knochen.

Dutzendweise Knochen.

Menschliche Knochen.

– in Gedanken und Gebeten –

2

Verdammte Schlaglöcher.

Das Auto schlingerte von einem zum nächsten und ließ jedes Mal Wasserfontänen von den Radkästen aufspritzen, während die Scheibenwischer mit ihrem rhythmischen Quietsch-klock einen aussichtslosen Kampf gegen das Trommelfeuer des Regens führten. Die Straßenlaternen bildeten schwächliche Lichthöfe im Schüttregen, die so gut wie nichts gegen die Dunkelheit ausrichten konnten. Und nach einem halben Dutzend war Schluss, danach kam nur noch die kohlschwarze Weite der aufgewühlten Nordsee.

Ich packte den Haltegriff über der Beifahrertür, als der kleine Suzuki-Jeep durch das nächste Schlagloch rumpelte. »Zielst du absichtlich auf die Dinger?«

Alice beugte sich weiter über das Lenkrad und spähte angestrengt durch den schmierigen Halbkreis von halbwegs transparentem Glas. »Hier irgendwo müsste es sein …« Sie hatte sich in eine schwarze wattierte Jacke gehüllt, aus deren zu langen Ärmeln regenbogenfarbene fingerlose Handschuhe hervorschauten. Das lockige braune Haar hatte sie zu einem Knoten zurückgebunden, der im Takt der Schlaglochrallye wackelte und wippte.

Rumpel. Schlinger. Rumms.

»Ich meine nur – es ist okay, wenn du nicht jedes einzelne triffst.«

»Ist es das da vorne?« Sie nahm eine Hand lange genug vom Lenkrad, um auf eine weitere in unattraktiven Beige- und Brauntönen gestrichene Nachkriegs-Doppelhaushälfte zu deuten. Das Einzige, was das Haus von seinen Nachbarn unterschied, war die Tatsache, dass hier sämtliche Lichter brannten. Und dass vor dem Haus ein rotzgrüner, klappriger Fiat Panda parkte.

»Ich sage immer noch, es ist reine Zeitverschwendung.«

»Aber wir –«

»Sollen einen Kindermörder fangen und uns nicht mit irgendeinem halbgaren Kann-sein-kann-auch-nicht-sein-Fall für die Paria-Truppe herumschlagen.« Ich streckte mein rechtes Bein und drehte das Fußgelenk, das dabei ein Klicken von sich gab. Es war immer das Gleiche, wenn das Wetter umschlug – dann strahlten die Schmerzen vom Narbengewebe in den ganzen Fuß aus, als ob ein Sadist die Knochen mit einem Lötkolben bearbeitete. »Wozu hat man denn Uniformierte, wenn man ihnen nicht die ganzen sinnlosen Tätigkeiten aufs Auge drücken kann?«

Alice parkte hinter dem Panda. Sie stellte den Motor ab und blieb sitzen, während der Sturm den Jeep auf seiner Federung hin und her warf. »Es ist ja nur vorübergehend.« Schulterzucken. »Außerdem war die Alternative, zur Obduktion zu gehen, und ich habe wirklich keine Lust zuzuschauen, wie noch ein kleiner Junge ausgeweidet wird.«

Das war ein Argument.

»Ash?« Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Hast du dir überlegt, was du morgen machen willst? Du weißt schon, weil es doch –«

»Können wir jetzt bitte nicht darüber reden?«

»Es ist völlig normal, solche Gefühle –«

»Mir geht es gut.« Was gelogen war. »Und wir haben einen Auftrag zu erledigen.« Ich schnallte mich ab, drehte mich um und griff hinter mich, um Henry zwischen den Ohren zu kraulen. »Du passt auf den Jeep auf, okay?« Er schaute mit offenem Maul zu mir auf, die kleine rosa Zunge rausgestreckt, die Nase glänzend schwarz wie ein Lakritzbonbon. »Und wenn jemand ihn klauen will, beißt du ihn.«

Alice stöhnte. »Versuch nicht wieder das Thema zu wechseln. Morgen ist ein –«

»Unterbrich mich nicht – ich bin gerade dabei, das Scotchterrier-Fahrzeugsicherungssystem scharfzustellen.« Ich tätschelte Henrys Kopf noch ein wenig, und sein Grinsen wurde breiter. »Wer ist mein bissiges kleines Monster, hm? Du bist es. Ja, du!«

»Aber –«

»Für eine forensische Psychologin bist du wirklich schlecht darin, die subtilen Signale wahrzunehmen, die jemand aussendet, nicht wahr?«

Ein strahlendes Lächeln. »Oh, ich nehme sie sehr wohl wahr! Ich ziehe es nur vor, sie zu ignorieren. Zu deinem eigenen Besten.«

»Ich Glückspilz.« Ich fischte meinen Krückstock aus dem Fußraum. »Komm jetzt – wir erledigen unsere staatsbürgerliche Pflicht, und dann holen wir uns irgendwo eine Pizza oder so.« Der Wind versuchte mir die Autotür aus der Hand zu reißen, als ich sie öffnete, und spitze Regennadeln stachen auf mein Gesicht ein.

Alice kletterte auf der anderen Seite heraus, den Kopf im Periskop ihrer Kapuze versteckt. »Können wir nicht zur Abwechslung mal to stay anstatt to go essen?«

»Wir haben einen Kindermörder zu fangen, schon vergessen?« Ich eierte über die mit Pfützen übersäte Einfahrt zur Haustür, wo ein kleines hölzernes Vordach so gut wie keinen Schutz vor dem Regen bot. Auf der einen Seite war die Dachrinne kaputt, und ein wahrer Wasserfall klatschte auf den schmuddeligen Rauputz herab.

Ihre Stimme nahm einen entschieden weinerlichen Ton an. »Ich hab’s satt, immer nur aus fettigen Pappkartons zu essen. Oder aus Plastikbechern.«

»Hör auf zu jammern und klingle.«

Das tat sie – drückte so lange auf den Knopf, bis auf der anderen Seite der wespenzerfressenen Tür ein schrilles Drrrrrrrrrinnnnnnng ertönte. »Ich hab schon vergessen, wie Teller und Besteck aussehen.«

»Ich denke, wir sollten uns Steven Kirk noch mal vornehmen. Ihn aufs Revier zerren und so lange schütteln, bis er nicht nur sein Gebiss ausspuckt.«

»Und es ist auch nicht gerade gesund. Wann haben wir zuletzt Salat gegessen?«

»Ich kauf ihm seine ganze Nummer von wegen ›Ich habe mich zu der Zeit um meine todkranke Mutter gekümmert‹ einfach nicht ab. Einmal Pädo, immer Pädo.«

»Oder Brokkoli!« Aus den Tiefen von Alice’ Kapuze drang ein dünner, quäkender Klagelaut. »Ich vermisse Brokkoli.«

»Er könnte sehr wohl …«

Die Tür ging auf, und ein schmierig aussehender Typ mit halblangen braunen Haaren, einem billigen Anzug und rotem Schamhaar-Bart beäugte mich finster. »Sie haben sich ja Zeit gelassen.« Sein eines Auge schaute nicht ganz in die gleiche Richtung wie das andere, als ob er es schief eingebaut hätte.

»DC Watt. Schön zu sehen, dass Sie sich Ihre einnehmende Art bewahrt haben.«

Er knurrte, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte den Flur entlang. Jetzt war die handtellergroße kahle Stelle an seinem Hinterkopf zu sehen, der von einer wulstigen, u-förmigen Narbe verunstaltet war. Die Haut ringsum war eingedellt, als ob ein Teil seines Schädels ausgefräst wäre. »Mutter ist in der Küche.«

Alice folgte mir ins Haus und zog den Reißverschluss ihrer gefütterten Jacke auf, unter der ein weiteres Exponat aus ihrer Sammlung schwarz-weiß gestreifter Tops zum Vorschein kam. Ihre roten Converse-Turnschühchen quietschten auf dem feuchten Linoleum, als wir auf einen dampfigen Raum im hinteren Teil des Hauses zugingen, der von einem einladenden Duft nach Mince and Tatties erfüllt war.

Eine hochschwangere Frau saß am Tisch, mit einem kleinen Jungen auf dem Schoß, den sie fest an sich drückte. Er hatte ein Malbuch vor sich und verunstaltete gerade einen Triceratops mit einer scheußlichen Farbkombination aus Rotbraun und Türkis.

Mutters breiter Rücken war uns zugewandt. Ihr krauses, knalloranges Haar fiel über die Schultern ihrer schwarzen Uniform-Fleecejacke. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, sodass ihre fleischigen, blassen Unterarme mit den Rosen- und Distel-Tattoos zu sehen waren. »Und Sie sind sicher, dass es keine Tierknochen waren oder so etwas Ähnliches?«

Die schwangere Frau verdrehte die Augen. »Ich sollte eigentlich morgen meinen Abschluss in forensischer Anthropologie machen, aber ich habe bei meiner Geburtstagsparty zu viel Prosecco getrunken, und das habe ich jetzt davon.« Sie deutete auf ihren dicken Bauch. »Ich kenne mich mit menschlicher Anatomie aus, und diese Knochen stammen eindeutig von einem Menschen.«

DC Watt räusperte sich. »’tschuldigung, Boss, das Team von der NERE wär’ jetzt da.« Er sprach »NERE« aus, als ob es sich um eine Geschlechtskrankheit handelte.

Mutter blickte sich zu uns um und zog eine Braue hoch. »Sieh an, sieh an, wenn das nicht Ash Henderson ist. Wieder ins Land der Lebenden zurückgekehrt?«

Ich nickte. »Detective Inspector. Sie kennen Dr. McDonald?«

Alice sprang auf sie zu wie ein aufgeregter Spaniel, die Hand zum Gruß ausgestreckt. »Also, wir haben uns ja eigentlich noch nicht kennengelernt, DI Malcolmson, aber sagen Sie bitte Alice zu mir – ich habe schon viel von Ihnen gehört, es ist mir ein Vergnügen, und keine Sorge, wir sind nicht hier, um Ihren Fall zu übernehmen, wir kommen nur, weil Sie sagten, dass Sie unsere Hilfe brauchen – also, wahrscheinlich nicht unsere Hilfe, aber jedenfalls Ashs Hilfe, und ich bin nur mitgekommen, weil er nicht richtig Auto fahren kann, wegen seinem Fuß und so.« Das alles in einem einzigen Maschinengewehr-Atemzug. »Und ich hab mich gefragt, was es mit Ihrem Spitznamen auf sich hat, warum nennt man Sie ›Mutter‹? – ist es, weil Sie einen fürsorglichen Einfluss ausüben? – was, wie ich sehr wohl weiß, ein repressives gesellschaftliches Stereotyp ist, das der weiblichen Psyche von den repressiven Kräften eines diktatorischen Patriarchats aufoktroyiert wird – ›oh, Frauen sind ja so fürsorglich und weich, sie können unmöglich mit Männern konkurrieren‹, aber manchmal ist es doch wirklich der Fall, ich meine, das mit der Fürsorglichkeit, nicht das mit der Konkurrenz, und ist das Tee da in der Kanne, da hätte ich gerne eine Tasse, wenn noch was da ist?«

Mutters Augenbraue wanderte noch höher. »Ist sie immer so?«

»Sie haben ja keine Vorstellung.« Ich schob die Hände in die Hosentaschen. »Also, können wir das jetzt hinter uns bringen? Alice und ich müssen einen Kindermör–« Mein Blick ging zu dem kleinen Jungen, der mit großen Augen von seinem fehlfarbigen Dinosaurier zu mir aufsah. »… einen bösen Mann fangen.«

»Das kann ich mir denken.« Mutter winkte Watt zu. »John, Sie sind bitte so nett und bleiben bei Miss Compton. Mr Henderson und ich müssen etwas überprüfen gehen.« Und damit schob sie sich an mir vorbei und trat hinaus in den Flur, wo sie in eine weite Barbour-Wachsjacke schlüpfte. An der Haustür blieb sie stehen. »Sie haben doch nichts dagegen, dass wir vorher noch einen kleinen Umweg machen, oder?« Ohne mir Zeit zum Antworten zu geben, fuhr sie fort: »Nein? Gut. Dann kommen Sie.«

Sie schlug ihre Kapuze hoch und trat hinaus in den heulenden Sturm. Mit hochgezogenen Schultern stemmte sie sich gegen die Böen und stapfte zwischen den Pfützen hindurch die Einfahrt hinunter.

Alice sah mich an und zog einen Flunsch. »Glaubst du, dass ich da drin einen schlechten ersten Eindruck gemacht habe, weil ich glaube nämlich, dass ich einen schlechten ersten Eindruck gemacht habe, und ich wollte wirklich nicht …«

»Es hat doch keinen Sinn, dass wir beide klatschnass werden. Du bleibst hier bei DC Watt und der Zeugin. Wenn du Glück hast, gibt sie dir was von dem Mince and Tatties ab. Auf richtigen Tellern. Mit Besteck.«

»Pass auf dich auf, ja?«

»Versprochen.« Das scheußliche Wetter packte mich wie eine Riesenfaust, als ich hinter Mutter herhumpelte, über die Einfahrt und weiter über den pockennarbigen Asphalt. Ich hatte Mühe, Schritt zu halten. »Wohin gehen wir?«

»Nun ja, wir können uns ja wohl kaum auf das Wort einer Zivilperson verlassen, oder? Auch wenn diese Person einen Beinahe-Abschluss in forensischer Anthropologie hat.« Sie zog eine Taschenlampe hervor und schwenkte den Strahl über die Gärten links und rechts der Straße, während wir unseren Weg bis zum Ende der Straße fortsetzten. Sie hob die Stimme, um das Heulen des Winds zu übertönen. »Als ich ein kleines Mädchen war, waren wir öfter hier. Immer an Ostern haben Mum und Dad ein Cottage unten am Strand gemietet, und wir haben in den Dünen gespielt und Sandburgen gebaut und die Hunde von anderen Leuten gejagt.« Sie stieg über einen niedrigen Lattenzaun und schlurfte durch windgepeitschte Büschel von gelblichem Gras. »Ich weiß noch, dass Clachmara damals richtig hübsch war, bevor der alte Ortsteil ins Meer gefallen ist. Tja, so ist das nun mal mit dem Klimawandel, nicht wahr?«

Sie blieb vor einem Bauzaun aus Maschendraht stehen, spitzte die Lippen und betrachtete sinnend die Lücke zwischen zwei Zaunelementen, die mit einer straff gespannten Kette verbunden waren. Sie sah an sich hinunter und dann wieder auf die Lücke. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das nicht funktionieren wird.«

»Eine schwangere Frau hat es geschafft, sich da durchzuzwängen, schon vergessen?«

»Bestimmt nicht hier. Und außerdem haben Sie es doch so eilig, sich wieder an die Jagd nach Ihrem kindermordenden bösen Mann zu machen, schon vergessen?«

Herrgott noch mal …

»Na schön, geben Sie mir die Taschenlampe.«

Ich quetschte mich durch die Lücke und folgte dem weißen Lichtfleck, der sich durch das lange Gras wand, während sie in der Dunkelheit zurückblieb.

»Machen Sie Fotos, wir brauchen Beweise!«

Regenwasser tränkte meine Hosenbeine; der kalte, nasse Stoff klebte an meiner Haut. Es drang durch die Schultern meiner Jacke, rann mir übers Gesicht und in den Nacken. »›Oh, das ist ganz schnell erledigt‹ hat er gesagt, ›einfach nur ein bisschen Hilfestellung geben‹, hat er gesagt, ›da sind Sie im Nu wieder zurück‹, hat er gesagt.«

Ich stapfte weiter, immer der Taschenlampe nach. Humpelte und stolperte durch die verwilderten Überreste eines Gartens. Das Gras zerrte mit bleichen, nassen Tentakeln an meinem Krückstock. Vom Haus selbst stand nur noch eine einzige Giebelseite; der Rest war weggerissen, und stattdessen war da nur noch der zerklüftete Klippenrand, unter dem die Nordsee tobte.

Gott, war das trostlos.

Ein Windstoß warf mich ein paar Schritte zurück. Und schleuderte mir noch eine Handvoll Regen ins Gesicht.

Das wurde mir doch allmählich zu blöd.

Der Strahl der Taschenlampe glitt an der Grenze zwischen dem Hier und dem Nichts entlang. Zur Linken war die Klippe nahezu senkrecht abgebrochen – Massen von Gestein und Erde, an die tief unten die tosenden schwarzen Wellen schlugen. Das war wohl die Stelle, wo das Fischerboot verschwunden war.

Arme Schweine.

Brecher schlugen gegen die Trümmer der einstigen Landspitze und verschlangen sie mit schäumenden Reißzähnen.

Das obere Ende des Schuttbergs mündete in den Garten gegenüber. Das Haus war vielleicht drei oder vier Meter von der Kante entfernt – ein freistehender Bungalow in schmutzigen Grau- und Brauntönen. An der Seeseite war eine Holzgarage drangeklatscht, deren Schwingtor schief in den Angeln hing.

Ich ließ den Lichtstrahl über die freigelegte Erde wandern und sah etwas Weißes darin schimmern. Ja, doch, das sah eindeutig nach Knochen aus.

Die ersten Bilder, die ich mit meinem Handy machte, waren unscharf und verschwommen. Der Blitz war einfach viel zu schwach, um irgendetwas auszuleuchten, selbst mit Unterstützung durch die Taschenlampe. Mit der Videofunktion ging es etwas besser. Ich zoomte ganz dicht heran und versuchte nicht zu viel zu wackeln, während der Wind an meinem Rücken zerrte.

Wie es aussah, lag unsere hochschwangere Freundin richtig: Was da aus der schwarzen Erde hervorschaute, waren eindeutig menschliche Überreste. Zwei leere Augenhöhlen starrten mich aus einem Schädel an, der schräg auf der Seite lag. Der Unterkiefer fehlte. Die nächste Attacke der Nordsee riss einen Brocken der dunklen Erde ab, der mitsamt dem Schädel den Abhang hinunterkullerte und von der nächsten Welle verschluckt wurde.

Unter mir war ein leises Grollen zu hören, und der Garten, in dem ich stand, büßte noch einmal einen halben Quadratmeter Lehm und Gras ein.

Okay, war vielleicht nicht die allerbeste Idee, hier noch länger herumzustehen.

Schnell zurück zum Zaun und durch die Lücke in die relative Sicherheit der sturmgepeitschten Straße.

Mutter sah mich unter ihrer Kapuze hervor an. »Und?«

»Hundert Prozent menschlich.«

Ihre Schultern sackten ab. »Mist. Warum konnte es nicht irgendein geschmackloser Scherz sein? Vielleicht ein begrabenes Haustier oder so?«

»Machen Sie sich keine Gedanken – noch zwei Stunden, dann ist sowieso alles ins Meer gefallen.«

»Ich wusste doch gleich, dass das ein vergifteter Kelch war. Aber ich konnte ja nicht früher Feierabend machen, obwohl alle anderen sich schon abgeseilt hatten, nicht wahr? Ich konnte es nicht der Nachtschicht überlassen, sich damit rumzuärgern. Nein, ich musste natürlich die pflichtbewusste, selbstlose Staatsdienerin geben.« Sie ließ die Schultern hängen und stieß einen langgezogenen, bekümmerten Seufzer aus. »Lassen Sie sich das gesagt sein, Mr Henderson – gehen Sie grundsätzlich nie ran, wenn zwei Minuten vor Schichtende Ihr Bürotelefon klingelt. Es ist immer eine Katastrophe.« Sie atmete tief durch, dann nickte sie. »Also, dann holen wir besser mal die Spurensicherung her. Rechtsmediziner, Staatsanwaltschaft, Suchteams …«

Der Wind heulte durch den Maschendraht, und wir mussten uns dagegenstemmen, um nicht umgeworfen zu werden.

»Na, viel Glück dabei.« Ich gab ihr die Taschenlampe zurück. »So, können wir jetzt vielleicht mal zu dem Grund kommen, weshalb ich eigentlich hier bin, solange es noch Stellen an mir gibt, die nicht völlig durchnässt sind?«

»Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch ein bisschen bleiben und mithelfen wollen?« Sie richtete die Taschenlampe auf den schrottigen grünen Fiat, der vor dem Haus der schwangeren, nicht ganz fertigen forensischen Anthropologin parkte. »Ich habe Kekse im Auto.«

»Ich muss immer noch einen Kindermörder fangen.« Die Leute hörten einfach nie zu.

»Na ja, man kann’s ja mal versuchen.« Mutter schwenkte die Taschenlampe herum und leuchtete über die Straße hinweg auf das letzte Haus auf dieser Seite des Zauns – das neben dem Grundstück, wo die Knochen aufgetaucht waren. Ein Doppelhaus mit durchhängenden Dachrinnen und flechtenbewachsenem Dach. Ein alter blauer Renault rostete am Straßenrand vor sich hin, in der Einfahrt stand ein versiffter Wohnwagen. Im Wohnzimmer brannte Licht. »Wollen wir?«

»Mir ist immer noch nicht klar, wieso Sie das nicht ohne mich geschafft hätten.«

»Weil Helen MacNeil nicht mit mir reden will. Und sie will auch nicht mit John reden. Und als ich einen Uniformierten hingeschickt habe, um es zu versuchen, war sie so nah dran« – sie hielt eine Hand hoch, Daumen und Zeigefinger zwei Millimeter auseinander –, »ihn zum Weinen zu bringen. Die Leitstelle sagt, Sie und Helen kennen sich von früher, also wird sie vielleicht mit Ihnen reden. Mit Ihrem überbordenden Charme dürfte das doch kein Problem sein.«

Sarkastische alte Hexe.

Und außerdem war meine Bekanntschaft mit Helen MacNeil nicht gerade von der angenehmen Sorte gewesen.

Ich folgte Mutter zu dem Haus. Der Wohnwagen diente uns als Windschutz, er schaukelte ächzend in seiner Federung, als der Sturm von der anderen Seite mit voller Wucht in ihn hineinfuhr.

Sie klingelte und hielt den Finger eine bis fünf Sekunden auf dem Knopf, dann ließ sie sich in die Hocke fallen und hob den Deckel des Briefschlitzes an. »Helen? Helen, ich bin’s, Flora. Können Sie bitte an die Tür kommen?«

Keine Antwort.

Sie versuchte es wieder. »Helen? Hallo, können Sie mich hören?«

»So wird das doch nie was!« Ich schlug mit dem Knauf meines Krückstocks gegen die Tür, drei Mal, so richtig mit Schmackes, und holte tief Luft. »HELENMACNEIL, POLIZEI! MACHENSIEAUF, ODERICHTRETEDIEGOTTVERDAMMTETÜREIN!«

Mutter schnalzte mit der Zunge. »Der Inbegriff der Diplomatie, wie immer.«

Noch drei Schläge. »DASISTMEINVOLLERERNST, HELEN, MACHENSIEDIETÜRAUF, SONST –«

Die Tür wurde aufgerissen, und eine Frau mittleren Alters beäugte uns finster. »Jaja, ist ja schon gut.« Die Jahre waren nicht sehr freundlich zu Helen MacNeil gewesen – jedes einzelne hatte sich in Form tiefer, verästelter Runzeln in ihr herzförmiges Gesicht eingegraben. Ihre stattliche Figur hatte sie sich allerdings bewahrt: Breite Schultern und kräftige Bizepse spannten das schwarze Muskelshirt mit einem Pentagramm und einem Ziegenkopf auf der Brust. Kurz geschorenes graues Haar und eine lange, scharf geschnittene Nase, die zwei- oder dreimal gebrochen worden war, seit wir uns zuletzt gesehen hatten.

Helen gefiel es offensichtlich nicht, wie ich sie anstarrte. »Was zum Teufel glotzen Sie so?«

Mutter trat einen halben Schritt näher und setzte ihr strahlendes Grübchenlächeln auf. »Ich weiß, Sie hatten bisher nicht sonderlich viel Lust, mit uns zu reden, Helen, aber es ist wirklich wichtig, dass wir –«

»Ich habe nicht Sie gefragt, sondern ihn da.« Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Den Humpelmann.« Sie reckte das Kinn. »Meinen Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind?«

Ich nickte. »Gut sehen Sie aus, Helen.«

Die Fältchen um ihre Augen wurden tiefer, als sie die Augen zusammenkniff. »Elf Jahre im Knast von Oldcastle – Ihretwegen hab ich die Geburt meiner Enkelin verpasst!«

»Nein, Helen, Sie haben die Geburt Ihrer Enkelin verpasst, weil Sie Neil Stringer mit dem Griff einer Spitzhacke den Schädel eingeschlagen haben. Und Sie wären nach acht Jahren rausgekommen, wenn Sie nicht auch noch Ruth Anderson in der Gefängnisbücherei abgestochen hätten.«

»Hmmmpf … Das Miststück hat es herausgefordert.«

»Aber sicher.« Ich wies mit dem Kopf nach nebenan, zum Grundstück jenseits des Maschendrahtzauns. »Sie haben von der Leiche gehört?«

»Von der mutmaßlichen Leiche.« Helen verschränkte die massigen Arme, die Muskeln wölbten sich unter der sommersprossigen Haut. »Die Dickmadame hier hat gesagt, es –«

»Wen nennen Sie hier dick?« Mutter richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, die Schultern gestrafft, die beachtliche Brust gewölbt. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu –«

»– wüsste nicht, was das mit mir zu tun hat, und –«

»– weil starke Knochen nichts sind, wofür man sich schämen muss! Es –«

Ich haute noch mal mit meinem Stock an die Tür. »OKAY, DASREICHTJETZT! Alle beide!«

Mutter scharrte mit den Füßen und wandte das Gesicht ab, während sie rot anlief. »Bin nicht dick.«

Helen zuckte mit den Schultern. Sah auf den Boden. Räusperte sich, sagte aber nichts.

Schon besser.

»An der Leiche ist nichts ›Mutmaßliches‹, sie ist echt.«

»Wüsste trotzdem nicht, was das mit mir zu tun hat.«

»Bei Ihrem Ruf? Eine Leiche taucht auf wundersame Weise auf Ihrem Nachbargrundstück auf, und Sie glauben ernsthaft, dass wir da nicht eins und eins zusammenzählen?«

Wieder hob sie das Kinn. »Kein Kommentar.«

»Ganz wie früher.« Ich trat einen Schritt zurück und begutachtete demonstrativ das Dach, dann die Wände zu beiden Seiten. »Die Bude sieht aus, als könnte sie jeden Moment über Ihnen zusammenbrechen. Bei Ihnen hat sich das Verbrechen nicht gerade gelohnt, wie? Was denn, hatten die etwa kein Ruhestandspaket für Sie parat, als Sie entlassen wurden? Einen schönen goldenen Handschlag als Dankeschön dafür, dass Sie den Mund gehalten haben?«

»Kein Kommentar.«

»Die haben Sie fallenlassen wie eine radioaktive Stinkbombe, nicht wahr? Und ich dachte immer, Loyalität sollte in beide Richtungen gehen?«

Ihr Blick verhärtete sich. »Kein Kommentar.«

»Da werden Sie für den Mord an Neil Stringer eingebuchtet, den die angeordnet haben, und ich wette, die haben sich nicht mal die Mühe gemacht, Sie vom Gefängnis abzuholen, als Sie entlassen wurden. Und Ihre Anrufe ignoriert. Ich wette, die haben Sie geghostet. Als ob Sie ihnen nichts bedeuten.«

»Kein – Kommentar!« Beide Wörter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßen.

»Und jetzt sitzen Sie hier draußen fest und warten nur noch darauf, dass Ihre Bruchbude ins Meer fällt. Eine unbedeutende, nutzlose alte Frau.«

Helen versteifte sich, als ob sie gleich auf mich losgehen würde … und leckte sich dann die Lippen. Blinzelte, ließ die Schultern sacken. »Ich weiß, was Sie da machen.«

Mutter atmete hörbar aus. »Schön, dass irgendjemand das weiß.«

»Sie glauben, wenn ich Zoff mache, können Sie mich wegen Angriffs auf einen Polizeibeamten einkassieren. Mich einbuchten und mir den Mord an dem, der da nebenan verscharrt ist, anhängen, wer immer das ist.« Sie wies in die ungefähre Richtung des Nachbargartens. »Tja, aber ich bin nicht blöd, und Sie können gleich wieder verduften. Na los, ab mit Ihnen, und nehmen Sie die fette Kuh gleich mit!«

Mutters Augen traten aus dem Kopf. »Jetzt werden Sie mal nicht unverschämt, ja?« Sie ballte die Fäuste, zitternd vor Empörung.

Hinter mir ertönte eine piepsige Stimme. »Hallo?« Und schon schob Alice sich in die Lücke zwischen Mutter und Helen MacNeil, die Kapuze ihrer Jacke zurückgeschlagen, die Nase von der Farbe des vielbesungenen Rentiers. Sie hatte Henrys Leine in der einen Hand und hielt Helen die andere hin. »Ich bin Dr. McDonald, aber Sie dürfen Alice zu mir sagen, wenn Sie mögen, weil es doch einfacher ist, wenn alle auf solche Förmlichkeiten verzichten, nicht wahr, und Ihr T-Shirt gefällt mir – ist das ›Crowley’s Ghost‹, die hab ich früher dauernd gehört, echter Death Metal hat so eine wunderbare Intensität – jedenfalls, ich bin mit Henry Gassi gegangen und habe laute Stimmen gehört, und da dachte ich mir, ich könnte vielleicht helfen?«

Helen MacNeil starrte sie an.

Alice drückte mir Henrys Leine in die Hand. »Wunderbar, also dann: Ash, DI Malcolmson, könntet ihr beziehungsweise könnten Sie mich einen Moment mit … Helen, nicht wahr? Ja, also, wenn wir einen Moment für uns haben könnten – falls das für Sie in Ordnung ist, Helen –, damit wir uns ein bisschen unterhalten können, so von Frau zu Frau, und schauen, ob wir nicht einen Weg finden, die Dinge freundlich und friedlich zu regeln und wirklich als Team zusammenzuarbeiten, nicht wahr?« Sie schenkte uns allen ein sonniges Lächeln. »Prima, so machen wir’s!« Sie klatschte in die Hände und ging auf die Tür zu.

Helen wurde ein wenig blass im Gesicht, als sie zurückwich, mit einer Miene, als ob ein Sattelschlepper auf sie zugerast käme, doch Alice folgte ihr seelenruhig ins Haus.

Klonk – die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und Mutter, Henry und ich blieben draußen im Regen stehen.

Wieder scharrte Mutter mit den Füßen und räusperte sich. »Sind Sie sicher, dass Ihre kleine Freundin da drin nicht in Gefahr ist? Wie Sie schon sagten, Helen MacNeils Ruf ist nicht gerade –«

»Sie meinen das organisierte Verbrechen, den Kreditwucher, die schweren Körperverletzungen, die allgemeine Bandengewalt, und die Verwicklung in mindestens drei Morde, von denen wir ihr zwei nicht nachweisen konnten?«

»Diese Art von Dingen, ja.«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nicht Alice, um die ich mir Sorgen mache. Helen MacNeil hat nicht die geringste Chance.«

3

»Na, das ist doch nett, oder?« Alice klopfte auf die Armlehne der ramponierten Couch, auf der sie saß, und blickte sich lächelnd im Wohnzimmer um, das ungefähr so viel Gemütlichkeit und Charme ausstrahlte wie ein verwesender Leichnam.

Neben den zwei scheußlichen Couchen gab es noch einen scheußlichen Sessel, über den scheußlichen Porzellanhündchen auf dem Kaminsims ein scheußliches Gemälde von einem kleinen Mädchen, das einen Luftballon hielt, eine scheußliche Prägetapete und scheußlichen braunen Teppichboden. Gut ein Drittel des Raums wurde von einem großen Multigym eingenommen. Aber anders als bei normalen Menschen waren die Stangen und Gewichte aus Edelstahl nicht mit Wäsche behängt und mit einer Staubschicht überzogen. Das Ding glänzte wie neu, und der Geruch nach Metall und Caramba war fast stark genug, um den allgegenwärtigen Schimmelmief zu überdecken.

Wie sie es geschafft hatte, blieb ein Rätsel, aber Alice hatte Helen MacNeil nicht nur dazu gebracht, uns alle ins Haus zu lassen, sie hatte sie sogar dazu überredet, vier Becher Tee zu servieren. Und dazu noch ein paar Kekse für Henry.

Der kleine Kerl saß zu meinen Füßen, mampfte seine Hobnobs und klopfte mit dem Schwanz gegen die Seite des Sessels, während Helen sich rücklings über eine schwarze Lederbank schob, bis sie mit Kopf und Schultern unter der Stange einer mit Gewichten bestückten Scheibenhantel lag. Keuchend hob sie die Stange aus den Halterungen und stemmte die schätzungsweise sechzig Kilo in die Höhe.

»Also, Helen …« Mutter nahm einen kleinen Schluck Tee, verzog das Gesicht und stellte den Becher auf den Couchtisch zurück. »Wenn Sie nichts mit der Leiche zu tun hatten, die nebenan verscharrt wurde, wer war es dann?«

»Wissen Sie, das Problem bei den meisten Leuten ist, dass sie sich im Gefängnis Muskeln antrainieren, um geschützt zu sein.« Sie stemmte die Gewichte noch einmal in die Höhe. »Niemand legt sich mit dir an, wenn du von oben bis unten mit Muskeln bepackt bist.« Und noch einmal. »Dann kommen sie raus und lassen alles schlaff werden.«

»Erzählen Sie uns von Ihrem Nachbarn …« Sie sah in ihrem Notizbuch nach. »Mr Gordon Smith?«

Noch eine Wiederholung. »Kein Kommentar.«

Alice beugte sich vor. »Bitte, Helen, ich weiß, es kann nicht einfach für Sie sein, der Polizei zu helfen, nach allem, was passiert ist, aber wenn –«

»Ihr unfähigen Säcke habt mir nicht geholfen, als unsere Leah verschwunden ist, warum sollte ich euch dann helfen?« Die Hantel wurde noch einmal hochgestemmt. »Meine Enkelin verschwindet, und ihr Vollidioten macht euch noch nicht mal die Mühe, jemanden vorbeizuschicken.«

Ich sah Mutter an – sie zuckte nur mit den Schultern.

Okay.

Schön zu sehen, dass die Oldcastle Division immer noch die alte Gurkentruppe war. Man sollte doch meinen, dass jeder fähige Polizeibeamte erst einmal den Eintrag im Polizeicomputer checken würde, bevor er jemanden zu vernehmen versuchte.

»Wie lange ist das her?«

Helen ließ die Hantel auf die Halterung zurückfallen. »Tun Sie doch nicht so, als ob das Sie interessiert. Das geht euch Bullen doch alles am Arsch vorbei.«

»Wir sind nicht die Polizei. Ja, okay, DI Malcolmson schon. Aber Alice und ich arbeiten für die Nebengeordnete Ermittlungs- und Revisionseinheit. Das können Sie sich ungefähr so vorstellen wie eine Mischung aus Das A-Team und Cold Case, nur mit zivilen Experten, die den Polizisten vor Ort aus der Patsche helfen, wenn sie wieder mal was vermasselt haben. Wie das hier.«

Damit erntete ich einen leicht entrüsteten Blick von Mutter.

Tja, die Wahrheit ist eben oft schmerzlich.

»Wann ist Leah denn verschwunden?«

»Am Freitag, dem neunten Oktober. Hat das Haus verlassen, um einkaufen zu gehen, und ist nicht mehr zurückgekommen.«

Das war jetzt wie lange? … fünf Wochen her. Also nicht lange genug, als dass es sich um unsere skelettierte Leiche handeln könnte. Außer natürlich, der Täter hätte sie ausgekocht.

»Wie alt ist sie?«

Helen schlängelte sich unter der Hantel hervor und setzte sich auf, um sich mit einem löchrigen Geschirrtuch den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Achtzehn. Was bedeutet, dass ihr Bullen keinen Finger gerührt habt.«

»Mit achtzehn ist man alt genug, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.«

»Leah würde nie davonlaufen! Das würde sie mir nicht antun. Nicht, nachdem ihre Mutter …« Sie atmete tief durch. Im Zimmer herrschte Schweigen, während Helen sich noch einmal mit dem Geschirrtuch über die Augen wischte. »Das würde sie nicht tun.«

Das war das Problem bei Vermisstenfällen – diejenigen, die zurückblieben, wollten oft nicht wahrhaben, dass ihr Angehöriger so unglücklich gewesen sein könnte, dass er ohne ein Wort verschwand.

»Okay.« Ich versuchte so zu klingen, als ob es mich wirklich interessierte. »Sie geben mir die Personalien Ihrer Enkelin, und ich sehe, was ich tun kann.«

Alice rutschte ein Stück vor. »Sie sollten eine Tracking-App auf Leahs Handy installieren. Zu Ihrer Beruhigung. Ich habe eine auf Ashs Handy installiert, nicht wahr, Ash?«

»Können wir das jetzt bitte lassen?« Ich wandte mich wieder Helen zu. »Ich verspreche Ihnen, ich werde denjenigen, die für die Suche nach Ihrer Enkelin zuständig sind, ordentlich Dampf machen, okay?«

Sie nickte. Atmete noch einmal durch. »Gordon Smith war der beste Nachbar, den man sich vorstellen konnte. Er und Caroline, seine Frau, waren wie Großeltern für meine Sophie. Und dann, als sie … Danach haben sie sich für mich um Leah gekümmert, während ich im Bau war.« Helen zupfte an den Löchern in ihrem Geschirrtuch herum. »Hat ihr das Herz gebrochen, als Caroline starb. Darmkrebs, vor vier Jahren. Hat anderthalb Jahre gedauert.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Gordon? Ende September kreuzt plötzlich jemand von der Bezirksverwaltung auf und erklärt sein Haus für unbewohnbar. Der arme alte Bursche hat sechsundfünfzig Jahre in dem Haus gewohnt, und dann erzählt ihm irgend so ein pickliger Knilch mit einem Klemmbrett, dass er drei Wochen Zeit hat auszuziehen. Ach ja, und nicht nur, dass er keinen Penny Entschädigung kriegt – er muss auch noch die Firma bezahlen, die sein Haus abreißt und alles auf die Müllkippe abtransportiert. Ist das vielleicht fair?«

»Ja, aber wo ist er?«

Sie breitete das Geschirrtuch über die Klimmzugstange. »Gordon kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Alle haben ihn und Caroline geliebt. Und woher wollen Sie wissen, dass diese Leiche nicht schon da war, als die beiden eingezogen sind? Er hat nichts damit zu tun.«

»Tun Sie mir den Gefallen, Helen, und sagen Sie mir einfach, wo Ihr heiligmäßiger Nachbar ist.«

Sie sah mich finster an, sagte aber nichts.

»Und ehe Sie mir wieder mit ›kein Kommentar‹ kommen: Ich bin müde, ich bin klatschnass, und ich bin nicht in der Stimmung für alberne Spielchen. Wo – ist – er?«

»Sein Bruder hat einen kleinen Bauernhof auf der Black Isle. Gordon hat mal erwähnt, dass er dort unterkommen würde, bis er sich überlegt hat, was er machen will.«

»Na also, das war doch nicht so schwer, oder?« Ich stand auf und nickte Mutter zu. »Und damit wäre unser Hilfseinsatz abgeschlossen. Sie können jetzt übernehmen.«

»Moment mal …« Alice hob die Hand. »Wenn er für den Abriss seines Hauses bezahlen musste, wieso ist es dann immer noch …?« Sie deutete in Richtung des Nachbargrundstücks.

»Er hat ihnen gesagt, sie könnten sich die Entsorgungsgebühr sonst wo hinstecken. Sechzehntausend Pfund? Wenn die mir sechzehntausend abknöpfen wollen, breche ich ihnen jeden Knochen im Leib.«

Mutter verzog wieder das Gesicht und hievte sich von der Couch hoch. »Helen, wenn Gordon Smith für Ihre Mädchen wie ein Großvater war, haben Sie dann zufällig noch einen Hausschlüssel?« Sie zog die Stirn in Falten. »Und haben Sie vielleicht auch einen Bolzenschneider im Haus?«

»Sind wir sicher, dass das eine gute Idee ist?« Alice drehte sich um die eigene Achse und blies ein Atemwölkchen aus, das im Schein der Taschenlampen-App ihres Handys weiß schimmerte. »Ich meine, absolut hundertfünfzigprozentig bombensicher – weil es mir doch ganz schön riskant vorkommt, sich während eines orkanartigen Sturms in einem abbruchreifen Haus am Rand einer abbröckelnden Klippe aufzuhalten …«

Der Strahl von Mutters richtiger Taschenlampe strich über den Berg von Möbeln hinweg, der im Wohnzimmer aufgetürmt war. Offenbar hatte Gordon Smith es nicht für nötig befunden, irgendetwas von seinem Hausrat mitzunehmen. Vor seiner Abreise hatte er alles in dieses Zimmer geschleppt und zu einem einzigen großen Möbelhaufen aufgeschichtet: Sofas, Sideboards, ein Doppelbett, eine Anrichte, einen Esstisch mit Stühlen, Arzneischränkchen, Gästebett, Kleiderschränke und etwas, das aussah wie ein Wäschekorb. Alles kreuz und quer aufeinandergeschichtet, als ob er vorgehabt hätte, im Wohnzimmer ein Freudenfeuer zu entfachen, aber nicht mehr dazu gekommen wäre, seinen Plan auszuführen.

Regen prasselte ans Fenster. Durch die schmutzige Scheibe war nichts zu sehen als Schwärze. Draußen war es genauso dunkel wie drinnen.

»Was, wenn das Haus einstürzt, während wir hier drin sind?« Alice drängte sich dichter an mich, als der Wind über das Dach hinwegkreischte. »Oder mitsamt der Klippe im Meer versinkt?«

»Du hast recht. Da«, ich hielt ihr Henrys Leine hin, »nimm den kleinen Kerl mit und warte draußen im Auto.«

Jetzt zog sie einen Flunsch. »Ganz schön sexistisch. Bloß weil ich eine Frau bin, soll ich draußen im Auto warten?«

»Nicht, weil du eine Frau bist, sondern weil du ein Jammerlappen bist. Und DI Malcolmson ist doch auch eine Frau, nicht wahr, DI Malcolmson?«

»Soviel ich weiß, ja …« Sie öffnete einen der Kleiderschränke – ein schweres Mahagoni-Teil, das schräg an der Rückseite eines staubigen Sofas mit geblümtem Bezug lehnte – und spähte hinein. »Frauenkleider. Von der toten Gattin?«

»Und ich meine es ernst: Geh und warte im Auto.«

Alice schüttelte den Kopf. »Wenn es für dich sicher genug ist, ist es auch für mich sicher genug.« Dann hob sie die Faust. »Nieder mit dem Patriarchat!« Und folgte Mutter hinaus auf den Flur.

Warum musste aber auch wirklich jede Frau in meinem Leben absolut durchgeknallt sein?

Na ja, immerhin hatte ich es versucht.

Das Tock-tock meines Krückstocks klang hohl, als wir einen raschen Rundgang durchs Haus machten.

Badezimmer: leer – ein dunkleres Tapeten-Rechteck über der avocadofarbenen Toilette, wo das Arzneischränkchen gehangen hatte. Schlafzimmer: ausgeräumt bis auf den Teppichboden. Gästezimmer: dito. Esszimmer: noch mehr Nichts. Küche: leer, die Türen der Hängeschränke offen, die Regale kahl. Von der Küche ging ein kleiner Hauswirtschaftsraum ab. Entweder waren ihm die Waschmaschine und die Kühltruhe zu schwer gewesen, oder Gordon Smith hatte sich gedacht, dass sie für sein Wohnzimmer-Freudenfeuer, das er nie entzündet hatte, nicht brennbar genug waren.

Ich klappte den Deckel der Kühltruhe auf – sicher ist sicher …

Nichts als eine dünne Schicht fauliges, fettiges Wasser. Keine Leichen weit und breit.

Mutter richtete ihre Taschenlampe auf das hintere Ende des L-förmigen Flurs. »Wollen Sie mal da nachsehen?«

Alice schlich auf die Tür zu, drückte die Klinke – und das Heulen des Winds wurde merklich lauter. Sie steckte den Kopf und die Hand mit dem Handy einen Moment lang durch den Spalt, dann drückte sie die Tür wieder zu. »Die Garage. Da ist auch nichts.«

»Hmm …«

Also, mit den Türen waren wir durch, aber es musste doch auch einen Dachboden geben, oder?

Die Taschenlampe meines Handys war nicht halb so gut wie die von Alice, aber ich benutzte sie dennoch, um die Decke des Flurs zu inspizieren. »Da haben wir’s.« Eine Luke in der Gipskartondecke, vielleicht zwei Meter von der Haustür entfernt. »Alice, holst du mal einen Stuhl aus dem Wohnzimmer?«

»Iih … Du weißt schon, dass da oben bestimmt bloß Spinnen sind, oder? Spinnen und Staub und Glaswolle, alles ganz kribbelig und kratzig und eklig – also zwing mich bitte nicht, da raufzugehen.«

»Was denn, soll ich es etwa machen – mit meinem Krückstock und meinem kaputten Fuß?«

Mutter zuckte mit den Schultern. »Schauen Sie nicht mich an – diese Luken sind doch grundsätzlich für normal gebaute Menschen zu schmal bemessen.«

Alice ließ den Kopf hängen, stöhnte und schlurfte ins Wohnzimmer, aus dem sie einen der hölzernen Esszimmerstühle heranschleifte. Sie knallte ihn unter der Luke auf den Boden. »Es ist, weil ich ein Mädchen bin, stimmt’s?«

»Rauf mit dir, Affenmädchen!«

»Ich hätte draußen im Auto warten sollen.« Sie kletterte auf den Stuhl, schwankte ein wenig und drückte dann von unten gegen die Luke, bis sie sich mit quietschenden Scharnieren öffnete. »Wenn ich Spinnen in die Haare kriege, verklage ich Police Scotland auf Schmerzensgeld wegen seelischer Grausamkeit und posttraumatischer Belastungsstörung.«

»Jetzt mach mal kein Drama draus.«

Sie schmollte noch einen Moment, dann griff sie in die Öffnung, zog sich hoch und setzte sich auf die Kante. Ihre schwarze Jeans und die roten Schuhe baumelten in der schimmligen Luft über unseren Köpfen.

»Siehst du was?«

Ihre Stimme drang gedämpft zu uns herunter. »Total verdreckt hier oben. Und kalt! Und … Aaaaahhh … Aaaaaahhhhh …« Ein schrilles, quietschiges Niesen. »Staubig! Ganz furchtbar staubig.«

»Was ist mit Kisten oder Koffern oder so was in der Art?«

»Nein, nur Staub und Glaswolle und SPINNEN! O GOTT, DIE SIND VERDAMMT RIESENGROSS!« Sie zappelte und trat mit den Beinen aus, dann rutschte sie aus der Luke, die Arme lang ausgestreckt, und hielt sich mit den Händen an den Kanten fest, während der Stuhl unter ihr polternd umkippte. »AAAAAAAAHH!« Sie ließ los und plumpste wie eine reife Frucht auf den Boden des Flurs, wo sie neben dem Stuhl liegen blieb, hektisch ausspuckte und sich das Gesicht wischte.

»Ausgesprochen elegante Landung.«

»Ich hasse euch beide.«

Mutters Miene verdüsterte sich. »Tja, das war’s dann wohl. Wir sind keinen Schritt weiter als vor einer halben Stunde.«

Alice ergriff die Hand, die ich ihr hinhielt, rappelte sich hoch und funkelte mich an. »Ehrlich, die waren so groß!« Sie hielt die Hände ungefähr dreißig Zentimeter auseinander. »So, können wir jetzt vielleicht dieses spinnenverseuchte Gruselkabinett verlassen, bevor das ganze Haus zusammenbricht?«

Na ja, warum nicht?

»Na, dann komm.« Ich warf den Stuhl zurück ins Wohnzimmer, wo er von dem Möbelhaufen abprallte und eine kleine Mahagoni-Lawine auslöste. Das Arzneischränkchen krachte auf den Boden, die Türen sprangen auf, während die Spiegel zersprangen, ein Kleiderschrank kippte zur Seite und blieb am Doppelbett hängen, und die geschwungene Krone eines Garderobenständers brach ab, als sie auf den Teppichboden knallte. RUMMS.

Henry hüpfte einen halben Meter hoch in die Luft und flitzte mit gesträubten Nackenhaaren aus dem Wohnzimmer. Draußen blieb er stehen und kläffte den Möbelberg an.

Das Gepolter verhallte, doch die Staubwolke, die von den herabgefallenen Möbelstücken aufgestiegen war, blieb in der kalten dunklen Luft hängen.

Hmm …

Mutter wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht und prustete den Staub weg. »Wir geben einen Suchaufruf raus – mal sehen, ob die N-Division den Bauernhof des Bruders finden und Gordon Smith aufgreifen kann.« Sie öffnete die Haustür, und ein Windstoß fuhr heulend in den Flur, begleitet vom zischenden Tosen der See, die in gerade mal zehn oder fünfzehn Metern Entfernung an der Landspitze nagte.

Alice folgte ihr ins Freie, wobei sie irgendetwas von Spinnen und Schmerzensgeld murmelte.

Henry und ich blieben allein im dunklen Haus zurück, mit dem schwächer werdenden Licht meines Handys als einziger Gesellschaft.

Ich hob den Gummifuß meines Stocks an und stieß ihn auf den Teppichboden des Flurs. Es gab das gleiche hohle Pochen wie bei unserem Rundgang durchs Haus. Henry bellte wieder los.

Hatte vielleicht nichts zu bedeuten, aber trotzdem …

Der Flur war komplett mit Teppichboden ausgelegt, ebenso die Schlafzimmer und das Esszimmer. Linoleum in Bad, Küche und Hauswirtschaftsraum. Dann blieben noch zwei Möglichkeiten.

Ich ging zum Ende des Flurs und stieß mit der Schulter die Tür zur Garage auf. Eine Reihe leerer Regale an der Rückwand, eine Lochwand gegenüber der Tür, mit den Umrissen der fehlenden Werkzeuge in schwarzem Filzstift. Kleckse von Sprayfarbe markierten die Silhouette einer verschwundenen Werkbank – wie die Kreideumrisse an einem Leichenfundort. Der Betonboden war mit Laub übersät, das durch das halboffene Schwingtor hereingeweht war. Da auch die Haustür offen stand, gab es einen gewaltigen Durchzug, der die Blätter zu einem wilden Ballett aus taumelnden grauen Flecken aufwirbelte.

Es fiel schwer, sich nicht vorzustellen, wie die Wellen gegen die Klippe schlugen, keine zehn Schritte entfernt von dort, wo ich stand. Und sie langsam, aber sicher abtrugen.

Henry blickte zu mir auf und gab ein ersticktes Winseln von sich.

Ja, doch. Hast ja recht.

Rasch zog ich mich aus der Garage zurück, drückte die Tür zu und schnitt damit den Luftzug ab.

Blieb noch eine Möglichkeit.

Als ich ins Wohnzimmer zurückging, stand Alice im Flur, die Arme verschränkt, die Stirn in Falten gezogen, die Mundwinkel nach unten gebogen. »Können wir jetzt bitte gehen? Bevor das Haus ins Meer stürzt?«

»Gib mir noch eine Minute.«

Sie nahm die Leine, die ich ihr hinhielt, und sah auf den kleinen Burschen hinunter. »Dein Herrchen hat einen Todeswunsch.«

Der haarige kleine Dussel pflanzte sich auf den Hintern und wedelte mit dem Schwanz, während er mit offenem Maul zu ihr aufschaute.

»Weißt du, ich hab mich gefragt: Warum schmeißt man die ganzen Möbel so auf einen Haufen? Mir fallen nur zwei mögliche Gründe ein.« Ich warf meinen Krückstock auf die Fensterbank, packte den halb umgekippten Kleiderschrank und half ihm, ganz umzukippen. »Erstens: Du hast vor, die ganze Bude abzufackeln und vielleicht die Versicherung abzukassieren. Falls man ein Haus in so einer Lage überhaupt versichern kann.« Die Beine des Doppelbettes ruckelten über den Teppichboden, als ich es in die Ecke schleifte. Der Sessel kam obendrauf.

»Was ist der zweite Grund?«

Mein Fuß fing jetzt an zu protestieren. Bei jedem Schritt bohrte sich aufs Neue eine glühende Nadel durch die Sohle.

Als Nächstes schnappte ich mir das kaputte Arzneischränkchen und warf es aufs Bett.

»Ash?«

Genauso verfuhr ich mit zwei Esszimmerstühlen. »Was glaubst du, wer unser Opfer ist?«

Ein Nachttisch gesellte sich dazu.

»Was ist der zweite Grund?«

»Jemand, den er kannte, oder ein Wildfremder?« Eine Stehlampe flog, zum Speer umfunktioniert, in die Ecke. »Und wie lange dauert es, bis eine Leiche bis auf die Knochen verwest ist? Zwanzig Jahre?«

»Acht bis zwölf. Vorausgesetzt, sie ist nicht einbalsamiert und nicht in einem Sarg oder in Sand oder Torf begraben.« Das Licht von ihrem Handy warf Schatten an die Wand, als ich einen zweiten Kleiderschrank von dem Stapel hievte. »Ich würde jetzt wirklich gerne gehen, wenn du also vielleicht aufhören könntest, hier rumzuhantieren, wir –«

»Das bedeutet, wir suchen nach jemandem, der vor mindestens acht Jahren und höchstens … Wie lange hat Helen MacNeil gesagt, dass Gordon Smith hier gewohnt hat? Sechsundfünfzig Jahre, oder?« Der Küchentisch krachte auf das Bett, begleitet vom Geräusch von brechendem Holz, als eines der Beine nachgab. »Unser Opfer ist also irgendwann zwischen damals und vor acht Jahren unter die Erde gekommen.«

»Falls es nicht schon da war, als die Smiths eingezogen sind.«

»Stimmt. Dann müsste man also die Vermisstenmeldungen von mindestens achtundvierzig Jahren durchackern. Vorausgesetzt, die Person wurde genug vermisst, um auch tatsächlich als vermisst gemeldet zu werden.« Das Sideboard ließ sich zuerst kaum von der Stelle bewegen, aber endlich landete es mit einem satten Krachen auf dem Kleiderschrank. »Und da der Sturm gerade eifrig dabei ist, die Überreste ins Meer zu spülen, werden wir wahrscheinlich nie herausfinden, wer es war.« Jetzt war die Anrichte dran. Das verdammte Ding wog eine Tonne. »Es sei denn, Gordon Smith packt aus, wenn wir ihn geschnappt haben.«

Und das war nun wirklich extrem unwahrscheinlich.

Das Hemd klebte mir am Rücken, Dampf stieg von den Schultern meiner feuchten Jacke auf. Ich atmete schwer.

War schon mal deutlich fitter.

Zwei weitere Esszimmerstühle flogen in die Ecke. »Obwohl, an seiner Stelle würde ich zu allem nur ›kein Kommentar‹ sagen. Kann mir kaum vorstellen, dass sie jemanden hier rausschicken würden, um auf einer abbröckelnden Klippe nach dem zu graben, was von den Knochen noch übrig ist. Die Arbeitssicherheit würde einen Anfall kriegen.« Das Sofa ächzte und quietschte, als ich es vom Teppich herunterschob. »Gordon Smith kann also in aller Gemütsruhe dasitzen und warten, bis die Nordsee sämtliche Beweise komplett vernichtet hat, und muss nicht befürchten, für den Mord zur Verantwortung gezogen zu werden.«

»Das ist alles ganz faszinierend, aber können wir jetzt bitte von hier verschwinden?«

Ich trat keuchend und schnaufend zurück und rieb mir mit einer Hand das Kreuz, wo sich ein dumpfer Schmerz pochend die Wirbelsäule hinaufarbeitete. Keine Frage, ich war früher wesentlich fitter. Der Griff des Krückstocks fühlte sich vom Kondenswasser am Fenster feucht und glitschig an. Kalt. Wie die Toten. »Willst du wissen, was der zweite Grund ist?«

»Nur wenn das bedeutet, dass wir gehen können, bevor dieses schreckliche alte Haus ins Meer stürzt.«

»Grund Nummer zwei.« Ich schob das obere Ende meines Krückstocks unter den Wohnzimmerteppich und schlug die Ecke zurück. Der staubige Stoff klappte um und legte sich schlaff über die Leiche einer Heizsonne. »Abrakadabra!«

Alice trat vorsichtig näher. Sie richtete ihr Handylicht auf die Bodendielen und betrachtete sie stirnrunzelnd. »Ich wette, David Copperfield würde sich vor Angst in die Hose machen.«

»Mist …« Das war wohl nichts. »Vielleicht habe ich ja die falsche Stelle freigeräumt.«

»Mit der Nummer könntest du glatt in einem Nobelhotel in Las Vegas auftreten.«

Die Heizsonne landete auf dem neuen Möbelhaufen, wie auch ein weiteres Nachtschränkchen, ein weiterer Mahagoni-Kleiderschrank und ein Bücherregal. Und diesmal kam unter der umgeschlagenen Teppichecke eine Falltür zum Vorschein, mit einem eingelassenen Messinggriff.

»Uuui …« Alice kam herbeigeschlurft, Henry dackelte hinterdrein. Dann verfinsterte sich ihre Miene. »Sag mir bitte, dass du nicht denkst, was ich glaube, dass du denkst.«

»Gibt nur eine Möglichkeit, es rauszufinden.« Ich packte den Griff und zog.

4

Die Holzstufen knarrten und ächzten unter meinen Füßen, als ich ganz langsam in die Schwärze hinabstieg. Im Erdgeschoss war es schon dunkel genug, aber erst hier im Keller? Da machte meine Handy-Taschenlampe so gut wie keinen Unterschied. Die Luft war schwer vom modrigen Geruch nach dem Staub und Schimmel vieler Jahre, versetzt mit einer Art ranzigem Schweißgestank.

Backsteinmauern zu beiden Seiten der schmalen Treppe, der Mörtel mit einem weißen Pelz von ausgeblühtem Salz überzogen.

Von oben kam Alice’ besorgte Stimme: »Ash, das solltest du wirklich, wirklich