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Ein neuer Fall für Detective Sergeant Logan McRae
Alison McGregor und ihre kleine Tochter Jenny wurden durch ihre Teilnahme an der TV-Show »Britain’s Next Big Star« in ganz Großbritannien berühmt. Ihr Lied ist ein Hit, und die beiden haben gute Chancen, das Finale zu gewinnen. Das ganze Land, vor allem aber ihre Heimatstadt Aberdeen, liegt den beiden zu Füßen. Doch der Traum vom Ruhm hat sich für Alison und Jenny in einen Albtraum verwandelt: Die beiden wurden entführt, und das nun folgende Drama hält die gesamte Öffentlichkeit in Atem. Detective Sergeant Logan McRae und seinen Kollegen läuft die Zeit davon, zumal die Täter keinen Zweifel daran lassen, dass sie es ernst meinen …
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Seitenzahl: 672
Stuart MacBride
Knochensplitter
Thriller
Aus dem Englischenvon Andreas Jäger
MANHATTAN
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel»Shatter the Bones« bei HarperCollinsPublishers, London
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2012
Copyright © der Originalausgabe
2011 by Stuart MacBride
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
Umschlaggestaltung und Konzeption: R·M·E, Rosemarie Kreuzer/Sabine Hanel unter Verwendung von Motiven von © plainpicture/Arcangel (Schriftzug), © plainpicture/Bobo Olsson (Hintergrund) und© gettiyimages/Lauree Feldman (Splitter)
Redaktion: Eva Wagner
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-09437-9
www.manhattan-verlag.de
Für Phil
Sechs Tage danach
1
»Drei Minuten.«
»Scheiße.« DS Logan McRae bearbeitete die Hupe, deren schrilles Tröööööt im Heulen der Sirene und dem Gebrabbel des Radios fast unterging. »Aus dem Weg, verdammt!«
»… um zu zeigen, dass wir alle an sie denken. Hier sind also Alison und Jenny McGregor mit ›Wind Beneath My Wings‹…« Ein Crescendo von Geigen, und dann setzte der Gesang ein: »Did …«
»O Mann, nicht schon wieder!« DC Rennie schaltete das Autoradio aus und fuhr sich durch die blonde, gegelte Igelfrisur. Sah noch einmal auf seine Uhr. »Wir schaffen’s nicht, oder?«
Logan hupte noch einmal.
»Na endlich!« Der Trottel in dem Toyota Prius lenkte seinen Wagen an den Bordstein, Logan trat das Gaspedal durch und jagte den zivilen Einsatzwagen mit röhrendem Motor an dem Schleicher vorbei. Die linke Hand tat ihm schon weh, so fest hielt er das Lenkrad umklammert. »Zeit?«
»Zwei Minuten vierzig.« Rennie hielt sich am Griff über der Beifahrertür fest, als Logan mit dem verdreckten Vauxhall um den Hazlehead-Kreisverkehr kurvte. Die Reifen kreischten, und eine Kunststoff-Radkappe verabschiedete sich mit hohlem Scheppern von ihrem Rad. »Aaaah …«
»Komm schon, komm schon.« Logan überholte den 215er Bus nach Westhill, und ein entgegenkommender Range Rover legte eine Vollbremsung hin. Der Fahrer riss erschrocken die Augen auf und fluchte.
Weiter über die rote Ampel, ohne auf den Gegenverkehr zu achten.
Logan riss das Steuer links herum, und das Heck des Einsatzwagens brach aus, als er an der Hazledene Road um die Kurve schlitterte.
Rennie quiekte und schloss die Augen. »O Gott …«
»Zeit?«
»Wir werden sterben …«
»ZEIT, DU IDIOT!«
»Eine Minute sechsundfünfzig.«
Eine Schar Schulkinder wuselte vor dem Eingang des Schwimmbads herum. Sie drehten die Köpfe, als das Auto vorbeiraste.
Logan schaltete runter und lenkte den Vauxhall genau auf eine rostrote Fahrbahnschwelle zu. Wenn er sie genau mittig träfe, würden die Räder links und rechts an dem ein Meter zwanzig breiten Hubbel vorbeigehen. Kein Problem … Der Wagen machte einen Luftsprung und landete mit einem Rumms auf dem mit Schlaglöchern übersäten Asphalt.
»Willst du uns unbedingt umbringen?« Rennie sah wieder auf seine Uhr. »Eins dreißig.«
Der Constable hatte recht: Sie würden es nicht schaffen. Logan nahm die nächste Bodenschwelle, ohne abzubremsen.
»Aaaaah! Eins zehn.«
Die Telefonzelle war noch nicht mal zu sehen.
»Komm schon!«
Der Wagen schlitterte um die nächste Ecke, und Splitt spritzte von den Rädern auf, als er mit schlingerndem Heck auf den Hazlehead Park zusteuerte. Niemals würden sie das schaffen.
»Neununddreißig, achtunddreißig, siebenunddreißig, sechsunddreißig …« Rennie stützte sich am Armaturenbrett ab. »Vielleicht warten sie ja?«
Logan drückte das Gaspedal mit aller Kraft durch und schaukelte auf seinem Sitz vor und zurück. »Los, komm schon, du Scheißteil!« Seine linke Hand, die das Lenkrad umklammert hielt, pochte schmerzhaft. Draußen huschten Büsche vorbei, dann eine Trockenmauer, kaum mehr als eine verschwommene Masse von grauen Knubbeln. Hundert Stundenkilometer. Hundertzwei. Hundertfünf …
»Fünf, vier, drei, zwo, eins.« Rennie räusperte sich. »Zwanzig nach.«
Im Funkgerät knackte es. »Leitstelle an Charlie Delta 14: Ist sie –«
Rennie schnappte den Handapparat. »Sind noch unterwegs.«
»Noch unter– …? Es ist zwanzig nach –«
»Das wissen wir selber!« Logan nahm den nächsten Hubbel mit hundertzehn Sachen, und der Wagen wurde mit einem Ruck in die Luft geschleudert. Diesmal gab es bei der Landung ein lautes metallisches Poltern, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Dröhnen. Dann wurde der ganze Wagen durchgeschüttelt, man hörte ein kratzendes Geräusch, und die Hinterräder rumpelten über etwas hinweg.
Logan warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Auspuff lag mitten auf der Fahrbahn, verbeult und verbogen. »Lasst sofort rund um den Park Straßensperren errichten – an sämtlichen Ausgängen!«
Noch eine Kurve. Der Motor brüllte wie ein wütender Bär. Und da war sie: eine Telefonzelle der British Telecom. Die Plexiglas-Haut mit Tattoos aus Sprühfarbe verziert, stand sie vor dem schmuddeligen Betonklotz einer öffentlichen Toilette. Keine Menschenseele zu sehen. Keine parkenden Autos. Keine Passanten.
Der Vauxhall kam schlitternd in einer hellen Staubwolke zum Stehen. Logan zog die Handbremse, befreite sich vom Gurt, sprang hinaus und rannte auf die Telefonzelle zu.
Alles still, bis auf den knirschenden Kies unter seinen Sohlen.
Er riss die Tür der Zelle auf, und sofort hüllte ihn beißender Uringestank ein und trieb ihm die Tränen in die Augen. Der Hörer hing in der Gabel, die glänzende Metallschnur war noch dran. Das Telefon war so ziemlich das Einzige hier drin, was nicht mutwillig zerstört worden war.
Aber es klingelte nicht.
»Zeit?«
Rennie bremste schwankend neben ihm ab. Sein sonnenverbranntes Gesicht war noch einen Tick röter als gewöhnlich, und er keuchte. »Zwei Minuten zu spät.« Er wirbelte um die eigene Achse. »Vielleicht haben sie ja noch nicht angerufen? Vielleicht sind sie aufgehalten worden. Oder so was …« Er starrte den gefütterten braunen Umschlag an, der anstelle des fehlenden Telefonbuchs auf der Ablage lag.
Logan kramte ein Paar blaue Nitrilhandschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Dann griff er nach dem Umschlag, der an »Die Bullen« adressiert war.
Rennie wischte sich mit der Hand über den Mund. »Denkst du, der ist für –«
»Natürlich ist er das.« Der Umschlag war nicht verschlossen. Logan schlug die Lasche zurück und spähte hinein. »Mein Gott.«
»Was? Was haben sie …«
Logan griff hinein und zog ein zusammengeknülltes Stück weißes Papier hervor, das in der Mitte rot verfärbt war. Vorsichtig pulte er es auseinander.
In der Mitte lag ein kleines, längliches Stück Fleisch, mit einem pink lackierten Nagel an einem Ende und einem blutigen Stumpf am anderen. Der Zeh eines kleinen Mädchens.
Das Einwickelpapier war mit getrocknetem Blut verschmiert, aber Logan konnte die lasergedruckte Botschaft dennoch entziffern: »Das nächste Mal kommt ihr vielleicht nicht zu spät.«
2
»Hat Ihre Mutter Sie unter dem Idiotenbusch gefunden?« DCI Finnie zeigte mit dem Finger auf die graffitiverschmierte Telefonzelle, die eine einsame Kriminaltechnikerin in voller Tatort-Montur soeben mit Fingerabdruckpulver bestäubte. »Hielten Sie es deswegen für eine gute Idee, sämtliche Grundsätze der Spurensicherungüber den Haufen zu werfen, indem Sie diesen Umschlag öffneten, wo doch jeder Schwachkopf –«
»Und wenn es nun Anweisungen gewesen wären? Eine Wegbeschreibung etwa?« Logan reckte das Kinn. »Hätten Sie ihn einfach liegen lassen?«
Finnie schloss die Augen, seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch das Wallehaar. Mit seinen breiten, wulstigen Lippen und den Hängebacken glich der Chef der Kriminalabteilung von Jahr zu Jahr mehr einem frustrierten Frosch. »Wenn Sie pünktlich hier gewesen wären, anstatt –«
»Es war schlicht und einfach unmöglich, die Strecke von Altens hierher in sechs Minuten zu schaffen!«
»Sie sollten doch –«
»Wir waren zwei Minuten zu spät. Zwei Minuten. Und in dieser Zeit haben die Typen es fertiggebracht, eine Botschaft auszudrucken, einem kleinen Mädchen den Zeh abzuhacken, alles in einen Umschlag zu stecken, ihn an ›die Bullen‹ zu adressieren und spurlos zu verschwinden?«
»Aber –«
»Wenn sie die Amputation hier vorgenommen hätten, wäre alles voller Blut.«
Finnie blies die Backen auf und ließ die Luft in einem langen, feuchten Strom entweichen. »Verdammter Mist.«
»Wir sollten gar nicht rechtzeitig hier sein; das war alles geplant.«
Hinter ihnen rief eine Stimme: »Detective Superintendent? Hallo? Stimmt es, dass Sie Jennys Leiche gefunden haben?«
Finnie sackte einen Moment in sich zusammen, dann verengten sich seine kleinen Knopfaugen. »Sind diese Bastarde vielleicht Hellseher?«
Es war eine dickliche Frau, bekleidet mit einer Jeans und einer hellblauen Bluse, die unter den Armen und zwischen den Brusttaschen dunkelblau verfärbt war. Sie kam schwerfällig die staubige Straße entlanggestapft, das ergraute Haar aus dem verschwitzten Gesicht gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Ein pickliger Typ trottete hinter ihr drein und hantierte dabei an einer riesigen Kamera herum.
Der Chef des CID straffte die Schultern, und seine Stimme war ein hartes Zischen, als er sagte: »Schaffen Sie diesen Umschlag ins Labor – die sollen jeden verdammten Test damit machen, den sie draufhaben. Und zwar nicht morgen oder nächste Woche, oder wann immer die da oben in Peterhead aufhören, das System mit ihren gottverdammten Bandenkriegs-Opfern zuzumüllen. Heute noch, und zwar so schnell wie möglich. Verstanden?«
Logan nickte. »Ja, Chef.« Er wandte sich ab und ging auf die Telefonzelle zu, just in dem Moment, als der picklige Kameramann sein erstes Foto schoss.
»Ist sie es? Ist es Jenny?«
Finnies Stimme dröhnte in den warmen Nachmittag hinaus. »DS TAYLOR, LASSEN SIE DEN VERDAMMTEN TATORT ABSPERREN!«
Die Kriminaltechnikerin war gerade damit beschäftigt, einen Abdruck von der gesprungenen Plexiglaswand der Telefonzelle abzunehmen, direkt unterhalb von ein paar mit schwarzem Filzstift gezeichneten pornografischen Strichmännchen.
Logan klopfte an den Metallrahmen. »Schon was gefunden?«
Sie sah zu ihm auf – zwischen den beschlagenen Gläsern ihrer Schutzbrille und der weißen Gesichtsmaske war nur ein dünner Streifen Haut zu sehen. »Kommt drauf an, was du damit meinst. Das Ding ist von oben bis unten voll mit Abdrücken, und ich wette zehn Pfund, dass keiner davon vom Täter stammt. Aber man muss auch das Positive sehen: Ich habe drei gebrauchte Kondome, einen Haufen fossile Hundekacke und zwei leere Coladosen gefunden. Hier drin ist es wie in einer Mikrowelle, und ich knie in getrockneter Pisse. Was will man mehr?«
»Kondome?« Logan rümpfte die Nase. In einer Telefonzelle, die wie ein Pissoir roch? Sollte noch einer behaupten, es gäbe keine Romantiker mehr. »Hast du den Umschlag da?«
Sie wies auf den Behälter neben sich. »Wenn du dafür unterschreibst, kannst du alles mitnehmen.«
»Du hast ihn in der Sonne liegen gelassen? Wieso ist er nicht in Eis gepackt?«
Die Kriminaltechnikerin wischte sich mit dem Ärmel ihres Schutzanzugs über die schweißglänzende Stirn. »Wo soll ich denn bitte schön das Eis herholen? Und außerdem werden sie das verdammte Teil wohl kaum wieder annähen, oder?«
»Kein Wunder, dass Finnie im Dreieck springt …« Logan öffnete den verbeulten Metallbehälter und fand einen zusammengefalteten Grampian-Police-Fleecepullover, der den transparenten Plastikbeutel mit dem Umschlag darin umhüllte. Immerhin war sie so schlau gewesen, das Ding von der Sonne abzuschirmen. Er füllte das Beweismittelformular aus und richtete sich auf. »Also gut, wenn du irgendetwas findest –«
»MCRAE!« Finnies Stimme war so laut, dass sie beide zusammenzuckten. »ICH SAGTE, SO BALD WIE MÖGLICH, UND NICHT, WENN IHNEN GERADE DANACH IST!«
Logan bog mit dem ratternden Vauxhall in die Queen Street ein. Sie hatten den verbeulten Auspuff in den Kofferraum geworfen, und jetzt heulte und dröhnte der Einsatzwagen wie die erste Knutschkugel eines Teenagers, während der erstickende Gestank von Abgasen den Innenraum verpestete.
Neben ihm schnalzte Rennie mit der Zunge: »Ts-ts – hätte gedacht, dass die inzwischen alle draußen in Hazlehead wären …«
Das Präsidium der Grampian Police ragte am Ende der Straße auf – ein hässlicher Siebzigerjahre-Klotz in Schwarz und Weiß, klobig und einschüchternd, das Flachdach mit Antennen und Sirenen übersät. Das Gerichtsgebäude nebenan war nicht viel besser, aber selbst das wirkte einladend im Vergleich mit der Menschenmenge, die sich auf dem Parkplatz vor dem Präsidium versammelt hatte.
Fernsehteams, Reporter, Fotografen und die unvermeidliche Schar empörter Bürgerinnen und Bürger, die ihre Spruchbänder und Plakate schwenkten: »WEHE, IHR KRÜMMT UNSERER JENNY EIN HAAR!« – »THE WIND BENEATH OUR WINGS!!!« – »WIR BEHTEN FÜR EUCH ALISON UND JENNY!« – »LASST SIE FREI!!!!!« Tränen für die Kameras. Grimmige Gesichter. Nach dem Motto: Wo soll das alles enden, und der Strick ist noch zu gut für diese Typen.
Ein paar von den Demonstranten drehten sich um, als der Vauxhall an ihnen vorbeiratterte.
Rennie zog die Nase hoch. »Wie kommt es eigentlich, dass ausgerechnet die Hässlichsten immer unbedingt ins Fernsehen wollen? Ich meine, versteh mich nicht falsch – das ist alles ganz tragisch und so, aber von den Leuten hier kennt doch kein Einziger die McGregors persönlich. Warum kommen die dann alle angerannt und heulen sich die Augen aus, als wäre ihre Mama gerade gestorben? Ist doch nicht normal, oder?«
Logan fuhr auf den Parkplatz hinter dem Gebäude und stellte den ramponierten Wagen neben den Polizeitransportern ab. »Schaff alles rauf in den dritten Stock.«
Rennie fischte die Beweismittelbeutel vom Rücksitz. »Ich meine, so eine öffentliche Zurschaustellung von Trauer um jemanden, dem man im Leben nie begegnet ist, das ist doch abartig – sie … Ist das Hundekacke?« Er hielt einen der Beutel hoch und betrachtete eingehend die graubraunen Klumpen darin. »Tatsache! Es ist Hunde–«
»Bring es einfach nur rauf ins Labor, ja?« Logan machte kehrt und steuerte auf den Hintereingang zu.
»Also, wie lange wird es dauern?«
»Uargh …« Der Mann in dem weißen Tyvek-Anzug schüttelte sich. Dann pflückte er den Zeh von dem blutbefleckten Papier und ließ ihn in einen Beweismittelbeutel gleiten. Seine Stimme drang gedämpft durch die Atemmaske. »Du Scheiße, ein kleines Mädchen …«
Das Labor im Präsidiumsgebäude war nicht annähernd so groß wie die Hauptstelle in der Nelson Street und erinnerte eher an eine unaufgeräumte Küche als an eine moderne kriminaltechnische Einrichtung. Es gab sogar einen Kühlschrank mit Gefrierfach, der neben der Tür vor sich hingluckerte, übersät mit bunten Magneten. Aus einem kleinen Digitalradio dudelte Northsound One, gerade laut genug, um das Pfeifen des Vakuumtischs zu übertönen, an dem jemand gerade ein Stück Metallrohr mit Fingerabdruckpulver einstäubte.
Logan zupfte am Schritt seines Schutzanzugs. Irgendein Scherzbold musste die Etiketten vertauscht haben – der hier war jedenfalls nie und nimmer Größe L. »Also, wie lange dauert’s?«
»Gib uns halt ’ne Chance, wir haben das Zeug doch gerade mal fünfzehn Minuten hier.«
»Finnie will, dass alles so schnell wie möglich untersucht wird.«
»Ach nee.« Der Assistent beugte sich wieder über den zerknitterten Zettel, nahm mit einem Wattestäbchen ein Klümpchen von dem klebrigen dunkelroten Blut auf und ließ es in ein kleines Plastikröhrchen gleiten. »Wenn ich die DNS im Eilverfahren testen lasse, hast du das Ergebnis in einer Stunde –«
»Um sechs ist die Pressekonferenz!«
»– maximal anderthalb. Schneller geht’s nicht.«
»Könnt ihr nicht –«
»Das hier ist kein Fernsehkrimi – ich kann nicht einfach rechtzeitig vor der Werbung ein DNS-Profil aus dem Hut zaubern. Aber eine Blutgruppenbestimmung kriege ich vielleicht noch hin.« Er nahm noch einen Abstrich und ging damit zu der Arbeitsfläche neben dem Kühlschrank. »Und was den Rest betrifft …« Er seufzte, rückte seine Schutzbrille zurecht und drehte sich um. »Sam? Wie lange brauchst du für die Fingerabdrücke?«
Nichts.
Logan nahm die Gestalt, die über den Vakuumtisch gebeugt stand, genauer in Augenschein. Der unförmige weiße Schutzanzug machte sie vollkommen anonym, selbst für ihn. »Samantha?«
Der Assistent versuchte es noch einmal. »Sam?«
Immer noch nichts.
»SAM! WIE LANGE DAUERN DIE ABDRÜCKE?«
Jetzt blickte sie von ihrem Metallrohr auf. Das eine Ende war in einen transparenten Plastikbeutel gehüllt, das Metall darunter dunkel und fleckig. Sie zerrte am Gummizug ihrer Kapuze, worauf ein feuerroter Haarschopf zum Vorschein kam, und nahm einen winzigen schwarzen Ohrhörer heraus. »Was?«
»Die Fingerabdrücke.«
»Oh.« Sie sah Logan an und lächelte … jedenfalls vermutete er es. Hinter der Schutzmaske war das schwer zu erkennen. »Bist du das da drin?«
Logan lächelte hinter seiner eigenen Maske. »Soviel ich weiß, ja.«
»Hab deinen Umschlag in die Sekundenkleber-Box gesteckt. Allzu viel Hoffnung hab ich allerdings nicht – er ist jetzt schon zehn Minuten drin, und noch ist rein gar nichts zu sehen.«
»Null, Rhesus-negativ.« Der Assistent hielt eine Karte hoch. »Hilft dir das weiter?«
Dieselbe wie Jenny McGregor.
»Obduktion?«
»Keine Ahnung.« Der Mann fasste den Beweismittelbeutel mit dem Zeh darin zwischen zwei Fingern, als wäre es eine dreckige Windel, und reichte ihn Logan. Dann wischte er sich die Handschuhe an seinem Schutzanzug ab. »Die Eiskönigin ist zu einer Konferenz nach Baltimore geflogen, und der Heini, der sie vertreten soll, ist wegen einer Magen-Darm-Geschichte außer Gefecht. Also …«
Logan versuchte nicht zu stöhnen. »Wann ist Ihre Hoheit wieder da?«
»Dienstag in einer Woche.«
Na super.
Er unterschrieb für den Zeh und machte sich auf den Weg zur Leichenhalle, diesem ruhigen und kühlen Plätzchen in einem unterirdischen Anbau gleich neben dem Parkplatz hinter dem Präsidium. Die diensthabende Rechtsmedizinische Assistentin saß in einem kleinen beigefarbenen Büro neben dem Sektionssaal. Sie hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und las in einem Klatschmagazin.
Logan klopfte an den Türrahmen. »Ich hab einen sterblichen Überrest für Sie.«
»Ach, was Sie nicht sagen.«
Der Exklusivbericht über die »Sex-Eskapaden der Spielerfrauen!« verschwand in einer Schreibtischschublade, und die Assistentin schälte sich aus ihrem Stuhl. Hochgewachsen, dünn und insektengleich, mit einer Designerbrille in ihrem breiten, flachen Gesicht, die Finger ständig in Bewegung. »Steht der Leichenwagen an der Rampe?«
Logan hielt den Beutel mit dem winzigen Stückchen Fleisch und Knochen hoch.
»Oh …« Sie hob eine breite, dunkle Braue. »Verstehe. Tja, wir hatten hier einen hektischen Tag; ich denke, das da dürfte eine willkommene Abwechslung sein, wenn Mr. Hudson aus dem Krankenstand zurück ist.« Sie tigerte hinüber zum Kühlraum, öffnete nach kurzer Überlegung eine der Metalltüren und zog eine große Metallschublade aus der Wand.
Ein wachsgelbes Gesicht starrte zu ihnen auf. Geschwollene Golfball-Nase, zottiger grauer Bart, die Haut um Stirn und Wangen irgendwie ausgebeult, als wäre sie nicht ordentlich wieder drübergezogen worden.
Die Assistentin runzelte die Stirn. »Da stimmt doch was nicht. Du solltest in Nummer vier sein.« Sie seufzte. »Na, egal.« Dann zog sie die nächste Schublade in der Reihe auf. »So, da wären wir.«
»Die Obduktion muss so bald wie möglich durchgeführt werden. Wir haben –«
»Ich bedaure, aber da Dr. McAllister verreist und Mr. Hudson … unpässlich ist, könnte es ein paar Tage dauern, bis wir dazu kommen.« Sie streckte die Hand nach ihm aus, und ihre langen Finger wackelten wie die Fühler eines Tausendfüßers. »Kann ich bitte die Überreste haben?«
Logan ließ sie die Übergabe quittieren und sah dann zu, wie sie den winzigen, bleichen Zeh feierlich in die Schublade bettete. Es sah ein wenig albern aus, wie der kleine Fleischstummel in seinem Beweismittelbeutel genau in der Mitte dieser weiten Fläche aus Edelstahl lag. Dann schob sie die Schublade wieder hinein und ließ die schwere Tür mit einem dumpfen Klacken ins Schloss fallen.
Aus den Augen, aber ganz bestimmt nicht aus dem Sinn.
3
»Rose Ferris, Daily Mail. Sie haben die Frage immer noch nicht beantwortet: Haben Sie nun Jenny McGregors Leiche gefunden oder nicht?« Die schlaksige Reporterin rutschte auf ihrem Stuhl vor, und ihre Nasenflügel bebten.
Vorne auf dem Podium machte DCI Finnie den Mund auf, doch der Mann, der neben ihm saß, kam ihm zuvor.
»Nein, Ms. Ferris, dem ist nicht so.« Chief Superintendent Bain strich seine Uniformjacke glatt. Die silbernen Knöpfe funkelten im Scheinwerferlicht mit seiner blank polierten Glatze um die Wette. »Und ich wäre dankbar, wenn gewisse Vertreter der Presse ihre Erregung im Zaum halten und aufhören könnten, solche unbegründeten Gerüchte zu verbreiten. Die Situation ist für die Betroffenen schon belastend genug. Haben Sie mich verstanden, Ms. Ferris?«
Logan, der an der Seitenwand stand, ließ den Blick über das Meer von Gesichtern schweifen, das den größten Veranstaltungssaal des Beach Ballroom füllte – den einzigen Raum in der näheren Umgebung des Präsidiums, der allen Platz bot: Kamerateams, Pressefotografen und Journalisten von sämtlichen großen Nachrichtenmedien des Landes. Alle waren gekommen, um zuzuschauen, wie die Grampian Police wieder mal alles versiebte.
Da saßen sie in ordentlichen Reihen auf ihren Plastikstühlen, während auf dem kleinen Podium vor ihnen DCI Finnie, dessen Chef Brian der Haarlose sowie ein angefressen wirkender Pressereferent hinter einem Tisch thronten, über den ein schwarzes Tuch drapiert war. Den Hintergrund bildete eine Stellwand mit dem Wappen der Scottish Constabulary und dem Wahlspruch »Semper vigilo« – »stets wachsam«. Irgendwie bezweifelte Logan, dass auch nur ein Mensch ihnen das abkaufte.
Ein zerknautschter Mann hob die Hand – ein faltiger Geier in einem Supermarkt-Anzug. »Michael Larson, Edinburgh Evening Post. ›Unbegründet‹, ja? Sie wollen also behaupten, dass das alles nur ein schlechter Scherz ist? Dass die Produktionsfirma –«
Der Rest ging in Zwischenrufen unter: »Geht das schon wieder los …« – »He, Larson, dein Schwanz ist auch unbegründet!« – »Wichser …«
Larson drückte das Kreuz durch. »Ach, ich bitte Sie, das ist doch ganz offensichtlich ein ausgemachter Schwindel. Die machen das nur, um die Plattenverkäufe anzukurbeln, nicht wahr? Es gab nie eine Leiche, es ist alles –«
»Wenn es keine weiteren vernünftigen Fragen gibt, möchte ich …« Chief Superintendent Bain sah stirnrunzelnd in die Menge, als ein Reporter in der Mitte des Rudels aufstand. Alle Blicke richteten sich auf den kleinen, stämmigen Kerl in seinem teuer aussehenden grauen Anzug mit Seidenhemd und Krawatte. Dazu die tadellos gestylten Haare – er sah aus wie frisch aus der Plastikfolie gepellt.
Er wartete ab, bis alle Mikrofone und Kameras auf ihn gerichtet waren. »Colin Miller, Aberdeen Examiner.« Sein breiter Glasgower Akzent passte nicht so recht zu den schicken Klamotten. Der kleine Mann zog ein Blatt Papier in einer Klarsichthülle aus der Tasche. »Das hier ist vor einer halben Stunde auf meinen Schreibtisch geflattert. Ich zitiere: »›Die Polizei nimmt die Sache nicht ernst. Wir haben denen einfache klare Instruktionen gegeben, aber trotzdem sind sie zu spät gekommen. Also blieb uns keine Wahl – wir mussten dem kleinen Mädchen den Zeh abschneiden. Sie hat noch neun Stück. Schluss mit den Spirenzchen.‹«
Im Saal brach die Hölle los.
»Ist es wahr? Haben Sie wirklich Jennys Zeh gefunden?« – »Warum nimmt die Grampian Police die Sache nicht ernst?« – »Wie können Sie es rechtfertigen, das Leben eines kleinen Mädchens aufs Spiel zu setzen?« – »Werden Sie den Fall jetzt an die SOCA übergeben?« – »Wann können wir den Zeh sehen?« – »… öffentliche Untersuchung …« – »… Menschen haben ein Recht zu erfahren …« – »… glauben Sie, dass sie noch lebt?«
Ein Blitzlichtgewitter erhellte den Saal wie ein Feuerwerk. Finnie, Bain und der Mann von der Pressestelle kamen nicht zu Wort.
Und da stand er und aalte sich im Glanz der Medienaufmerksamkeit: Colin Miller.
Das kleine Arschloch.
»Es reicht!« Vorne auf dem Podium schlug Chief Superintendent Bain mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der Wasserkrug und die drei leeren Gläser nur so klirrten. »Geben Sie endlich Ruhe, oder ich lasse Sie alle rausschmeißen, haben wir uns verstanden?«
Allmählich legte sich der Tumult, ein Hintern nach dem anderen wurde wieder auf dem Stuhl geparkt, bis nur noch Colin Miller stand. Er hielt immer noch das Blatt Papier in der Hand. »Nun?«
Bain räusperte sich. »Ich glaube …«
Der Pressereferent beugte sich zu Bain hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf der Chief Superintendent eine finstere Miene aufsetzte, ebenfalls etwas flüsterte und dann nickte.
»Ich kann bestätigen, dass wir heute Nachmittag einen Zeh geborgen haben, der von einem kleinen Mädchen zu stammen scheint, doch solange nicht die Ergebnisse der DNS-Tests –«
Und im Saal brach wieder das Chaos los.
4
Hektische Rufe, klingelnde Telefone, Constables und Hilfskräfte, die mit Papieren in der Hand im CID-Großraumbüro hin und her rannten, dazu die bittersüßen Gerüche nach abgestandenem Kaffee und altem Schweiß, vermischt mit einem widerlich künstlichen Blumenduft. An einer Seite war eine kleine Fläche mit eingezogenen Wänden abgeteilt – hier hausten die sechs Detective Sergeants der Grampian Police. Das mit Blu-Tack an der Tür befestigte A4-Blatt sah schon etwas zerfleddert aus, und die Aufschrift »The Wee Hoose« war unter all den obszönen Post-it-Notizen und mit Kugelschreiber gekritzelten Pimmeln kaum noch zu entziffern. Logan marschierte hinein und zog die Tür hinter sich zu, um einigermaßen vor dem Lärm da draußen geschützt zu sein.
»O Mann …«
Er nickte dem Kollegen zu, der hier einsam die Stellung hielt – einer gebeugten Gestalt mit einer ausgedehnten kahlen Stelle am Hinterkopf, Segelohren und einer einzigen Augenbraue, die sich quer über seine Stirn zog wie ein Streifen Flokati. Biowaffen-Bob war der lebende Beweis, dass selbst die natürliche Auslese bisweilen einen schlechten Tag hat.
Bob Marshall fuhr auf seinem Stuhl herum. »Ich hatte hier gestern eine ganze Schachtel Zigaretten, und jetzt sind sie verschwunden.«
»Was schaust du mich an – ich hab vor vier Wochen aufgehört.« Logan sah auf seine Uhr. »Wie hast du’s denn geschafft, dich um die Pressekonferenz zu drücken?«
»Unser geliebter Führer, Interims-DI MacDonald, meinte, irgendjemand müsste doch dafür sorgen, dass diese Abteilung nicht ganz gegen die Wand fährt, während ihr mediengeilen Weicheier euch dort die Ärsche breitsitzt.«
»Bist ja bloß neidisch.«
»Das kannst du laut sagen.« Er drehte sich wieder zu seinem Schreibtisch um. »Wart’s nur ab – wenn sie mich erst zum DI befördern, werdet ihr alle den Zorn Bobs zu spüren bekommen.«
Logan setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr seinen Computer hoch. »Hast du die Nummer von diesem neuen Rechtsmediziner – Hudson?«
»Frag Ms. Dalrymple.«
Logan schüttelte sich. »Nie und nimmer.«
»Hmmm …« Bob kniff die Augen zusammen. »Spielt sie immer noch die unheimliche Leichenschauhaus-Assistentin?«
»Schon seit drei Wochen. Und jetzt macht sie auch noch so komische Sachen mit den Fingern, als hätte sie Spinnen als Hände.«
Bob nickte. »Gefällt mir, wenn jemand so engagiert ist.« Er rückte seinen Stuhl vor. »Hab ich dir mal die Geschichte erzählt, wie –«
Die Tür ging auf, und die Geräusche des mühsam beherrschten Chaos drangen von draußen herein. Sam stand auf der Schwelle; sie hatte den Schutzanzug abgelegt, der bis dahin das Green-Day-T-Shirt, die schwarze Jeans und den feuerroten Haarschopf mit dem an die Stirn geklatschten Pony verdeckt hatte. Ihr Gesicht glänzte rosig. Sie hatte das Metallrohr, das sie untersucht hatte, über die Schulter geworfen, dick in Beweismittelbeutel und silberfarbenes Klebeband eingewickelt. »Jemand interessiert an DNS-Resultaten?«
Bob grinste. »Wenn du eine Probe willst – ich hätte da gewisse Körperflüssigkeiten im praktischen Pumpspender.«
»Logan, sag Biowaffen-Bob, dass ich seinen Schwanz nicht mal mit einer Käsereibe anfassen würde.«
»Ach, komm schon – sag bloß, du bist immer noch beleidigt?«
Sie drehte sich um und warf einen kleinen Stoß Papiere auf Logans Schreibtisch. »Das Blut stammt von Jenny. Mit einer Wahrscheinlichkeit von neunundneunzig Komma neun acht Prozent.«
Logan blätterte gleich vor zur Zusammenfassung. »Mist …«
»Tut mir leid.« Samantha schlang einen warmen Arm um seine Schultern. »Musst du heute Abend lange arbeiten? Vergiss nicht, morgen ist der große Tag.«
»Na ja –« Bob rieb sich mit dem Finger über seine borstige Monobraue. »Sieh’s doch mal positiv: Stell dir vor, es wäre von jemand anderem – dann hättest du jetzt zwei vermisste Kinder.«
»Ja, stimmt wohl …« Logan legte den Bericht auf seinen Schreibtisch. Jennys DNS. Mist, mistiger. »Hast du es Finnie gesagt?«
Samantha wich zurück und riss die Hände hoch. »O nein, vergiss es.«
»Bitte?«
»Dein Name steht auf dem Beweismittelformular – sag’s ihm doch selbst.« Sie schwenkte das Metallrohr ein wenig. »Außerdem muss ich runter in die Asservatenkammer, ehe dieser Idiot Downie seinen Dienst antritt. Der wäre doch schon damit überfordert, seine eigenen Zehen der Größe nach zu sortieren – wie will er da Beweismittel korrekt archivieren?« Samantha errötete. Sie räusperte sich. »Sorry.«
Bob spitzte die Lippen und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Siehst du, das ist das Problem mit dem Hilfspersonal heutzutage – dauern tappen sie ins Fettnäpfchen. Witze über Zehen zu reißen, wo einem kleinen Mädchen gerade der Zeh –«
»Leck mich, Bob.«
Er grinste. »Siehst du, jetzt redest du wieder mit mir!«
Sie drückte Logan einen Kuss auf die Stirn und zeigte Bob im Hinausgehen noch rasch den Mittelfinger.
Bob deutete auf seinen Schritt. »Also … wenn du noch mal auf das Angebot mit der DNS-Probe zurückkommen möchtest …«
Samantha knallte die Tür zu.
Das CID-Großraumbüro war wie ein Viehstall in Boxen aufgeteilt, die brusthohen Stellwände über und über mit Memos, Telefonlisten und Karikaturen aus dem Aberdeen Examiner gepflastert. Irgendjemand hatte sich an dem Plakat an der Wand vergriffen, das gleich neben der kleinen Nische mit der Kaffeemaschine und dem Wasserkocher hing: In dem Satz »Terrorismus – ein Problem, das uns alle angeht!« war das Wort »Terrorismus« durchgestrichen und durch »Bobs Arsch« ersetzt.
Logan blieb vor den großen Weißwandtafeln im vorderen Teil des Raums stehen und überflog die hingekritzelten Fallnotizen. Angeblich waren Jenny und ihre Mama in einer Postfiliale in Peterhead gesichtet worden, außerdem in einem Pub in Methlick, in der Elgin-Bibliothek, im Schwimmbad von Inverurie, in der Kirche von Cults … Alles totaler Blödsinn.
Irgendjemand hatte den Countdown aktualisiert; jetzt stand da: »Noch 8 Tage bis zur Deadline!«
»Sarge?«
Logan sah nach links. PC Guthrie stand neben ihm, in der Hand einen dampfenden Kaffeebecher, aus dem ein bitterer Geruch wie nach verbranntem Toast aufstieg. Logan wandte sich wieder zur Tafel um. »Wenn du schlechte Nachrichten hast, kannst du dich gleich verziehen und jemand anders damit beglücken.«
Guthrie hielt ihm den Becher hin, das bleiche Gesicht zu einem beleidigten Ausdruck verzogen. Mit seiner milchweißen Haut, den rötlichen Haaren und den blonden Augenbrauen sah er aus wie ein Gespenst, das gerade eine Bäckerei geplündert hat. »Milch und zwei Stück Zucker.«
»Oh … ’tschuldigung.« Logan nahm den dargebotenen Kaffee.
Der Constable nickte. »Aber wo ich dich schon mal am Wickel habe – könntest du dich vielleicht ein bisschen um die Drogenrazzia morgen kümmern? McPherson ist als Einsatzleiter eingeteilt, und du weißt ja, was das bedeutet …«
Logan wusste es. »Wann ist der Zugriff?«
»Um halb vier.«
»Na, wenigstens ist es eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Da werden die Mistkerle noch in den Federn …« Er sah, wie Guthries Gesicht sich zu einer hässlichen Maske verformte. »Was?«
»Nicht morgens, Sarge. Nachmittags.«
»Ihr macht die Razzia um halb vier nachmittags? Seid ihr wahnsinnig?«
»Meinst du nicht, dass du vielleicht mal – na ja, mit ihm reden könntest?«
»Die werden alle hellwach sein und sich nach Kräften wehren – Widerstand gegen die Festnahme leisten, sich aus dem Staub machen, Beweise vernichten –«
»Und ihre riesigen Mistköter auf uns hetzen – ja, ich weiß. Shuggie Webster hat sich gerade ’nen Rottweiler zugelegt, der ist ungefähr so groß wie ein Minibus.« Guthrie rückte näher an Logan heran. »Vielleicht könntest du mal mit Finnie reden? Und ihm verklickern, was McPherson da für einen Scheiß baut.«
Logan nahm einen Schluck Kaffee. »Buah …« Er gab Guthrie den Becher zurück. »Verdient hast du’s ja nicht, bei dem Kaffee, den du da verbrochen hast.«
Guthrie grinste. »Danke, Sarge.«
Logan stieß die Tür auf und trat hinaus in den Flur. Vor Detective Chief Inspector Finnies Büro hielt er inne, holte tief Luft und klopfte – genau in dem Moment, als die Tür aufgerissen wurde.
Interims-DI Mark MacDonald erstarrte auf der Schwelle und zuckte zurück, als Logans Faust knapp vor seiner Nase abbremste. »Herrgott …«
Logan grinste. »Sorry, Mark – wollte sagen, Chef.«
MacDonald nickte, und die Haut um sein kleines Ziegenbärtchen herum verfärbte sich rot. »Tja, also, wenn ich mich entschuldigen dürfte … Sergeant.« Er schob sich an Logan vorbei, humpelte den Flur entlang zu seinem neuen Büro, schlüpfte hinein und knallte die Tür hinter sich zu.
Sergeant? Da hatte MacDonald den Posten gerade mal zwei Wochen, und schon führte dieser DI-Verschnitt sich auf wie ein Oberarschloch.
Logan spähte in Finnies Büro. Der Leiter des CID hockte hinter seinem Schreibtisch und zog eine finstere Miene. Colin Miller, der Starreporter des Aberdeen Examiner, saß in einem der ledergepolsterten Besuchersessel und strich die perfekten Bügelfalten seiner Hose glatt. In dem anderen Sessel fläzte ein Haufen Schmutzwäsche und gähnte, dass die Kiefergelenke knackten.
Detective Inspector Steel ließ noch einen kleinen Rülpser folgen, schüttelte sich und sackte noch weiter in sich zusammen. Ihr angegrautes Haar stand wild in alle Richtungen ab wie eine misslungene Einstein-Perücke. Sie rieb sich mit der Hand übers Gesicht, wobei sie die dunkelblau-grauen Säcke unter ihren Augen ganz außer Form zog. Dann ließ sie los, und die Falten übernahmen wieder die Herrschaft. Sie schniefte. »Wird das noch länger dauern? Ich mein nur, weil zu Hause ein kleines Würmchen mit Fieber auf mich wartet.«
Finnie trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herum. Neben seiner Tastatur lag das Blatt mit der Botschaft in einem transparenten Plastikumschlag, das Papier makellos weiß und glänzend. Der DCI starrte Logan an. »Ja?«
Logan hielt den Bericht hoch, den Samantha ihm gebracht hatte. »Das Ergebnis der DNS-Analyse.«
Colin Miller setzte sich kerzengerade auf. »Ach ja?«
Logan sah Finnie an, dann den Reporter, dann wieder Finnie. »Sir?«
»Wäre nett, wenn Sie irgendwann heute noch damit rüberkämen, Sergeant, bevor wir alle den letzten Lebenswillen verlieren.«
»Ähm, ja, natürlich.« Er räusperte sich. »Das Ergebnis ist positiv. Die DNS stimmt mit der von Jenny McGregor überein.«
Finnie nickte, die wulstigen Lippen zusammengepresst, die Mundwinkel nach unten gezogen. »Sparen Sie sich den dramatischen Ton, Sergeant. Was hatten Sie denn geglaubt, wo die Kidnapper das Ding herhatten – von Zeh und A vielleicht? Natürlich ist es der von Jenny.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Was ist mit dem Umschlag und dem Brief?«
Steel hob die Hand. »Darf ich raten? Fehlanzeige.«
Logan ignorierte sie. »Genau wie bei allen anderen: keine Fingerabdrücke, keine DNS, keine Fasern, keine Haare, kein Staub – keine Spuren irgendwelcher Art. Nichts.«
»Eine Frau, ein Schuss, ein Treffer!«
»Inspector, das reicht.« Finnie sah auf das Blatt hinunter. »›Wir haben denen einfache klare Instruktionen gegeben, aber trotzdem sind sie zu spät gekommen. Also blieb uns keine Wahl – wir mussten dem kleinen Mädchen den Zeh abschneiden.‹« Er kniff die Lippen zusammen. »Mr. Miller, ich nehme an, dass wir diesen Text morgen in der Zeitung lesen werden.«
»Aye, ich hab die Titelseite schon fertig: Jenny gefoltert – Kidnapper hacken Zeh ab!«
»Verstehe …« Finnie formte die Finger zu einem Zelt. »Und sind Sie sicher, dass es klug ist, so etwas zu drucken? Die Menschen da draußen sind ohnehin schon sehr aufgebracht, und –«
»Nee, nee, Sie kennen doch den Deal – ich muss es drucken. So, wie ich es bei dieser blöden Pressekonferenz vorlesen musste. Glauben Sie, ich hätte das freiwillig gemacht? Herrgott noch mal, Mann, ich hätte es natürlich für mich behalten, bis morgen früh die Zeitung rauskommt. Jetzt habe ich keinen Exklusivbericht mehr, und jedes Käseblatt im ganzen Land, ob Boulevard oder Qualitätspresse, wird die Story bringen. Ganz zu schweigen davon, dass es wahrscheinlich schon längst in der verdammten Glotze läuft.« Der Reporter zuckte mit den Achseln. »Ich hab keine Wahl, ja? Wenn ich es nicht drucke, müssen Jenny und ihre Mama sterben.«
Finnie fuhr sich mit der Hand durch die braunen Strähnen. »Dann ist doch das Mindeste, was Sie tun können, die Dinge aus unserer Sicht zu schildern. Unter den gegebenen Umständen hatten wir einfach nicht genug Zeit, auf den Anruf zu reagieren. Und der Zeh war bereits lange vor unserem Eintreffen vor Ort abgetrennt worden.« Er blickte auf. »So war es doch, nicht wahr, Sergeant?«
Logan nickte. »Sie haben uns reingelegt.«
Der Reporter zückte schon seinen Notizblock. »Kann ich das zitieren?«
Finnie hüstelte. »Schreiben Sie: ›Wie aus gut informierten Quellen verlautet.‹«
»Und krieg ich auch ein paar Details?«
»DS McRae kann Sie auf dem Weg nach draußen informieren – es gelten die üblichen Einschränkungen. Nun, wenn sonst nichts mehr ansteht …« Der DCI wandte sich wieder zu seinem Computer um.
»Da wäre noch eine Sache, Sir.« Logan deutete mit dem Kopf in Richtung CID-Büro. »Ich müsste Sie mal kurz sprechen; es geht um eine andere Operation.«
Steel stemmte sich aus ihrem Sessel hoch und stand dann einen Moment tief vornübergebeugt da, ehe sie sich mit einem Seufzer aufrichtete. »Komm, kleiner Schreiberling, du kannst mit mir zum Ausgang gehen, während unsere Liebenden hier ihr kleines Rendezvous abhalten.« Sie senkte die Stimme zu einem Bühnenflüstern. »Das bedeutet, dass sie pimpern.«
»Danke, Inspector, das wäre alles für den Moment.«
Logan wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war. »Nichts für ungut, Sir, aber mir wäre es lieber, wenn unsere Beziehung platonisch bliebe.«
Finnie starrte ihn finster an. »Ich erlaube Steel gewisse Freiheiten, weil sie trotz allem eine erfolgreiche Ermittlerin ist. Sie hingegen …«
»Verzeihung, Sir.« Er sank in den Sessel, den Colin Miller soeben freigemacht hatte. »Es geht um DI McPherson – Sie wissen, dass er morgen eine Drogenrazzia hat? Er hat sie für den Nachmittag angesetzt.« Eine vielsagende Pause. »Zu einer Zeit, wo die Zielpersonen –«
»Ja, Sergeant, mir ist sehr wohl bewusst, was Drogendealer am Nachmittag tun.« Finnie lehnte sich zurück und tippte sich mit den Fingerspitzen an die dicken Froschlippen. »Und was gedenken Sie in dieser Sache zu unternehmen?«
»Nun ja, Sie könnten mit McPherson reden, ihm klarmachen …« Logan blinzelte. Leckte sich die Lippen, rutschte in seinem Sessel herum. »Entschuldigung – was ich zu unternehmen gedenke?«
»Nun, Sie wissen es ja ganz offensichtlich besser als ein DI mit neun Jahren Diensterfahrung. Wie werden Sie bei Ihrer Drogenrazzia vorgehen?«
Ach du Kacke.
»Ich … Also, eigentlich … angesichts der … Und es ist ja … Äh …« Logan sah auf seine Uhr. Kurz nach sieben. »Okay, also, am Freitag bin ich wieder da, und –«
»Ich bin immer dafür, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist, finden Sie nicht auch, Logan? Oder haben Sie Angst, sich die Finger zu verbrennen?«
»Aber ich … ich habe morgen schon etwas vor. Und es –«
»Wie sieht es mit der Obduktion des Zehs aus?«
»Ich habe mir nämlich extra den Tag freigenommen, um –«
»Würden Sie vielleicht wenigstens versuchen, beim Thema zu bleiben, Sergeant: die Obduktion?«
Logan merkte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. »Ich habe den Rechtsmediziner angerufen, diesen Hudson – habe mit seiner Frau gesprochen. Angeblich ist er den ganzen Tag nicht von der Toilette runtergekommen. Sie benutzte den Ausdruck ›Zahnpastatube‹. Sie meinte, bis morgen früh wäre er entweder tot oder wieder im Dienst.«
»Gut.« Finnie drückte eine Taste, worauf sein Monitor zum Leben erwachte. »Und jetzt trollen Sie sich. Sie haben ja sicher noch eine Menge zu organisieren.«
5
»… bestätige, sind in Position. Over?«
Logan rieb sich den Sand aus den Augen und spähte durch die Scheibe zu der Doppelhaushälfte am Ende der ruhigen Sackgasse hinüber. Die Gegend wirkte ein wenig verwahrlost – das Gras in den Vorgärten war so lange nicht mehr gemäht worden, dass es schon aussamte. Eine ausrangierte Waschmaschine stand neben zwei verbeulten Mülltonnen, und ein Dutzend Natriumdampflaternen tauchten die Szenerie in monochromatisches Licht.
Logan drückte die Sprechtaste seines Airwave-Handys. »Okay, Leute, alle mal herhören: Wir haben da drin drei, möglicherweise vier erwachsene männliche Personen. Es muss alles schnell und sauber gehen – keine Schlampereien, niemand soll verletzt werden, weder auf unserer noch auf deren Seite. Und Shuggie Webster hat angeblich einen neuen Rottweiler, also haltet die Augen offen. Alles klar?«
»Team 2, Roger.«
»Team 1, wuff!«
»Sehr witzig – komm bloß nachher nicht angerannt und jammere, dass dir ein Riesenköter die Eier abgebissen hat, okay?« Logan zog den Ärmel seiner Jacke zurück und sah auf seine Uhr. »Also, es geht los in: acht, sieben, sechs –«
»Uaah, wer hat da gefurzt?«
»– drei, zwei, eins. GO!«
PC Guthrie rutschte auf dem Beifahrersitz hin und her. »Ich seh nicht ein, wieso ich hier –«
»Du wolltest, dass ich etwas unternehme, und ich habe etwas unternommen.«
»Aber –«
»Pass auf, was du sagst, Allan. Ohne dich würde ich mich jetzt daheim mit meiner Zukünftigen in den Federn wälzen.«
Hinten am Ende der Sackgasse leuchteten Taschenlampen auf und strichen über den Vorgarten eines unscheinbaren zweistöckigen Hauses. In der Einfahrt stand ein weißer 3er BMW.
Mit dumpfem Krachen schlug ein Mini-Rammbock gegen eine Hart--Tür.
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