9,99 €
Eingeschneit in einem Dorf voller Schwerverbrecher – und mit einem Killer ...
»Stuart MacBride ist mit jedem Thriller ein Lektüre-Muss für mich. Immer schnell, hart, authentisch – und anders.« Lee Child
Der Auftrag klang so harmlos: DC Edward Reekie und seine Vorgesetzte sollen einen todkranken Häftling aus dem Gefängnis abholen und nach Glenfarach bringen, wo er seine letzten Monate verbringen darf. Der Ort wirkt wie ein verschlafenes Dorf im Herzen des Nationalparks, in Wahrheit ist er eine Hochsicherheitszone mit Überwachungskameras, Wachpersonal und elektronischen Fußfesseln. Hier leben Straftäter, die ihre Haft verbüßt haben, aber zu gefährlich sind, um in die Freiheit entlassen zu werden. Nachdem die Detectives den neuen Bewohner abgeliefert haben, drängt ein heraufziehender Schneesturm sie zur Rückkehr nach Aberdeen. Doch als in Glenfarach ein Mord geschieht, müssen sie die Ermittlungen übernehmen. In der vom Schnee eingeschlossen Gemeinschaft werden die wachsenden Spannungen bald zur tödlichen Gefahr für alle. Denn etwas Böses ist nach Glenfarach gekommen ...
»Der schottische Winter bildet das perfekte Setting für diesen Locked-Room-Thriller in Stuart MacBrides einzigartigem Stil.« The Scotsman
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 575
Buch
Der Auftrag klang so harmlos: DC Edward Reekie und seine Vorgesetzte sollen einen todkranken Häftling aus dem Gefängnis abholen und nach Glenfarach bringen, wo er seine letzten Monate verbringen darf. Der Ort wirkt wie ein verschlafenes Dorf im Herzen des Nationalparks. In Wahrheit ist er eine Hochsicherheitszone mit Überwachungskameras, Wachpersonal und elektronischen Fußfesseln. Hier leben Straftäter, die ihre Haft verbüßt haben, aber zu gefährlich sind, um in die Freiheit entlassen zu werden. Nachdem die Detectives den neuen Bewohner abgeliefert haben, drängt ein heraufziehender Schneesturm sie zur Rückkehr nach Aberdeen. Doch als in Glenfarach ein Mord geschieht, müssen sie die Ermittlungen übernehmen. In der vom Schnee eingeschlossen Gemeinschaft werden die wachsenden Spannungen bald zur tödlichen Gefahr. Denn etwas Böses ist nach Glenfarach gekommen …
Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Stuart MacBride
Thriller
Aus dem Englischen von Andreas Jäger
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Dead of Winter« by Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, part of the Penguin Random House group of companies.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2024
Copyright © der Originalausgabe
2023 by Stuart MacBride
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagfoto: © M Hallahan/500px / GettyImages; © FinePic®, München
Redaktion: Eva Wagner
AB · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31187-2V001
www.goldmann-verlag.de
Für Victoria WoodMeisterin der unerwarteten Pointe, Virtuosin des Absurden – eine Alchemistin, die das Alltagsleben in reines Gold verwandeln konnte.
Und die wahrscheinlich einen größeren Einfluss auf mein Schreiben hatte als irgendjemand sonst.
1953–2016
(es sei denn, du willst unbedingtein Messer in den Rücken kriegen)
Eigentlich wollte ich ja nie Polizist werden.
Dicke weiße Flocken trudeln aus einem tief hängenden grauen Himmel herab, lasten schwer auf den durchhängenden Buchenzweigen, drücken die Ginstersträucher gnadenlos zu Boden.
Ein Bächlein gluckert irgendwo hinter dem Stacheldrahtverhau eines undurchdringlichen Brombeergestrüpps.
Eine weiße Decke verhüllt die Waldlichtung, der Schnee löscht alle Formen und Farben aus und hinterlässt nur die erstarrten Geister dessen, was darunter vergraben ist.
Ich wollte Astronaut werden oder Fußballspieler oder Rockstar …
Alles ist ruhig und still und unberührt, bis auf eine Reihe tiefer Fußstapfen und eine Narbe mit glatten Rändern, wo etwas Schweres durch die Schneewehen geschleift wurde.
Und dann durchbricht etwas die Stille: das Ping und Klonk der Spitzhacke, die den gefrorenen Boden bearbeitet – ein regelmäßiges, methodisches Geräusch, ein industrielles Metronom, das die Stunde des Todes markiert. Jeder Schlag von einem angestrengten Ächzen begleitet.
Mein großer Bruder Dave war derjenige, der die Familientradition hochhalten und zur Polizei gehen sollte, aber dann ist ein Besoffener mit Vollgas über die Holburn-Kreuzung gerast, und damit war das Thema erledigt.
Die Frau, die die Spitzhacke schwingt, ist groß, breitschultrig, kräftig. Die Haare aus dem geröteten Gesicht zurückgebunden. Mitte vierzig.
Ihre gefütterte Warnjacke hängt am Ast einer knorrigen Kiefer, wie eine abgezogene Haut – ein Ärmel schwarz von Blut, weitere Flecken auf der Vorderseite. Eine zweite Jacke, dunkel wie Kohle, und eine petrolblaue Bluse sind über einen anderen Ast drapiert.
Dampf steigt von den Schultern ihres burgunderroten T-Shirts auf. Man sollte meinen, dass sie ein bisschen … na ja, Death-Metal-mäßiger gekleidet wäre. Also irgendwas mit einem Totenschädel oder einer Schlange mit einem Messer zwischen den Zähnen oder so ähnlich. Aber auf ihrem T-Shirt prangt eine Zeichnung einer schwarzen Katze mit Schleife um den Hals und Augenklappe, die mit einer Pistole posiert, wie auf einem James-Bond-Filmplakat.
Das Loch ist bereits hüfttief, daneben liegt ein Haufen dunkler Erde. Der Holzstiel einer Schaufel ragt aus dem Haufen wie ein kahler Flaggenmast.
Dave tauschte seine Träume von einer Polizeikarriere gegen einen Rollstuhl, und ich tauschte meine gegen einen Dienstausweis. Denn so macht man das, wenn der Vater Polizist ist, so wie sein Vater vor ihm und dessen Vater vor ihm.
Eine reglose Gestalt liegt ein Stück abseits, halb verdeckt von einem blutigen Laken, an die hungrigen Wurzeln der Kiefer geschmiegt.
Die Warnjacke des Mannes sieht genauso aus wie die am Ast, nur mit viel mehr Blut. Der neongelbe Rücken ist von dunkelroten Flecken überzogen, auch der schmutzig graue Anzug darunter ist damit getränkt. Der Besitzer der Jacke sieht keinen Tag älter als vierundzwanzig aus, aber er sieht auch sehr, sehr tot aus. Seine Haut hat diesen wächsernen, durchscheinenden Leichenhallen-Teint, jedenfalls an den Stellen, die nicht dunkelrot verschmiert sind. Auch auf seinem Hemd ist Blut und auf den Wangen in seinem scharf geschnittenen Gesicht. Dunkle Ringe unter den geschlossenen Augen. Kurze braune Haare und ebensolcher Knebelbart …
Schon komisch, wie es manchmal läuft, nicht wahr?
Die muskulöse Frau mit dem Comic-Katzen-T-Shirt hält im Hacken inne und steht eine Weile so da, den Kopf in den Nacken gelegt. Atemwolken steigen auf, während der Schnee fällt. Ihr Gesicht glänzt rosig.
Entschuldigung – wo bleiben meine Manieren? Bei der Dame mit der Spitzhacke handelt es sich um eine gewisse Detective Inspector Victoria Elizabeth Montgomery-Porter, North-East Division.
Manche nennen sie »Bigtoria«, aber nur hinter ihrem Rücken.
Sie wirft die Spitzhacke aus der Grube und packt stattdessen die Schaufel. Die Muskeln in ihren massigen Armen treten hervor und wölben sich, während sie gräbt, das Schaufelblatt in die gelockerte Erde rammt und sie mit Schwung auf den Haufen wirft.
Ich habe schon schlechtere Chefs gehabt als sie. Und ja, nach dem, was passiert ist, fällt es schwer, das zu glauben. Manchmal entgleiten einem die Ereignisse einfach, und ehe man sich’s versieht, findet man sich in einem abgelegenen, verschneiten Glen wieder und muss eine Leiche verscharren.
Die Schaufel knirscht, als Bigtoria sie in den steinigen Boden bohrt. Steine und Erde verströmen einen Geruch nach schimmligem Brot, der sich mit dem pfeffrigen Ozonhauch des Schnees vermischt.
Ich selbst bin übrigens Detective Constable Edward Reekie. Und man könnte wohl sagen, dass ich einen sehr schlechten Tag habe.
Eine letzte Schaufel Erde landet auf dem Haufen, dann klettert Bigtoria aus der Grube, stapft hinüber zu der Leiche, fasst sie unter den Achseln und schleift sie zurück zu dem Loch.
Es ist merkwürdig. Ich weiß, eigentlich müsste ich wütend sein deswegen – stinkwütend sogar –, weil ich ja schließlich die Leiche bin, verstehen Sie? Aber hauptsächlich ist mir nur kalt.
Bigtoria rollt Edward in die Grube. Steht einen Moment lang da und starrt auf ihn hinunter, den Kopf zur Seite geneigt, auf die Schaufel gestützt wie ein Henker auf seine Axt. Dann brummt sie etwas und schnappt sich ihre Jacke von dem Ast.
Sollte meinen, dass sie es fertigbringt, ein paar Worte zu sagen, oder? Zu sagen, dass es ihr leidtut. Mich um Vergebung zu bitten vielleicht? Eine verdammte Entschuldigung könnte auch nicht schaden.
Aber Bigtoria sagt kein Wort. Stattdessen fischt sie ein Handy und ein Spielzeug-Walkie-Talkie aus ihren Jackentaschen. Das Walkie-Talkie ist geformt wie der Kopf eines Clowns, mit einer lustigen roten Nase und breitem Grinsemund, und es verschwindet fast in ihrer Pranke.
Ist nicht ganz die Beerdigung, die mir vorgeschwebt hätte, das muss ich schon zugeben. Hätte irgendwie gehofft, dass mehr Trauergäste kommen würden, dass vielleicht ein paar Tränen fließen. Bewegende Reden darüber, was für ein feiner Kerl ich doch war. Verzweifelte Witwe, zwei Komma vier untröstliche Kinder und ein todunglücklicher Golden Retriever.
Nachdem sie die Taschen geleert hat, wirft Bigtoria ihre Jacke in die Grube. Sie landet auf Edward, verdeckt sein blutiges, dreckverschmiertes Gesicht. Das fleckige Laken, in das er gehüllt war, fliegt hinterher.
Und ich hätte ja kein protziges Mausoleum gewollt – ein schöner Grabstein hätte es auch getan.
Eine Schaufel Erde landet prasselnd auf der Jacke. Dann noch eine. Und noch eine.
Schließlich war das alles nicht meine Schuld.
Irgendwo in der Nähe setzt ein elektronisches Gedudel ein. Es ist eine billige, einstimmige Version dieser altmodischen Zirkus-Melodie: Dam-dam dadda-dadda dam-dam daaaaa-da.
Eine Pause, ein paar Flüche, dann ein Piepsen, als Bigtoria auf die Nase des Clowns drückt. Sie blafft hinein, ihr Ton hart und scharf wie die Klinge der Spitzhacke. »Was?«
Eine verzerrte Stimme tönt aus dem Walkie-Talkie. Es ist ein alter Mann, und er klingt genauso kalt und scharf wie Bigtoria, aber im Gegensatz zu ihrem vornehmen Tochter-aus-gutem-Hause-Schottisch ist seine Reibeisenstimme reinstes Glasgow und klingt nach Sozialsiedlungen, Whisky und Stiefeltritten. »Ist es erledigt?«
»Herrgott noch mal. Ich wäre schneller fertig« – sie wird mit jedem Wort lauter –, »wenn du mich nicht jede verdammte Minute« – jetzt brüllt sie regelrecht – »MITDEINENKONTROLLANRUFENNERVENWÜRDEST!«
Schweigen senkt sich mit den Schneeflocken herab, legt sich über die Landschaft. Jetzt sind die einzigen Geräusche der murmelnde Bach, das raue Krächzen einer Krähe in der Ferne und Bigtorias Atem. Ein und aus, wie ein wütender Blasebalg.
Die Stimme des Mannes ertönt wieder. »Bring’s einfach hinter dich.«
Ein wütendes Fauchen. Ein Seufzer. Und dann klatscht eine weitere Schaufel voll Erde auf Edwards Leiche.
Bigtoria füllt die Grube nach und nach auf. »Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen.«
Als ob sie es wäre, die da in der Grube liegt.
Wieder und wieder prasselt die Erde herab, bis nichts mehr übrig ist als dumpfer Tod.
Aber ich greife vor. Am besten fangen wir ganz am Anfang an …
(sprich: bevor alles ganz fürchterlich schiefging)
»… also bleiben Sie dran!« Die Stimme der gut gelaunten DJ tönte aus den Lautsprechern des Poolwagens, die Lautstärke so weit runtergedreht, dass man sie gerade eben verstehen konnte. »Sie hören Carole’s Cavalcade, es ist zehn Uhr fünfundvierzig an einem wunderbaren Dienstagmorgen, und wir haben ein paar fantastische Nummern für Sie im Programm …«
Dieses eigenartige knarzende Quietschen war wieder da – und jedes Mal, wenn Edward aufs Bremspedal trat, wurde es noch lauter. Nicht gerade beruhigend.
Das Armaturenbrett des Vauxhall war genauso dreckig wie der Rest: ein grauer Staubpelz, hier und da von Fingerspuren durchzogen. Das war das Problem mit Poolwagen – niemand machte sich je die Mühe, die Dinger zu reinigen. Nein, jeder hinterließ bloß seinen eigenen Dreck und überließ es dem nächsten armen Schwein, ihn zu beseitigen. Bloß dass das nächste arme Schwein das nie machte. Und so ging es weiter und weiter und weiter.
Der Dreck blieb, und die Verantwortung wurde munter weitergeschoben.
Was eine ganz treffende Metapher für die Verhältnisse bei Police Scotland war.
Bigtoria füllte den Beifahrersitz aus wie eine missgestimmte Bärin, den Blick starr geradeaus gerichtet, das Handy ans Ohr gepresst. »Ja, m-hm … Nein … Keine Chance.«
Was beinahe so viele Worte waren, wie sie bisher an ihn gerichtet hatte, seit sie in Aberdeen losgefahren waren. Denn warum sollte man auch mit einem einfachen Detective Constable reden, wenn man selbst den erhabenen Rang einer DI bekleidete?
»So, dann bringen wir die Party mal wieder in Schwung mit Stereoface und ihrer aktuellen Single ›Dancemonkey‹!« Peppige Musik blubberte aus der Stereoanlage. Nicht übel. Nicht überragend. Aber nicht übel.
Immerhin hatte er so etwas zum Mitsummen. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, während ein gesichtsloser Streifen des Nordostens vorbeiglitt. Nur der hoch aufragende Schornstein des Kraftwerks Peterhead, von dem sich eine strahlend weiße Dampffahne über den saphirblauen Himmel zog, durchbrach die Monotonie.
Ein heimlicher Blick nach links.
Bigtoria war immer noch damit beschäftigt, grimmig und verkniffen dreinzuschauen und mühsam unterdrückte Aggressivität auszustrahlen. Denn Detective Inspectors liebten so was, nicht wahr? Als ob sie zu viele Fernsehkrimis gesehen und beschlossen hätten, dass der Look ihnen stand. »Es interessiert mich nicht, was er sagt – der Mann ist ein Idiot … Ja … Dumm wie Brot, das ist er.«
Sie hatte nicht mal ein Lächeln zustande gebracht, als Edward darauf hingewiesen hatte, dass sie heute Partnerlook trugen: beide im maschinenwaschbaren grauen Anzug mit weißem Hemd. Tja, es würde ein langer Tag werden, so viel stand fest.
»… M-hm … Sekunde, ich frag mal nach.« Sie verlagerte ihren finsteren Blick von der Landschaft auf Edward. »Wir hätten schon vor einer Stunde dort sein sollen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Bei allem Respekt, Chefin, aber ich war nicht derjenige, der einen Sattelschlepper voller Kartoffeln auf der A90 quergestellt hat.«
»Wir haben immer noch fünf Stunden Fahrt vor uns, und wenn ich heute Abend zu spät zur Probe komme, sind Sie dran schuld. Also …« Sie sprach langsam und deutlich, als ob er auch dumm wie Brot wäre: »Wann – sind – wir – da?«
Edward sah auf sein Handy, das mit aktivierter Navi-App in der kleine Plastikhalterung neben den Lüftungsschlitzen steckte. »Fünf Minuten? Plus-minus. Ich fahr, so schnell ich kann.«
Ein missmutiges Brummen, dann sprach sie wieder ins Telefon. »Haben Sie das gehört? … Ja … Okay. Ich sag Ihnen Bescheid, wenn wir irgendwas rauskriegen.«
In der Ferne tauchte der Stadtrand von Peterhead auf – alles Lagerhallen und Gewerbegebiete, mit der einen oder anderen beige-braunen Häusergruppe im Hintergrund.
Am Kreisverkehr – einem mit Unkraut bewachsenen Buckel, eingeklemmt zwischen einer Autowerkstatt, einem McDonald’s und dem einsamsten KFC der Welt – bog Edward rechts ab, dann scharf links, immer den Wegweisern zu »HERMAJESTY’S PRISONANDYOUNGOFFENDERINSTITUTION, GRAMPIAN« und » uBESUCHER« nach, über eine ruhige Landstraße, gesäumt von Bäumen und übersät mit Schlaglöchern.
Bigtoria beendete ihr Gespräch, und ihre Miene wurde noch ein paar Stufen finsterer. »Sie wollen, dass wir ihn auch wegen des Abercrombie-Mordes ausquetschen.«
»Nie gehört. Wer ist …«
»Bis jetzt hätten wir also den Postraub in Mintlaw« – sie zählte es an den Fingern ab –, »den Banküberfall in Fraserburgh, die Brandstiftungen in Huntly, den Mord an Gerald Freebairn, das Verschwinden von Emily Lawrie, und jetzt auch noch den verdammten Wayne Abercrombie.«
Die Bäume wichen einer gesichtslosen Wohnsiedlung – lauter Bungalows in der Farbe von Tankstellen-Kaffee, gedeckt mit braunen Dachpfannen.
»Hm.« Er ging vom Gas, als sie den abweisenden rosa Granitklotz der Burnhaven School passierten. »Keine Ahnung, wer die alle sind.«
»Hmmpf … War vor Ihrer Zeit.« Sie zog die Stirn in Falten. »Auch vor meiner Zeit, um ehrlich zu sein. Aber im Gegensatz zu gewissen Leuten habe ich meine Hausaufgaben gemacht.«
Ach, komm …
Er versuchte es mit einem Lächeln. »Bin nur ein einfacher DC, schon vergessen? Wir werden ›nicht fürs Denken bezahlt‹, bis wir zum Sergeant befördert werden. Und selbst dann ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«
Nichts. Nicht mal ein sarkastisches Grinsen. Sie saß nur da und machte ein Gesicht wie ein versohlter Arsch, während vier Reihen von pittoresken altmodischen Häuschen vor ihnen auftauchten, ein Wall aus grauem Granit, mit Lücken, in denen man ein Stückchen Nordsee erspähen konnte.
»Okay …« Neuer Versuch. »Und wie soll ich meine Hausaufgaben machen, wo ich doch erst vor anderthalb Stunden erfahren habe, dass ich jetzt Ihr Sidekick bin?« Bei den »HMP &YOIGRAMPIAN«-Schildern bog er scharf rechts ab und fuhr den Berg hinunter zu dem halb leeren Parkplatz. Hinter der letzten Reihe von Parkbuchten lauerte die Nordsee, glitzernd im Sonnenschein und gesprenkelt mit den malerischen bunten Klecksen der Offshore-Versorgungsschiffe.
Der größte Teil des viktorianischen Nicht-mehr-Gefängnisses war hinter einer hohen Granitmauer links der Straße verborgen, aber nichts verstellte den Blick auf die klobigen Klötze neueren Datums, in denen die Grampian-Haftanstalt untergebracht war. Deren Einfriedung war wahrscheinlich noch höher als die des alten Gefängnisses, aber die Gebäude selbst waren viel, viel größer und erinnerten eher an eine Ansammlung von Travelodge-Hotels an einem Flughafen als an eine Justizvollzugsanstalt.
Edward folgte den Pfeilen auf dem Asphalt zu dem hässlichen Besucher- und Informationszentrum, erbaut im Stil eines Supermarkts in einem Industriegelände. »Hatte mich eigentlich auf einen gemütlichen Dienstag eingestellt – von morgens bis abends Überwachungsvideos sichten und Tee trinken. Was kann ich dafür, wenn DC Guthrie sich die Kante gibt und die Treppe runterfällt, wie wenn er einen auf Stuntman machen wollte.« Das kleine humorvolle Bild fügte er hinzu, um nicht ganz so wehleidig rüberzukommen.
Ein Schniefen. »Als ob.«
Sie lächelte nicht, aber es war immerhin ein Anfang.
»Genau – als ob jemand so blöd wäre, Guthrie als Stuntman zu engagieren. Der Kerl hat eine Koordination wie ein …«
»Ich meinte, es heißt ›als ob‹ und nicht ›wie wenn‹. ›Er ist die Treppe runtergefallen, als ob er eine Art Stuntman wäre.‹ Hat man Ihnen in der Schule keine Grammatik beigebracht?«
Warum? Warum machte er sich überhaupt die Mühe?
Detective Inspectors waren doch alle gleich.
Er fuhr um das Gebäude herum, parkte quer über den Stellplätzen, die für Motorräder reserviert waren, und stieg aus in die frische sonnige Luft. Seine Ohren schmerzten im Wind, die rasiermesserscharfe Kälte verwandelte seinen Atem in eine dünne, bleiche Nebelfahne.
Keine Spur von Grammatik-Päpstin DI Victoria »Als ob« Montgomery-Porter. Also zog er die Fahrertür wieder auf und schaute zu ihr hinein. »Chefin?«
Sie fixierte ihn mit einem Gesicht wie Beton. »Sie sind schuld, dass wir uns verspätet haben, also gehen Sie jetzt auch nachfragen.«
Er richtete sich auf und knallte die Tür zu.
Dann verdrehte er die Augen und fletschte die Zähne.
Er zeigte dem Autodach den Stinkefinger, machte auf dem Absatz kehrt und stampfte davon zum Haupteingang. Der es, wenn man ehrlich war, an architektonischem Reiz durchaus mit einer Kreuzung zwischen einem Einkaufszentrum und der Abflughalle eines Airports aufnehmen konnte. Aber immer noch tausend Prozent sympathischer als Detective Inspector Victoria Montgomery-Porter.
Edward fand ihn schließlich ganz hinten am Ende des Parkplatzes, wo er an einen alten Volvo-Kombi gelehnt die arktische Sonne genoss und aufs Meer hinausblickte.
Mr Bishop war eindeutig jenseits der achtzig, sein Rücken gebeugt von der Last der Jahre. Sein Anzug war wahrscheinlich schon lange vor Edwards Geburt aus der Mode gekommen – so ein blaues Tweed-Teil mit Fischgrätmuster, dazu eine graue Tweedweste, weißes Hemd und blaue Krawatte. Und darüber ein luxuriöser Kamelhaarmantel. Nur dass ihm die Sachen alle nicht zu passen schienen, als ob sie für einen kräftigeren, jüngeren Mann gemacht wären, nicht für diesen kleinen, weißhaarigen Greis mit krummem Rücken und arthritischen Fingern.
»Mr Bishop?«
Eine Zigarette klemmte in seinem runzligen Mundwinkel. Was wohl keine so tolle Idee war angesichts der Sauerstoffmaske in seiner linken Hand. Die Maske war an eine kniehohe braune Gasflasche angeschlossen, die an ein kleines Rollwägelchen geschnallt war. Einer dieser altmodischen Koffer – die Sorte, die noch nicht mal Räder hatte – und ein billiger Krankenkassen-Krückstock aus Metall rundeten die Ausstattung ab.
»Mr Bishop? Mr Mark Bishop?«
Der bucklige Mann wandte seine trüben Augen vom Meer und den Schiffen ab. Eine Stimme wie ein in Honig getunktes Reibeisen. »Kommt drauf an, wer fragt, Junge.«
»DC Reekie. Edward. DI Montgomery-Porter und ich sind hier, um Sie nach Glenfarach zu bringen.«
Der Blick ging wieder aufs Meer. »Ach ja?« Ein Lächeln breitete sich gemächlich auf Mr Bishops Zügen aus, dann sog er an seiner Zigarette, die er in der hohlen rechten Hand versteckt hielt, als ob er fürchtete, sie würde ihm gestohlen. »›Edward Reekie‹? Lass mich raten: Die anderen Kinder in der Schule waren sicher gemein zu dir, oder? Bei dem Namen.«
Frecher Kerl.
Edward warf sich in die Brust. »Wollen Sie jetzt mitkommen oder nicht?« Er deutete auf die Sauerstoffflasche. »Und Sie sollten in der Nähe von so einem Ding nicht rauchen.«
»Hör nicht auf die, Junge. Kinder sind boshafte kleine Mistkerle. Vor allem, wenn sie Schwäche wittern.«
»Ich meine es ernst – Sauerstoff und offenes Feuer, das passt nicht zusammen.«
Mr Bishop zog noch einmal an seiner Zigarette und nahm dann eine Lunge voll Sauerstoff. »Dann geh ich wenigstens mit einem Knall ab.« Er betrachtete seine Zigarette, als ob sie ein Kätzchen oder ein Hundewelpe wäre. »Außerdem ist das das einzige Laster, das mir geblieben ist.« Ein Seufzer. Dann nickte er, stieß sich von dem Volvo ab und lehnte sich stattdessen auf seinen Krankenkassen-Krückstock. Der Gummifuß schrappte über den Asphalt, begleitet vom Quietschen der Räder seines Sauerstoffwägelchens, als er davonschlurfte und den Koffer einfach stehen ließ. Er blickte sich nicht einmal um. »Sei so gut und nimm den mit, ja?«
Fauler alter Sack.
Aber Edward packte dennoch den Griff des Koffers und ächzte, als das Ding wie angeklebt am Boden blieb. Was zum Teufel hatte er da drin – Wackersteine? Er musste den Koffer mit beiden Händen nehmen, um ihn schleppen zu können, und sich zur Seite lehnen, um das Gewicht auszugleichen, während er hinter Mr Bishop herwatschelte.
Trotz des Greisentempos holte Edward Mr Bishop erst ein, als sie an dem versifften Vauxhall ankamen, wo Bigtoria ihren Hintern auf der Motorhaube geparkt hatte, mit dem Rücken zu ihnen. Sie beugte sich vornüber und massierte sich mit einer Hand die Schläfe, während sie sich mit der anderen das Handy ans Ohr hielt.
Ihre Stimme klang gequält. »Das sage ich ja gar nicht, ich sage nur … Natürlich gebe ich die Operation nicht auf. Dafür sind wir schon zu weit gekommen … M-hm … Ja.«
Edward ließ den fürchterlich schweren Koffer vor dem Kofferraum auf den Boden plumpsen. »Chefin?«
Keine Reaktion. »Ja, ich weiß, es ist nicht ideal, aber dann müssen wir eben improvisieren, nicht wahr … M-hm – das Beste draus machen … Genau. Das dachte ich mir.«
Er hob die Stimme. »CHEFIN?«
Immer noch nichts. »Wir können die Sache noch retten, aber dazu müssen wir …«
Ein schriller Pfiff zerschnitt die Luft, dann nahm Mr Bishop die Finger aus dem Mund. »HE, BIGTORIA! Stehst du immer noch auf diesen Laientheater-Scheiß?«
Bigtoria erstarrte einen Moment lang, dann setzte sie sich gerade auf. »Ich ruf zurück.« Sie legte auf, drehte sich aber nicht um. Die Stimme hart und kalt wie ein Seziertisch. »Wie haben Sie mich gerade genannt?«
Ein Grinsen spaltete Mr Bishops Gesicht. »Sieh an, sieh an, wenn das nicht Police Constable Victoria Montgomery-Porter ist – in Zivil, und richtig groß ist sie auch geworden.«
Sie drehte sich um und durchbohrte ihn mit einem waffenscheinpflichtigen Blick.
Was ihm aber nichts auszumachen schien. Er zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte die glimmende Kippe ins Gebüsch.
»Abfall auf die Straße werfen ist eine Straftat, Mr Bishop.«
»Aye, und was willst du jetzt machen – mich verhaften? Und außerdem seid ihr spät dran.« Er schlurfte zur hinteren Beifahrertür des Poolwagens, verstaute die Sauerstoffflasche im Fußraum und zwängte sich ächzend hinein. »Und jetzt macht mal voran, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Bigtorias Gesicht nahm eine ungesunde dunkelrote Färbung an.
Edward versuchte es mit einem Lächeln. »Ich habe ihn gefunden.«
»Hurra.«
Edward klappte den Kofferraum auf, wuchtete den sauschweren Koffer hoch … und hielt inne. Irgendein Idiot hatte einen verbeulten Werkzeugkasten da drin vergessen, bepflastert mit Stickern, die für verschiedene Theaterproduktionen warben: Sweeney Todd, Dracula Reborn, Les Misérables, Hexenjagd … Aber auf dem größten Aufkleber von allen stand in großen schwarzen Lettern »V.E.M.P.«.
Ah, okay. Victoria Elizabeth Montgomery-Porter. Das Ding gehörte der DI.
Er schob es zur Seite und quetschte Mr Bishops Koffer daneben rein.
Edward schielte nach links und nach rechts, um sicherzugehen, dass niemand hinschaute, dann warf er einen verstohlenen Blick in den Werkzeugkasten. Die verschiedenen Etagen fächerten sich auf, als er ihn aufklappte, und zum Vorschein kamen Reihen über Reihen von Dosen mit Theaterschminke und Make-up-Stiften, die den muffigen Wachsgeruch von alten Kerzen ausströmten.
Igitt.
Er machte den Kasten wieder zu.
Na ja, sie hatte doch gesagt, dass sie heute Abend eine Probe hatte.
Nachdem er den Kofferraum zugeklappt und sich hinters Steuer gesetzt hatte, funkelte sie ihn vom Beifahrersitz aus an und tippte auf ihre Uhr, als ob das alles irgendwie seine Schuld wäre.
»Lassen Sie sich nur Zeit, Constable.«
Mr Bishop saß auf dem Rücksitz und blickte zu der grauen Gefängnismauer auf, mit verschleiertem Blick und feuchten Augen, als ob er etwas sehen könnte, was dahinter war.
»Hmpf.« Bigtoria schnallte sich an. »Schon Heimweh nach Ihrer Zelle?«
Ein rasselnder Seufzer erfüllte das Wageninnere. »Es ist nicht der Ort, es sind die Menschen, die man vermisst. Ich habe da drin Freunde, die erst rauskommen werden, wenn ich längst tot und begraben bin.« Eine Pause, dann nickte er. »Das gibt einem schon zu denken.«
Edward ließ den Motor an und gab sich alle Mühe, heiter und positiv zu klingen. »Sie können ja jederzeit wiederkommen und Ihre Freunde besuchen, Mr Bishop. Die würden sich sicher freuen.«
»Halt die Klappe, Junge. Da bringen mich keine zehn Pferde mehr rein.«
Beruhigende klassische Musik blubberte aus den Autolautsprechern, während sie nach Süden fuhren, in Richtung Ellon. Felder und Wiesen waren in gedeckte Töne von verbranntem Toast und billiger Margarine gekleidet, keine Spur von Grün mehr im Gras und den Hecken, Bäume und Sträucher nur noch krakelige Tintenkleckse.
Bigtoria und Mr Bishop waren nicht gerade die unterhaltsamsten Reisegefährten. Sie hatte den Kopf gesenkt und spielte mit ihrem Handy herum, er saß hinten und starrte aus dem Fenster, die Falten und Runzeln zu einer melancholischen Miene arrangiert, als würde er über unglücklichere Zeiten nachsinnen. Aber es war nicht nur seine trübselige Ausstrahlung, die den Wagen ausfüllte, es war noch etwas anderes: der schmutzig braune Geruch von altem Zigarettenrauch und der scharfe, chemische Gestank eines Rasierwassers, das wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie sein Anzug aus der Mode gekommen war. Beides konnte man mit jedem Atemzug schmecken – säuerlich und verbrannt.
»Also … Marky.« Bigtoria drehte das Radio leise. »Sie waren zu Ihrer Zeit doch ein ganz toller Hecht, wie?«
Vom Rücksitz kam ein Brummen, und der alte Mann sah auf seine Uhr. »Zwölf Minuten. Muss so was wie ’n Rekord sein.«
»Ich mache bloß Konversation, Marky. Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.«
»Haben sie dir ’ne Liste von Sachen gegeben, über die du mich ausquetschen sollst? Um zu sehen, ob ich vielleicht irgendwen verpfeife oder nebenbei noch das eine oder andere Mördchen gestehe, damit eure Aufklärungsquote besser aussieht?«
Sie schürzte die Lippen und zuckte übertrieben mit den Schultern. »Wie gesagt, es wird eine lange Fahrt.«
Der Wagen rollte dahin.
Ein Taxi kam ihnen entgegen.
Ein Ford Focus mit einem pickligen kleinen Dödel am Steuer überholte sie, obwohl Edward genau die vorgeschriebenen sechzig Meilen pro Stunde fuhr.
Und immer noch wuchs das Schweigen an.
Edward räusperte sich. »Interessieren Sie sich für Fußball, Mr Bishop? Wie schätzen Sie die Chancen der Dons morgen ein? Die Hibs scheinen sich in dieser Saison einiges vorgenommen zu haben.«
Wieder ein Brummen. »Netter Versuch, Junge.« Er schlug mit dem Griff seines Krückstocks an die Rückenlehne von Bigtorias Sitz. »Na los, nun sag schon – haben sie dir eine Liste gegeben oder nicht?«
»Natürlich.«
Mr Bishop beugte sich vor. »Du musst wissen, Junge, dass das hier nicht das erste Mal ist, dass sich die Wege von deiner DI und mir kreuzen. Oder unsere Schwerter. Wann war eigentlich das erste Mal, Bigtoria? Vor sechsundzwanzig, siebenundzwanzig Jahren?«
Sie versteifte sich. »Verdammt noch mal, ich heiße nicht Bigtoria!«
»Aye. Könnte schlimmer sein. Zum Beispiel ›Stinky Ted‹, was, Junge?«
Edward packte das Lenkrad fester und biss die Zähne zusammen.
Der alte Mistkerl grinste. »Nichts für ungut.«
»… was uns natürlich zum Jahr 1838 und Chopins leidenschaftlicher Affäre mit der französischen Schriftstellerin George Sand bringt, die mit bürgerlichem Namen Amantine Lucile Aurore Dupin hieß …«
Die Welt hatte sich zu beiden Seiten der Straße zu einer gesichtslosen Ebene geweitet, aufgeteilt in Rechtecke mit totem Gras oder frostbleichen Furchen gepflügter Erde. Hier und da standen Schafe herum, eifrig damit beschäftigt, sich die Bäuche mit Steckrüben vollzuschlagen, eingepfercht zwischen den neonorangen Drähten mobiler Elektrozäune.
Was für ein Spaß.
»… doch sie mussten Mallorca verlassen, als Chopin an Tuberkulose erkrankte, und ließen sich in Marseille nieder, wo er Erholung und Genesung suchte …«
Edward räusperte sich erneut.
Mr Bishop seufzte.
Bigtoria tippte schon wieder eine neue Textnachricht. Tick-tick, tick-tick-tick-tick-tick-tick, tick-tick …
Doch, echt – zum Schreien komisch.
»Aber dort komponierte Chopin schließlich seine großartige Klaviersonate Nummer drei in h-Moll, hier interpretiert von dem wunderbaren Ray Ushikubo.«
Während die ersten Takte den Innenraum erfüllten, rutschte Mr Bishop auf seinem Sitz vor. »Man sollte meinen, dass sich mehr verändert hätte, nicht wahr? Aber hier ist es noch genau so öd und beschissen wie vor einem Vierteljahrhundert.« Er blickte finster auf eine riesige Schlammpfütze hinaus. »In fünfundzwanzig Jahren hat man viel Zeit zum Nachdenken, Junge. Weißt du, es gab eine Zeit, da hätte ich alles dafür gegeben, deine DI hier in einen schalldichten Raum mit einer Zange und einem Lötkolben zu kriegen.« Er schlug wieder gegen die Lehne ihres Sitzes. »Ist doch so, Bigtoria, oder nicht?«
Sie schrieb unbeirrt weiter. Tick-tick-tick, tick-tick, tick-tick-tick-tick-tick …
»Damals warst du natürlich noch eine kleine PC, nicht wahr? Oder hießen die Weiber damals noch WPC? Bevor ihr angefangen habt, einen auf politisch korrekt zu machen. Eine kleine Police Constable mit großer Nase und einem eigenartigen Talent, manche meiner Geschäftspartner dazu zu bringen, Dinge zu verraten, die sie wirklich besser für sich behalten hätten.«
Sie blickte nicht auf, aber sie lächelte immerhin. »Die waren erstaunlich hilfreich.«
Mr Bishops Stimme wurde düsterer. »Lebenslänglich mit Entlassung nach frühestens zweiunddreißig Jahren hört sich für mich nicht sonderlich hilfreich an.«
»Und doch sind Sie jetzt hier, nur fünfundzwanzig Jahre später, und genießen eine schöne Landpartie.«
Edward spannte sich an in Erwartung eines Wutausbruchs, doch stattdessen ließ Mr Bishop einen Lachanfall vom Stapel, der bald in einen rasselnden Husten überging. Er schüttelte sich, rang nach Luft und sackte schließlich auf seinem Sitz zusammen, während er hektisch nach der Sauerstoffmaske tastete.
Dann ein paar tiefe, zischende Atemzüge, die Augen geschlossen, bis das Zittern nachließ. »Herrgott noch mal …« Jetzt hörte man ihm jedes einzelne seiner achtzig-plus Jahre deutlich an, und mit der Maske klang er wie ein sterbender Darth Vader. »Na los … nun mach schon … her mit deiner … deiner Liste.«
Sie legte ihr Handy weg. »Wayne Abercrombie.«
»Sagt mir … nichts.«
»Bauunternehmer. Jemand hat ihm vor seinem Haus in Stonehaven aufgelauert – mit einer abgesägten Schrotflinte.«
Mr Bishop nahm seine Maske herunter. »Ich habe Männer gekannt, die haben ihren Knarren Namen gegeben. Haben sie besser behandelt als ihre Frauen.« Ein nostalgischer Ton schlich sich ein. »Hast du mal mit Bulldog Riley zu tun gehabt? Hat Schutzgelder für Wee Hamish Mowats Truppe eingetrieben. Der hatte diese wunderschöne doppelläufige Winchester Kaliber zwölf, mit graviertem Schaft und allen möglichen Verzierungen. ›Maggie‹ hat er sie genannt, nach seiner guten alten Mama, und er hat sie benutzt, um Typen, die sich um ihre finanziellen Verpflichtungen drückten, die Kniescheiben zu zertrümmern.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ›Bulldog Riley‹ Wayne Abercrombie auf dem Gewissen hat?«
Eine wegwerfende Handbewegung. »Nee, natürlich nicht. Ich schwelge bloß in Erinnerungen. Hab nie verstanden, wieso man seiner Knarre einen Namen gibt. Eine Knarre ist ein Werkzeug, wie ein Schraubenschlüssel oder ein Hammer, und man gibt ja auch seinen Schraubenziehern keine Namen, oder?«
Stimmt.
Edward nickte. »Vielleicht machen sie es, weil sie glauben, dass sie den Leuten damit mehr Angst einjagen können?«
»Wenn du um sieben Uhr morgens bei einem Kerl auf der Matte stehst und ihm eine abgesägte Schrotflinte unter die Nase hältst, hat der auch so mehr als genug Schiss, Junge.« Bigtorias Sitz bekam noch einen Schlag ab. »Wen hast du noch?«
»Gerald Freebairn.«
Ein Stirnrunzeln im Rückspiegel. »Ist das der Kinderschänder aus Glasgow, den sie wie eine Zwiebel geschält und im Loch of Skene versenkt haben?« Er hörte sich zunehmend müde an. »Oh, an den erinnere ich mich noch gut. Es hieß, dass er für die Morrison-Brüder als Scout gearbeitet hat – die haben gedacht, sie könnten sich in die Drogenszene einmischen. Offenbar ist Freebairn den falschen Leuten auf die Zehen gestiegen.«
»Ihre Zehen?«
»Nee …« Es war eine Weile still, als ob Mr Bishop Mühe hätte, die Energie zum Weitersprechen aufzubringen. »Ich hatte es nicht so mit dem Schälen … Nicht mein Stil. Zu … viel Fieselarbeit. Wer hat denn Zeit für so was?«
Sie drehte sich zu ihm um. »Würden Sie es denn sagen, wenn Sie es getan hätten?«
Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. »Du weißt schon noch … warum sie mich … sieben Jahre früher rausgelassen haben?« Jeder Atemzug ein pfeifendes Keuchen. »Hab … hab keinen Grund, zu lügen … Ich wäre längst … über den Jordan … bevor sie mir den … Prozess machen können.« Mr Bishop setzte sich die Sauerstoffmaske auf, die seine Stimme wieder dämpfte. »Müde … Glaub’, ich mach … einfach mal ’n Weilchen … die Augen zu.«
Die Sonate klimperte weiter, aber von Mr Bishop kam nichts mehr.
Noch mehr triste Felder zogen vorbei. Noch mehr triste Bauernhöfe. Noch mehr triste Schafe.
Der arme alte Kerl im Rückspiegel sah gar nicht gut aus. Er hing da auf dem Rücksitz, der Kopf nach hinten gekippt, und gab Schnorchellaute von sich.
Edward senkte die Stimme. »Glauben Sie, er geht uns hops, bevor wir dort sind?«
Bigtoria schnaubte und senkte die Stimme nicht. »Ich wag’s nicht zu hoffen.«
Der blaue Himmel, der ihnen während des größten Teils der Fahrt von Peterhead gefolgt war, hatte sich verdunkelt und seinen Glanz eingebüßt, als sie Bridge of Alford erreichten. Jetzt landeten winzige weiße Flöckchen auf der Frontscheibe, die schmolzen, sobald sie mit dem warmen Glas in Berührung kamen.
Mr Bishop hatte wieder seine nachdenkliche Miene aufgesetzt. »Ein Banküberfall in Peterhead? Nee …«
»Fraserburgh.« Bigtoria fixierte den Rückspiegel mit zusammengekniffenen Augen. »Die Bank war in Fraserburgh. Und es war kein Banküberfall, es war ein Tiger-Kidnapping. Die Täter entführten die Frau und die Tochter des Filialleiters und drohten damit, sie zu vergewaltigen und zu töten, wenn er nicht den Tresor aufschloss und ihnen beim Ausräumen half.«
»Ach ja?« Mr Bishop hätte kaum gelangweilter klingen können. »Haben sie viel erbeutet?«
»Zwei Komma fünf Millionen in bar, und dazu Gott weiß wie viel aus den Tresorboxen. Das Geld ist nie wieder aufgetaucht. Und sie haben die Frau und die Tochter trotzdem vergewaltigt.« Sie drehte sich zu Mr Bishop um und starrte ihn an. »Ein halbes Jahr später bringt die Frau des Filialleiters sich selbst und ihre Tochter mit Schlaftabletten um. Hat es nicht verkraftet. Er erleidet daraufhin einen Zusammenbruch und stürzt sich beim Kinnaird Head Lighthouse von den Klippen.«
Mr Bishop reckte das Kinn so energisch, dass die blassen, runzligen Hautlappen schlackerten. »Glaubst du ernsthaft, ich könnte was mit der Vergewaltigung von einem Kind zu tun haben? Ich hoffe, die Dreckschweine schmoren in der Hölle.« Diesmal klopfte der Krankenkassen-Krückstock Edward auf die Schulter. »Sind wir bald da?«
Edward warf einen Blick auf die Karte auf seinem Handy. »In einer Stunde und zwanzig Minuten.«
»Gah …« Mr Bishop bleckte die nikotingelben Zähne und sah aus dem Fenster. »Was für ein hässliches Dorf. Gibt’s denn heutzutage nur noch Fertighäuser?«
Bigtoria startete einen neuen Versuch. »Was ist denn mit Emily Lawrie? Sie ist spurlos verschwunden.«
»Habt ihr was zu essen da?«
»Siehst das hier etwa aus wie Essen auf Rädern? Jetzt beantworten Sie die Frage: Emily Lawrie. Wir wissen, dass Sie sie gekannt haben. Was ist passiert?«
Mr Bishop rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Ich muss zu festen Zeiten essen, sonst komm ich in den Unterzucker. Willst du das?« Er holte seine Zigaretten hervor. »Ich muss zwanzig verschiedene Pillen nehmen.«
Ihr Finger zielte auf ihn. »Nix da. Im Auto wird nicht geraucht, das ist verboten.«
»Dann halt an und lass mich verdammt noch mal eine rauchen.«
Edward ging vom Gas, als sie um eine Kurve bogen, hinter der man das Ortszentrum vermutet hätte. Doch sie waren offenbar schon daran vorbeigefahren, ohne es zu merken, denn kurz darauf hörten die Häuser auch schon wieder auf. Aber immerhin war das letzte links vor der Brücke ein Pub. Edward zeigte darauf. »Ich könnte fragen, ob sie uns ein paar Sandwiches machen?«
Bigtoria schüttelte den Kopf. »Fahren Sie weiter.«
Okay …
An der Kreuzung bog er rechts ab, den Schildern zur A97 nach, und verschmähte die süßen Verlockungen, die die A944 verhieß – Alford, Aberdeen und Banchory –, um stattdessen den Weg zum Cairngorms-Nationalpark einzuschlagen.
Noch fünf weitere Granithäuser, dann hatten sie den Ort hinter sich, und er gab wieder Gas. Vorbei an noch mehr Bäumen und Feldern.
Mr Bishop fing wieder an zu zappeln. »Ich muss auch pinkeln.«
Bigtoria drehte sich wieder nach vorne. »Machen Sie sich ’nen Knoten rein.«
»Werd’ du erst mal zweiundachtzig – wirst schon sehen, wie robust deine Blase dann noch ist.«
»Wir halten nicht an.«
»Aber wenn ihr nachher den Rücksitz mit dem Schlauch abspritzt, sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!«
Edward zuckte zusammen. »Chefin?«
»Oh Mann, ich glaub’s nicht.« Sie grummelte eine Weile vor sich hin, und dann: »Na schön.« Sie funkelte Edward an. »Anhalten.«
»Wo?« Da waren nur Felder und Bäume, weit und breit keine Spur von einer öffentlichen Toilette.
»Am nächsten gottverdammten Busch.«
»Uah …« Edward stampfte mit den Füßen auf, dann hauchte er sich in die hohlen Hände und bekam dafür eine Dampfwolke ins Gesicht. Nun ja, immer noch besser als der Dampf, den Mr Bishop produzierte.
Von Privatsphäre konnte nicht direkt die Rede sein – es war ein Waldstück neben einem Feldweg, gerade eben weit genug weg von der Straße, um zu verhindern, dass vorbeikommende Autofahrer einem alten Mann bei seinem mühsamen Wasserlassen zuschauen konnten.
Immerhin war ihr rostiger Vauxhall durch die Büsche und Bäume kaum zu sehen.
Das Wägelchen mit der Sauerstoffflasche drohte umzukippen, also gab Edward den Versuch auf, seine Hände zu wärmen, und packte wieder den Griff.
Mr Bishop schaukelte vor und zurück, Zigarette im Mundwinkel, während er den Stamm eines Ahorns mit seinem spärlichen Getröpfel zu gießen versuchte. Der Urin hatte die Farbe von Tee, der zu lange gezogen hatte, und stank außerdem ganz erbärmlich.
Edward verzog das Gesicht, als eine neuerliche bittergrüne Schwade in seine Richtung waberte. »Hatten Sie Spargel zum Frühstück?«
»Ich kann nichts riechen.« Er wackelte ein wenig hin und her, aber es kamen trotzdem nur ein paar Tropfen. »Es würde verdammt noch mal schneller gehen, wenn du mir nicht dabei zugucken würdest.«
Na klar. Weil Edward sich ja seine Mittagspause an diesem Dienstag genau so vorgestellt hatte.
»Tut mir leid, aber meine DI sagt, ich muss. Ich glaube, sie hat Angst, dass Sie abhauen.«
»Hmmmpf. Sie war immer schon ein Miststück.« Er quetschte ächzend noch ein paar Spritzer hinaus. »Werd’ bloß nie alt, Junge, deine Prostata wird dich hassen.«
»Sie hat mir die Anklageschrift gezeigt, von Ihrer Verurteilung damals.« Er sah sich zum Wagen um. Keine Spur von Bigtoria. Auch gut. »Haben Sie wirklich Nigel McLean mit einer Kreissäge getötet?«
»Nee. Getötet hab ich ihn mit ’nem Brecheisen. Hab mir schön Zeit gelassen. Die Kreissäge war zum Zerlegen. Junge, war das eine Sauerei. Weißt du, da ist so ein kleines Loch, wo Sägemehl und Späne und so ausgeworfen werden, aber wenn du eine Leiche zerlegst, ist sofort alles voller Knochensplitter und Blut und Zeugs …« Mit letzter Kraft produzierte er noch ein paar erbärmliche, faulig-braune Tropfen. »Der Richter hat gesagt, es wäre ein ›besonders niederträchtiger und brutaler Mord, ohne eine Spur von Gnade oder Mitleid‹. Da war ich ganz schön stolz drauf.«
Was für ein sympathischer alter Herr.
Trotzdem, das war doch jetzt eine Chance, bei der DI ein paar Fleißpunkte einzuheimsen, solange Mr Bishop in so gesprächiger Stimmung war. »Was war denn mit dieser Emily Lawrie?«
»Das war nicht ich, das war Black Joe Ivanson. Und du musst nicht meinen, dass ich ihn verpfeife, er hat nämlich in der ersten Welle den Löffel abgegeben. Na ja, ich hab gehört, dass er zu der Zeit schon dement und im Heim war, also war es vielleicht ein Segen, dass er Covid gekriegt hat.« Noch ein fruchtloser Versuch mit Schaukeln und Wackeln und vor Anstrengung verzerrtem Gesicht, dann holte er tief Luft und brüllte seine eigenen Genitalien an: »JETZTPISSENDLICH, INDREITEUFELSNAMEN!«
Edward schlüpfte wieder hinters Steuer.
Als seine Tür ins Schloss fiel, blickte Bigtoria tatsächlich zur Abwechslung von ihrem Handy auf. Sie runzelte die Stirn und beäugte ihn argwöhnisch. »Wo ist Marky Bishop?«
Edward wies mit dem Daumen über die Schulter. »Er sagt, es war ein gewisser ›Black Joe Ivanson‹, der Emily Lawrie ermordet hat, aber der Kerl ist tot, also …«
Bigtoria riss die Augen auf. »Was fällt Ihnen ein, ihn unbeaufsichtigt zu lassen?« Sie sprang aus dem Wagen. »Wenn er abgehauen ist, reiß ich Ihnen den Kopf ab!«
Mist.
Edward hastete hinterher. »Wie soll er denn abhauen? Er ist zweiundachtzig, hängt an der Sauerstoffflasche und kann kaum gehen!«
Damit erntete er einen vernichtenden Blick.
»Bei … allem Respekt. Chefin.« Edward deutete auf den Feldweg. »Schauen Sie.«
Mr Bishop kam aus dem Waldstück gehumpelt, auf seinen Krückstock gestützt, als ob das Ding das Einzige wäre, was ihn noch aufrecht hielt, und zog sein Sauerstoffwägelchen hinter sich her.
»Sehen Sie? Nichts passiert.«
Bigtoria ging auf ihn los, ihr Gesicht eine Masse von Zornesfalten und Zähnen. »Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen einen Verdächtigen bewachen, Constable, dann bewachen Sie ihn gefälligst!« Spucketröpfchen flogen durch die Luft.
Er wich vom Auto zurück. »Ich war … Es war nicht …«
Mr Bishop schleppte sich zur hinteren Beifahrertür und zog sie umständlich auf. Er stand eine Weile schnaufend und keuchend da, dann hob er die Hände wie ein Chirurg. »Hat jemand … Feuchttücher da?«
Bigtoria verengte die Augen zu Schlitzen und quetschte die Worte mit zusammengebissenen Zähnen hervor: »Steigen – Sie – endlich – ein!«
Er warf ihr noch einen bösen Blick zu, dann schniefte er, zuckte mit den Schultern, als ob es ihm egal wäre, und klappte sich auf seinem Sitz zusammen. »Da geht’s ja im Knast noch hygienischer zu.«
Sobald seine Tür zu war, zeigte Bigtoria über das Autodach hinweg mit dem Finger auf Edward und schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit. »Machen Sie das ja nie wieder! Wenn Sie noch einmal einen direkten Befehl ignorieren, mach ich Sie alle, das schwör ich beim Leben meiner Mutter!« Sie blieb noch kurz stehen und schoss böse Blicke auf ihn ab. Dann drohte sie noch einmal mit dem Finger und stieg ein.
Sobald sie außer Sichtweite war, verdrehte er die Augen und sackte zusammen. Sprach so leise, dass er sich selbst kaum hören konnte. »Mr Bishop hat recht, Sie sind ein richtiges …«
Ihre Stimme dröhnte aus dem Auto: »Jetzt, Constable!«
Es gab Tage, da war es eine Freude, Polizist zu sein.
Der heutige Tag gehörte nicht dazu.
Eisige weiße Tupfen drifteten aus dunkelgrauen Wolken herab, als der Poolwagen vor dem zweieinhalb Meter hohen, mit einem Vorhängeschloss gesicherten Maschendrahttor ausrollte, das die einspurige Straße versperrte. Links und rechts des grauen Asphalts setzte sich der Maschendraht fort, bis er von den Bäumen verschluckt wurde, die sich in grimmigen Formationen den Hang hinaufzogen.
Berge blickten finster auf den Wagen herab, links, rechts und geradeaus. Dunkle Silhouetten, die sich drohend vor dem schneebeladenen Himmel abzeichneten. Mehr Yeti-Revier als Heidi-Idylle.
Die Monotonie des Zauns, der sich bei näherem Hinsehen als von Stacheldrahtrollen gekrönt erwies, wurde durch ein Trio von Schildern ein wenig aufgelockert: »GLENFARACHESTATE – ZUFAHRTVERBOTENAUSSERFÜRRETTUNGSFAHRZEUGE« wurde perfekt ergänzt durch »WEITERFAHRTFÜRUNBEFUGTEFAHRZEUGEVERBOTEN« und – damit auch der Letzte es kapierte – »WARNUNG: MAUL- UNDKLAUENSEUCHE – KEINEZUFAHRT!«
Auf einer hohen Betonsäule am Straßenrand gleich hinter dem Tor waren drei Überwachungskameras montiert … zwei zeigten in die Richtung, aus der sie kamen, die dritte deckte die Straße ab, die sich in den Wald hineinschlängelte.
»Abschreckend« war wohl ein ganz treffender Ausdruck.
Edward löste seinen Gurt, holte tief Luft und stieg aus.
Heilige Scheiße. Es war, als würde man in ein Eisbad springen – die Kälte legte sich um seinen Brustkorb und drückte ihn zusammen. Er trabte auf das Tor zu, fischte den Schlüsselbund aus der Tasche und schloss das dicke Messing-Vorhängeschloss auf – das Metall war so kalt, dass es an seinen Fingern kleben blieb. Dann zog er die rasselnde Kette heraus und drückte die Torflügel unter dem Kreischen der rostigen Angeln auf.
Fröstelnd eilte er zum Auto zurück und warf sich hinters Steuer. »Meine Fresse, ist das kalt da draußen.«
Bigtoria brummelte nur etwas, wie üblich über ihr Handy gebeugt. Mr Bishop war auf seinem Sitz eingenickt, den Mund aufgesperrt wie eine feucht glitzernde Höhle, als ob er seine dritten Zähne zur Schau stellen wollte.
Edward legte den Gang ein und fuhr durch das Tor. Auf der anderen Seite hielt er an, holte tief Luft, gürtete seine Lenden und wagte sich wieder hinaus in den arktischen Winter.
Das Tor ließ sich leichter öffnen als schließen – jeder Zentimeter war ein Kampf, die Scharniere quiekten wie Schweine in einem Schlachthof, als er sich mit der Schulter dagegenstemmte. Er benutzte seine Ärmel als Handschuhersatz, um die Kette wieder anzubringen, und sicherte sie mit dem Vorhängeschloss.
Verdammt, warum musste alles so kalt sein?
Und dann schnell zurück ins Auto. Er plumpste auf seinen Sitz, knallte die Tür zu und kauerte sich fröstelnd zusammen, während er hektisch in die zitternden rosaroten Klauen hauchte, die sich als seine Hände ausgaben. »Gaahhhh …«
Bigtoria sah nicht von ihrem Handy auf. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, Constable Reekie.«
Sie hatte gut reden, sie durfte ja die ganze Zeit im warmen Auto hocken bleiben.
Sobald er wieder etwas Leben in seine armen gemarterten Finger gehaucht hatte, fuhr er los, hinein in das stärker werdende Schneetreiben. Die Wischer klackten hin und her und schafften es kaum, die Scheibe freizubekommen, ehe wieder eine weiße Schicht die Sicht verdeckte. Die Straße begann auch schon unter einer Schneeschicht zu verschwinden, ihre Farbe wechselte von frostigem Grau zu schmutzigem Weiß.
Der Wagen erklomm grollend eine kleine Anhöhe und rollte auf der anderen Seite wieder bergab, immer die einspurige Straße entlang, die sich durch den dichten dunklen Wald wand. Die Äste der Kiefern griffen wie Krallen nach dem vorbeifahrenden Auto, hungrig, tastend.
Fehlte bloß noch ein verdammtes Pfefferkuchenhaus mit einer kannibalischen Seniorin und einem sprechenden Wolf. Das einzig Gute war, dass die Bäume ein bisschen Schutz vor dem Schnee boten, aber bei dem, was da inzwischen runterkam, würde das vermutlich nicht so bleiben.
Edward sah im Rückspiegel nach ihrem Fahrgast. Der schlief immer noch tief und fest und ließ seine achtundzwanzig künstlichen Zähne sehen. »Wie kommt es eigentlich, dass wir hier Taxi spielen müssen?«
Bigtoria tick-tick-tick-tickte weiter auf ihrem Handy. »Mark ›Marky‹ Bishop hat ausdrücklich nach uns verlangt.« Sie hob einen Moment lang den Kopf. »Das heißt, er hat nach mir verlangt. Sie sind mehr so was wie eine Dreingabe.«
Die Flocken wurden größer. »Aber er wirft Ihnen doch vor, dass Sie seine Kumpels dazu gebracht haben, ihn zu verpfeifen. Wieso sollte jemand sich wünschen, zweieinhalb Stunden mit der Person, die ihn für dreißig Jahre oder mehr hinter Gitter gebracht hat, im selben Auto zu hocken?«
Keine Antwort.
Die Straße schlängelte sich weiter bergab, die Scheibenwischer arbeiteten jetzt im Akkord. Klonk, squonk, klonk, squonk. Edward schaltete das Licht ein. Nicht dass es allzu viel gebracht hätte – nur ein kleiner Lichtkegel unmittelbar vor dem Auto, der im Nu von den wirbelnden Flocken verschlungen wurde.
Bäume spickten die Talhänge bis hinauf zu den tief hängenden Wolken und klemmten den Poolwagen zwischen sich ein. Tausende und Abertausende uralte Kiefern, die über ihnen aufragten.
Die sie beobachteten.
Belauerten.
Und anstatt das einzig Vernünftige zu tun, nämlich zu wenden und zuzusehen, dass sie hier rauskamen, fuhren sie immer noch tiefer in den Wald hinein.
Immer noch nichts von Bigtoria.
»Chefin?«
Sie fixierte weiter ihr Handy. »Ich nehme an, dass sich Marky Bishop ein paar seiner alten Schandtaten von der Seele reden will. Wie er schon sagte – selbst wenn er etwas gesteht, was sollen wir denn machen? Der alte Mistkerl ist ja schon aus Gesundheitsgründen vorzeitig entlassen worden. Die Staatsanwaltschaft wird keine Anklage gegen ihn erheben, wenn klar ist, dass er längst tot sein wird, ehe es zum Prozess kommt. Wäre reine Zeit- und Geldverschwendung.«
Hinten auf dem Rücksitz zuckte Marky und röchelte kurz, dann fing er an zu schnarchen – ein leises, rhythmisches, feuchtes Raspeln.
Bigtoria runzelte die Stirn. »Na ja, entweder das, oder er wollte uns einfach nur ein bisschen ärgern.«
Der Poolwagen brach aus dem tiefen, dunklen Wald hervor, und eine lang gezogene Lichtung tat sich vor ihnen auf, mit einem kleinen Keksdosen-Dorf am hinteren Ende, reifglitzernd im Schneetreiben. Kränklich gelbes Sonnenlicht stach aus der grauen Wolkendecke hervor, mehr Warnung als Willkommensgruß.
Hier gab es keine wuchernden Neubausiedlungen, nur altmodische schottische Häuser: schlichte Granitfassaden, schwarze Schieferdächer, Gauben für die Angeber, die glaubten, sich ein ausgebautes Dachgeschoss leisten zu müssen. Das meiste schien um die Hauptstraße herum angeordnet zu sein, mit vielleicht noch ein, zwei Nebenstraßen auf jeder Seite. Aber das Kaff war wirklich winzig. Sicher kaum mehr als 250 Einwohner. Allenfalls 300.
Schmutzige Schneehaufen säumten die Straße, dazwischen sandige Stellen, wo der Asphalt hervorschaute – offenbar war erst kürzlich geräumt und gestreut worden. Auch die Gehsteige hatten sie nicht vergessen, aber der Neuschnee machte alle Bemühungen schon wieder zunichte.
Das Dorf war von Bäumen umstanden – gleichmäßige Reihen von Kiefernpflanzungen, die weiter hinten in etwas deutlich Älteres übergingen, vielleicht sogar richtigen Urwald. Knorrig und stachlig und abweisend.
Bigtoria sah stirnrunzelnd auf ihr Handy, hielt es hoch und schwenkte es hin und her. Rauf, runter, links, rechts. »Immer noch kein verdammtes Netz.«
Ein großes Schild am Straßenrand verkündete »WILLKOMMENINGLENFARACH«, doch die freundliche Begrüßung wurde von den anderen Hinweisen untergraben, die es bedrängten wie wütende Demonstranten: »PARKENÜBERNACHTVERBOTEN!«, »ZUFAHRTNURFÜRBEFUGTE«, »ALLEBESUCHERMÜSSENSICHAUFDEMPOLIZEIREVIERMELDEN!«
Edward streckte den Arm durch die Lücke zwischen den Sitzen und rüttelte an Mr Bishops knochigem Knie. »Mr Bishop? Wir sind da.«
»Mmmmmpf?« Das Tiefseetaucher-Geschnorchel brach abrupt ab, Mr Bishop setzte sich kerzengerade auf und ließ vor Schreck einen fahren. Blinzelte und schmatzte und blickte sich verschlafen um, als ob er sich wunderte, warum er in einem Auto statt in einer Zelle aufwachte. »Wobinnch?«
»In Glenfarach. Wir sind …« O nein, o nein, o nein. Der Gestank einer brennenden Müllkippe, durchsetzt mit einer Million Eiern und vier Tonnen vergammeltem Kohl, breitete sich explosionsartig im Wagen aus.
»Uahh …« Bigtoria prallte zurück und wedelte hektisch das Giftgas von ihrem Gesicht weg.
Hustend und prustend ließ Edward sein Fenster herunter und einen Schwall kalter, frischer Luft herein. »Ach du Schande. Was hat man Ihnen denn zu essen gegeben?«
Im Rückspiegel machte der alte Stinksack ein finsteres Gesicht. »Seid nicht so verdammt kindisch. Ich kann nichts riechen.«
»Natürlich nicht, Sie rauchen ja auch vier Millionen Zigaretten am Tag.« Edward drehte das Gebläse voll auf. »Gah … Da schmilzt ja das Plastik vom Armaturenbrett! Ihr …«
Bigtoria boxte ihn. »So, Constable, das reicht. Wir können auf Ihren Fäkalhumor gut und gerne verzichten, vielen Dank auch.«
Spielverderberin.
Aber er ließ das Fenster offen und das Gebläse an, denn das war einfach nicht mehr normal.
Vor ihnen war die ganze Straße von Laternenpfählen gesäumt. Jede Menge Laternenpfähle – ungefähr zwei- oder dreimal so viele, wie man selbst in einem belebten Stadtzentrum erwarten würde. Edward beugte sich vor und spähte nach oben, als sie an einem vorbeifuhren – da waren zwei Überwachungskameras montiert. Auch am nächsten Pfahl. Und an dem danach. Und auch an denen auf der anderen Straßenseite.
Das war ein bisschen … nicht wahr?
Wer in aller Welt brauchte so viele Kameras? Was zum Teufel trieben die Leute hier, dass man sie so gründlich überwachen musste?
Bigtoria rutschte so weit herum, wie ihr Gurt es zuließ. »Unsere Zeit ist fast um, Marky. Gibt’s noch irgendwas, was Sie sich von der Seele reden wollen? Irgendwas, was nicht auf unserer Liste steht?«
Ein herzhaftes Gähnen gab erneut den Blick auf dieses makellose künstliche Gebiss frei, dann streckte er sich und bog seinen runzligen Hals nach links und nach rechts, dass es nur so knackte und knirschte. »Mir hängt der Magen echt auf den Knien …«
Noch etwas anderes schien mit diesem Ort nicht ganz zu stimmen – all die malerischen Granithäuschen mit ihren schneebedeckten Schieferdächern und bunt gestrichenen Haustüren – und auf keinem einzigen war eine Satellitenschüssel.
Sonderbar.
Eine Handvoll Leute waren unterwegs – dick eingemummt gegen die Kälte stapften sie die Gehwege entlang. Und alle blieben stehen und gafften den vorbeifahrenden Poolwagen an. Ein paar winkten Edward sogar munter zu und lächelten.
Eigentlich ganz nett und freundlich, aber irgendetwas war da nicht ganz sauber – etwas, das Edward mit schleimigen kleinen Pfoten das Rückgrat hinaufkroch.
»Okay …« Er winkte zurück und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass ihm diese Freaks alles andere als geheuer waren.
»Hmmpf.« Bigtoria drehte sich wieder nach vorne. »Hab ich mir schon gedacht.«
In manchen der Häuser waren Läden untergebracht, mit bunt gemischten Auslagen in den Sprossenfenstern: eine Galerie, ein Geschäft für Kunsthandwerk, ein Antiquariat, ein Café, in dem nur ein einsamer Gast saß.
Und dann, alles andere überragend: ein Landgasthof, volle drei Stockwerke hoch, mit einem Schild in Gold und Rot an der Giebelfront, die sich über einer Klempnerei erhob: »GLENFARACHHOUSEHOTEL – TÄGLICHMITTAG- UNDABENDESSEN – RESERVIERUNGERFORDERLICH«.
Im Rückspiegel gönnte sich Mr Bishop eine Lunge voll Sauerstoff und betrachtete stirnrunzelnd die pulsierende Metropole. »Pinkeln müsste ich auch mal wieder.«
Bigtoria brauste auf. »Danke, dass Sie einen vollen Tag meiner Lebenszeit verschwendet haben, Marky. Sehr freundlich von Ihnen. Was sollte das sein – so eine Art kindische Rache?«
Ein Seufzer. »Es geht nicht immer nur um dich.«
Das Hotel stand am Rand eines relativ großen Dorfplatzes, der von seiner eigenen kleinen Ringstraße und Reihen von kahlen Bäumen gesäumt war. Die Konturen der Parkbänke waren vom Schnee verwischt. Hier und da ein paar Mülleimer für Hundekot. Kein Spielplatz, keine Schaukel, nicht mal eines dieser auf einer Stahlfeder montierten Schaukelpferde. Aber dafür stand in der Mitte des Platzes ein Kriegerdenkmal mit einem Uhrturm obendrauf. Es war gut sieben oder acht Meter hoch, mit Bronzetafeln rund um den Sockel, darüber in den rosa Granit gemeißelte Helme und Gewehre, Schwerter und Flaggen, und dann der Turm selbst, gekrönt von einem beleuchteten Zifferblatt. Die Zeiger standen auf vier Minuten nach zwei, aber es gab noch zwei zusätzliche Zeiger – einen roten bei zwanzig nach vier und einen grünen bei halb neun.
Ach ja, und dazu noch ein ganzer Haufen Laternenpfähle.
Denn von denen konnte man doch nie genug haben.
Edward deutete zur anderen Seite des Platzes. »Da wären wir.«
Es war in einem früheren Leben vielleicht mal ein Gemeindezentrum gewesen, aber es sah aus, als wäre es irgendwann in den architektonisch unterbelichteten Siebzigerjahren »modernisiert« worden. Jetzt thronte auf dem imposanten Granitbau mit Säulen und Portikus noch ein weiteres Stockwerk aus Beton und Glas. Dazu hatten sie an einer Seite einen Anbau drangepappt – diesmal aus Backstein, Beton und Glas. Die Bahnen von dunkelblauer Verkleidung zwischen den Fensterreihen verliehen dem Ganzen das Aussehen einer wütenden Zombie-Biene. Jemand hatte den Versuch unternommen, es ins Dorfbild einzupassen, und über den Eingangstüren diese kitschigen blauen Lampen aufgehängt, aber das von hinten angestrahlte Schild zerstörte die Illusion: »POLIZEIREVIERGLENFARACH«. Für so ein kleines, verschlafenes Nest war es eindeutig viel, viel zu groß.
Als Edward vor dem Revier parkte, trat eine Frau aus einer Seitentür des neuen Anbaus. Sie stülpte eine Schirmmütze über ihre rotbraunen Locken, die das Police-Scotland-Outfit aus schwarzer Uniform und gefütterter Warnjacke ergänzte. Sie gehörte nicht gerade zu den Größten in der Truppe – leicht elfenhafte Gesichtszüge, stechend grüne Augen und Schulterklappen mit Sergeants-Streifen. Ihre Ohren und ihre Nase liefen in der kalten Luft sofort hellrosa an. Sie marschierte zur Straße, baute sich vor dem Poolwagen auf und hob die Hand, als ob sie ihn anhalten wollte – dabei standen sie ja schon.
Bigtoria nickte. »Constable.«
Seufz. »Ja, Chefin.« Und er stieg aus in den eiskalten Nachmittag. Schon wieder. Die Schultern hochgezogen, die Hände in den Taschen vergraben, stapfte er durch den knöcheltiefen Schnee. »Sarge?« Er schenkte ihr sein bestes professionelles Lächeln. »Wir haben einen neuen Bewohner für Sie. Mr Mark Bishop.«
Die Elfenaugen verengten sich. »Sie sind spät dran.«
»Das höre ich öfter.« Er zog eine Hand aus der behaglichen warmen Tasche und streckte sie aus. »Ich bin übrigens Detective Constable Reekie. Edward.«
Ihr Händedruck war fest wie eine Schraubzwinge. »Louise Farrow, Duty Sergeant, Glenfarach.«
»Alles klar.« Er nickte in Richtung des rostigen Vauxhall. »Wo sollen wir ihn hinbringen, Sarge?«
Sergeant Farrow ging über die Straße zu einem Land Rover Defender mit langem Radstand. »Folgen Sie dem Großen Wagen.« Es war keines von den modernen Modellen, sondern ein richtig altmodischer, kastenförmiger Fährt-in-jedem-Gelände-Defender, ausgestattet mit Winterreifen, Kuhfänger, Frontseilwinde, Suchscheinwerfern und einem riesigen Dachträger. Sie stieg ein, und der Motor erwachte grollend zum Leben, wie der erste Husten eines Kettenrauchers am Morgen. Nur dass anstatt tumorbraunem Sputum blaugraue Abgase aus dem Auspuff quollen.
»Entzückend.« Edward eilte zum Auto zurück. »Vielen Dank für den herzlichen Empfang.« Er warf sich auf den Fahrersitz. Fröstelte …
Moment mal.
Der Müllkippen-Gestank hatte sich verzogen, aber offenbar war etwas anderes passiert, während er draußen mit Sergeant Nicht-ganz-so-freundlich geredet hatte, denn ein lastendes Schweigen lag in der Luft. Die Art von Atmosphäre, die man mit dem Messer schneiden konnte. Bigtoria starrte aus dem Beifahrerfenster, Mr Bishop saß da mit verschränkten Armen und ausdruckslosem Gesicht.
Okay …
Edward wendete den Vauxhall. »Jetzt dauert es nicht mehr lange.«
Wenn überhaupt, wurde das Schweigen noch dichter.
Na und – war nicht sein Problem. Was immer es war, sollte sich die DI doch den Kopf darüber zerbrechen.
Er folgte dem Land Rover, an der einen Seite des Dorfplatzes entlang und weiter in eine kleine Straße, vorbei an weiteren putzigen kleinen Granithäusern. Noch ein Café. Ein Laden für Künstlerbedarf. Dann rechts ab in eine schmale Straße mit Bungalows auf der einen Seite und Bäumen auf der anderen. »Scheint ein netter Ort zu sein, Mr Bishop. Ich bin sicher, dass Sie hier sehr glücklich sein werden.«
»Hmmmpf. Ich werde hier sterben. Was glaubst du, wie glücklich mich das macht?«
Na gut.
»Aber ist doch viel besser, als in HMP Grampian zu sterben.«
Die Straße weitete sich zur Linken, wo die Bäume einer brusthohen Mauer mit einem mächtigen, kunstvoll verzierten schmiedeeisernen Tor wichen. Die Kirche, die sich dahinter verbarg, war nicht riesig, verfügte aber immerhin über einen ordentlichen Turm und einen weitläufigen Friedhof. Und es waren auch nicht alles verfallene, flechtenbewachsene Grabsteine. Manche waren eindeutig neueren Datums – der Marmor noch ganz glänzend, alle mit einer kleinen Mütze aus Schnee obendrauf.
Ein rostiger Mini-Bagger war dort zugange und hob eine neue Grube aus. Der Baggerführer unterbrach seine Tätigkeit, um Edward und dem Land Rover zuzuwinken und zu lächeln, als sie gegenüber dem Friedhofstor anhielten.
Das wurde ja immer abartiger.
Sergeant Farrow stieg aus dem Land Rover aus und marschierte die verschneite Rampe hinauf, die zu einem zweigeschossigen Einfamilienhaus führte. Es war mindestens doppelt so groß wie alle anderen in der Nachbarschaft. Sogar die Haustür hatte Übergröße. Sie drückte die Klingel.
Im Vauxhall löste Bigtoria ihren Gurt. »Eine letzte Chance, Marky.«
Mr Bishop klopfte Edward auf die Schulter. »Ein kleiner Rat von einem sterbenden Mann, Junge. In diesem Leben fängst du mehr Fliegen mit Honig als mit Essig. Aber mit Scheiße ist es viel einfacher.« Er fummelte seine Tür auf und hievte sich ächzend hinaus in den Schnee. »Sei so nett und trag mein Gepäck rein, Junge.« Dann zerrte er seine Sauerstoffflasche heraus und stieß die Tür wieder zu.
Bigtoria sah ihm nach, als er davonschlurfte. »Alter Stinksack.«
Genau.
Edward wuchtete den leistenbruchschweren Koffer aus dem Kofferraum und folgte Mr Bishop die Rampe hinauf. Keine Gehwegplatten und keine Stufen – alles rollstuhlgerecht. Das erklärte auch die extrabreite Tür.
Ein schmiedeeisernes Schild ragte aus dem Schnee, die Worte »JENKINSHOUSE« schon halb vom unablässigen Geriesel verschlungen.
Auf halbem Weg die Rampe hinauf blieb Mr Bishop stehen und schielte argwöhnisch über die Straße zum Friedhof, wo dieser gelbe Bagger gerade Platz für einen Neuzugang machte. »Wenn das ’ne Anspielung sein soll, find ich’s nicht witzig.« Er spuckte aus und kämpfte sich mit seinem Krankenkassen-Krückstock und dem Sauerstoffwägelchen, das parallele Furchen im Schnee hinterließ, zur Haustür vor.
Sergeant Farrow klingelte noch einmal. Dann blickte sie sich zu Mr Bishop um. »Angesichts Ihres … Zustands haben wir Ihnen einen Betreuer zugewiesen, der mit Ihnen im Haus wohnen wird: Paul Richards. Keine Sorge, er ist ausgebildeter Pfleger. Sehr erfahren.«