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In ihrem berührenden Memoir nimmt uns Kelly Bishop mit auf eine faszinierende Reise durch ihr Leben und ihre Karriere. Bekannt als Emily Gilmore aus der Kultserie »Gilmore Girls« und als Mutter von Jennifer Grey in »Dirty Dancing«, teilt sie offen und ehrlich die Höhen und Tiefen ihrer außergewöhnlichen Laufbahn. Vom Beginn als talentierte Balletttänzerin über ihre erste Ehe mit einem spielsüchtigen Mann, ihre schillernde Zeit am Broadway bis hin zu ihren ikonischen Rollen in Film und Fernsehen – Bishop gewährt uns tiefe Einblicke in die glanzvolle, aber oft auch herausfordernde Welt des Showbusiness. Mit viel Humor, Charme und Selbstreflexion erzählt sie von den Freundschaften, schwierigen Entscheidungen und den Momenten, die sie geformt haben. Darunter ihre Teilnahme an Frauenrechtsmärschen und der schmerzhafte Verlust ihres zweiten Ehemanns, der an Krebs gestorben ist. In diesem bewegenden Memoire öffnet die preisgekrönte Schauspielerin ihr Herz und enthüllt die bislang ungekannte Geschichte ihrer beeindruckenden sechs Jahrzehnte im Rampenlicht – garniert mit witzigen Anekdoten und einer Auswahl persönlicher wie beruflicher Fotos. Ein absolutes Muss für alle, die »Gilmore Girls« und/oder »Dirty Dancing« lieben und einen ehrlichen Blick hinter die glamourösen Kulissen von Hollywood und Broadway werfen möchten.
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2025
KELLY BISHOP
Dasdritte Gilmore Girl
Vom Broadway bis nach Stars Hollow:Mein Leben im Rampenlicht
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Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
2. Auflage 2025© 2025 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbHTürkenstraße 8980799 MünchenTel.: 089 651285-0
Die englische Originalausgabe erschien 2024 bei Gallery Books, ein Imprint von Simon & Schuster, LLC, unter dem Titel The Third Gilmore Girl. © 2024 by Gallery Books, ein Imprint von Simon & Schuster, LLC. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Katrin BosshardtRedaktion: Annerose SieckUmschlaggestaltung: Sonja StiefelUmschlagabbildung/Fotograf: Chad GriffithSatz: Kerstin SteinEbook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7474-0696-0ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98922-115-4
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unterwww.mvg-verlag.de
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Für Lee Leonard,
der mich besser kannte als jeder andere Mensch auf der Welt und mich trotzdem liebte.
von Amy Sherman-Palladino
»Ich werde wissen, dass sie es ist, sobald sie den Raum betritt.«
Das sagte ich immer wieder.
Herbst 1999. Gerade hatte The WB ein Pilotskript von mir akzeptiert. Das Fernseh-Network mit seinem Maskottchen, dem tanzenden Frosch, steckte in einer Krise: Seine Geschäftsleitungsbüros befanden sich in einem Trailer, der jede Sekunde an einen Wagen gekoppelt und abgeschleppt werden konnte. Zu jenem Zeitpunkt war WB dabei, sich auf Serien für Teenager zu spezialisieren – Dawson’s Creek, Felicity, Buffy – Im Bann der Dämonen und andere mehr. Mein Skript trug den Titel The Gilmore Girls. (Im Originaltitel stand der Artikel »The«.) Die Leute von WB erlitten fast einen Herzinfarkt. Niemand würde sich eine Serie mit diesem Titel anschauen. Das klang einfach zu mädchenhaft. Männer würden denken, es gäbe keinen Sex. Jungs, dass sich niemand prügelt. WB bestand darauf, den Titel abzuändern. Also ließen sie ein paar Tests vom Stapel und trafen die brillante Entscheidung, das »The« zu streichen.
Die Protagonistin war über dreißig und würde dem Publikum von WB wie tausendjährig vorkommen. Ohne die passende Familie würde aus der Serie nie etwas werden. Sie musste Leute jeden Alters ansprechen, also war das Casting entscheidend. Für WB war das ein völlig neues Terrain. Daher sorgte ich selbst für eine Topbesetzung. Lauren Graham als Lorelai Gilmore. Ed Herrmann als ihr Vater, Richard Gilmore. Alexis Bledel als Lorelais Tochter Rory. Jetzt fehlte nur noch ein entscheidendes Puzzleteil.
Und zwar Emily Gilmore, die reiche Matriarchin des Gilmore-Clans. Ich wusste genau, wer sie war, sah sie förmlich vor mir. Ihre Arroganz und ihren eisigen Blick. Den beißenden Humor. Ihre Eleganz. Den tiefen Schmerz und die Verletzlichkeit, die sie unter Sarkasmus und Chanel-Kostümen verbarg. Mein Bild von ihr war gestochen scharf. Nun musste ich nur noch die richtige Schauspielerin finden.
Gilmore Girls ist meine allererste Serie mit einstündigen Episoden. Alle denken, ich hätte nicht die leiseste Ahnung davon, was ich tue. Wir haben schon gefühlt jede Schauspielerin der Welt, die über fünfzig ist, gesehen. Tolle Schauspielerinnen zeigen beim Vorsprechen ihr Bestes. Und jedes Mal, wenn eine von ihnen den Raum verlässt, wechseln mein Regisseur und mein Produktionspartner, zwischen denen ich sitze, hoffnungsvolle Blicke. »Sie war gut. Sollen wir sie nochmals einladen?« Und der Todesengel in ihrer Mitte fällt sein Urteil: »Nein. Das ist nicht Emily.« Allerdings habe ich Mitgefühl. Wir sitzen nun schon seit Wochen in diesem trostlosen Raum und langsam beschleicht uns das Gefühl, dass wir hier nie mehr rauskommen. Mein Produktionspartner wird langsam ärgerlich. »All diese guten Schauspielerinnen sprechen vor, und du sagst jedes Mal Nein. Was, zum Teufel, suchst du eigentlich?« Ich zucke mit den Schultern wie eine Idiotin. »Ich werde sie erkennen, sobald sie den Raum betritt.«
Drei Tage später erscheinen weitere Schauspielerinnen. Noch mehr gute Auditionen. Noch mehr gute Leistungen. Hinter meinem Rücken wird geflüstert. In den Ecken werden Köpfe zusammengesteckt. Ich fühle mich zunehmend wie in einer Szene in Herr der Fliegen. Sie verschwören sich, um mich umzubringen. Kann ich verstehen. Fast würde ich mich mit ihnen zusammentun. Auch ich werde langsam verrückt. Wir setzen uns und bereiten uns auf die nächste »Nö. Nicht-die-Richtige«-Runde vor. Da geht die Tür auf.
Und endlich betritt sie den Raum.
Kelly Bishop, ursprünglich Carole Bishop, eroberte unsere Herzen im Sturm. (Übrigens fragte ich sie, warum sie ihren Vornamen Carole durch Kelly ersetzt habe, nachdem sie den Tony für A Chorus Line gewann. Sie hat mir die Story mindestens zweimal erzählt. Aber ich verstehe sie immer noch nicht.) Kelly war souverän, hatte eine Whiskey-Stimme und ein perfektes komödiantisches Timing. Sie setzte sich, schlug ihre fantastischen Tänzerinnenbeine übereinander und legte los. Drei Wörter später wusste ich Bescheid. Das war Emily. Eine andere kam nicht infrage. Ich würde nicht sterben an dem Tag.
So wurde Gilmore Girls zu Gilmore Girls. Ohne Kelly hätte es nie funktioniert. Ohne Kelly hätte ich nie einen Raum voller Hüte mitten in New York City gehabt.
Hätte sie den Raum nicht betreten …
Das Showbusiness ist sonderbar. Man arbeitet jahrelang ganz nahe mit Leuten zusammen, die Serie wird eingestellt und man spricht nie wieder mit ihnen. Die Versprechen, sich regelmäßig zu Abendessen, Cocktails und Jubiläumsfeiern zu treffen, hält keiner ein. Die ganze Serie lebt nur noch in der Erinnerung. Ein Fiebertraum, in dem du jünger und schlanker warst, eine Schar von Freunden hattest, die für dich »Happy Birthday« sangen. Damals dachtest du, das würde immer so bleiben. Freunde aus dem Showbiz sind nicht unbedingt wirkliche Freunde. Aber vom Augenblick an, in dem Kelly Bishop diesen öden, tristen Raum betrat, der nach schlechtem Kaffee und Verzweiflung roch, war sie ein Fixpunkt in meinem Leben. Nach Gilmore Girls schrieb ich eine zweite Serie für sie – New in Paradise (Bunheads) –, obwohl sie aufgrund ihrer Verpflichtung am Broadway gar nicht zur Verfügung stand. Interessierte mich nicht. Es musste Kelly sein. Sie spielte ein paarmal in The Marvelous Mrs. Maisel mit. Zu selten, aber versuchen Sie mal, sie aus New Jersey wegzubringen. Sie wird in meiner nächsten Serie dabei sein. Und meiner übernächsten. Was immer ich auch tun werde, solange ich noch einen klaren Gedanken fassen kann, wird sie mit von der Partie sein. Aber noch wichtiger ist, sie wird für den Rest meines Lebens meine Kumpanin für unflätige Witze sein, meine Joe Allen’s Saufkumpanin, mein Lieblings-Weibsbild auf der ganzen Welt.
Ihre Geschichte ist turbulent. Ihre Karriere beeindruckend. Ich habe sie schon ewig gedrängt, ihre Memoiren zu schreiben. Gott sei Dank hat sie mich endlich erhört.
Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen vorstellen – Carole Bishop!
Entschuldigung. Kelly. Mist. Was war noch der Grund, dass du deinen Namen geändert hast?
Was soll’s. Ich liebe dich.
Rückblickend finde ich es immer noch faszinierend, wie ein einziger, scheinbar alltäglicher Anruf mein Leben veränderte. Weder erklang ein himmlischer Engelschor noch durchbrach unvermittelt ein Sonnenstrahl die Wolkendecke und schien durch mein Wohnungsfenster. Und ich hatte auch nicht den Hauch einer Ahnung, dass etwas Entscheidendes geschehen würde. Es war bloß ein Anruf von meinem alten Freund Tony Stevens.
Das war 1974, an einem für New York City typischen kalten, trüben Januartag. Ich arbeitete seit 1962 als Musicaltänzerin im ganzen Land. Ich war sehr gut. Zwar verdiente ich nicht sehr viel Geld, aber ich hatte immer genug Engagements, um nicht wie viele andere Tänzerinnen und Tänzer gezwungen zu sein, mein Einkommen durch Nebenjobs als Kellnerin, Kassiererin oder Büroaushilfe aufzubessern.
Ich liebe das Tanzen, seit ich acht war. Es bedeutet für mich Freude und Freiheit. In ein paar Wochen würde ich dreißig werden, und das durchschnittliche Verfallsdatum für Musicaltänzerinnen liegt ungefähr bei fünfunddreißig Jahren. Ich träumte von einer Schauspielkarriere. Ich wollte Hauptrollen, reale Figuren mit realen Namen spielen. Schließlich können Schauspielerinnen so lange arbeiten, wie es ihnen die Gesundheit erlaubt und jemand für sie Parts schreibt. Ich gab mir zwei Jahre, um die Musicalarbeit allmählich aufzugeben. Entweder würde ich meine Fähigkeiten als Darstellerin verbessern oder mich vom Showbusiness verabschieden, um mich anderweitig zu orientieren. Im Übrigen ging gerade meine Ehe in die Brüche und ich war für so ziemlich für alles offen, was mich aus meiner aktuellen Situation befreite. Ich nahm den Anruf entgegen und hörte Tonys Stimme.
»Michon Peacock und ich haben eine Idee, die wir gerne mit dir besprechen würden«, sagte er. Tony und Michon tanzten am Broadway. Ich hatte mit Michon zusammengearbeitet und mochte sie, und ich kannte auch Tony gut. Er war ein wunderbarer Mensch und ein hervorragender Tänzer, der auch als Choreograf gewirkt hatte. Ein unterhaltsamer, lustiger, energiegeladener Typ, der sich gerne unter anderen ausgezeichneten Tänzern aufhielt. Was immer die Idee der beiden war, mein Interesse war geweckt.
Die Theater am Broadway hatten 1974 zu kämpfen. Es wurde immer kostspieliger, Aufführungen zu produzieren. Es gab viele Flops, und die Geldgeber suchten nach anderen Investitionsmöglichkeiten. Deshalb hatten viele tolle Tänzer ohne eigenes Verschulden keine Arbeit. Tony und Michon hatten darüber diskutiert. Tatsache war, dass die Produzenten unabhängig vom Erfolg eines Stücks seit jeher das Sagen hatten, die Kohle verdienten und die Lorbeeren ernteten. Wir Tänzer hingegen waren »die Arbeiterschaft der darstellenden Künste«, wie es Tony ausdrückte. Wie also, wenn überhaupt, konnte man für frischen Wind sorgen und faire Bedingungen schaffen? Vielleicht konnten wir Tänzer ja sogar unser Leben selbst in die Hand nehmen?
»Michon und ich möchten eine Gruppe begabter, erfahrener Broadway-Tänzer zusammenbringen und versuchen, eine Art Unternehmen zu gründen. Alle sollen die Gelegenheit erhalten, ihre anderen Interessen im Business zu sondieren. Schreiben, Regie, Bühnenbild, Kostümdesign und so weiter. Einfach alles, mit dem sich der Satz ›Ich tanze seit Jahren, aber ich hätte mich immer gerne beschäftigt mit …‹ vervollständigen lässt«, sagte Tony. »Wir möchten, dass du dabei bist, wenn wir uns treffen und ein paar Ideen austauschen. Mal sehen, was dabei herauskommt. Was meinst du?«
Ich musste nicht zweimal überlegen. »Sag mir, wann und wo, ich bin dabei.«
Tony hatte bereits ein Tanzstudio in der East 23rd Street ausfindig gemacht, wo wir uns treffen konnten. Es hieß The Nickolaus Exercise Center. Er wollte sich wieder bei mir melden, wenn Datum und Uhrzeit feststanden.
Immer noch kein Engelschor, kein ätherischer Sonnenstrahl, der durch mein Wohnungsfenster drang. Nur der Gedanke, wie schön es war, sich auf etwas zu freuen, das sich als fruchtbar erweisen könnte. Es würde mich auch ablenken davon, dass ich arbeitslos war und auf eine Scheidung zusteuerte, die wahrscheinlich schon vor Monaten oder sogar Jahren fällig gewesen wäre.
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Tony rief ein paar Tage später wieder an. Das Treffen sollte am Samstag, dem 26. Januar, um 23 Uhr stattfinden. Ein paar der neunzehn Tänzer, die kommen würden, traten auf und mussten das Ende ihrer Aufführung abwarten.
Ich schrieb mir gerade den Termin in den Kalender, als er beiläufig hinzufügte: »Übrigens hat Michael Bennett davon gehört. Er wird also auch dabei sein, aber nur als Beobachter.«
Oh Gott.
Michael Bennett war auf dem Weg, als Autor, Regisseur, Tänzer und Choreograf zur Broadway-Legende zu werden. Er war brillant. Wir mochten einander und bewunderten uns gegenseitig für unser Talent. Im Laufe der Jahre kam es aber auch zu Auseinandersetzungen. Meiner Meinung nach war Michael ein Meister der Manipulation. Instinktiv erkannte er die Schwachstellen anderer Menschen und nutzte sie, um so die Leute dazu zu bringen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Ich spürte das gleich, als ich ihn kennenlernte. Allerdings hatte er bei mir damit keinen Erfolg. Das nahm er mir übel, aber ich glaube, er respektierte mich auch zähneknirschend dafür und nahm die Herausforderung an.
Michael und ich lernten uns 1967 kennen, als ich für eine Nebenrolle in einem Musical vorsprach, das er inszenierte. Eine erstklassige Produktion mit dem Titel Promises, Promises. Die Musik war von Burt Bacharach, die Texte von Hal David, das Buch von Neil Simon, und Hauptdarsteller war ein fantastischer Sänger und Schauspieler namens Jerry Orbach. Michael hatte sich schon in den 1960er-Jahren als angesehener Tänzer und Choreograf etabliert, und ich war aufgeregt, ihm vorgestellt zu werden. Er war fast ein Jahr älter als ich, gut 1,75 Meter groß und hatte dunkles Haar. Sein schelmisches Lächeln und die funkelnden Augen wirkten sexy. Er war sehr kokett. Ich erinnere mich daran, dass ich dachte »Ich will für diesen Typen arbeiten«, und begeistert war, als ich den Job erhielt.
Promises, Promises hatte im Shubert Theatre am Broadway am 1. Dezember 1968 Premiere. Es war harte Arbeit, ich liebte es, und Michael und ich kamen reibungslos miteinander klar. Bis zu einem Tag ein paar Wochen nach dem Start, während einer sogenannten »Aufräumprobe« (nachdem man dasselbe Stück eine Weile lang achtmal die Woche aufgeführt und die gleichen Schritte bis zum Umfallen gemacht hat, tendiert man dazu, etwas schlampig zu tanzen, hier und da einen Schritt auszulassen, um es sich leichter zu machen). Michael und sein Assistent, ein reizender Typ namens Bob Avian, sahen uns vom Bühnenrand aus zu, während wir die Schlussnummer des erstens Akts, Turkey Lurkey Time tanzten. Da sah ich, wie Michael zu mir schaute, sich Bob zuwandte, auf mich zeigte und lachte.
Ich hörte sofort auf zu tanzen. Während die anderen und der Pianist weitermachten, blieb ich stocksteif stehen und starrte Michael an. Er bemerkte es und erwiderte meinen Blick verwirrt.
»Gibt es ein Problem?«, fragte ich.
Er war überrumpelt und eindeutig nicht gewohnt, direkt angesprochen zu werden. Er murmelte etwas, das wie »Was?« klang. In der Zwischenzeit waren Tanz und Musik abgebrochen, und auf der Bühne war nur noch meine Stimme zu vernehmen. Ich stellte Michael Bennett zur Rede.
»Du stehst hier zwei Armlängen vor mir, flüsterst Bob etwas zu und zeigst auf mich. Dann lachst du. Mache ich etwas falsch? Raus damit, ich höre. Aber zeige nicht auf mich und lache und erwarte, dass mich das nicht stört.«
Es war ihm sichtlich peinlich. Und Bob ebenfalls. Keiner von beiden sagte ein Wort. Während sie noch auf den Boden starrten, nahmen die anderen Tänzer und ich die Nummer dort wieder auf, wo wir sie unterbrochen hatten, und die Probe ging weiter. Michael und ich taten den ganzen Tag, als ob nichts gewesen wäre, aber diese kleine Auseinandersetzung sollte unsere Beziehung nachhaltig beeinflussen.
Die gereizte Stimmung während dieses Vorfalls hinderte uns nie daran, unsere Arbeit gegenseitig zutiefst zu schätzen. Er engagierte mich sogar, als er die Choreografie für die Milliken Breakfast Show machte, ein zweiwöchiges Event, das jedes Jahr im Waldorf Astoria an der Park Avenue stattfand. Seit 1956 hatte das Textilunternehmen Milliken & Company zum Auftakt der neuen Saison für seine Kundschaft Musicals aufgeführt. Sie scheuten keine Kosten. Manchmal überstieg ihr Budget das einer Broadway-Aufführung, und sie engagierten große Stars wie Ginger Rogers, Ann Miller, Tommy Tune oder Donald O’Connor. Es war eine große Sache, sehr prestigeträchtig, äußerst gut bezahlt, und Michael leistete hervorragende Arbeit. Während der Proben bemerkte ich zum ersten Mal eine neue Marotte an ihm. Er stellte sich ganz nahe hinter eine Tänzerin und beugte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Eines Nachmittags war ich an der Reihe. Er stellte sich hinter mich, neigte sich zu meinem Ohr und murmelte »Talent macht mich an.« Dann trollte er sich. Ich bin nicht sicher, was für eine Reaktion er erwartete, aber ich verdrehte nur die Augen und gab ein gleichgültiges »Okay, danke.« von mir.
Und jetzt kam er also zum Treffen von Tony und Michon, »nur als Beobachter«. Das kaufte ich ihm keine Sekunde lang ab. Dass Michael »nur beobachtete« gab es nie. Wenn er nicht damit rechnen konnte, am Ende wie ein Gott dazustehen, würde er sich nicht herbemühen.
Ich zog tatsächlich in Betracht zu kneifen. Aber dann dachte ich: Weißt du was? Du bist in einer guten Position. Du erhältst die Gelegenheit, dein Leben in den Griff zu bekommen. Du wärst eine Närrin, dich von Michael Bennett aufhalten zu lassen. Außerdem hatte ich einem alten Freund etwas versprochen und würde ihn nicht im Stich lassen.
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Samstag, 26. Januar 1974, 23 Uhr, im Nickolaus Exercise Center. Wir arbeitslosen Tänzer wärmten uns während des Wartens auf die berufstätigen Kollegen etwas auf. Langsam trudelten alle ein, mitsamt Michael Bennett. Er setzte sich auf den Boden, ein Spulentonbandgerät vor sich. Leute, mit denen er oft gearbeitet hatte, wie Donna McKechnie und Priscilla Lopez, die ihn liebten und ihm treu ergeben waren, gesellten sich schnell zu ihm. Schon bald hatte sich ein großer Kreis von fünfundzwanzig bis dreißig Tänzern gebildet. Ich steuerte direkt auf die Seite des Kreises zu, die am weitesten von Michael entfernt war, und mischte mich unter eine Gruppe von Freunden. Wir alle spürten die gespannte Aufregung im Raum. Niemand von uns hatte die leiseste Ahnung, welches Resultat diese Versammlung bringen würde, wenn es überhaupt eines gab. Aber ich war bereits froh, dass ich meinem Instinkt, einen Rückzieher zu machen und zu Hause zu bleiben, nicht nachgegeben hatte.
Gleich zu Anfang wies Michael darauf hin, dass das Leben von uns Tänzern genug spannenden Stoff für ein Musical bot. Er wusste natürlich noch nicht, ob etwas daraus würde, forderte uns aber auf, völlig offen und ehrlich zueinander zu sein. Zunächst sollten wir uns der Reihe nach vorstellen: »Nennt euren Namen, auch den richtigen, falls es ein Künstlername ist, und wo und wann ihr geboren seid.« Und präzisierte sofort: »Ihr Mädels müsst natürlich euer Alter nicht preisgeben.«
Das konnte ich ihm nicht durchgehen lassen. »Warte mal, Michael«, sagte ich. »Gerade eben hast du betont, wir sollten heute Abend unbedingt offen und ehrlich zueinander sein, und dann dürfen wir Frauen unser Alter verschweigen. Was gilt jetzt?« Sogar 1974 ging es mir schon auf die Nerven, dass Sängerinnen in Musicals als »Frauen« bezeichnet wurden, während Tänzerinnen »Mädels« waren.
Eins zu null für mich. Er korrigierte sich und sagte: »Okay, alle nennen Geburtsnamen, -ort und -datum.«
Und das taten die meisten von uns. Ein paar Frauen waren ein oder zwei Jahre älter, als sie bisher behauptet hatten. Im Leben einer Tänzerin kann das nun mal wirklich einen Unterschied machen.
Als die Vorstellungsrunde beendet war, entwickelte sich das Treffen nach und nach zu einer der unvergesslichsten Nächte meines Lebens. Wir alle hatten über die Jahre schon zusammengearbeitet, waren uns vertraut und hatten weiß Gott viel gemeinsam. Wir unterhielten uns zunächst über unsere Träume, mehr als nur Tänzer zu sein. Das brachte uns auf das Thema, wie überhaupt unsere Begeisterung fürs Tanzen entstanden war. Dann waren unsere Familien und unsere Kindheit an der Reihe. Freude und Kummer. Persönliche Ängste und Verunsicherung. Wie es war, missbraucht, vernachlässigt und im Stich gelassen zu werden. Tragödien, Verlust, Scheidung. Was wir an uns mochten. Was wir an uns verändern wollten. Nichts war tabu, und niemand im Raum verurteilte oder kritisierte andere. Wir weinten und lachten. Und wir erfuhren eine Menge über Freunde und Kollegen, die wir schon zu kennen glaubten.
Am meisten berührte mich die Geschichte von Nicholas Dante, einem schönen puertoricanischen Tänzer und Autor, der in Spanish Harlem aufgewachsen war. Er war sich nie über seine Geschlechtsidentität im Klaren gewesen und gehörte letztlich als Dragqueen zu einem Tournee-Ensemble namens Jewel Box Revue, das sich aus weiblichen Darstellerinnen zusammensetzte. Er hielt diesen Teil seines Lebens vor seinen Eltern geheim, bis sie eines Abends, bevor die Revue auf Tournee ging, am Veranstaltungsort auftauchten. Nicholas betrat die Bühne als Anna May Wong kostümiert, eine in den 1930er-Jahren berühmte amerikanische Schauspielerin (wenn ich mich richtig erinnere). Plötzlich sah er mit Entsetzen, dass seine Eltern im Publikum saßen und ihn ebenso schockiert anstarrten. Seine Geschichte endete damit, dass sein Vater sich mit den Worten »Pass gut auf meinen Sohn auf« an eine andere Dragqueen des Ensembles wandte. Als Nicholas fertig erzählt hatte, weinte nicht nur er, sondern auch alle anderen im Raum.
Diese erste Aufnahmesession war so packend und bewegend, dass mir überhaupt nicht bewusst war, wie viele Stunden vergingen. Bis ich irgendwo in der Ferne Kirchenglocken läuten hörte und mir klar wurde, dass da draußen schon der Morgen angebrochen war. Als wir endlich in die strahlende Sonne hinaustraten, um nach Hause zu gehen, waren wir alle von einem Gefühl der Verwunderung und Beglückung erfüllt. Es war einfach unbeschreiblich.
Ein paar Wochen später trafen wir uns für eine zweite Session, die ebenfalls auf Tonband aufgenommen wurde. Anwesend waren hauptsächlich wieder dieselben Leute, abgesehen von ein paar weiteren Tänzern, die an der ersten nicht dabei sein konnten. Aufgeregt stürmten wir den Raum und saßen in Nullkommanichts auf dem Boden. Wir wollten unbedingt sofort anfangen. Drei oder vier Stunden später traten wir mit hängenden Köpfen wieder auf die Straße. Zum ersten Mal hatten wir richtig verstanden, was eigentlich das Wort »enttäuschend« bedeutet. Nach dem fast spirituellen Zauber der ersten Session schien es, als hätte niemand von uns irgendetwas hinzuzufügen. Die Neuen wirkten unbeteiligt und schienen sich nicht groß Gedanken über das Konzept gemacht zu haben. Die organische Spontaneität und der Flow der ersten Session waren verschwunden, und das Gespräch kam nie richtig in Gang. Es war eine große Enttäuschung, aber wir hatten in unserem Geschäft ja gelernt, einfach weiterzumachen, als ob nichts wäre.
(Soweit ich weiß wurden übrigens die Aufzeichnungen dieser Sessions nie als Ganzes veröffentlicht, und die Magnetbänder selbst werden zusammen mit Michael Bennetts Dokumenten in der Beinecke Library, einem Archiv für seltene Bücher und Manuskripte der Universität Yale, in New Haven, Connecticut aufbewahrt.)
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Und was kam dabei heraus? Nichts. Nachdem mehr als ein Monat vergangen war, hatte ich die Hoffnung praktisch aufgegeben. Ich wusste auch gar nicht so richtig, worauf eigentlich. Dann erhielt ich einen Anruf. Michael Bennett plante, auf der Basis der Aufzeichnungen einen fünfwöchigen Workshop durchzuführen. Anscheinend hatte er sich die Bänder immer wieder angehört und kam allmählich zur Überzeugung, wir hätten während all dieser Stunden unser Leben bei einer Art Audition vor ihm ausgebreitet. Daraus war ein unausgegorenes Konzept einer Bühnenshow entstanden, die sich um die Erfahrungen von Tänzern und die Auswahlprozesse drehte. Als die Idee etwas mehr Gestalt annahm, rief er Joseph Papp an, den Gründer des New Yorker Shakespeare Festivals und ein mächtiger Theaterproduzent und Regisseur. Damals hatte Michael bereits zwei Tony Awards gewonnen, deshalb war Papp mehr als erfreut, ihn anzuhören. Michael erzählte ihm, welch talentierte Broadway-Leute er für diese erste Session versammelt hatte und was für ein Konzept daraus entstanden war. Seine Idee faszinierte Papp. Er räumte Michael genug Zeit für den Workshop ein, um die einzelnen Puzzleteilchen zu einem realisierbaren Projekt zusammenzusetzen.
Mit Joseph Papps prestigeträchtiger Unterstützung in der Tasche war Michael in der Lage, ein Weltklasseteam zusammenzutrommeln. So hatte das Projekt die größte Chance, verwirklicht zu werden. Nicholas Dante und der Dramatiker und Autor James Kirkwood Jr. sollten die Interviews zu einer Story verarbeiten. Bob Avian, der mit Michael mit West Side Story auf Europatour gewesen war, bei der Choreografie mitwirken. Und der Komponist Marvin Hamlisch, Gewinner eines Academy Awards, hatte den Auftrag, mit dem Texter Ed Kleban zusammen die Musik zu dem Stück zu schreiben, das erst viele Monate später den Arbeitstitel A Chorus Line erhalten würde.
Ich erinnere mich an den Moment, als ich zum ersten Mal diesen Titel hörte. Ich fragte Michael: »Warum nicht einfach Chorus Line?«
Er erwiderte geduldig und mit einem Unterton, der »Was denn sonst?« bedeutete: »Wenn in Zeitungen und Fachmagazinen eine Liste von Broadway-Shows veröffentlicht wird, erscheinen deren Titel in alphabetischer Reihenfolge. Also steht A Chorus Line an erster Stelle.«
Das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Abgesehen davon, dass wir uns gelegentlich in die Wolle kriegten, musste ich dem Mann zugestehen, dass er in seinem Metier wirklich genial war. Ein Glück, dass Michael Bennett – nur ein Beobachter – entschieden hatte mitzuwirken.
Für den ersten Workshop wurde die Gruppe von ungefähr fünfundzwanzig Tänzern, die an der Marathon-Aufnahmesession teilgenommen hatte, auf rund zwölf reduziert. Es waren fünf aufregende Wochen. Das Material war immer noch im Stadium eines sehr groben Rohentwurfs, aber es war einfach unmöglich, keine Begeisterung für das Potenzial von A Chorus Line zu empfinden.
Als Michael nach dem ersten Workshop ankündigte, er müsse das Projekt so lange auf Eis legen, bis seine Finanzierung gesichert sei, fühlte ich mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggerissen.
Ich kannte das Problem, Geld aufzutreiben, nur zu gut. Meine Ehe war am Ende und mein zukünftiger Exmann spielsüchtig. Als ewiger Verlierer hatte er mich um den letzten Cent gebracht. Alles, was mir noch zustand, waren zwei Wochen Arbeitslosenentschädigung. Die hätten mehr als ausgereicht, wären meine Katzen, meine Deutsche Schäferhündin und ich nicht an so kleine Annehmlichkeiten wie etwas zu essen und ein gemietetes Dach über dem Kopf gewohnt gewesen. Ich konnte es mir einfach nicht leisten, hoffnungsvoll vor dem Telefon zu sitzen und darauf zu warten, dass Michael mir mitteilte, das Musical sei finanziert und es sei an der Zeit, die Arbeit wiederaufzunehmen. Ich hatte Angst und ich musste wohl oder übel baldmöglichst etwas tun.
Viele Monate zuvor hatte man mich gebeten, für die Amerikatour eines Musicals namens Irene vorzusprechen. Debbie Reynolds spielte die Titelrolle, und die Tour würde nach den Proben in Los Angeles an den wichtigsten Aufführungsorten im ganzen Land Halt machen, San Francisco, Chicago, Boston und so weiter. Ich schaute mir das Stück und die Rolle an, für die ich vorsprechen sollte, eine von Irenes zwei besten Freundinnen. Ehrlich gesagt, ich empfand es als altmodisches, langweiliges Musical, in dem aufzutreten ich zweifellos hassen würde. Also verzichtete ich auf die Audition und verschwendete keinen Gedanken mehr daran.
Nicht lange nach dem Workshop rief mich das Team von Irene wieder an. Diesmal sollte ich für dieselbe Rolle in einem anderen Tournee-Ensemble vorsprechen, in dem anstelle von Debbie Reynolds Jane Powell die Hauptrolle spielte und das an weniger wichtigen Aufführungsorten wie Denver, Houston, Flint und so weiter auftrat. Mein erster Gedanke war, Oh Gott, bitte nicht, der zweite aber: Es ist tiefster Winter in New York, und es läuft gar nichts. Keine Aufführungen, keine Auditionen, rein gar nichts, und du bist komplett pleite. Keine Ausrede, du brauchst das Geld. Zeig Verantwortung und mach den Job.
Also schleppte ich mich zu einem kalten, öden Probensaal, um vorzusprechen. Nur zwei andere Tänzerinnen befanden sich im Wartesaal. Offenbar war die Rolle nicht besonders begehrt. Ich war allerdings positiv überrascht, als ich den äußerst talentierten Peter Gennaro sah, der Irene auf dieser Tournee anstelle von Gower Champion inszenierte. Ich ging hinein, tanzte ein bisschen vor, kämpfte mich durch ein paar Takte eines Lieds, auch wenn ich überhaupt nicht singen kann, führte alle Bewegungen aus, die sie sehen wollten, und selbstverständlich boten sie mir den Job an. Das hatte ich befürchtet. Gleichzeitig war ich erleichtert, dass ich ein Gehalt von 550 Dollar pro Woche (wenn ich mich richtig erinnere) sicher hatte und nicht alle meine Habseligkeiten verkaufen musste, um meine Haustiere und mich selbst zu ernähren.
Meine zwei Katzen konnten bei einer Freundin von mir wohnen, bis ich wieder nach Hause kam. Meine Schäferhündin Venus nahm ich mit. Ich gebe zu, wenn ich die Wahl habe zwischen der Gesellschaft von Tieren und der von Menschen, wähle ich eher Erstere, mit einer Handvoll Ausnahmen. Tiere sind aufrichtig. Sie heucheln nie, sind kompromisslos sich selbst gegenüber und tausendmal fähiger zu lieben und geliebt zu werden als wir Menschen. Venus war die beste Reisegefährtin, die ich mir nur wünschen konnte. Mühelos verwandelte sie noch das kahlste, trostloseste Hotelzimmer in ein Zuhause.
Wir probten in Los Angeles und machten uns dann auf den Weg nach Denver für zwei Wochen Vorpremiere. Venus und ich kamen ungefähr um 18 Uhr an. Es war dunkel und eiskalt. Und es war Heiligabend. Ich war in Denver aufgewachsen, weshalb es mich nicht überraschte, dass fast alles geschlossen war und eine gespenstische Atmosphäre herrschte. Ich fand einen kleinen spanischen Lebensmittelladen und kaufte Essen für Venus und mich, das für zwei Tage ausreichen würde. Dann bezogen wir unser Zimmer. Wir aßen etwas und spazierten dann durch mehrere Häuserblocks mit eintöniger Weihnachtsdekoration. Ich hätte gerne ein Heimatgefühl verspürt, aber nichts. Stattdessen verspüre ich noch heute eine unermessliche Leere, wenn ich an diesen Heiligabend denke. Es war bestimmt der deprimierendste Vorweihnachtsabend, ja, vielleicht sogar die deprimierendste Nacht in meinem ganzen dreißigjährigen Leben.
Der Rest der Besetzung und der Crew kam am Tag nach Weihnachten an. Wir probten und führten vor dankbarem Publikum Vorpremieren auf. Ich habe meine Figur und das ganze Musical nie wirklich geliebt, aber Irenes lustige Kumpanin zu spielen, war nicht so schlimm. Furchtbar war, dass mir während dieser zwei Wochen in Denver Gerüchte zu Ohren kamen, dass Michael Bennett in New York einen Workshop organisierte, der sich zu Proben für ein neues Musical entwickeln konnte. Oh mein Gott, dachte ich, er hat das Geld für A Chorus Line aufgetrieben, sie machen weiter damit und ich bleibe auf der Strecke, weil ich für ein Musical unter Vertrag bin, das mir völlig egal ist.
Der Gedanke an diese Möglichkeit war zwar niederschmetternd, aber ich versuchte, mir Mut zuzusprechen. Schließlich war mir die Rolle in Irene genau dann angeboten worden, als ich sie am meisten brauchte. Ich hatte sie akzeptiert, weil ich dazu gezwungen war, und hatte nicht das Recht, mich zu beklagen. Ich musste dankbar sein und darauf vertrauen, dass ich aus irgendeinem Grund genau an dem Ort war, an dem ich sein sollte. Kein Grund für Selbstmitleid. Ich musste mich zusammenreißen und danke sagen. Diese Selbstgespräche führte ich so oft, dass sie fast zu einem Mantra wurden. Und es half. Manchmal.
Als wir nach Houston weiterzogen, waren immer mehr Gerüchte über A Chorus Line im Umlauf, und es wurde zusehends mühsamer, sie nicht zu beachten. Ich gebe zu, dass sie mich beschäftigten. So sehr, dass ich zu träumen glaubte, als Venus und ich von einem Spaziergang nach der Abendvorstellung zurückkamen und der Hotelportier mir eine Nachricht aushändigte, als ich am Empfang vorbeiging.
Darauf stand bloß: »Bitte Michael Bennett anrufen.«
Als ich in meinem Zimmer die Nummer wählte, klopfte mir das Herz, während ich erfolglos versuchte, keine Hoffnung zu schöpfen.
Michael antwortete sofort und kam wie immer gleich auf den Punkt.
»Wo bist du?«
»In Houston«, sagte ich.
»Was machst du dort?«
»Irene.«
Darauf reagierte er mit einem hörbaren Stöhnen. Dann fragte er: »Wie lange läuft dein Vertrag noch?«
Ich brachte es fast nicht über die Lippen. »Noch sechs Monate.« Verträge während einer Tournee aufzulösen, war damals schwierig, und vor allem teuer – man musste der Produktionsfirma das Gehalt für die ganze Spieldauer erstatten. Unterzeichnete man einen Vertrag, dann sollte man ihn besser ernst nehmen.
Er fragte nach unserem nächsten Spielort.
»Flint, Michigan.«
Noch ein Stöhnen. Nach einem kurzen Schweigen schenkte er mir den Hoffnungsschimmer, den ich so verzweifelt brauchte: »Okay, ich schau mal, was sich machen lässt.«
Das war zwar nichts Konkretes, aber es bedeutete, dass ich doch nicht völlig in Vergessenheit geraten war. Ich bin mir sicher, Venus fragte sich, warum ich an diesem Abend mit ihr im Hotelzimmer herumtanzte.
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Flint im Staate Michigan war zu bedauern. Es war Mitte der 1970er-Jahre wirtschaftlich am Boden, und ich wusste ganz genau, wie sich das anfühlt. Allen im Ensemble fiel es schwer, den Kopf nicht hängen zu lassen. Wenigstens schienen wir unserem Publikum einen schönen Abend zu bereiten. Das half.
Am Ende unserer ersten Woche in Flint wartete im Hotel eine weitere Nachricht auf mich: »Ruf Howard Feuer an.«
Howard war der Produzent von Irene, ein netter junger Typ, den ich mochte.
Sobald ich im Zimmer war, griff ich zum Telefon und rief stattdessen Michael an.
»Ich habe gerade die Nachricht erhalten, ich solle Howard Feuer anrufen. Was bedeutet das?«
»Ich glaube, ich habe dich da herausgeholt.«
Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass ich richtig gehört hatte. Aber da sprach er schon weiter: »Weißt du, es spielt für mich keine Rolle, was es kostet, dich aus der Show freizukaufen. Aber mich stört, dass ich jetzt Howard Feuer einen Gefallen schuldig bin.«
Ich erklärte ihm, dass ich komplett pleite war, als ich das Angebot für Irene erhielt, und also bloß getan hatte, was ich tun musste. Für A Chorus Line gab es schließlich keine Garantie.
»Du hättest dir von mir Geld leihen und mir das alles ersparen können«, wandte er ein.
Das hätte ich auf keinen Fall getan. Ich war mit einem spielsüchtigen Mann verheiratet und hatte zugesehen, wie er in einen Teufelskreis geraten war. Er borgte sich Geld, um Spielschulden zu begleichen, bis er praktisch jedem in der Stadt Geld schuldete. Er lag finanziell am Boden und zog mich mit herunter. Ich wusste viel mehr über Schulden, als mir lieb war, und wie ich Michael sagte: »Ich leihe mir kein Geld. Ich verdiene es.«
Als das geklärt war, beendete ich das Gespräch und rief Howard Feuer an. Die gute Seele war vor ein, zwei Stunden Michael Bennetts Manipulationskünsten erlegen und versicherte mir in beinahe entschuldigendem Ton: »Ich würde nie etwas tun, das deiner Karriere schadet.«
Daraufhin wurden die nötigen Vereinbarungen getroffen und ich sagte Flint Lebewohl und Irene Gute Nacht. Venus und ich kehrten dankbar heim nach New York. Dort nahm ich die Arbeit an dem wieder auf, was ich als das Musical betrachte, das mir Tür und Tor zu allem öffnete, was danach kam.
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Dank einer Geldspritze vom Shakespeare Festival und einer einzigartigen Mäzenin namens LuEsther Mertz war A Chorus Line neu belebt worden. Das Projekt lief auf Hochtouren, als ich wieder zu meinen Freunden und Castkollegen stieß. Unser zweiter Workshop entwickelte sich sehr schnell zu Proben, und ich durchlief den Wandel von der Ensembletänzerin zur Hauptdarstellerin – meine erste, lang ersehnte Rolle als Schauspielerin: Die Sheila Bryant, eine der hoffnungsvollen Konkurrentinnen, die sich für einen Job in der »Chorus Line« eines geplanten Broadway-Musicals bewirbt. Sheila war mir sehr ähnlich, nur frecher und taffer als ich. Ich liebte die Rolle.
Diesen Wandel vollzog ich auch in persönlicher Hinsicht. Eines Tages unterbrach Michael eine Probe und ließ uns mit Papier und Stift auf den Sitzen des Shakespeare Festival Public Theaters Platz nehmen. Er gab uns eine halbe Stunde Zeit, um unsere Biografie für das Programmheft zu schreiben, etwas, was man von uns Ensembletänzern häufig verlangte. Ich saß da und schaute mich um. Unter meinen sechzehn Kolleginnen und Kollegen hatten nur Priscilla Lopez (»Diana Morales«), Pam Blair (»Val«) und Donna McKechnie (»Cassie«) schon eine Hauptrolle in einer Theaterproduktion gespielt. Für die anderen war es wie für mich das erste Mal.
Alle anderen schrieben wild drauflos, während ich mir überlegte, wie ich die vielen Ensembles auflisten sollte, in denen ich seit 1962 getanzt hatte. Plötzlich wurde mir klar, wie unwichtig das war. Das gehörte der Vergangenheit an. Jetzt befanden wir uns im Jahr 1975 und ich war keine Ensembletänzerin mehr. Ich war Schauspielerin und es war Zeit, das zu würdigen. Ich griff zu meinem Stift und erledigte die Aufgabe in weniger als einer Minute.
Michael warf einen Blick darauf und lachte. »Das ist Sheila Bryant, wie sie leibt und lebt«, sagte er, und zu meiner großen Freude veröffentlichte er meine Biografie genau so im Programmheft, wie ich sie geschrieben hatte:
»Carole Bishop (Sheila) hat seit zwölf Jahren im Showbusiness überlebt.«
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Die Arbeit an der Figur von Sheila Bryant war ein Vergnügen, aber auch eine Herausforderung. Ich wusste, dass ich eine verdammt gute Tänzerin war. Jetzt hatte ich mir vorgenommen, eine verdammt gute Schauspielerin zu werden. Auf keinen Fall wollte ich vom Publikum, das mich kannte, nach der Vorstellung Sätze hören wie »Na ja, sie hat ihr Bestes gegeben« oder, noch schlimmer, »Sie war gar nicht so schlecht«.
Im Originalskript von A Chorus Line war für Sheila ein Monolog vorgesehen, der zu einem guten Teil auf dem beruhte, was ich in der ersten Aufnahmesession erzählt hatte. Ich arbeitete wochenlang an diesem Monolog. Er war sehr gut geschrieben und vieles war aus meinem Leben gegriffen. Ich hatte nicht vor, ihn oder mich selbst falsch zu spielen. Die lang ersehnte Gelegenheit, als Schauspielerin arbeiten zu können, war endlich da. Sie zu vermasseln, kam nicht in Frage.
Deshalb war es umso schrecklicher, als Michael mir eines Tages schlechte Nachrichten überbrachte. Da Marvin Hamlisch und Ed Kleban am Projekt beteiligt waren, wollten sie verständlicherweise mehr Songs ins Musical aufnehmen.
»Deshalb kürzen wir deinen Monolog stark und wandeln ihn in einen Dialog um. Anschließend wird Sheila einen Song singen, der den Titel At the Ballet trägt.«
Mit weit aufgerissenen Augen glotzte ich ihn an, während mir alles Blut aus dem Gesicht wich. Ich flehte ihn – zum allerersten Mal – förmlich an: »Michael, wir wissen beide, dass ich keine gute Gesangsstimme habe. Willst du das nicht nochmals überdenken?«
Er gab mir eine Minute Zeit, um mich zu beruhigen, und sagte dann gelassen: »Es ist ein Trio.«
Aha. Ich musste also nicht allein singen. Schon besser. Wenigstens ein kleines bisschen.
»Okay«, lenkte ich schließlich ein. »Das sollte hinhauen.«
Und dann hörte ich At the Ballet zum ersten Mal.
Das Lied erzählt die Geschichte einer zerrütteten Familie aus der Sicht der Tochter. Der Vater, überzeugt von seiner eigenen Überlegenheit, machte ihrer Mutter einen Heiratsantrag, als sei er ihre letzte Rettung. Trotz ihrer Jugend und der vielen Möglichkeiten, die noch vor ihr lagen, nahm die Mutter an – eine Ehe, die von Anfang an ohne Liebe und Nähe war. Das Leben mit dem Vater war von emotionaler Kälte und Distanz geprägt. Weder seiner Frau noch seiner Tochter schenkte er Wärme oder Zuwendung.
Eine Erinnerung verfolgt die Tochter bis heute: der Moment, als ihre Mutter Ohrringe im Auto entdeckte, die ihr nicht gehörten – ein stilles, aber unmissverständliches Zeichen für die Untreue des Vaters. Doch diese schmerzliche Erkenntnis blieb unausgesprochen, begraben unter Schweigen und Verdrängung. Ballett wurde zum Zufluchtsort der Tochter, ein Rückzugsort, an dem die Härte ihres häuslichen Lebens verschwand. Unter anmutigen Männern und zarten, fast schwerelosen Tänzerinnen entdeckte sie eine Welt voller Eleganz, Harmonie und Zugehörigkeit. Die Disziplin und Strenge des Studios, so fordernd sie auch war, bot ihr ein Gefühl von Sicherheit und Trost, das ihr Zuhause nie geben konnte.
Ihre Mutter versicherte ihr oft, dass sie eines Tages eine einzigartige Schönheit entwickeln würde – »anders«, mit einem seltenen und besonderen Charme. Doch für ein junges Mädchen, das nach Bestätigung suchte, war »anders« nicht genug. Es war nicht »hübsch«, und »hübsch« war das, wonach sie sich sehnte. Im Ballett fand sie schließlich, wonach sie gesucht hatte: eine Spiegelung der Schönheit, von der sie immer geträumt hatte, und zum ersten Mal ein Gefühl von wahrer Glückseligkeit.
Ich war wie gebannt. Die wunderschöne Musik trug diese quälend vertrauten Zeilen direkt in meine Seele und raubte mir den Atem. Es war nicht nur ein Text. Viele der Sätze, vielleicht der Großteil davon, waren Zitate – wörtliche Zitate von mir. Sie stammten von der ersten, langen und intimen Aufzeichnungssession, die mehr als ein Jahr zurücklag. Mein Monolog war mir doch nicht genommen worden. Er hatte sich einfach in etwas verwandelt, das viel schöner und einprägsamer war.