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Manche Rätsel bleiben besser ungelöst: Der historische Kriminalroman »Das dunkle Erbe« von Robert Goddard jetzt als eBook bei dotbooks. London, 1909: Als sich der aufsteigende Politiker Edwin Strafford in die junge Suffragette Elizabeth Latimer verliebt, ist er bereit, alles für sie zu riskieren – sogar seine große Karriere. Doch kurz vor dem Traualtar verlässt Elizabeth ihn plötzlich aus mysteriösen Gründen; Strafford verschwindet kurz darauf von der Bildfläche der Politik … Siebzig Jahre später bekommt der Historiker Martin Radford den Auftrag, die Hintergründe der damaligen Ereignisse aufzudecken. Bei seiner Recherche stößt er auf ein Netz aus politischen Intrigen, das sich bis in die obersten Reihen der englischen Regierung erstreckte. Immer tiefer verstrickt sich Martin in die Geschehnisse von damals – und gerät so bald selbst in tödliche Gefahr … A Very British Scandal: »Ein Wespennest aus Eifersucht, Erpressung und Gewalt – absolut fesselnd.« Daily Mail Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende England-Krimi »Das dunkle Erbe« von Robert Goddard wird alle Fans des Bestsellers »Die Sünden unserer Väter« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 982
Über dieses Buch:
London, 1909: Als sich der aufsteigende Politiker Edwin Strafford in die junge Suffragette Elizabeth Latimer verliebt, ist er bereit, alles für sie zu riskieren – sogar seine große Karriere. Doch kurz vor dem Traualtar verlässt Elizabeth ihn plötzlich aus mysteriösen Gründen; Strafford verschwindet kurz darauf von der Bildfläche der Politik … Siebzig Jahre später bekommt der Historiker Martin Radford den Auftrag, die Hintergründe der damaligen Ereignisse aufzudecken. Bei seiner Recherche stößt er auf ein Netz aus politischen Intrigen, das sich bis in die obersten Reihen der englischen Regierung erstreckte. Immer tiefer verstrickt sich Martin in die Geschehnisse von damals – und gerät so bald selbst in tödliche Gefahr …
A Very British Scandal: »Ein Wespennest aus Eifersucht, Erpressung und Gewalt – absolut fesselnd.« Daily Mail
Über den Autor:
Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.
Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane:
»Im Netz der Lügen«
»Der Preis des Verrats«
»Eine tödliche Sünde«
»Ein dunkler Schatten«
»Denn ewig währt die Schuld«
»Das Geheimnis von Trennor Manor«
»Das Geheimnis der Lady Paxton«
»Das Haus der dunklen Erinnerung«
»Das Geheimnis von Malborough Downs«
»Dunkles Blut – Harry Barnett ermittelt: Der erste Fall«
»Dunkle Sonne – Harry Barnett ermittelt: Der zweite Fall«
»Dunkle Erinnerung – Harry Barnett ermittelt: Der dritte Fall«
Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane:
»Die Sünden unserer Väter«
»Die Schatten der Toten«
»Jäger und Gejagte«
»Die Klage der Toten«
»Der Kartograf von London«
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eBook-Neuausgabe August 2022
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1986 unter dem Originaltitel »Past Caring« bei Robert Hale Ltd., London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1990 unter dem Titel »Dein Schatten, dem ich folgte« bei SV international.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1986 by Robert Goddard
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1990 by SV international / Schweizer Verlagshaus, Zürich
Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Dmitry Naumov (London), Kislev Andrey Valerevich
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98690-347-3
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Robert Goddard
Das dunkle Erbe
Roman
Aus dem Englischen von Rainer von Savigny
dotbooks.
Ja, nun, am Ende, bin ich wieder eingetreten in diesen deinen alten Ort.
Durch die Jahre, die verstummten Lebensbilder, folgte ich deiner Fährte.
Was also, für unsere Vergangenheit, ist jetzt dein Wort?
Prüfend im Blick durch dunklen Raum, in dem ich dich entbehrte?
Die Worte fallen mir heute wieder ein. Ich habe meine eigenen verlorenen Jahre und stummen Bilder hinter mir, und übrig bleibt die gleiche unerfüllte Sehnsucht. Wenn du mir gesagt hättest, was die Suche nach deiner Vergangenheit für mich bereithielt, ich hätte sie nie begonnen. Dein Schatten, dem ich folgte, in dem ich mich bewegte, umgibt mich nun hier, am Ort deiner Verbannung. Was würdest du tun? Ich weiß – du brauchst nichts zu sagen. Doch zuerst muß ich eine Geschichte erzählen.
Die Dreißig eben überschritten, ein arbeitsloser, geschiedener Exlehrer, ein schlimmer Fall brachliegender Talente in städtischer Einöde, bittere Enttäuschungen hinter mir, düstere Aussichten vor mir – das war meine Situation im Frühjahr 1977. In jenem trüben März gab mir London mein Selbstmitleid wie ein Echo zurück.
Es klang schmerzhaft nach in meinem Kopf an diesem Morgen, ein dumpfes Pochen, mit dem sich das Bier des Vorabends in Erinnerung brachte und zu dem sich die Stimme meines zunehmend unwilligen Gastgebers gesellte, der gerade dabei war, in der Küche seiner Wohnung in Greenwich ein leidiges Thema aufs Tapet zu bringen. Es war Samstag, so daß der Lärm des pulsierenden Verkehrs von Maze Hill nur gedämpft durch das Fenster drang; auch das Licht war am Tisch, wo ich einen starken schwarzen Kaffee schlürfte, erträglich abgemildert. Jerry saß mir gegenüber, gewaschen und rasiert, angekleidet und mit klarem Kopf – vier Dinge, die man von mir nicht behaupten konnte – und studierte die Börsenberichte der »Financial Times«.
»Millennium ist wieder gestiegen«, sagte er.
»Natürlich«, sagte ich. Daß die Geschäfte meines früheren Arbeitgebers weiterhin florierten, war das letzte, was ich hören wollte, aber eine Überraschung war es nicht. Die Millennium-Gesellschaft für Grundbesitz hatte schon immer eine sichere Hand beim Erwerb und der Vermarktung historischer Liegenschaften gehabt, aber ihr einziges Zugeständnis an die Wissenschaft bestand darin, daß man überqualifizierte Hilfskräfte wie mich einstellte, die dann die Broschüren für Besichtigungen zurechtfrisieren mußten.
Bei Millennium hatte ich den ersten halbwegs anständigen Job bekommen, seit ich nicht mehr unterrichtete. Leider hatte ich meine Verachtung für die historischen Prinzipien der Firma – die dem transatlantischen Standard der amerikanischen Muttergesellschaft entsprachen – in einer Anwandlung von Vertrauensseligkeit auf einer Weihnachtsfeier der absolut falschen Person anvertraut. Daraufhin blieb mir nichts anderes übrig, als selbst zu kündigen, ehe die Firma mir den Laufpaß gab.
Ich hatte bereits vorher Schulden gehabt, und der Verlust eines regelmäßigen Einkommens führte bald dazu, daß ich die Wohnung in Richmond aufgeben mußte. Damals war Jerry, ein Freund aus gemeinsamen Schultagen, eingesprungen und hatte mir sein Gästezimmer in Greenwich angeboten, um mir die schwierige Übergangszeit zu erleichtern. Nur hatte sich die Übergangszeit inzwischen auf zwei Monate ausgedehnt, und Jerrys Geduld begann sich zu verschleißen.
»Habe ich dir schon erzählt, daß Tribune eine Filiale in Crawley eröffnen will?«
Natürlich hatte er. Er hatte auch darauf hingewiesen, daß man dafür neue Mitarbeiter suchen werde und daß er, falls ich interessiert sei, ein gutes Wort für mich einlegen könne. Ich war ehrlich gesagt extrem desinteressiert. Jerry war ein gewissenhafter und fleißiger Statistiker in der Tribune-Lebensversicherungs-Gesellschaft, wo man ohne Zweifel große Stücke auf ihn hielt. Aber in seiner Welt würde ich es nie zu etwas bringen, und weder mir noch Jerry wäre damit gedient gewesen, wenn ich es versucht hätte. Es war aber eine äußerst delikate Angelegenheit, ihm das klarzumachen. Eine Erklärung hätte seinen Sinn fürs Praktische beleidigt; in seiner überaus ernsthaften und bescheidenen Art würde er unmöglich verstehen, daß Tribune-Leben – 38 Stunden pro Woche in modernen Büros mit Zulagen für ehrgeizige Mitarbeiter und Sondertarifen für Betriebsangehörige – für ihn vielleicht ideal war, für mich aber ein Greuel.
»Ja, Jerry. Ich werde auf die Stellenangebote achten.«
Das war natürlich gelogen. Ich achtete weder auf diese noch auf andere Stellenangebote. Damit wollte ich bloß Jerry beruhigen und auch meine eigene uneingestandene Angst dämpfen, daß mich vielleicht weniger die Karriere eines Versicherungsangestellten schreckte als vielmehr jeder geregelte Beruf überhaupt.
Ich nahm die Gelegenheit zu einem Ablenkungsmanöver wahr und öffnete die Morgenpost. Zwei Briefe hatte ich bekommen, von Jerry mit pedantischer Akkuratesse an den Toaster gelehnt. Der eine enthielt die Abrechnung für meine Kreditkarte. Der andere sah vielversprechender aus: eine portugiesische Briefmarke und eine Handschrift, die ich gleich erkannte.
»Das ist ein Brief von Alec«, verkündete ich in der Hoffnung, Neuigkeiten aus Madeira würden uns von meiner Arbeitslosigkeit und dem Wohnungsproblem abbringen. Jerry kannte Alec Fowler nur über mich, und ich kannte ihn nur, weil wir als Studenten im gleichen Stockwerk gewohnt hatten. Er gehörte zu jenen Studenten, die erfahrener sind, als ihr Alter vermuten ließe, und uns übrigen das Gefühl vermittelt hatten, wir seien linkische Schuljungen. Ich war jedoch sehr lernwillig, und er brauchte Gesellschaft für sein ausgelassenes Treiben. Alec umgab sich mit Menschen wie mich, die sich gern als radikale Freidenker betrachten. In den sechziger Jahren war Cambridge ein Treibhaus, das eine Art selbstgefällige studentische Schickeria gedeihen ließ, die neue und bedeutsame gesellschaftliche Entwicklungen darin sah, Marihuana zu rauchen und allgemein anerkannte Vorstellungen durch den Kakao zu ziehen. Solange Alec uns mit seiner Spitzbubenmentalität die Ziele vorgab, war das irgendwie glaubwürdig. Zehn Jahre später erschien es unglaublich naiv und – das hätte uns damals viel härter getroffen – einfach irrelevant. Dennoch verband sich mit dieser Zeit eine optimistische Aufbruchstimmung, die ihr im Licht der ernüchternden Jahre danach einen besonderen Stellenwert verlieh.
Während ich diese Jahre damit verbracht hatte, zu Frau, Kind und Lehrberuf zu kommen, um anschließend alles wieder zu verlieren, und während England sich tastend den Weg durch Ölkrise und Drei-Tage-Wochen suchte, war es Alec immer gelungen, das Leben zu genießen. Im Zusammenhang mit den Garden-House-Tumulten wurde er vorgeladen, aber nicht vor Gericht gestellt, verwarnt, aber nicht von der Universität verwiesen; er schien seine Arbeitszeit ausschließlich politischen Pamphleten zu widmen, bestand sein Examen in Englisch aber doch mit einer Eins und hatte sich dann, laut eigener Aussage, zielbewußt treiben lassen: Paris (»auf der Suche nach dem Geist der 68er Jahre«), Venedig (»um es zu sehen, bevor es untergeht«) und Kreta (»um Englisch zu lehren und das mediterrane Licht zu studieren«). Diese periodischen Abwesenheiten wurden durch gelegentliche Besuche in der Heimat unterbrochen. Dann pflegte er mich heimzusuchen, um unsere gemeinsame Studienzeit in Trinkgelagen über das Wochenende wieder auferstehen zu lassen, was meine Frau mehr als einmal an den Rand der Verzweiflung brachte.
Alecs eigentlicher Ehrgeiz galt, wie er mir oft sagte, einer journalistischen Karriere. Der Durchbruch schien immer unmittelbar bevorzustehen, auch wenn es bisher noch nie dazu gekommen war. Er war in New York zur Zeit des Watergate-Skandals, konnte aber niemanden dazu bewegen, seine Meinung zu der Affäre zu drucken. Eine Abendzeitung in Montreal stellte ihn für die Olympischen Spiele ein, aber die Sache platzte, ehe die Olympiade überhaupt begonnen hatte. Es erschien ihm dann angezeigt, den journalistischen Ehrgeiz für eine Weile ruhen zu lassen, um seine Finanzen in Ordnung zu bringen, indem er einen Halbjahresvertrag als Englischlehrer auf Madeira unterzeichnete.
Nun war er ausgerechnet dieses Mal, als ich seine Gesellschaft dringend zur Aufmunterung gebraucht hätte, nicht wie geplant zu Weihnachten zurückgekommen. Ich hatte ihm wiederholt geschrieben; dieser Brief war seine erste Antwort. Ich las ihn Jerry also in der Hoffnung vor, ihn von meinen Initiativen zur Arbeits- und Wohnungssuche ablenken zu können – bzw. von der Tatsache, daß ich noch gar nichts unternommen hatte.
Hallo Martin!
Wie geht’s? Tut mir leid, daß ich in der letzten Zeit so wenig von mir hören ließ, aber ich hatte viel um die Ohren – davon gleich mehr. Die Millennium-Geschichte ist bedauerlich, obwohl es wahrscheinlich ganz gut ist, daß Du nicht mehr dort arbeitest. Mein Kompliment an Jerry, daß er es so lange mit Dir aushält.
Mein Job als Lehrer lief Weihnachten aus, und Du wolltest wissen, was ich seither mache. Als jemand, der noch nie darauf warten konnte, daß das Gras (das Wortspiel ist natürlich Zufall!) von selbst wächst, habe ich – jetzt wirst Du Augen machen – eine Zeitung für diese Insel ins Leben gerufen. Auf Madeira wimmelt es von Engländern – Feriengäste und solche, die ihren Lebensabend hier verbringen. Ich wollte ihnen eine Monatszeitschrift bieten: in Hochglanz und englischer Sprache, mit vielen Fotos der Naturschönheiten auf Madeira (zahlreich) und aktueller Berichterstattung über die Ereignisse (dürftig), um die Touristen zu informieren, was es wo zu sehen gibt, und die ortsansässigen Engländer, was sich so tut. Ich hatte einen guten Start, einfach weil es keine Konkurrenz gibt. Hinzu kam, daß einer meiner Bekannten hier, der als Fotograf so gut ist wie ich als Journalist (eine fatale Kombination), sich mit mir zusammengetan hat und ich auch die Unterstützung vieler Geschäfte und Firmen habe, die die Werbung bei ihren englischen Käufern an den Mann bringen wollen, weil sie ihre besten Kunden sind.
Außerdem hat uns ein südafrikanischer Hotelbesitzer in Funchal das Geld vorgeschossen, um uns auf die Beine zu helfen. Die erste Nummer von »Madeira Life« ist letzten Monat herausgekommen, und sie geht bisher (unberufen!) recht gut. Leo – der Hotelbesitzer – hat einen Empfang arrangiert, um allen wichtigen Persönlichkeiten die Sache schmackhaft zu machen. Glaub mir, wenn das so weitergeht, könnte ich daraus noch in das hiesige Establishment aufrücken. Das Ganze könnte mir, und das wäre ja noch interessanter, den Weg in die Fleet Street ebnen.
Vorerst allerdings ist es noch nicht soweit. Ich muß erst einmal meine Lehre absolvieren. Damit komme ich zu einem Vorschlag, den ich Dir machen wollte, um Dich ein wenig aufzumuntern. Warum läßt du nicht einfach alles stehen und liegen – das wäre doch ohnehin sehr wenig, wenn ich Deinen letzten Brief richtig verstehe – und kommst hierher, um ein bißchen auszuspannen? Das portugiesische Ehepaar, mit dem ich mir das Haus teile, ist für einen Monat verreist, so daß ich Dich ohne Schwierigkeiten unterbringen kann. Madeira im Frühling ist wunderbar. Ich könnte Dir alles zeigen, und Du könntest mir sagen, was Du von meiner Zeitschrift hältst, und gemeinsam könnten wir über die alten Zeiten reden.
Was sagst Du dazu? Laß es mich bald wissen.
Tschüß, Alec
»Fährst du hin?« fragte Jerry, für meinen Geschmack etwas schnell.
»Wenn ich es irgendwie deichseln kann, fahre ich auf der Stelle.« Ich war zuversichtlicher, als das klingen mochte. Ich hatte etwas Geld bei einer Bausparkasse angelegt, als Rücklage für besondere Fälle, und dieses Angebot durfte man eindeutig zu den besonderen Fällen rechnen.
»Warum auch nicht«, sagte Jerry. »Ein Urlaub tut dir sicher gut.«
Am Montagabend konnte ich Alec anrufen, um ein Ankunftsdatum vorzuschlagen. Nach mehreren mißglückten Versuchen hörte ich durch viel Rauschen und Knistern in der Leitung seine vertraute Stimme aus dem fernen Madeira.
»Prima, daß es klappt, Martin. Ich freu’ mich, dich zu sehen.«
»Das hoffe ich, aber es wird früher sein, als du vielleicht erwartet hast. Ich habe eine Vormerkung in einem Charterflug am 31.«
»Nimm den Flug. Das ist eine gute Zeit: zwischen zwei Nummern, so daß ich dir alle Sehenswürdigkeiten zeigen kann. Und je früher du kommst, desto besser – möglicherweise lohnt sich die Sache für dich.«
Ich diktierte ihm Flugnummer und Ankunftszeit, ehe wir uns im Kampf gegen die Störung in der Leitung geschlagen gaben. Erst nach dem Auflegen dachte ich über seine Worte nach und fragte mich, ob er gemeint hatte, die Reise bringe mehr als ein normaler Urlaub. Hatte er etwas jetzt, wo seine Zeitschrift Erfolg zu haben begann, ein gutes Angebot für einen alten Freund auf Lager? Es war kaum mehr als eine aufglimmende Ahnung, aber genug, um meine gute Laune bis zum Abflug zu gewährleisten.
Ich war also unbeschwert und optimistisch, als ich den Flug nach Madeira antrat. Zwischen all den glücklichen Familien, die in die Ferien flogen, kam ich mir zwar etwas fehl am Platz vor, aber einige Drinks ließen die Zeit recht angenehm verstreichen – jedenfalls, bis unsere Maschine in eine Schlechtwetterfront geriet.
Während wir im Landeanflug auf Madeira kräftig durchgerüttelt wurden, schaute ich aus dem Fenster, um etwas von der Insel zu sehen, wobei meine Finger, mit denen ich mich krampfhaft an die Lehnen klammerte, so weiß wurden wie die Wolkenberge, die mir beim Blick nach draußen allzu nahe kamen. Immerhin wurde vor uns ein grüner Fleck sichtbar, und gleich darauf hatten wir Bodenkontakt mit etwas, von dem ich hoffte, es sei die Landebahn. Mit einem heftigen Bremsmanöver kam das Flugzeug zum Stehen. Ich war auf der Stelle wieder nüchtern und stieg auf unsicheren Beinen aus der Maschine. In strömendem Regen zog ich mir meinen Anorak über und trottete den übrigen Passagieren zur Abfertigung nach.
Von Alec war nichts zu sehen, als wir mit dem Zoll fertig waren und die übrigen Passagiere in alle Richtungen davongingen, aber gerade als ich anfing, mich zu ärgern, kam er schwungvoll die paar Stufen von einem höhergelegenen Stockwerk herab.
»Hallo, Martin«, rief er und schlenderte lässig grüßend auf mich zu. Er sah sehr fit aus, braungebrannt und entspannt, die rotblonden Haare in der Sonne hell geworden; er wirkte mehr wie ein Strandwart, nicht wie ein Journalist, als er mir auf die Schulter klopfte und mir ein breites Lächeln schenkte.
»Wie geht’s, alter Junge? Du siehst ziemlich mitgenommen aus.«
»Es geht, danke.« Ich grinste kläglich. »Du würdest auch so aussehen, Alec, wenn du diese Landung mitgemacht hättest. Ich sah uns schon im Atlantik.«
»Etwas haarig, was? Von der Bar sah es nicht schlimm aus.«
»Von einer Bar sieht alles besser aus.«
»Da ist was dran. Die Landebahn ist tatsächlich etwas kurz geraten. Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich mir dachte, es könnte dich abschrecken. Das Wetter macht die Dinge auch nicht gerade besser. Du mußt es mitgebracht haben – es war dieses Jahr noch nie so schlimm. Man kann sich doch darauf verlassen, daß ein Pessimist wie du ankommt, wenn Madeira sich von der schlechtesten Seite zeigt.«
Alec hatte ganz recht: Ich hatte in meinem Leben immer das Schlimmste erwartet und war darin nur selten enttäuscht worden. Er hatte immer das Beste erhofft und war gelegentlich dafür belohnt worden. So kam es, daß ich den Winter nutzlos in London verbracht und er die Möglichkeit einer sonnigen Insel ausgeschöpft hatte. Es war auch richtig, daß diese sich heute nicht von der besten Seite zeigte. Der Taxifahrer hatte seine Sonnenbrille auf und fuhr, als seien die Straßen trocken; alles, was ich zu sehen bekam, während wir mit hoher Geschwindigkeit die Haarnadelkurven der Küstenstraße nach Funchal nahmen, waren düstere Klippen, aufgewühltes Meer und finstere Wolken – eher Cornwall als die Tropen.
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte mich Alec, »so ein Wetter hält sich hier nie. Madeira ist eine wunderbare Insel, das kannst du mir glauben. Die Inselbewohner tun allerdings nicht viel dafür, daß es so bleibt.« Er deutete durch den dichten Regen auf eine Bauruine. »Sie haben alle südländischen Untugenden«, wir schlingerten durch ein Schlagloch, und ich nickte zustimmend, wobei ich hoffte, daß der Fahrer kein Englisch verstand. »Und nur eine Tugend: Sie geben mir die Chance, eine Zeitschrift zu machen. Ich weiß, es ist am Ende der Welt, aber für mich ist es ein Anfang.« Nach zahllosen verunglückten Anfängen war Alecs Hoffnung unversehrt. Erstaunlicherweise waren auch wir noch unversehrt, als das Taxi die gewundene Straße nach Funchal hinabfuhr: graue und braune Flecken von Häusern in einem hügeligen Halbrund an einer Bucht.
Alecs Haus war eine Oase – kühl, trocken und friedlich, was man von draußen nicht behaupten konnte. Im Wohnzimmer ließ ich mich in einen Sessel fallen, während Alec von der Küche her seine etwas sprunghafte Würdigung des Lebens auf Madeira fortsetzte.
»Wir werden den Kaffee schwarz trinken müssen«, rief er. »Milch ist hier so etwas wie Gold. Du siehst sowieso aus, als ob du einen starken Kaffee nötig hättest. Auf dem Tisch liegt eine Nummer der Zeitschrift. Du kannst ja mal reinschauen.«
»Madeira Life«, April 1977: Fettdruck auf Hochglanzpapier, die Titelseite mit einem lächelnden dunkelhaarigen Mädchen in gestreiftem Kleid, darüber eine Bolerojacke und in den Händen Mimosensträuße, deren strahlend gelbe Blüten aus dem Bild zu springen schienen.
Ich blätterte die Nummer durch. Was ich sah, waren gut gemachte, sensible Fotos und dazu Alecs energischer Stil; ich las eine Zusammenstellung aktueller Ereignisse und eine Seite Lokalnachrichten.
»Was ist zur Zeit auf Madeira Besonderes los, Alec?«
»Hier ist nie etwas Besonderes los, Martin. Ich bereite einfach das Wenige auf und komme den Vorurteilen meiner Leser entgegen.«
»Und welcher Art sind die?«
»Vorhersehbar. Wie bei allen Engländern im Ausland, nehme ich an: Warum sind die Einheimischen so laut und so faul?«
»Und wo kann man billig essen gehen?«
»Du hast gelesen, was ich über das ›Jardim del Sol‹ geschrieben habe. Es ist wirklich ein ausgezeichnetes Restaurant. Ich zwinge mich dazu, einmal pro Woche im Interesse meiner kulinarisch orientierten Leser im Restaurant zu essen. Funchal hat viele gute, billige Restaurants – und ein paar schlechte.«
»Das kann ich mir vorstellen. – Ah, das sieht ganz nach dem Kenner aus.«
Gleich hinter der Doppelseite über das Blumenfest war ich auf ein Arrangement dunkler, vielversprechender, dick verstaubter Weinflaschen gestoßen: »Alter Madeira – Gibt es ihn noch?«
»Man wird hier einfach zum Madeirafachmann. Der Handel befand sich im wesentlichen immer in den Händen englischer Familien; es liegt daher sehr nahe, ein solches Thema für englische Leser aufzugreifen.«
»Und für dich, in ihrem Interesse zu kosten?«
»Du sagst es. Aber dieser Artikel behandelt den Jahrgang 1792 und die Frage, ob vielleicht noch vereinzelte Flaschen erhalten sind. Man hat Napoleon auf seinem Weg nach St. Helena davon angeboten, aber es ging ihm nicht gut genug, um ihn zu trinken.«
»Wie traurig.«
»Ja – aber bezeichnend. Madeira liegt nicht im Zentrum der Weltereignisse. Die berühmten Persönlichkeiten kommen hierher, bevor sie auf dem Höhepunkt ihres Lebens stehen – oder wenn sie ihn hinter sich haben. Wie du noch feststellen wirst.«
Ich glaubte, das bereits festgestellt zu haben, denn ich hatte die vergilbten Fotografien von Churchill gesehen, seine unverkennbare, massige Gestalt vorgebeugt auf einem Hocker, während er eine Meerlandschaft malte, und auf einer weiteren Fotografie zusammen mit seiner Frau, auf einem Balkon, vor einem reichverzierten Geländer und mit Palmen im Hintergrund.
In diesem Augenblick kam Alec mit einem Tablett ins Zimmer und schaute mir über die Schulter. »Churchill hat hier nach dem Krieg oft den Winter verbracht«, sagte er. »Er malte gern die Gegend an der Küste bei Camara de Lobos.« Er stellte das Tablett ab und schenkte den Kaffee ein. »Also, was hältst du davon?«
Ich legte die Zeitschrift beiseite und blickte auf. »Sie ist gut, Alec«, sagte ich. »Sehr gut. Abwechslungsreich, lebendig, informativ. Ich würde sie kaufen.«
»Glaubst du, die Sache hat Zukunft?«
»Sie verdient jedenfalls eine. Und du wirst ja wissen, ob es einen Markt dafür gibt.« Ich schlürfte dankbar meinen Kaffee. »In deinem Brief sprachst du von einem Förderer.«
»Genau. Ich habe es fertiggebracht, die Unterstützung durch genau den richtigen Mann zu gewinnen. Leo Sellick ist Südafrikaner und hat daher gute Beziehungen zu den Engländern. Er hat einen Haufen Geld verdient, indem er Land aufgekauft und dann verkauft hat, als überall die Hotels aus dem Boden schossen; er besitzt immer noch eins östlich von hier in Machico, wo es den einzigen schönen Strand auf der Insel gibt. Ganz offenbar hat er einen sicheren Blick für die richtigen Investitionen; es ist also ermutigend, daß er Geld in ›Madeira Life‹ gesteckt hat. Außerdem kennt er alle wichtigen Persönlichkeiten, die mich sonst am ausgestreckten Arm verhungern lassen würden. Im Klub hört man auf ihn, und er wirkt in meinem Sinne auf sie ein.«
»Das klingt, als wäre er ein unschätzbarer Trumpf.«
»Das ist er auch. Und mit seiner Hilfe werde ich einen Erfolg landen.«
Ich wünschte ihm viel Glück dazu, durchaus ehrlich gemeint, aber nicht ganz frei von heimlicher Mißgunst. Alec war wieder einmal auf die Füße gefallen, während ich immer noch keinen festen Boden unter meinen hatte. Seine Begeisterung verhinderte, daß meine Neuigkeiten, die ja ohnehin nicht sehr bedeutsam waren, ausführlich zur Sprache kamen. Ich konnte ihn aber doch mit einer ausgeschmückten Version meines Abgangs von Millennium amüsieren. In dieser Fassung hatte ich auf der Stelle am Silvesterabend gekündigt, und nicht etwa unter Druck. Ich war zwar Historiker, hatte aber keine Bedenken, die Darstellung der Vergangenheit etwas zu zensieren, wenn es meinen Zwecken diente.
Später, nach Einbruch der Dunkelheit, führte Alec mich in ein Restaurant, über das er in seiner Zeitschrift berichten wollte. Es war klein, stickig, überfüllt und lustig, voller südlicher Lebensfreude, mit geschäftigen, schmuddeligen Kellnern. Alec bestellte zwei Espada-Filets – Tiefseefisch – mit Garnelensauce und eine Flasche herzhaften Dão dazu und anschließend eine zweite, als wir anfingen, uns zu entspannen.
»Morgen«, vertraute er mir an, »lasse ich dich gleich den Höhepunkt deines Aufenthalts erleben.«
»Und der wäre?«
»Du kannst Leo kennenlernen. Er wohnt in Camacha, in den Bergen nordöstlich von hier. Als er hörte, daß du mich besuchen wolltest, bestand er darauf, uns gemeinsam zum Essen einzuladen. Du kannst mir glauben – das darf man nicht verpassen. Er ist ein großzügiger Gastgeber, und seine Quinta ist ein herrliches Stück Land.«
»Quinta?«
»Sozusagen ein Landgut. Du wirst dich aber an das Wort auf den Portweinflaschen in Cambridge erinnern. Wenn ich mich nicht täusche, haben wir damals nicht wenige Flaschen davon geleert.«
»Unsere Konzession an die konservative Lebensart.«
»Und hier jenseits dessen, was ich mir leisten kann. Trink lieber noch ein Glas Dão – der entspricht meinen Möglichkeiten.«
Ich schob ihm mein Glas hin, und wir verbrachten den Abend im weinseligen Gespräch über britische und portugiesische Politik, Studenten damals und heute, den Journalismus und Madeira. Ich fing an, meinen Aufenthalt zu genießen. Ein alter Freund und die neue Umgebung begannen bereits zu wirken.
Madeira war verändert, als ich am nächsten Morgen erwachte. Durch das offene Fenster meines Zimmers sah ich einen tiefblauen Himmel, hörte Vögel zwitschern und singen, sog die milde Luft ein und blickte auf das sonnendurchflutete Funchal, dessen Dächer bereits dunstweiß flimmerten. Mauern, die am Tag meiner Ankunft grau gewesen waren, zeigten nun blendendes Weiß, die braunen Dachziegel vom Vortag strahlendes Orange. Die Stadt drängte einen grünen Hang hinauf, unter sich den weiten blauen Ozean. Ich hatte zwar einen schweren Kopf, aber die Luft war klar, die Aussicht glänzend.
Nach dem Frühstück ging Alec aus dem Haus und kehrte mit Brot, einem Brathähnchen und Mangos zurück. »Für ein Picknick«, verkündete er. »Wir werden das noch brauchen. Bist du fertig?«
»Warum so eilig? Ich dachte, wir gehen zum Abendessen?«
»Das tun wir auch – zu Fuß. Es ist ein Fußmarsch von sechs Stunden, zieh also die Stiefel an.«
»Ich wußte gar nicht, daß wir wandern würden.«
»Ich habe dir doch gesagt – ich bin inzwischen ein besserer Mensch. Und du siehst so aus, als täte dir etwas körperliche Anstrengung gut. Außerdem ist es eine wunderschöne Wanderung.«
Alec begann, die Brote zu machen. »Wir nehmen meinen Rucksack«, sagte er. »Pack alles ein, was du für eine Übernachtung brauchst. Wir kommen heute nicht mehr zurück.«
Er hatte ja gesagt, daß Leo Sellick ein großzügiger Gastgeber sei. Was die wunderschöne Wanderung betraf, so vertraute ich auf sein Wort. Und danach kam ja auf jeden Fall das Essen.
Wir gingen zum Hafen hinunter und bestiegen einen ramponierten alten rotgrauen Bus, mit dem wir Funchal hinter uns lassen wollten. Er schlängelte sich rumpelnd zwischen hohen Mauern über das unebene Pflaster, während der Motor die anhaltende Steigung mit Protestgeräuschen quittierte.
»Wir fahren nach Monte hinauf«, rief Alec mir ins Ohr, um den Lärm des Dieselmotors zu übertönen. »Diesen Weg haben in der Vergangenheit viele englische Siedler genommen, hinauf in die Berge, wo die Luft kühler ist und angeblich heilende Wirkung hat. In Monte gibt es zahlreiche Erholungsheime für wohlhabende Lungenkranke.« Der Dieselqualm drang durch das Fenster, als der Bus sich um eine Haarnadelkurve quälte. »Sie sind natürlich nicht mit dem Bus gefahren.« Das konnte ich ihnen nachfühlen.
Der Bus folgte der kurvenreichen Straße in die Berge hinauf, bis die Luft frischer wurde und die Straße breiter. Wir waren in Monte angekommen, das kühler und friedlicher und auch englischer wirkte als Funchal. Wir stiegen aus und gingen eine gepflasterte Straße entlang, an Stufen vorbei, die zu einer großen Kirche mit zwei abgerundeten Glockentürmen hinaufführten; gegenüber, zentral in einer Mauernische, fiel eine Marienfigur ins Auge.
»Unsere Liebe Frau vom Berge«, sagte Alec. »Kaiser Karl von Österreich liegt hier begraben.«
»Kam er aus gesundheitlichen Gründen?«
»Falls es so gewesen sein sollte, dann ist es ihm nicht bekommen. Er starb ziemlich jung.«
Wir ließen uns auf unserem Weg durch Monte hindurch zum »Hotel Belmont« nicht aufhalten und bogen in eine von blauen und weißen Agapanthusreihen gesäumte Straße ein, die uns in den Ort Babosas führte. Ein gesicherter Aussichtspunkt gewährte uns einen Blick über den Hafen und ganz Funchal hinweg bis in die Berge über der Stadt mit ihrem Fleckenmuster von Terrassen, die sich unserem Auge in immer neuen Farbtönen darboten, während die Wolkenschatten in rascher Folge über die welligen Hänge glitten. Die Aussicht war wohltuend, denn die grünen und blauen Töne waren soviel intensiver, als sie in England gewesen wären, daß sie jemandem, der gerade einen Winter in London überstanden hatte, erschienen wie Acryl- nach Wasserfarben.
Wir nahmen einen grasbewachsenen Weg durch einen lichten Wald von Kiefern und Mimosen, in dem es betäubend duftete, und kamen in ein enges Tal mit steilen, brüchigen Basalthängen auf beiden Seiten. Bei unserem Aufstieg stießen wir auf den Wall eines winzigen Kanals, der an dieser Stelle aus einer dunklen Öffnung ins Freie trat. Wir wandten uns nach Osten und gingen einen schmalen Pfad auf der anderen Seite des Wasserwegs entlang.
»Das ist eine Levada«, erklärte Alec. »Sie durchziehen ganz Madeira. Sie führen das Regenwasser von den Berggipfeln in die Täler, wo sie das Land bewässern und Kraftwerke speisen. Und sie sind hervorragend geeignet für reizvolle Wanderungen.« Fast ohne jede Vorwarnung fiel das Basaltgestein auf unserer Rechten jäh in schwindelerregende Tiefe ab.
»Schau nicht hinunter«, sagte Alec. »Geh einfach geradeaus weiter, dann besteht überhaupt keine Gefahr.«
Ich folgte Alec konzentriert auf dem Pfad, bis dieser uns von den Abgründen wegführte. Links und rechts begleiteten uns nun Kiefernhaine und unzählige Lilien. Außer wenn uns die Grenzmauern einer privaten Quinta zu einem Umweg zwangen, hielten wir uns in den folgenden Stunden an die Levada und den parallel verlaufenden Pfad mit seiner ockerroten Erde, bis wir auf eine staubige Hauptstraße stießen, die unsere Route kreuzte.
Jenseits der Straße, neben einem rosa gestrichenen Häuschen, dessen Garten mit orangen und dunkelroten Lilienblüten übersät war, schauten wir die bewaldeten Hänge hinab zum Meer. Die Küste – wie auch die Erhebungen der draußen im Meer liegenden Inseln, der Desertas – verschwamm in der flirrenden Hitze.
»Direkt unter uns liegt Palheiro Ferreiro«, sagte Alec. »Siehst du die Villa dort unten zwischen den Bäumen?« Mitten im Grün konnte ich orangefarbene Dächer erkennen. »Das ist die Quinta der Blandys. Sie gehören zu den reichsten Familien auf Madeira – ein Name, auf den man Rücksicht nehmen muß. Sie beherrschen den Weinhandel seit drei Jahrhunderten. Wie du siehst, haben die Engländer auf der Insel schon immer ein Wort mitzureden gehabt.«
»Freunde von Leo Sellick?«
»Leo ist mit jedem befreundet – insbesondere mit Leuten wie den Blandys. Sie wohnen natürlich auch in der Nähe.«
»Das höre ich gern.«
»Was ist los? Machen die Füße nicht mehr mit?«
»Na ja, sagen wir mal: Ich glaube, heute abend habe ich mir mein Essen verdient.«
»Wir machen bald eine Pause zum Mittagessen.«
Dazwischen lagen wirklich nur noch zwanzig Minuten und ein kurzer Levadatunnel, durch den wir im Licht einer schwächlichen Taschenlampe kriechen mußten. Wir ließen uns in einem kühlen Kiefernwäldchen nieder und machten uns über unser Picknick her.
»Bald sind wir in Camacha«, sagte Alec. »Die Quinta do Porto Novo liegt einige Meilen hinter dem Dorf.«
»Und da wohnt Leo?«
»Ja. Es ist ein herrliches Fleckchen am Ende des Porto-Novo-Tals. Die Landschaft bei Camacha erinnert mich an England – wohin man blickt, Dunst und sanfte Fruchtbarkeit.«
Er hatte recht. Die Levada verschwand bald wieder in einem Tunnel – diesmal unpassierbar –, und wir bogen in einen Fußweg zu dem verstreut liegenden Ort Ribeirinha ein, um dann einer staubigen Straße nach Camacha zu folgen, deren Böschungen von Hortensien überwuchert wurden. Die Landschaft nahm in der Tat englischen Charakter an: Zwischen Weidengehölzen befanden sich Obstgärten mit Apfelbäumen, von schneeweißen Blüten überzogen. Wir gingen vorbei an Gärten und Höfen, in denen man schlanke Weidenruten zum Trocknen aufgehäuft hatte. »Das Korbflechten ist die Heimindustrie hier«, erklärte Alec, »und die Bewohner von Camacha sind Meister in dieser Kunst.«
Wir verließen das Ortszentrum auf einem festen Weg entlang den Mauern einer privaten Quinta und folgten diesem hinauf zu einer weiteren Levada, die kleiner war und weniger Wasser führte. Sie schlängelte sich von Camacha fort, um die westlichen Hänge des Porto-Novo-Tals herum. Auch hier blühten wieder die Hortensien, und unter uns fiel das Tal in üppigem Grün zum Meer hin ab. Wolken zogen darüber hin, umspielten die Bergspitzen und machten das Sonnenlicht sanfter, als der Abend näherrückte.
Etwa eine halbe Stunde später verschwand die Levada wieder in einem Tunnel, und wir nahmen einen befestigten Weg nach unten, um unseren Marsch auf der staubroten Hauptstraße fortzusetzen, die Camacha in nördlicher Richtung verließ. Wir hatten das Talende erreicht, wo die Straße den Porto-Novo-Fluß überquerte und in einem Bogen zur östlichen Hangseite hinüberführte.
Vor uns, am Ausgang der Kurve, wurde in einer Mauer, die entlang der Straße verlief und von der der Putz abbröckelte, ein schmiedeeisernes Tor sichtbar, dessen Flügel offenstanden. Auf einem der beiden Torpfosten stand QUINTA DO PORTO NOVO. Das Grundstück war terrassenförmig angelegt und bewaldet; die gepflasterte Auffahrt zog sich in Zickzacklinien hangaufwärts zum Haus, dessen orangefarbene Dächer und weiße Mauern über die Bäume hinweg im Sonnenlicht schimmerten.
»Da sind wir«, sagte Alec. »Ein schönes Refugium.«
Während sich die Stille des beginnenden Abends über die Quinta senkte, stiegen wir langsam die Auffahrt hinauf. Ein Weinberg lag an einem sonnigen Hang, der auf der rechten Seite einen sanften Bogen beschrieb, aber wir gingen zwischen Apfelbäumen, deren Blütenblätter den Boden bedeckten, den direkten Weg zum Haus.
Durch einen Torbogen am Ende der Auffahrt traten wir in einen Hof. Aus dem Brunnen in seiner Mitte stieg, von einem pausbäckigen Engel nach oben gerichtet, eine Fontäne auf. Der Hof war auf drei Seiten von einem Säulengang mit einer halbhohen Mauer umschlossen; Körbe in den Bögen und Gipskrüge am Fuß jeder Säule flossen über von rotem Hibiskus. In der Galerie konnte ich mit Schnitzereien verzierte Türen erkennen, die ins Innere des Hauses führten, und in der Mitte der Hofseite, die dem Torbogen gegenüber lag, wurde die Galerie von einer Steintreppe mit Balustrade durchbrochen, an deren Ende schwere hölzerne Türflügel sich der milden Abendluft öffneten. Hier war alles Ruhe und Frieden, nur unterbrochen – oder vielmehr zur Vollkommenheit ergänzt – durch das Plätschern der Fontäne, das Summen einer verspäteten Biene, das Zirpen einer frühen Zikade.
»Es ist wunderbar hier, Alec«, sagte ich. »So warm und friedlich.«
»Ich habe mir schon gedacht, daß es dir gefallen wird«, meinte Alec. »Schauen wir mal, wo Leo ist.« Er schlenderte auf die Treppe zu.
Ich blieb beim Brunnen zurück, um die Stimmung auf mich wirken zu lassen. Mein Blick fiel auf die Firstziegel, die den Giebel überragten und zu Drachenköpfen ausgeformt waren. Ich betrachtete bewundernd die Handwerkskunst, als ich hinter mir eine Stimme vernahm.
»Die Ausschmückung der Ziegel ist eine Spezialität auf Madeira.«
Die beim Sprechen gekappten Vokale machten eine Vorstellung überflüssig. Das war Leo Sellick, ein kleiner, drahtiger Mann, der älter aussah, als ich gedacht hätte, ein braungebranntes, von scharfen Falten gezeichnetes Gesicht, das Haar so weiß wie das Hemd, das er trug, ein dünner, grauer Schnurrbart, durchdringende blaue Augen und ein aufblitzendes Lächeln, das das Gold durchschimmern ließ. Wir begrüßten uns, wobei Sellicks Händedruck sein Alter Lügen strafte.
»Da wären wir, Leo«, sagte Alec, der kehrtgemacht hatte, von hinten. »Das ist Martin Radford.«
»Gewiß, gewiß«, sagte der alte Herr und schüttelte weiter meine Hand. »Ganz herzlich willkommen, Mr. Radford. Alec hat mir alles über sie erzählt, und ich freue mich wirklich, Sie kennenzulernen. Ich bin sicher, daß Ihnen meine Drachen gefallen. Ich selbst mag sie außerordentlich.«
Ich versicherte ihm, daß ich sie bewunderte wie auch sonst alles, was ich vom Haus bereits gesehen hatte, und warf dabei Alec einen fragenden Blick zu, um herauszufinden, was er über mich gesagt haben mochte. Er hatte sich aber bereits lächelnd Sellick zugewandt, um sich zu erkundigen, wie es der Quinta während des Sturms ergangen sei. Der Ton, in dem er die Frage stellte, war für meinen Geschmack etwas zu unterwürfig.
»Mr. Radford interessiert sich sicher nicht dafür, was meine Weinberge machen, Alec, und Sie auch nicht«, sagte Sellick mit entwaffnender Direktheit. »Kommen Sie herein, und lassen Sie sich einen Abendtrunk anbieten. Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen.«
Langsam gingen wir die Stufen zur kühlen Eingangshalle des Hauses hinauf und betraten dann einen großzügigen, luftigen Wohnraum, üppig möbliert in prächtigem, braunem Leder, dunklem Mahagoni und mit dicken Teppichen zu unseren Füßen. Vor dem großen Kamin mit gemauertem Sims lag ein vollständiges Leopardenfell. In der Feuerstelle lagen die Holzscheite bereit. Der große Ventilator an der Decke war nicht in Betrieb. Die zahlreichen Bilder und Fotografien an den Wänden, die Blumen in den Vasen und Töpfen und mehrere gutgefüllte Bücherregale vermittelten den Eindruck von Ruhe und Gelassenheit. Eine Terrassentür in der gegenüberliegenden Wand führte über eine Veranda in den Garten. Sellick ging zu einem Glasschrank hinüber und schenkte uns ein.
»Bitte, Mr. Radford«, sagte er und reichte mir einen großen kühlen Gin.
»Danke«, sagte ich, »nennen Sie mich doch bitte Martin.«
»Mit Vergnügen, das heißt, wenn Sie das Kompliment erwidern und einen zahnlosen alten Löwen mit Leo anreden wollen.« Ich lächelte: Weder in Wirklichkeit noch bildlich gesprochen war er zahnlos, aber dieser aufrechte und liebenswürdige alte Herr hatte etwas Löwenhaftes an sich. Er war kleiner als ich, aber ging gerader, mit einer Kopfhaltung und einem prüfenden Ausdruck in den Augen, die verrieten, daß er gewohnt war zu befehlen. Durch all seine englische Umgänglichkeit schien eine gewisse stählerne Härte durch, die mich nicht daran zweifeln ließ, wer den Leoparden geschossen hatte.
Er machte den Vorschlag, mit den Drinks auf die Veranda zu gehen, solange das Tageslicht dazu noch reichte – Madeiras kurze Dämmerung hatte gerade eingesetzt –, und wir folgten ihm zufrieden, ließen uns in den niedrigen Korbstühlen nieder und hatten den gepflegten Garten in seiner ganzen Ausdehnung vor unseren Augen. Kleine, gewundene Steintreppen führten von der Veranda zwischen blühenden Oleanderbüschen hindurch auf einen terrassenförmig angelegten Rasenplatz, wo neben einer Sonnenuhr eine Bank aufgestellt war. Jenseits davon wurde ein niedriger Zaun von Bougainvillea überwuchert, und eine kleine Pforte gab den Weg frei zu weiteren Stufen und, soweit man das sehen konnte, zu einem Küchengarten. In einem Gemüsebeet ganz hinten war eine Gestalt mit einer Hacke zu erkennen. Von dort aus fiel das Gelände rasch zur Straße und zum Talboden hin ab. Uns gegenüber erhob sich die andere Talseite, mit verstreuten gelben Flecken von Stechginster, die im Abendlicht zu staubigem Gold verblaßten. In noch größerer Ferne zeichnete sich am Horizont verschwommen die Linie ab, wo das tiefer werdende Blau des Himmels mit dem noch dunkleren Meerblau zusammentraf.
»Sie haben ein wunderschönes Haus, Leo«, sagte ich.
»Danke«, antwortete er. »Madeira wird zu Recht als der schwimmende Garten des Atlantiks bezeichnet, und inmitten all der Schönheiten meiner Heimat habe ich nie diese heitere Ruhe gefunden.« Er lächelte. »Hier kann man wirklich die Welt vergessen und sein Kräutergärtlein pflegen.«
Alec grinste. »Das ist metaphorisch gesprochen, Martin. Leo hat seine Angestellten, die ihm das Gemüse ziehen.«
»Das stimmt, aber ich nehme regen Anteil daran, vor allem, wenn es auf meinem Teller landet, was hoffentlich bald der Fall sein wird. Wenn Sie mich bitte entschuldigen, damit ich mich darum kümmern kann.« Er stand auf und wandte sich an mich. »Wenn Sie sich vor dem Essen noch ein wenig frisch machen möchten, Martin, kann Alec Ihnen den Weg zeigen.« Er nickte uns zu und verließ das Zimmer.
»Nun, was sagst du?« fragte Alec nach einer Pause.
»Der perfekte Gastgeber«, sagte ich. »Und wahrscheinlich der perfekte Mäzen.«
»Aber etwas paradox ist es schon auch, oder?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, daß es nun so weit gekommen ist, daß ich für koloniale Engländer schreibe und einem reichen Südafrikaner Geld schulde – gerade den Leuten, mit denen ich früher nicht einmal das Grab hätte teilen wollen.« Ich hatte den Eindruck, Alec hatte die Ironie seiner Lage selbst zur Sprache bringen wollen, ehe der Freund aus gemeinsamer linker Studentenzeit den Finger auf den wunden Punkt legen konnte.
»Das würde mich an deiner Stelle nicht weiter stören, Alec. Wir haben uns alle geändert und gelernt, das Leben so zu nehmen, wie es ist. Warum sollte man nicht das Beste daraus machen?« Aus mir sprachen Erschöpfung und Gin – ein solcher Rat wäre für mich passender gewesen als für Alec. Wenigstens vermied ich so auch die leiseste Andeutung von Neid.
»Nun ja – jedenfalls können wir das Beste aus diesem Abendessen machen«, erwiderte er. »Komm mit, ich zeige dir das Bad.«
Nachdem ich mich gewaschen hatte, ging ich in den Salon zurück, wo Alec gerade dabei war, die Terrassentür zu schließen; inzwischen war die Nacht hereingebrochen. »Gehen wir hinüber«, sagte er und führte mich durch die Eingangshalle und eine gegenüberliegende Tür in den Speisesaal.
Ein großer, ovaler Tisch war dort für drei Personen gedeckt. Die Läden waren geschlossen, und die einzige Beleuchtung kam von einem Kandelaber in der Mitte des Tischs. Sein Licht spiegelte sich im Silberbesteck und den hohen, schlanken Kristallgläsern. Die frisch geschnittenen Orchideen in den Vasen an beiden Tischenden wurden mit ihren strahlend roten und weißen Blüten durch die weiße Damasttischdecke hervorragend zur Geltung gebracht.
»Leo hat sich viel Mühe gegeben«, sagte Alec. »Du müßtest dich geehrt fühlen.«
Das war auch der Fall, und um mich ein wenig nützlich zu machen, nahm ich einen Anzünder und ging damit zu einem Kabinettschränkchen an der Wand hinüber, auf dem drei Kerzen standen. Ihr Licht erhellte die Wand darüber und fiel auf eine verblaßte, bräunliche Fotografie in unauffälligem Rahmen, aber an prominenter Stelle inmitten mehrerer größerer Bilder. Irgend etwas daran kam mir bekannt vor, so daß ich genauer hinschaute. Es war tatsächlich, was ich vermutet hatte: das traditionelle Gruppenbild von etwa zwanzig Männern, die teils saßen, teils standen. Es war mir vertraut, weil ich es schon zuvor in Geschichtsbüchern gesehen hatte, in denen die Regierungszeit Eduards VII. behandelt wurde. Diese Epoche war während des Studiums nicht gerade mein Spezialgebiet gewesen, aber in meiner Zeit als Geschichtslehrer hatte ich mir einige Kenntnisse angeeignet, und ich konnte das Gruppenporträt ohne Mühe als eine Aufnahme von Asquiths Kabinett identifizieren, etwa um 1910 entstanden. Der Premierminister saß in der vorderen Reihe in der Mitte, flankiert von den besten liberalen Politikern der Partei in der Blütezeit vor dem Krieg. Lloyd George, der neben Asquiths undefinierbarer Onkelhaftigkeit wachsame Dynamik ausstrahlte, hatte einen so zentralen Platz, daß er vermutlich zu diesem Zeitpunkt Schatzkanzler gewesen war. Etwas nachdenklich im Hintergrund stand der junge Churchill, dessen Kinn schon damals an eine Bulldogge erinnerte. Ohne die Hilfe einer Bildunterschrift gelang es mir nicht, den übrigen Herren im Gehrock Namen zuzuordnen, aber es handelte sich um eine historische Aufnahme, die ich mit wachsender Neugier studierte. Es schien merkwürdig, sie ausgerechnet hier und jetzt vorzufinden, und ich machte eine entsprechende Bemerkung zu Alec.
Bevor ich den Gedanken weiterverfolgen konnte, kam Sellick, der eine Samtjacke angezogen hatte, herein und bat uns zu Tisch. Ein einheimischer Angestellter, ein gebeugt gehender alter Mann, brachte eine Karaffe mit Weißwein und rollte dann einen Teewagen an den Tisch, auf dem der erste Gang stand.
Alec und ich waren nach dem Fußmarsch hungrig: Wir aßen und tranken mit großem Vergnügen, während Sellick nur kleine Happen nahm und an seinem Glas nippte, wobei er unsere Freude am Essen ebenso genoß wie das Essen selbst. Es war alles köstlich: in Scheiben geschnittener Schwertfisch in einer verlockenden Gurkensoße; ein Rindfleischspieß mit Lorbeerblättern und ausgesuchten Gemüsen, die von den erwähnten Gemüsebeeten stammten; wunderbarer, goldfarbener Pudim und ein cremiger weißer Ziegenkäse. Von einem weichen, rubinroten Dão gingen wir erst zu Kaffee und dann zu einem schweren Likör über.
»Macia«, erklärte Sellick, »ist eine Spezialität von Camacha: ein feuriger Aguardente, der mit einheimischem Honig abgemildert wird.«
»Wenn wir gerade von den hiesigen Spezialitäten sprechen«, sagte ich, »ich habe einen Blick in Alecs Artikel über den 1792er Madeira geworfen. Gibt es diesen Jahrgang nun wirklich noch?«
Sellick lächelte. »Wer weiß? Es wird berichtet, Dr. Grabham, ein hier ansässiger Engländer, sei noch 1933 im Besitz einiger Flaschen gewesen – und habe ihn auch getrunken. Er hatte in die Familie Blandy eingeheiratet und so als Mitgift eine Partie des Jahrgangs erworben. Höchstwahrscheinlich ging mit seinem Tod auch der letzte Rest dahin.«
»Wie bedauerlich«, sagte ich.
»Und doch auch beruhigend«, erwiderte Sellick, »in dem Sinn, daß solche Themen – Was ist aus einem alten Weinkeller geworden? – die Geschichte dieser kleinen Insel ausmachen. Für Alec ist das vielleicht bei seinen Nachforschungen frustrierend, für einen Historiker wie Sie vielleicht ebenso enttäuschend, aber für einen Südafrikaner ist es tröstlich zu wissen, daß er auf einer Insel lebt, deren Vergangenheit nicht eine Geschichte des Unfriedens und der Gewalt ist.«
»Die Geschichte Madeiras wirkt nicht enttäuschend auf mich«, sagte ich. »Mir erscheint sie faszinierend – so viele Emigranten und Romantiker.«
»Gewiß, jene Fußnoten der Geschichte, die oft ebenso interessant sind wie das eigentliche Thema. Aber das ist vielleicht eine etwas altmodische Auffassung.«
»Ich bin da anderer Meinung. Ich glaube, die Geschichtsschreibung sollte nicht so ... kopflastig sein. Es geht schließlich um Menschen – bedeutende und weniger bedeutende – und um ihr Wirken. Wenn die Geschichte so akademisch wird, daß sie die Menschen nicht mehr erfaßt, dann hat sie ihr Ziel verfehlt.«
Sellick nickte. »Ausgezeichnet. Sie sind ganz offenbar ein Mann nach meinem Herzen. Ich habe schon lange den Verdacht, daß in der Mehrzahl der Fälle die Wissenschaft nur der Karriere des Wissenschaftlers dienen soll und nicht dazu, das entsprechende Forschungsgebiet auszuleuchten.«
»Ja, das ist zwangsläufig der Fall«, stimmte ich ihm zu. »Nur Wissenschaftler, die so gut wie gar keinen Ehrgeiz haben, können es umgekehrt sehen, und sie, wie ich zum Beispiel, hätten nicht die Energie oder die Gelegenheit, ihre Forschungen zu betreiben.«
»Unter gar keinen Umständen?«
»Wohl kaum. Die Geschichte läßt für Neues keinen Platz mehr. Man weiß alles und versteht es – oder mißversteht es. Heutzutage schreiben die Historiker nicht mehr, sie sichten nur noch die Archive, um an bestehenden Theorien zu feilen.« Ein gekränkter Unterton, weil ich persönlich die höheren Weihen des akademischen Historikers nicht empfangen hatte, drang hier durch. Ich hatte das Gefühl, ich würde meine Offenheit noch bedauern, konnte aber nichts dagegen tun. Außerdem war es so, daß ich sie – viel später – in der Tat noch bedauern sollte, das alles überhaupt bedauern sollte, aber nicht aus diesem Grund. Ich hatte noch ein anderes Gefühl, über das ich mich bewußt hinwegsetzte – daß ich nämlich gelenkt wurde, ohne Eile, aber zielbewußt; ich hätte nicht sagen können, wohin, aber es ging in eine ganz bestimmte Richtung.
»Wenn sich nun aber etwas Neues oder Geheimnisvolles ergäbe«, sagte Sellick, »fiele denn dann dieser Einwand nicht weg?«
»Das könnte Energien freisetzen, aber woher käme die Gelegenheit?«
»Die würde sich gewiß ergeben, wenn das Geheimnis faszinierend genug wäre.«
»Vielleicht, aber die Hypothese beruht auf der Annahme, daß ein solches Geheimnis existiert. Und ich würde behaupten, daß die Wissenschaft alle noch bestehenden Geheimnisse vor langer Zeit gelöst hat.«
»Ganz sicher nicht. Sie haben selbst gesagt, die Geschichte befasse sich mit Menschen. Bedenken Sie die Tausenden von Namen, die in den Geschichtsbüchern verzeichnet sind, ohne die Millionen zu berücksichtigen, die man dort nicht findet. Dahinter müssen sich noch Geheimnisse in Hülle und Fülle verbergen.«
»Ja, aber diese Geheimnisse gibt es nur deswegen noch, weil es niemand der Mühe wert fand, sie aufzudecken.«
»Und was würde die Mühe lohnen?«
»Wenn das Geheimnis zum Beispiel einen bedeutenden Menschen beträfe oder wenn wir durch die Aufdeckung zu einem anderen Bild von diesem Menschen oder von seiner Epoche kämen.«
»Und wo könnte sich ein solches Geheimnis noch finden?«
»Ja eben, wo?« Ich hatte diese Frage rein rhetorisch gemeint, und das Schweigen, das darauf folgte, schien zu bestätigen, daß unser Ausflug in das Reich der Spekulation nun beendet war. Aber während der Rauch von Sellicks Zigarre träge zur Decke stieg, wurde deutlich, daß unser geistiger Höhenflug noch weitergehen sollte.
»Was wäre denn, Martin«, sagte Sellick und lächelte, »wenn es sich hier fände? Hier, in diesem Haus, wo wir sitzen und essen und trinken.«
Was für ein Geheimnis sollte das sein? Ich versuchte, eine Antwort zu finden, aber es gab keine. Ich war fremd hier, so daß alles neu für mich war, aber kaum geheimnisvoll. Ich erinnerte mich der gerahmten Fotografie von Asquiths Kabinett: Sie war das Merkwürdigste, was mir hier bislang unter die Augen gekommen war, und unwillkürlich warf ich einen Blick auf die Stelle an der Wand, wo sie hing. Sellick, der mit dem Rücken dazu saß, mußte erraten haben, wohin ich blickte, denn er sagte:
»Diese Fotografie ist Teil unseres kleinen Geheimnisses hier. Wissen Sie als Historiker, um was es sich handelt, Martin?«
Die Gelegenheit, mein Fachwissen auszubreiten, reizte mich.
»Ja«, sagte ich, »ich habe das Bild vor dem Essen gesehen. Es ist eine Gruppenaufnahme von Asquiths Kabinett. Ich kenne es aus Reproduktionen, hatte aber noch nie einen zeitgenössischen Abzug gesehen.«
»Und können Sie alle Personen auf dem Bild identifizieren?«
»Nicht ohne weiteres. Asquith selbst, Lloyd George und Churchill sind leicht zu erkennen. Was die anderen betrifft, so ist es schwer, den Gesichtern die Namen zuzuordnen.«
»Das ist auch nicht nötig; diese Arbeit hat man uns abgenommen. Alec, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das Bild herunterzureichen?«
Alec stand auf und nahm das Bild von der Wand. Er gab es Sellick, der es wendete und mir die Rückseite im Kerzenlicht zeigte. Es stand ein Datum dort, in einer feinen, gestochenen Handschrift: 1. Mai 1908, und es war unterstrichen. Darunter befand sich eine in zwei Gruppen eingeteilte Liste von Namen, die, wie ich feststellte, Kabinettsmitgliedern gehörten. Aus der jeweiligen Position der drei von mir bisher identifizierten Personen konnte ich schließen, daß die beiden Namensgruppen die vordere bzw. hintere Reihe von Personen repräsentierten. Ich erinnerte mich, daß Campbell-Bannerman, Asquiths Vorgänger als Premierminister, irgendwann 1908 gestorben war, und nahm daher an, daß es sich bei der Fotografie um eine Aufnahme anläßlich der Amtsübernahme durch Asquith handelte. Ich überflog die Namen der ersten Reihe – der Marquis von Crewe, D. Lloyd George, der Marquis von Ripon, Lord Loreburn, H. H. Asquith, Lord Tweedmouth, Sir Edward Grey – und stieß auf etwas Merkwürdiges. Zwischen Grey und R. B. Haldane war kein Name vermerkt, bloß der Buchstabe I oder vielleicht auch die Zahl 1. Ich wies Sellick darauf hin. »Was hat das zu bedeuten?« fragte ich.
»Es ist doch in der ersten Reihe, nicht wahr?« antwortete er. Ich bestätigte das. »Wie viele Personen sind denn dort?« Ich zählte die Gesichter auf der Fotografie – es waren neun. »Und wie viele Namen werden genannt?« Ich zählte noch einmal – nur acht.
»Ja natürlich«, sagte ich. »Es ist das englische Fürwort ›I‹, ›ich‹. Dann hat dies also ein Kabinettsmitglied geschrieben – und besessen?«
»So ist es.«
Ich nahm mir die Fotografie wieder vor und konzentrierte mich auf das nicht identifizierte Gesicht zwischen Grey und Haldane. Ein großer, breitschultriger Mann, gutaussehend, mit einer Andeutung von Arroganz in seinen Zügen, die durch einen eleganten Schnurrbart und ein energisches Kinn zur Geltung gebracht wurde. Der Mann war jünger als die meisten seiner Kollegen im Bild, aber er trug den gleichen nüchternen Stresemann und verstand es dennoch, Unternehmungsgeist und Initiative auszustrahlen. Ich ließ meinen Blick zurückgleiten zu Lloyd George – dem jüngeren und stämmigeren der beiden –, um festzustellen, daß diesen beiden eine Haltung, die viel Elan verspüren ließ, und ein wacher Blick gemein war, wodurch sie sich von den meisten anderen – im Amt ergrauten Veteranen aus Gladstones Tagen – unterschieden. Das war ungefähr alles, was ich bei Kerzenlicht auf einer vergilbten Fotografie erkennen konnte, aber es ärgerte mich, daß mir gerade zu diesem Gesicht der Name nicht einfallen wollte. In der Hoffnung, bei Sellick Hilfe zu finden, sah ich ihn an und wurde nicht enttäuscht.
»Wer ist dieser geheimnisvolle Mann, Martin? Ein vielversprechender Jungtürke, der zum ersten Mal die Macht schmecken darf?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Es handelt sich nicht gerade um mein Spezialgebiet. Welchen Posten hatte er?«
»Er war Asquiths neuer Mann im Innenministerium«, gab Sellick augenzwinkernd zur Antwort. Hätte ich mich nicht so völlig vom Problem der Identifizierung gefangennehmen lassen, dann wäre mir aufgefallen, wie vertraut er mit der politischen Lage dieser Epoche war; vielleicht hätte ich dann daraus geschlossen, daß Sellick entweder als Historiker versierter war, als er bisher zu erkennen gegeben hatte, oder daß er nicht so unbeteiligt an unserem Thema war, wie sein Verhalten vermuten ließ. Statt dessen war ich damit beschäftigt, die Namen der Politiker jener Zeit vor meinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen.
»Asquiths Innenminister war doch wohl Herbert Gladstone, Sohn von W. E. Gladstone«, wagte ich zu bemerken. »Und auf ihn folgte Churchill ... Halt! Nein, das stimmt nicht. Hat Asquith Gladstone nicht als Generalgouverneur irgendwohin abgeschoben, als er sein Amt antrat?«
»Ganz richtig«, sagte Sellick. »Nach Kanada, um es genau zu sagen. Und er machte damit Platz für wen?«
Ich hatte endlich die Lösung, und das war auch gut so, denn Sellicks Lächeln wirkte um die Mundwinkel herum schon leicht angestrengt.
»Einen Mann namens Strafford. Aber das ist auch buchstäblich alles, was ich von ihm weiß – ein paar Jahre im Amt, dann nichts mehr –, eine kaum bekannte Persönlichkeit, an die man sich unter so vielen berühmten Namen nur schwer erinnert.«
»Wahrhaftig kaum bekannt«, sagte Sellick, »aber keineswegs zu seiner Zeit. Und für Menschen wie uns, die wir hier in seinem Haus leben, auch nicht so leicht zu vergessen.«
»Das hier ist sein Haus?«
»Es hat ihm gehört. Edwin Strafford zog sich aus England hierhin zurück und starb 1951. Ich habe das Haus nach seinem Tod ersteigert und dann mein Herz daran verloren. Ich begann dann, alles zu sichten, was er hier hinterlassen hatte, und bin dabei auf viele interessante Kuriositäten gestoßen, wie zum Beispiel diese Fotografie. Als mir klar wurde, daß Strafford dem englischen Kabinett angehört hatte – was hier niemand wußte oder jedenfalls mir erzählt hatte –, suchte ich mir alles Wissenswerte über ihn aus den Geschichtsbüchern zusammen. Das war äußerst mager, aber aus den wenigen Bruchstücken, die ich fand, setzt sich unser kleines Geheimnis zusammen.«
In mir war nun die Neugier des Historikers geweckt. Es überraschte mich nicht, daß ich über das Leben eines solchen Mannes nichts wußte, aber die Gelegenheit, unter so unwahrscheinlichen Umständen etwas über ihn zu erfahren, wollte ich mir nicht entgehen lassen.
»Und worin besteht das Geheimnis?« fragte ich. Wir waren beim eigentlichen Thema angelangt.
»Sie müssen Martin erlösen, Leo«, sagte Alec, um mir beizuspringen. »Sie brennen doch selber darauf.«
»Nun gut«, sagte Sellick. »Sie müssen mir hinterher sagen, Martin, ob Sie die Angelegenheit als Historiker interessiert. Mich fesselt die menschliche Seite.« Er machte eine Pause, um einen Schluck Kaffee zu trinken; dann begann er zu erzählen.
»Wie ich schon sagte, in den Geschichtsbüchern findet man wenig über Edwin Strafford. Der ›Dictionary of National Biography‹ widmet ihm weniger als eine Spalte. Er wurde 1876 als Sohn eines Offiziers der britischen Indien-Armee geboren. Er besuchte die Universität Cambridge, dann ging er für kurze Zeit nach Südafrika, als untergeordneter Stabsoffizier im Burenkrieg. Er kehrte nach England zurück und war bei der Wahl im Jahr 1900 Kandidat der Liberalen in seinem heimatlichen Wahlkreis in Devon; er eroberte den Sitz gegen den landesweiten Trend. Er machte dann langsam, aber stetig in der Partei Karriere und wurde Juniorminister, als die Liberalen 1905 an die Macht kamen. Als Asquith 1908 Premierminister wurde, bildete er sein Kabinett um und ernannte Strafford im Alter von 32 Jahren zum Innenminister. Der Aufstieg war erstaunlich, aber von kurzer Dauer. Zwei Jahre später trat Strafford ohne Angabe von Gründen zurück und verschwand praktisch über Nacht – jedenfalls aus dem öffentlichen Leben. Er gab seinen Sitz im Parlament auf und zog sich ins Privatleben zurück – wo man ihn übrigens auch alsbald völlig vergaß. Während der gesamten Dauer des Ersten Weltkriegs diente er in der Armee, um anschließend den Posten als britischer Konsul hier auf Madeira zu übernehmen. Das Haus und die Quinta erwarb er später. 1946 trat er von seinem Posten ab und starb fünf Jahre darauf. Ende der Geschichte.«
Sellick legte eine wirkungsvolle Pause ein.
»Anfang des Geheimnisses«, warf Alec ein.
»Das ist richtig«, nahm Sellick den Faden wieder auf. »Das Wenige, was ich aus den Geschichtsbüchern über Strafford zusammengebracht hatte, war nicht eigentlich enttäuschend, vielmehr völlig unbefriedigend. Wie konnte ein Mann so schnell nach oben kommen – anscheinend aufgrund seiner Verdienste –, dann einfach spurlos in der Versenkung verschwinden, und das auch noch ohne erkennbaren Grund? Skandale und persönliches Versagen in der Politik sind nichts Neues, aber Strafford ist ganz frei von einem solchen Makel. Wo seine Tätigkeit in der zweijährigen Amtszeit Erwähnung findet – und das waren schwierige, unruhige Jahre zur Zeit der Suffragetten- und Gewerkschaftsbewegung –, da sind die Kommentare im schlechtesten Fall neutral und manchmal positiv. Es ist, als ob Churchill oder Lloyd George – die derselben Generation angehören und auch durch Asquith gefördert wurden – plötzlich 1910 zurückgetreten wären, bevor sie als Führer ihres Landes in Kriegszeiten Ruhm erwarben. Würde uns das nicht überaus merkwürdig vorkommen?«
»In ihrem Fall würde es nachträglich so aussehen«, erwiderte ich. »Aber wer wollte sagen, was Strafford erreicht oder auch nicht erreicht hätte, wäre er nicht zurückgetreten?«
»Das ist es eben«, sagte Sellick. »Niemand kann das sagen. Es ist ein Geheimnis. Und das eigentliche Geheimnis ist die Frage, warum ein talentierter, ehrgeiziger Mann auf der Höhe seiner Karriere sich dafür entschieden hat, nichts zu bewirken, wenn er soviel hätte bewirken können.«
»Vielleicht hat er einfach das Interesse an der Politik verloren«, gab ich zu bedenken. »Oder er stellte fest, daß ihm das Rampenlicht der Öffentlichkeit nicht zusagte. So etwas kam vor!«
»Wahr, sehr wahr«, gab Sellick gewichtig zur Antwort. »Das dachte ich auch – ein Enfant terrible, eine Persönlichkeit, die aus irgendeinem banalen Grund ausgebrannt war. Ein Jammer, so schien es.«
Sellick stand auf und brachte das Bild an seinen Platz zurück. Er tat es mit ehrfürchtiger Sorgsamkeit, während ich über die Vergangenheitsform in seiner letzten Äußerung nachdachte und auf die nächste wartete.
»So schien es, aber so war es nicht«, fuhr Sellick fort, indem er sich wieder setzte. »Es stellte sich heraus, daß ich mit meiner Sucherei in den Nachschlagewerken nur Zeit vertan hatte. Ich hatte nicht gesehen, was dieses Bild mir hätte sagen sollen, daß die Antwort nämlich – mochte sie auch unvollständig sein – die ganze Zeit über hier auf mich gewartet hatte.
In Straffords ehemaligem Arbeitszimmer steht ein schöner alter Schreibtisch – Sie werden ihn dann, am besten erst bei Tageslicht, noch zu sehen bekommen. Als ich ihn ausräumte, fand ich in einer der Schubladen einen großen, schön gebundenen Band, dessen Seiten bis auf einen kleinen Rest in eben jener Handschrift geschrieben waren, die auch auf der Rückseite der Fotografie zu sehen ist.«
»Und worum handelte es sich?«
»Um Straffords Lebenserinnerungen, die er hier im Ruhestand niederschrieb. Es sind ganz persönliche Aussagen, wie es dazu kam, daß man ihn auf einen so entlegenen Posten im diplomatischen Dienst abschob.«
»Wird dadurch das Geheimnis aufgeklärt?«
»Ganz im Gegenteil. Die Sache wird noch mysteriöser, denn Strafford erklärt sie nicht – kann sie nicht erklären. Er gibt die Umstände seiner Verbannung wieder, aber er stand vor demselben Rätsel wie ich noch heute.«
»Das klingt sehr ungewöhnlich.«
»Und zwar egal, wie man es betrachtet.«
»Darf ich die Memoiren einmal anschauen?«
»Gewiß. Ich werde Sie Ihnen gleich bringen. Darf ich vorschlagen, daß wir die Gelegenheit nutzen, um in den Salon zu gehen?«
Wir widersprachen nicht. Unser Gastgeber führte uns durch die Eingangshalle in den Salon zurück, der inzwischen für uns bereits erleuchtet war. Sellick verließ den Raum durch eine andere Tür, nachdem er Alec gebeten hatte, mir etwas zu trinken anzubieten, während er die Memoiren holte.
Alec schenkte mir noch einen Macia ein. »Interessiert dich das?« fragte er.
»Sehr. Man bekommt nicht jeden Tag ein solches Originaldokument zu sehen.«
»Da spricht der echte Historiker.«
»Hast du sie schon gesehen?«
»Ja, aber nicht gelesen. Leo war in dieser Sache bis jetzt noch nie so entgegenkommend. Vielleicht glaubt er, in dir jemand gefunden zu haben, der sie zu würdigen weiß.«