Das Geheimnis von Malborough Downs - Robert Goddard - E-Book
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Das Geheimnis von Malborough Downs E-Book

Robert Goddard

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Beschreibung

Ein Geheimnis, das um jeden Preis gewahrt werden muss: Der düstere Kriminalroman »Das Geheimnis von Malborough Downs« von Robert Goddard als eBook bei dotbooks. Es ist ein lauer Sommertag in den idyllischen Malborough Downs, als die kleine Tamsin und ihre Nanny beim Picknick zusammensitzen. Aus dem Nichts rast ein dunkler Van heran, vermummte Männer packen das kleine Mädchen und verschwinden so schnell, wie sie erschienen sind. Doch es gibt keine Lösegeldforderung, die Tat wird nie aufgeklärt, Tamsin bleibt verschwunden. Zwanzig Jahre später meldet sich ein Unbekannter bei dem mittlerweile pensionierten Chief Inspector George Sharp und beschuldigt ihn, damals versagt zu haben: Ausgerechnet in dem Fall, der ihn nie losgelassen hat. Verstört von den Geistern der Vergangenheit beginnt er erneut nachzuforschen – und findet tatsächlich eine Spur. Doch erst als es fast zu spät ist, begreift der alte Ermittler, dass manche Geheimnisse besser ungelöst bleiben … »So gut wie Hitchcock – und genauso gefährlich!« NDR Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Krimi »Das Geheimnis von Malborough Downs« von Robert Goddard, dem Meister britischer Spannungsromane. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 504

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Über dieses Buch:

Es ist ein lauer Sommertag, als die kleine Tamsin und ihre Nanny beim Picknick zusammensitzen. Aus dem Nichts rast ein dunkler Van heran, vermummte Männer packen das kleine Mädchen und verschwinden so schnell, wie sie erschienen sind. Doch es gibt keine Lösegeldforderung, die Tat wird nie aufgeklärt, Tamsin bleibt verschwunden. Zwanzig Jahre später meldet sich ein Unbekannter bei dem mittlerweile pensionierten Chief Inspector George Sharp und beschuldigt ihn, damals versagt zu haben: Ausgerechnet in dem Fall, der ihn nie losgelassen hat. Verstört von den Geistern der Vergangenheit beginnt er erneut nachzuforschen – und findet tatsächlich eine Spur. Doch erst als es fast zu spät ist, begreift der alte Ermittler, dass manche Geheimnisse besser ungelöst bleiben …

Über den Autor:

Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane:»Im Netz der Lügen«»Der Preis des Verrats«»Eine tödliche Sünde«»Ein dunkler Schatten«»Denn ewig währt die Schuld«»Das Geheimnis von Trennor Manor«»Das Geheimnis der Lady Paxton«»Das Haus der dunklen Träume«

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane:»Die Sünden unserer Väter«»Die Schatten der Toten«»Jäger und Gejagte«»Die Klage der Toten«»Der Kartograf von London«

Robert Goddard veröffentlichte außerdem bei dotbooks seine drei Kriminalromane mit dem Ermittler Harry Barnett:»Dunkles Blut«»Dunkles Sonne«»Dunkle Erinnerung«

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Februar 2020

Copyright © der englischen Originalausgabe 2005 Robert & Vaunda Goddard

Die englische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Sight Unseen« bei Bantam Press, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2005 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shuttersttock/Production Perin

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96148-990-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Robert Goddard

Und Friede den Toten

Roman

Aus dem Englischen von Peter Pfaffinger

dotbooks.

Für die

echte Claire Wheatley

Prolog

Es beginnt Ende Juli in Avebury. Der Sommer, der bis dahin kühl und feucht gewesen war, ist über Nacht warm und trocken geworden. Die Kalksteinhügel der Marlborough Downs flimmern im Dunst der ungewohnten Hitze. Feldlerchen singen in der windstillen Luft über den mit Schafen übersäten Weiden. Unerbittlich brennt die hoch am Himmel stehende Sonne herab. Und die Steine, verwittert und mit Moosflechten überwachsen, stehen seit fast fünftausend Jahren Wache.

Es beginnt also an einem Ort, dessen Ursprünge und Zwecke im Altertum verborgen liegen. Warum vorgeschichtliche Erbauer von megalithischen Anlagen so viel Zeit und Mühe darauf verwendet haben, hier bei Avebury einen von Wällen umgebenen, gewaltigen Steinkreis zu errichten und weniger als eine Meile davon entfernt den künstlichen Hügel von Silbury aufzuschütten, ist unergründet und unergründlich.

Es beginnt deshalb in einer Landschaft, in der das Unerklärte und das Unerklärliche schweigsam dicht nebeneinander liegen, in der von Menschen gemachte Wegweiser einer entfernten Vergangenheit über eine fest gefügte, wohl geordnete Welt spotten, die nichts als eine flackernde, schnell vergehende Gegenwart ist.

Angelsächsische Siedler haben Avebury vor eineinhalb Jahrtausenden seinen heutigen Namen gegeben. Im Schutz seines Grabens und des Erdwalls gründeten sie ein Dorf. Während im Laufe der Jahrhunderte das Dorf wuchs, wurden viele dieser Steine weggeschafft oder eingegraben. Später verwendete man sie als Material zum Bau von Häusern – und den Graben als Müllhalde. Was vom Steinkreis übrig blieb, verwitterte.

Dann trat in den 1930er Jahren der Marmeladenmillionär und Hobbyarchäologe Alexander Keiller auf den Plan. Er kaufte das halbe Dorf, riss es nieder, barg die alten Steine, säuberte den Graben und restaurierte den Kreis. Das Rad der Zeit wurde zurückgedreht. Nun übernahm die Denkmalschutzbehörde, der National Trust, das Gelände. Der Steinkreis erlebte eine neuerliche Blüte – als historische Stätte und als ungelöstes Rätsel.

Inzwischen ist es fast vierzig Jahre her, dass der National Trust von Keiller die Rechte auf die Anlage in Avebury erwarb. Der restaurierte Kreis glüht, von niemandem behelligt, in der Hitze eines Sommertags. Ein Turmfalke, der sich von der Luftströmung in die Höhe tragen ließ, genießt einen perfekten Blick auf den rundum von einem Wall eingefassten Steinkreis, den Baumeister späterer Generationen gevierteilt haben. Die High Street des Teils des Dorfes, der überlebt hat, führt in west-östlicher Richtung durch den Kreis, wo sie in der Nähe des Mittelpunkts die Straße von Swindon nach Devize quert. Östlich dieser Kreuzung lassen sich am Fehlen der Gebäude die Folgen von Keillers Abbruchsarbeiten deutlich erkennen. Die Green Street macht inzwischen ihrem Namen alle Ehre. Sie führt aus dem Kreis hinaus zum noch bestehenden Teil des Dorfes und weiter zu den Hügeln dahinter, wo sie sich nach und nach verliert.

Auf einem Zickzackkurs zieht sich die Hauptstraße durch das Dorf und streift im Nordwesten das Gasthaus Red Lion Inn, ein weiß getünchtes Haus mit Strohdach aus der elisabethanischen Zeit. Gegenüber dem Red Lion Inn befinden sich hinter einem Zaun die Überbleibsel eines als The Cove bekannten inneren Kreises – zwei von den Einheimischen gern als Adam and Eva bezeichnete Steine, einer hoch und schmal, der andere niedrig und gedrungen. Direkt gegenüber dem Parkplatz des Pubs ist ein Tor in den Zaun eingelassen. Ein weiteres Tor befindet sich in der Green Street vor dem Silbury House, einem quadratischen Gebäude, das früher das Pfarrhaus der nonkonformistischen Gemeinde war und heute vom National Trust benutzt wird.

Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags an diesem letzten Julimontag des Jahres 1981. Im Red Lion sitzen nur wenige Gäste, und auch in den Steinkreis verlaufen sich kaum Besucher. Sobald der Verkehrslärm verebbt, was in regelmäßigen Abständen geschieht, herrscht Stille. Aber eine bedeutungsvolle Stille ist das nicht. Sie enthält keinen Hinweis auf das, was nun gleich geschehen wird.

An einem der Terrassentische vor dem Red Lion sitzt ein einzelner Gast mit einem Bierglas in der Hand. Es ist ein schlanker, dunkelhaariger Mann, etwa Mitte zwanzig, in Bluejeans und einem hellen Hemd mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln. Vor ihm auf dem Tisch liegen ein Spiralblock und ein Kugelschreiber. Er starrt mit leerem Blick über die Straße auf die noch erhaltenen Steine im inneren Kreis. Allerdings interessieren sie ihn nicht wirklich, was klar wird, als er auf die Uhr sieht. Er wartet auf etwas oder auf jemanden. Er trinkt einen Schluck von seinem Bier und stellt das Glas auf den Tisch. Es ist fast leer. Sonnenlicht glitzert auf dem Schaum.

Eine Kinderstimme dringt vom Cove an sein Ohr. In diesem Moment fahren keine Autos vorbei, die diesen Laut übertönen könnten. Der Mann wendet den Kopf in die Richtung des Geräuschs. Er sieht eine Frau und drei Kinder aus der Richtung des Walls näher kommen. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, laufen voraus – vielleicht liefern sie sich ein Wettrennen zu den Steinen. Der Junge ist neun oder zehn Jahre alt und trägt Baseballschuhe, Bluejeans und ein rotes T-Shirt. Das Mädchen, gut zwei Jahre jünger, hat Sandalen, weiße Söckchen und ein blau-weiß gepunktetes Kleid an. Beide haben helles Haar, das in der Sonne schimmert, der Junge kurz geschnittenes, das Mädchen langes, das zu einem Zopf geflochten ist. Die Frau ist zurückgefallen. Ihr Tempo wird von dem jüngsten Kind bestimmt, das an ihrer Hand geht. Dieses Kind, ein Mädchen, ist mit einer grauen Latzhose über seinem gestreiften T-Shirt bekleidet. Die Farbe seines Haars, das mit rosa Bändern zu Zöpfchen zusammengebunden ist, lässt kaum einen Zweifel daran, dass es die Schwester der beiden anderen ist.

Dass die schlanke, dunkelhaarige Frau mit fein geschnittenem Gesicht die Mutter der drei Kinder sein könnte, ist dagegen weit weniger wahrscheinlich. Dafür sieht sie viel zu jung aus. Sie ist höchstens Anfang zwanzig. Sie trägt eine cremefarbene Leinenhose zu einer rosa Bluse und hält einen Strohhut in der Hand. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem dem kleinen Mädchen an ihrer Seite. Die anderen zwei Kinder laufen ein Stück voraus.

Als sie sich den Steinen nähern, tritt aus der Lücke zwischen Adam und Eva eine Gestalt, die bis dahin verborgen war. Es ist ein kleiner, rundlicher Mann in Wanderschuhen, braunen Shorts, kariertem Hemd und einer Art Anglerweste mit vielen Taschen. Unter seinem schütteren Haar fallen eine Brille und ein rundes Gesicht auf. Sein Alter ist schwer zu schätzen – er könnte irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfzig sein. Die zwei Kinder bleiben stehen und starren ihn an. Der Mann sagt etwas. Der Junge gibt eine Antwort und geht auf ihn zu.

Der Mann vor dem Red Lion schaut beiläufig hinüber, weil sonst nichts Interessantes los ist. Etwas Verdächtiges oder Bedrohliches kann er nicht erkennen. Was er sieht, ist im Sonnenlicht aufblitzendes Glas, als der Mann zwischen den Steinen aus einer seiner vielen Taschen einen Gegenstand zieht. Der Junge tritt näher.

Die Frau hat es jetzt eiliger, die beiden zu erreichen, ohne deswegen loszulaufen. Besorgt scheint sie nicht zu sein, nur etwas misstrauisch. Dann wird sie abgelenkt, als sich das Kleinkind, das immer mehr trödelt, plötzlich ins Gras setzt, um die Butterblumen zu untersuchen.

Der Mann vor dem Red Lion beobachtet all das und denkt sich nichts dabei. Auch dann nicht, als aus dem Schatten des Silbury House eine weitere Gestalt in sein Blickfeld läuft. Es ist ein kräftig gebauter, kurzhaariger Mann. Seine Kleidung könnte aus einem Laden für Armeebestände stammen. Er läuft immer schneller. Die Frau, der er sich ungesehen von hinten nähert, spricht jetzt den Mann in der Anglerweste an. Sie lächelt.

Und dann geschieht es. Der Mann hinter ihr bleibt jäh neben dem sitzenden Kind stehen, packt es unter den Achseln, reißt es hoch, als wäre es so leicht wie die Butterblume in der linken Hand des Mädchens, und rennt mit ihm zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist.

Der Mann in der Anglerweste reagiert als Erster. Er ruft der Frau etwas zu und deutet. Sie dreht sich um und schaut. Sie schlägt sich die Hand vor den Mund. Dann lässt sie den Hut fallen und setzt dem anderen Mann nach. Da er inzwischen wieder hinter dem Silbury House verschwunden ist, kann ihn der Mann vor dem Red Lion nicht mehr sehen. Ein vorbeidonnernder Lastwagen sorgt für noch mehr Durcheinander. Das alles geschieht unglaublich schnell und doch wie in Zeitlupe. Der Biertrinker tut nicht mehr, als aufzustehen und mit weit aufgerissenen Augen hinüberzustarren, während das Geschehen der nun folgenden Minute sein Gift auf alle verspritzt, die es als Zeugen miterleben.

Ein weißer Transit Van kommt mit aufheulendem Motor aus der Green Street um die Ecke geschossen. Die hintere Tür wird zugeknallt. Das Mädchen und sein Entführer befinden sich auf der Rückbank. Alle Zeugen denken oder vermuten das, denn nur die Frau hat die beiden einsteigen sehen. Der Van wird von einem weiteren Mann gefahren. Auch das können die Zeugen nur ahnen, denn angesichts dessen, was nun geschieht, achtet keiner mehr auf ihn.

Der Mann in der Anglerweste hat Anstalten gemacht, der Frau zu folgen, dann aber aufgegeben. Der Junge steht wie gelähmt zwischen Adam und Eva. Er weiß einfach nicht, was er tun, wem er folgen soll.

Seine Schwester dagegen ist sehr wohl zum Handeln entschlossen. Mit wehendem Pferdeschwanz rennt sie zum Tor bei der Hauptstraße. Was sie vorhat, ist unklar. Von ihrer Warte aus muss sie den Van wegfahren gesehen haben. Sie weiß, dass ihre Schwester ihr gestohlen werden soll. Sie hat keine Möglichkeit, das zu verhindern, und dennoch ist sie offenbar wild entschlossen, es zu versuchen. Sie stemmt den Riegel des Tors auf und rennt hindurch.

Der Van biegt auf die Hauptstraße ein. Ein Auto, das in nördlicher Richtung unterwegs ist, bremst vor der Kurve scharf ab, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, und hupt laut. Der Fahrer des Van achtet nicht darauf, sondern gibt weiter Gas und schlittert bedenklich knapp an der Parkplatzmauer des Gasthofs vorbei.

Das Mädchen bleibt nicht am Straßenrand stehen. Sie rennt unbeirrt weiter, mitten auf die Fahrbahn und vor den Van. Dort dreht sie sich um und hebt die Arme, um den Fahrer zum Anhalten aufzufordern. Dieser hätte wahrscheinlich gerade noch Zeit, um auf die Bremse zu treten. Das tut er aber nicht. Der Van rast weiter. Das Mädchen behauptet seine Stellung. Im Bruchteil einer Sekunde schwindet der Abstand zwischen ihr und dem Wagen.

Ein dumpfer Knall. Harter Stahl prallt auf weiches Fleisch. Verschwommen ist zu sehen, wie etwas durch die Luft fliegt, ein zarter, zerbrechlicher Mädchenkörper. Die weiße Seite des Van rast vorbei, hinter ihr der Schatten eines grünen Dachs – der nachfolgende Wagen. Keines von den Fahrzeugen hält an. Der zweite Autofahrer gibt Gas, als hätte er nichts gesehen. Vielleicht hat er tatsächlich nicht mitbekommen, was soeben geschehen ist. Er muss der verkrümmten Gestalt am Straßenrand nicht ausweichen. Er fährt einfach weiter.

Der Van und das Auto verschwinden um die nächste Kurve. Jede Bewegung erstarrt. Jedes Geräusch erstirbt.

Doch nur für einen Moment. Bald werden alle losrennen. Der Junge wird weinen, die Frau kreischen. Der Mann vor dem Red Lion wird über die Parkplatzmauer springen. Seine Augen werden fest auf den Graben neben der Fahrbahn gegenüber gerichtet sein, wo das Mädchen liegt, das weiß-blaue Kleid mit rotem Blut getränkt, und eine dunkle Lache sich auf dem Asphalt der Fahrbahn ausbreitet. Ihr Blick wird dem seinen begegnen und ihn mit einem leeren Starren umfassen.

Aber noch ist es nicht so weit. Nicht in dieser Sekunde. Das liegt in der Zukunft, einer Zukunft, die in die Stille und das Schweigen dieses versteinerten Moments gemeißelt ist.

Diese Zukunft beginnt in Avebury. Aber dort endet sie nicht.

Kapitel 1

Der Winter hatte sich in Prag launisch gezeigt. Schon wieder war mildes Wetter jäh durch einen Kälteeinbruch mit Schnee und Eis beendet worden. Als David Umber bei Jolly Brolly zugesagt hatte, am Freitag als Fremdenführer einzuspringen, hatte er nicht mit eisigen Winden, Temperaturen weit unter null Grad, glatten Gehsteigen und matschigen Straßen gerechnet. Aber so waren die Bedingungen nun mal. Und Jolly Brolly sagte nie eine Tour ab.

Beim Verlassen seines Wohnblocks in der Sokolovská war Umber folglich alles andere als begeistert. Der hagere, melancholische Endvierziger mit von grauen Strähnen durchzogenem, dunklem Haar schlug den Mantelkragen hoch und stapfte, den Blick gesenkt und die Stirn missmutig in Falten gelegt, zur Straßenbahnhaltestelle. Nur einmal warf er kurz einen Blick hinter sich auf die Gleise, um zu sehen, ob er sich beeilen musste.

Das war nicht nötig. Keine Straßenbahn war in Sicht, sodass er Gelegenheit hatte, sich den Brief vorzunehmen, den er vorhin in seinem Briefkasten gefunden hatte. Die Absenderanschrift unten im Umschlagfenster verriet ihm, dass es sich um einen Kontoauszug handeln musste. Er steckte den Brief ungeöffnet in die Tasche zurück und eilte weiter zur Haltestelle.

Himmel, war das heute kalt. Es war nicht das erste Mal, dass er sich bei Wetterbedingungen wie diesen fragte: Was will ich hier überhaupt?

Bei der Antwort, das wusste er, verweilte er am besten nicht lange. Nachdem sein Lehrauftrag im Sommer abgelaufen war, war er wegen Milena geblieben. Doch mit Milena war es inzwischen vorbei. Ebenso wie mit dem befristeten Job, den er im Herbstsemester gefunden hatte. Immerhin hatte er einen kleinen Freundes- und Bekanntenkreis in Prag, zu dem er gerne auch Ivana zählte, die verkrachte Unternehmerin, die jetzt die Termine bei Jolly Brolly koordinierte. Doch es gab auch zahlreiche Anhaltspunkte, die ihn in seinem Gefühl bestärkten, halt- und ziellos zu sein.

An der Haltestelle hieß es warten. Um sich warm zu halten oder zumindest um nicht noch mehr zu frieren, trat er von einem Fuß auf den anderen. Die Heizung in seinem Wohnblock bedurfte dringendst einer Generalüberholung. Nun, dasselbe ließ sich über so ziemlich alles in der ganzen Wohnanlage sagen. Er hatte das Apartment 2002 als Behelfsunterkunft bezogen, als seine für die Gesundheit weitaus förderlichere und komischerweise billigere Wohnung am Malteser-Platz während der so genannten Jahrhundertflut in der Moldau untergegangen war. Er war damals in England gewesen, doch praktisch seine gesamten Besitztümer waren in der Wohnung geblieben. Die Überschwemmung hatte alle Erinnerungsstücke fortgerissen, die ihn mit seiner Vergangenheit verbanden, und in seinem Selbstwertgefühl eine Leere hinterlassen, die die sechzehn Monate seitdem nicht zu füllen vermocht hatten.

Die rot-weiße Straßenbahn tauchte in der Dunkelheit auf. Die an der Haltestelle Wartenden trotteten zum Gleis vor. Der eine oder andere nahm noch einen tiefen Zug von seiner Zigarette, ehe er den Stummel in den Matsch schnippte. Umber spähte angestrengt zu der sich nähernden Tram. Noch fiel es ihm schwer, ihre Nummer zu erkennen. Aber es war die Linie 24. Na gut, immerhin. Wäre es die Linie 8 gewesen, hätte er noch ein paar Minuten länger frieren müssen.

Die 24 hielt, und die Leute schoben sich hinein. Umber sprang in den hinteren Wagen, wo es mehr freie Sitze gab. Er ließ sich auf einen fallen und schloss die Augen, um sich ein paar Minuten lang auszuruhen. So bekam er nicht mit, wie ein in Parka, Handschuhe, Schal und Wollmütze gehüllter kleiner Mann mit tonnenförmiger Brust im letzten Moment hineinsprang, als sich die Türen schon fast geschlossen hatten. Umber achtete nicht auf ihn. Wozu auch? Zu besonderer Vorsicht hatte er schließlich nicht den geringsten Anlass. In einer Prager Straßenbahn am Ende des Winters musste er wohl am wenigsten erwarten, dass sich die Vergangenheit an ihn heranschleichen würde. An sie dachte er in diesem Moment wirklich nicht.

Andererseits war das bei ihm nicht nötig. David Umbers Vergangenheit war so geartet, dass sie echtes Vergessen gar nicht zuließ. Also brauchte er sie auch nicht mit einer Willensanstrengung wachzurufen. Sie war ganz einfach da, und zwar immer, hemmte ihn, zog ihn nach unten. Sie würde ihn auch nie wieder loslassen. Das Einzige, was er tun konnte, war, seine Ausweichtaktiken zu verfeinern. Und das – wie er sehr wohl wusste, sich aber lieber nicht eingestand – war der Grund, warum er in Prag geblieben war. Prag war eine Zufluchtsstätte, ein Versteck. Weit entfernt von den Orten, die mit all dem befleckt waren, was er sich am liebsten nicht vergegenwärtigte. Doch, wie er erfahren sollte, noch bevor der Tag zu Ende ging, war Prag einfach nicht weit genug davon entfernt.

Die Trambahn fuhr durch die Straßen und nahm dabei stets mehr Fahrgäste auf, als sie entließ, sodass sie bei ihrer Ankunft am Wenceslas-Platz aus allen Nähten zu platzen drohte. Umber stieg mit einem Haufen anderer Leute aus und steuerte sogleich auf das Wenceslas-Monument vor dem Nationalmuseum zu. Es war die Anlaufstelle für all die bedauernswerten Touristen, die sich entschlossen hatten, tausend Kronen für einen sechsstündigen Rundgang zu den Hauptattraktionen der Stadt und ein Mittagessen zwischendurch auszugeben – und das alles unter der Führung einer Fachkraft, die Prag kannte wie ihre Westentasche und mit allen örtlichen Legenden und Anekdoten vertraut war. (Jolly Brolly hatte sich noch nie wissentlich unter Wert verkauft.)

Bei der Statue des böhmischen Schutzheiligen wartete etwa ein Dutzend Touristen. Die Kälte hatte sich nachteilig auf die Zahl der Interessierten ausgewirkt, wofür Umber durchaus dankbar war. Vor dieser kleinen Gruppe würde er nicht schreien müssen, um verstanden zu werden. Die Schar derer, die mit ihren Stadtführern in der Hand herumstanden, setzte sich aus der üblichen Mischung aller Altersgruppen und Nationalitäten zusammen. Ivana war gerade dabei, sie um ihr Bargeld zu erleichtern. Umbers Eintreffen würdigte sie mit einem erleichterten Lächeln.

»Du bist spät dran«, flüsterte sie ihm zu und reichte ihm seinen Amtsstab, einen Schirm in allen Regenbogenfarben.

»Je mi lito«, erwiderte er. Entschuldigungen gehörten zu den wenigen Floskeln, die er beherrschte. »Ich habe verschlafen.«

Ivanas Lächeln wurde nur geringfügig steifer, während sie ihn unbeirrt seinen Schützlingen vorstellte. Sie hätten einen promovierten Historiker vor sich, erklärte sie, um etwaigen Beschwerden vorzubeugen, weil er eindeutig kein Einheimischer war. Allerdings traf die Bezeichnung »Doktor« nicht zu, denn Umber hatte seine Dissertation nie zu Ende geschrieben. Aber in anderer Hinsicht hatte Ivana nicht ganz Unrecht. Insgeheim schmunzelte er darüber, denn die Leute würden einiges an Geschichte zu hören bekommen. Das konnte er garantieren.

Als Ivana gerade ihre kleine Einführung abschloss, gesellte sich noch ein verspäteter Interessent zu der Runde. Da Umber diesen Mann in der Straßenbahn nicht registriert hatte, dachte er sich nichts weiter dabei. Ivana wünschte der Gruppe einen schönen Tag und eilte mit den Einnahmen zur Bank. Bald würde sie wieder die Wärme und den relativen Komfort des Büros von Jolly Brolly genießen. Fehlte nur noch der Anruf bei Janousek, dem Inhaber des U Modré Merunky, des Restaurants, in dem ein »typisch tschechisches, köstliches Mittagessen« vorgesehen war, dann war diese Gruppe für sie abgehakt.

Sie hat es gut, dachte Umber neidisch und sog die kalte tschechische Luft in sich ein, um dann mit einigen locker miteinander verknüpften Gedanken über den Prager Frühling von 1968 und die Samtene Revolution von 1989 loszulegen. Für ihn war es ein abgedroschenes Thema. Schließlich war er Historiker, wenn auch nicht ganz so qualifiziert, wie Ivana hatte anklingen lassen. Noch bevor sie das Denkmal für die Opfer des Kommunismus erreichten, hatte er in Gedanken schon auf Autopilot umgeschaltet.

Und auf Autopilot blieb er auch weiterhin. Sie erreichten den Altstädter Ring rechtzeitig, um das Ein-Uhr-Läuten der Astronomischen Uhr mitzuerleben und die zwölf Apostel zu beobachten, wie sie aus ihrem Türchen im Turm oben traten. Danach überquerten sie die Karlsbrücke, schauten kurz in die St.-Nikolaus-Kirche, fuhren mit der berühmten Prager Seilbahn zum Petrín-Park hinauf (der Fahrpreis war in der Gebühr für die Führung inbegriffen). Im Park lag der Schnee knöcheltief, was das Vorankommen erheblich erschwerte. Vor allem diejenigen, die ihre Mäntel und Schuhe nicht der Witterung entsprechend ausgewählt hatten, begriffen spätestens jetzt, was sie gebucht hatten. Darauf war Umber allerdings vorbereitet. Dank ein paar geschickten Abkürzungen bei ihren Besuchen des Strahov-Klosters und des Loreto landeten sie auf halbem Weg zur Prager Burg bald im U Modré Merunky, und das zu einer Zeit, in der Janousek sie mehr oder weniger erwartete.

Die wahre Natur des Abkommens zwischen Ivana und diesem nicht wirklich glorreichen Beispiel für tschechische Gastronomie war Umber nie offenbart worden. Auf der Qualität des Essens beruhte sie jedenfalls nicht. Der Schweinebraten war knorpelig, der Rotkohl essigsauer, und die Knödel schmeckten wässrig. Doch niemand beschwerte sich. Die Leute an Umbers Tisch lobten die Speisen sogar. Vielleicht wollten sie einfach die Gefühle des Wirts nicht verletzen. Hierzu hätte ihnen Umber allerdings sagen können, dass Janousek diesbezüglich keinerlei Gefühle hatte, die verletzt werden konnten.

Der Nachzügler und Umbers Mitpassagier in der Straßenbahn saß für sich an einem eigenen Tisch und sprach wenig mit den anderen. Als er seine Wollmütze abnahm, trat über hohlen Wangen, durchdringenden blauen Augen und einer tief gefurchten Stirn ein mit weißem Flaum bedeckter, kahler Kopf zutage. Er war ein kleiner, gedrungener, knochiger Mann zwischen sechzig und siebzig, und es sah nicht so aus, als lege irgendjemand in der Gruppe gesteigerten Wert darauf, mit ihm zu plaudern, während er seinerseits den Eindruck erweckte, dass ihm das recht war. Seine Körpersprache gab deutlich zu verstehen: Er war niemandes Knecht und auch niemandes Lieblingsonkel. Sein Blick schien sich während des gesamten Essens auf David Umbers Kopf zu richten, ohne dass dieser das mitbekam.

Als die Essenspause vorbei war – auch wenn einige immer noch hungrig waren –, schlitterte die Gruppe zur Burg hinunter, wo sie rechtzeitig zur Wachablösung um zwei Uhr eintraf. Es folgte ein Rundgang um die St.-Vitus-Kathedrale, ehe man weiter zum Königspalast ging, um sich Umbers Schilderung des berühmten Prager Fenstersturzes anzuhören, der den Dreißigjährigen Krieg ausgelöst hatte. Zu diesem Zeitpunkt seiner Führung wurde der Brite wie immer etwas nervös, weil sich nie ganz ausschließen ließ, dass ihn jemand bat, die genauen Ursachen und Hintergründe dieses so lange zurückliegenden Konflikts näher zu erklären. Doch der kritische Moment verging problemlos. Niemand stellte Fragen. Danach tasteten sie sich vorsichtig die Burgtreppe hinunter, überquerten den Fluss und erreichten das jüdische Viertel.

Drei Synagogen und einen Friedhof später kehrten sie zum Altstädter Ring zurück, wo die Tour in Franz Kafkas Geburtshaus endete. Umber machte seinen Standardscherz, dass er hoffe, niemand hätte die Tour als Tortur empfunden. Es wurde mehr gelächelt als gelacht, ein paar bedankten sich, was in einem Fall sogar zu einem (äußerst) bescheidenen Trinkgeld führte. Danach löste sich die Gruppe auf.

Es war inzwischen später Nachmittag, und die Kälte nahm zu. Umber eilte zum Nervenzentrum von Jolly Brolly, zwei Zimmern im zweiten Stock eines Hauses zwischen dem Altstädter Ring und der Prager Filiale der Supermarktkette Tesco, wo er später sein Abendessen kaufen wollte.

Ivana war nicht mehr im Büro. Sie hatte es der lustlosen Obhut Mareks überlassen, ihrem jungenhaften und – in Umbers Augen – nutzlosen Assistenten. Als Umber eintrat, saß Marek, die Füße auf dem Schreibtisch, auf dem Stuhl und rauchte eine Camel, während er mit der freien Hand eine SMS an eine Freundin schrieb. Er begrüßte Umber mit einem Nicken und schob einen kleinen Umschlag über die Tischplatte. Umber steckte das Kuvert ein, stellte seinen Schirm zu den anderen in die Ecke und wandte sich zum Gehen.

In diesem Moment fiel sein Blick auf die Morgenausgabe der Annonce – das Anzeigenblatt mit dem umfassendsten Mietwohnungsangebot von Prag im Immobilien teil –, die jemand in den Papierkorb geworfen hatte. Er fischte sie heraus und sah Marek fragend an.

»Prosim«, sagte dieser mit einem sarkastischen Feixen.

Umber verließ das Büro. Den Inhalt des Umschlags untersuchte er, während er die windschiefen Treppen hinabstieg. Ihm war alles richtig ausgezahlt worden. Leider bedeutete »alles« in seinem Fall nicht sehr viel.

Wieder auf der Straße, sagte er sich, dass der Tesco warten konnte. Die Nähe der Zentrale von Jolly Brolly zur U Zlatého Tygra, der berühmtesten Trinkhalle der Altstadt, gab den Ausschlag zur Unvernunft. Zu dieser Stunde konnte er dort noch mit einem freien Stuhl rechnen, und nachdem er sich den ganzen Tag die Füße in der Stadt platt gelaufen hatte, brauchte er einen Sitzplatz fast genauso dringend wie ein Bier.

U Zlatého Tygra – der Goldene Tiger – war wie immer verraucht und trotzdem angenehm. Umber ließ sich an einem Fensterplatz hinter der Trophäenvitrine der Kneipe nieder, auf der der Namensgeber mit der Ausgelassenheit einer Mattglasfigur herumtollte. Ein halber Liter im Keller gekühltes Pilsener wurde umgehend auf den Tisch gestellt und die Rechnung vom Kellner mit einem Strich eröffnet. Umber gönnte sich einen großen Schluck, dann breitete er die Annonce vor sich aus und begann eine nicht allzu hoffnungsvolle Suche nach attraktiven und bezahlbaren Alternativen zu seiner gegenwärtigen Unterkunft.

Doch zu den Spalten für Mietangebote: Apartments sollte er nicht mehr kommen. Denn in diesem Moment kam eine massige Gestalt um die Trophäenvitrine herum und baute sich vor ihm auf. Umber sah hoch und erkannte zu seiner Überraschung den Nachzügler von der Tour oder zumindest den braunen Parka mitsamt der Wollmütze.

»Hallo«, sagte er. »Was führt Sie hierher?«

»Sie.« Der Mann nahm die Mütze ab und wickelte sich aus seinem Schal. Dabei fixierte er Umber unablässig mit seinen stählernen blauen Augen.

Es konnte die Art des Blicks gewesen sein, die den Ausschlag gab. Oder womöglich auch der flache, leicht bedrohliche Ton. Wie auch immer, Erkennen – echtes Erkennen – breitete sich in Umber aus.

»Ich kann’s nicht glauben«, murmelte er. Und das stimmte. Er konnte es tatsächlich nicht glauben.

»Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben«, sagte der Mann. Und auch das stimmte. Hier stand nichts zur Wahl. Die hatte es nie gegeben.

Es hatte in Avebury begonnen. Aber dort hatte es nicht geendet.

Kapitel 2

»Chief Inspector Sharp.« Schon während er diese Worte sprach, wurde Umber klar, dass der Mann, den er als Detective Chief Inspector George Sharp von der Wiltshire Bezirkspolizei kannte, unmöglich noch aktiv im Polizeidienst sein konnte, auch wenn die vielen Jahre seither seine äußere Erscheinung kaum verändert hatten. Er musste längst in Pension sein. »Auf Urlaub?«

»Lassen Sie uns eines von vornherein klarstellen.« Sharp legte seinen Parka ab und setzte sich. »Das ist kein zufälliges Treffen. Ich habe mich heute nicht für die Tour angemeldet und plötzlich gedacht: ›Leck mich am Arsch, ist unser Führer nicht dieser David Umber, den ich von dem Avebury-Fall her in Erinnerung habe?‹«

»Nein?«

»Ich bin Ihnen heute Morgen von Ihrer Wohnung aus gefolgt. Ich wusste nur nicht, dass es so lange dauern würde, bis wir endlich unter vier Augen sprechen können.«

»Das nennen Sie unter vier Augen?«

Sharp sah sich um. »Es dürfte reichen.« Sein Blick kehrte zu Umber zurück. »Sie können sich den ›Chief Inspector‹ übrigens sparen. Ich bin schon vor Jahren in Rente geschickt worden.«

»Hm, daran hatte ich nicht gedacht.«

In diesem Moment wurde Sharps Bier gebracht. Er beäugte es misstrauisch. »Wird man hier nicht gefragt, was man will?«

»Davon gehen die hier stillschweigend aus. Bier oder gar nichts.«

Sharp trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Kein Vergleich mit unserem Bass Best Bitter.«

»Was wollen Sie … Mr. Sharp?« Umber gab sich Mühe, den scharfen Ton zurückzunehmen.

»Was glauben Sie, was ich will?«

»Nach über zwanzig Jahren? Klären Sie mich auf.«

»Es dürfte nicht allzu schwer für Sie sein, das selbst herauszufinden.«

Feindseliges Schweigen trat ein. Sie starrten einander an, bis Umber sagte: »Ich dachte, Ihre Kollegen hätten den Fall abgehakt, als sie Brian Radd eingebuchtet haben.«

»Meine Kollegen – da liegen Sie richtig. Aber ich nicht. Ich habe Radd diese Geschichte nie abgenommen. Von Anfang an.«

»Nein?«

»Sie etwa?«

Noch längeres Schweigen. Den Trubel um sich herum nahmen die zwei Männer nicht wahr. »Natürlich nicht«, meinte Umber schließlich kopfschüttelnd.

»Eben.«

»Sie haben mir aber immer noch nicht gesagt, warum Sie hier sind. Und warum Sie mich beschattet haben. Es ist doch überhaupt nicht nötig, mir nachzuschnüffeln. Sie hätten genauso gut bei mir zu Hause vorbeischauen können. Oder anrufen, ohne England deswegen zu verlassen.«

»Ich bringe nun mal gerne selbst in Erfahrung, womit ich es zu tun habe.«

»Und womit haben Sie es zu tun?«

»Mit unerledigten Angelegenheiten.«

»Menschenskind!« Nun, da sich der erste Schock gelegt hatte, platzte Umber langsam der Kragen. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?«

»Warum, glauben Sie, bin ich hier?«

»Vielleicht langweilt Sie das Rentnerdasein. Sie schreiben Ihre Memoiren. Was weiß ich.«

Sharp lächelte. »Memoiren. Gute Idee. Daran habe ich übrigens auch schon gedacht.«

»Wirklich?«

»Ich habe in all den Jahren ein paar große Fälle bearbeitet. Die meisten in meiner Zeit in London, bevor ich nach Wiltshire gegangen bin. Ich dachte, dort würde es ruhiger zugehen. Musste mich aber eines Besseren belehren lassen.«

»Pech.«

»Falscher Ort, falsche Zeit. Wie bei Ihnen, schätze ich.«

»Nicht ganz wie bei mir.«

»Nein. Vielleicht nicht. Aber Sie wissen, was ich meine.«

»Eigentlich immer noch nicht.«

»Ich habe viele böse Menschen hinter Schloss und Riegel gebracht. Leider gab es noch einige mehr, denen ich nichts nachweisen konnte. Aber ich wusste, dass sie Dreck am Stecken hatten. Was Morde betrifft, gab es nicht einen, den ich nicht geknackt habe. Außer …«

»Avebury.«

»Sie sagen es.«

»Tja, damit werden Sie wohl leben müssen. Wie wir Normalbürger auch.«

»Muss ich das?«

Umber lehnte sich zurück und ließ den Kellner sein leeres Glas abräumen. Damit verging die Chance, ein weiteres Glas abzulehnen und sich zu verabschieden. Er sah Sharp unverwandt ins Gesicht. »Was betreiben Sie hier eigentlich? Eine Reise in Ihr Gewissen?«

»So was in der Richtung. Ich hätte der Sache auf den Grund gehen müssen. Das habe ich nicht getan. Das wäre natürlich weniger schwer zu ertragen als das ewige Was-wäre-wenn und Warum-habe-ich-nicht der Leute, die damals dort waren, andererseits.«

»Worauf, zum Teufel, wollen Sie hinaus?«

»Na ja, Sie müssen im Laufe der Jahre oft genug selbst darüber gegrübelt haben: ›Wenn ich nur schneller reagiert hätte, wenn ich nur schneller hingelaufen wäre … hätte ich das Mädchen vielleicht noch gerettet.«« Sharp unterbrach sich, weil nun Umbers zweites Bier eintraf, um sogleich fortzufahren, als der Kellner sich entfernte. »Sagen Sie mir nicht, dass das nicht stimmt.«

»Genau, ich werde Ihnen das nicht sagen.«

»Sie wäre jetzt dreißig. Wenn sie überlebt hätte.«

Umber griff sich an die Stirn und schloss die Augen. »Himmel!«

»Was ist?«

»Nichts.« Umber öffnete die Augen wieder. »Überhaupt nichts.«

»Hat Sally auch auf diese Weise damit gehadert?«

Erneut trat Schweigen ein. Umber trank von seinem Bier und schaute zum Fenster. »Das muss ich mir nicht anhören.«

»Mir wurde erst klar, dass Sie geheiratet hatten, als ich von ihrem Selbstmord erfuhr. Der geänderte Nachname. Das war eine Überraschung, wie ich bereitwillig zugebe. Wie ist es gekommen – dass Sie beide zusammengefunden haben?«

»Geht Sie nichts an.«

»Waisen des Sturmes, nehme ich an. Aber vielleicht hat sich der Sturm nie wirklich ausgetobt.«

Umber sah ihn scharf an. »Sie wissen überhaupt nicht, wovon Sie reden.«

»Dann klären Sie mich doch auf.«

»Es war kein ...«

»Kein Selbstmord? Laut dem Coroner schon. Aber ich sah das anders. Und Sie auch, jede Wette.«

Damit hatte Sharp an eine offene Wunde gerührt – und den Nagel auf den Kopf getroffen. Umber stand abrupt auf und schnappte sich seine Rechnung. Er wollte zahlen und gehen. »Mir reicht’s!«, fauchte er.

»Ich kann Ihnen Ärger machen, Mr. Umber.«

Das nahm Umber den Wind aus den Segeln. »Was haben Sie gesagt?«

»Mir schulden noch viele Leute einen Gefallen. Ich kann mich an den einen oder anderen wenden und Ihre Angelegenheiten genauer untersuchen lassen. Unangenehm genau. Spontan fällt mir Ihre Steuerakte ein. Das ist bei Briten, die im Ausland leben, immer ein lohnenswerter Ansatz. Sie verstehen, was ich meine?«

»Sie blöffen.«

»Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber warum es darauf ankommen lassen? Ich bitte Sie doch nur, sich zu setzen und ein paar Fragen zu beantworten.« Ein dünnes Lächeln spielte um Sharps Lippen. »Helfen Sie mir bei meinen Nachforschungen.«

Umber zögerte. Warum war Sharp so fest entschlossen, ihm diese Schmerzen zuzumuten? Es war so sinnlos und kam außerdem viel zu spät. Er hatte Sharp als forschen, geradlinigen Polizisten in Erinnerung. Von einer Obsession war bei ihm damals nichts zu spüren gewesen. Was wollte er jetzt erreichen?

»Setzen Sie sich.«

Seufzend gehorchte Umber. »Es wäre mir lieb, wenn ich das Ganze nicht noch mal durchmachen müsste«, sagte er, fast zu sich selbst. »Wirklich.«

»Mir auch.«

»Dann ersparen Sie es uns doch.«

»Das kann ich leider nicht.«

»Warum nicht?«

»Alles zu seiner Zeit. Außerdem bin ich gar nicht so sehr davon überzeugt, dass Sie die Antwort nicht wissen.«

»Sie sprechen in Rätseln … Mr. Sharp.«

»Na gut, halten wir uns fürs Erste an die Fakten. An die, bei denen wir beide übereinstimmen. Lassen Sie uns doch einfach … ein paar davon rekapitulieren.«

»Muss das sein?«

Es war nicht klar, ob Sharp die Frage überhaupt gehört hatte. »Avebury, Montag, 27. Juli 1981«, sagte er unerbittlich, u nd schlagartig begann Umbers Herz zu rasen. »Zwei Tage vor der königlichen Hochzeit, die uns im Frühstadium der Ermittlungen wertvolles öffentliches Interesse kostete. Egal, das sind Tatort und -zeit. Sally Wilkinson, Kindermädchen bei der Familie Hall, nimmt deren drei Kinder – Jeremy, neun Jahre alt, Miranda, sieben, und Tamsin, zwei – mit nach Avebury, damit sie sich an der frischen Luft austoben können. Und auch, weil Jeremy schon seit Ta gen an sie hinbettelt, nachdem ein Projekt in der Schule sein Interesse an Steinkreisen geweckt hat. Sie wandern dort herum. Sie schauen sich die Steine an. Alles ist vollkommen normal, vollkommen friedlich. Aber in der Green Street steht ein weißer Van. Ein Mann steigt aus, schnappt sich Tamsin, als Sally mit dem Rücken zu ihm steht, und fährt mit ihr weg. Oder wird gefahren. Mehr dazu später.«

»Sie sagen mir nichts, was ich nicht schon weiß«, erklärte Umber müde.

Sharp ließ sich nicht beirren. »Tamsins Schwester rennt auf die Straße, vermutlich in einem Versuch, den Van zu stoppen. Sie wird überfahren. Und getötet. Vorsätzlich.« Er hielt inne, als wolle er Umber dazu ermutigen, einen weiteren Kommentar abzugeben, doch der blieb aus. »Zeugen. Außer Sally und Jeremy haben wir drei. Percy Nevinson, ein Ortsansässiger mit umfassendem Wissen über den Steinkreis. Allerdings nicht gerade von der rationalen Sorte. Erzählt mir, Avebury und der Silbury Hill wären von Marsmenschen errichtet worden. Das ist der Grund, warum ich ihn als durchgeknallt eingestuft habe. Dann haben wir Donald Collingwood, der gerade durchs Dorf fährt, als das alles geschieht. Er hält aber nicht an, sondern meldet sich erst drei Wochen danach. Sagt, er hätte Angst gehabt, er würde seinen Führerschein wegen seiner schlechten Augen verlieren. Wegen dieser Augen ist er sich auch nicht wirklich sicher, was er überhaupt gesehen hat und wohin der Van fuhr. Und schließlich gibt es noch …«

»Mich.«

»Richtig. David Umber. Sitzt vor dem Red Lion. Mit Panoramablick auf das ganze Geschehen.«

»Ich habe Ihnen damals schon alles gesagt, was ich wusste. Jedes einzelne Detail, an das ich mich erinnern konnte.«

»Was nicht viel war. Und dasselbe gilt für den Rest. Allenthalben heillose Verwirrung. Kein Nummernschild des Vans. Keine vernünftige Beschreibung des Entführers. Rein gar nichts. Ergebnis: Ein totes Mädchen; ein vermisstes Mädchen; ein von Schuldgefühlen gequältes Kindermädchen; eine zerstörte Familie; die Ermittlungen treten auf der Stelle; ein ungeklärter Mordfall. Was mit Tamsin geschehen ist … Wir haben keine Ahnung.«

» Sie haben keine Ahnung. Offiziell war es Radd. Das ist doch immer noch so, oder?«

»Das Ganze ist einfach dubios. Er war in diesem Punkt nie förmlich angeklagt worden. Aber er hat gestanden. Bei mir hinterlässt das … einen faulen Nachgeschmack. Als ob jemand die Sache vom Tisch haben wollte.«

»Wie meinen Sie das?«

»Neun Jahre danach und nur wenige Monate nach meiner

Frühpensionierung ergänzt Brian Radd, der überführte Kindermörder, die Liste seiner bisher gestandenen Morde plötzlich um Tamsin Hall, und das einen Tag vor seinem Prozess, bei dem lebenslänglich von vornherein feststeht. Sagt, er wäre mit ihr davongefahren, hätte ihr Gott weiß was alles angetan und sie dann erdrosselt und irgendwo im Savernake Forest verscharrt. In welchem Teil, daran kann er sich nicht mal vage erinnern, sodass eine Suche gar nicht erst in Frage kommt. Nach neun Jahren hätten sie sowieso nichts mehr gefunden. Radd kommt aus Reading. Das heißt, der Fall wird von den Kollegen im Thames Valley bearbeitet. Und Hollins, mein Nachfolger bei der Kripo von Wiltshire – ein Sesselfurzer, wie er im Buch steht –, schwimmt mit dem Strom und gibt bekannt, dass sie die Ermittlungen im Zusammenhang mit diesem Verbrechen eingestellt haben. Mir kommt das eigenartig vor. Mit Radds Geständnis der Verschleppung und des Mordes kann die Akte zugeklappt werden. Niemanden interessiert es, ob das alles vor Gericht aufrechterhalten werden kann, oder ob es überhaupt wahr ist.«

»Sally hat es interessiert.«

»Waren Sie damals schon verheiratet?«

»Nein. Zusammen, aber nicht verheiratet. Das kam erst später.« Später wie in zu spät, dachte Umber, sagte es aber nicht. Die Hochzeit war ein Versuch gewesen, das Auseinanderbrechen ihrer Beziehung zu übertünchen. Es wäre leichter gewesen, die Entfremdung zu akzeptieren, wenn sie einen vergleichsweise banalen Grund wie Untreue oder gegensätzliche Interessen gehabt hätte. Aber so war es nicht. Der Grund war Avebury am 27. Juli 1981. Das war von Beginn an der Grund gewesen. »Dass die Polizei Radd seine Version der Ereignisse abgekauft hat, das hat sie fertig gemacht, verstehen Sie. Sie hat den Typen gesehen, der Tamsin gepackt und in den Wagen hinten reingeworfen hat und dann selber reingeklettert ist. Dann ist der Van losgefahren. Aber Radd behauptet, er wäre allein gewesen. Ohne Komplizen. Auf einmal soll Sally sich getäuscht haben. Ihr war ohnehin schon vorgeworfen worden, sie hätte nicht gut auf Tamsin aufgepasst. Jetzt hieß es, ihre Aussage über die Ereignisse wäre nicht glaubwürdig. Darüber kam sie nie hinweg.«

»Es wäre anders gelaufen, wenn ich damals noch im Dienst gewesen wäre.«

»Nur schade, dass Sie ihr das nicht gesagt haben.«

Sharp starrte in sein Bierglas. »Mein alter Chief Super Intendent bat mich, keine schlafenden Hunde zu wecken.«

»Und Sie waren selbst noch als Rentner ein braver Cop.«

»Ich hätte Sally aufsuchen und ihr versichern sollen, dass ich ihr immer noch glaubte.«

»Ja. Das hätten Sie tun sollen.«

»Ist das der Grund, warum Sie es getan haben?«

Diese Frage brachte Umber aus dem Konzept. Er hatte gedacht, er hätte Sharp bereits in die Defensive gedrängt. Irrtum! »Was soll ich getan haben?«

Sharp musterte ihn mit hartem Blick. Der Kellner tauschte ihre leeren Gläser gegen volle. Sharp zuckte nicht mit der Wimper.

»Wovon reden Sie?«, drängte Umber.

»Helfen Sie mir auf die Sprünge: Warum waren Sie an diesem Tag in Avebury ?«

»Mein Gott!«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge.«

Umber seufzte. »O Gott, geht das schon wieder los … Ich schrieb seit einem Jahr an meiner Doktorarbeit an der Universität von Oxford. Mein Thema waren die Junius-Briefe. Ich verbrachte den Sommer bei meinen Eltern in Yeovil. Dort erhielt ich einen Anruf von einem Mann namens Griffin. Er sagte, er sei in Oxford, hätte von meinen Forschungen gehört und könne mir etwas zeigen, das mir weiterhelfen würde. Wir verabredeten uns für die Mittagszeit in Avebury. So einfach war das. Aber wenn ich mich recht erinnere, haben Sie mir das nie geglaubt.«

»Ich führte meine eigenen Aufzeichnungen über die Ermittlungen. Hab sie mir noch mal angeschaut, bevor ich hierher gekommen bin. Sie haben Recht. In dem Teil über Sie standen haufenweise Fragezeichen. Und Fragezeichen bedeuten Zweifel.«

»Weil Griffin nie aufgekreuzt ist? Na ja, Sie haben binnen einer halben Stunde überall Straßensperren aufgebaut. Er muss in einem Stau stecken geblieben und schließlich nach Oxford zurückgefahren sein.«

»Klingt plausibel. Aber warum hat er dann keinen Kontakt mehr mit Ihnen aufgenommen?«

Umber zuckte die Schultern. »Ich habe keinen blassen Schimmer.«

»Sie hatten keine Telefonnummer? Keine Adresse?«

»Er war sehr … zugeknöpft. Ich nahm an, er würde mir mehr sagen, wenn wir uns sahen.«

»Wie hatte er von Ihren Recherchen erfahren?«

»Das hatte er mir nicht gesagt.«

»Und Sie fragten auch nicht?«

»Ich war mehr an dem interessiert, was er mir zu bieten hatte.«

»Und was war das?«

»Das wissen Sie doch schon. Es steht in Ihren Aufzeichnungen. Die müssen alles enthalten, was ich je dazu gesagt habe.«

»Junius war das Pseudonym des Autors einer Serie von anonymen Briefen, die in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bei der Presse landeten und Skandale in der damaligen Politik aufdeckten. Ein Maulwurf, wie wir es heute wohl nennen würden. Richtig?«

»Ja. Mehr oder weniger.«

»Was machte ihn zu einer solchen Sensation?«

»Drei Jahre lang, von 1769 bis 1772, brandmarkte er in Leserbriefen an den Public Advertiser das Verhalten mehrerer Minister und trieb damit den Premierminister, den Duke of Grafton, so lange vor sich her, bis dieser zurücktrat. Die Leser verschlangen diese Briefe. Vor allem, weil er sein Wissen eindeutig aus erster Hand hatte – entweder gehörte er der Regierung an, oder er hatte Zugang zu extrem detaillierten Insiderinformationen. Aber er wurde nie enttarnt. Das Rätsel um seine Identität machte ihn nur noch reizvoller. Und er hörte auf, als er am Höhepunkt war. Wirklich eine schillernde Gestalt.«

»Was genau erforschten Sie an ihm?«

»Seine Identität. Die klassische unbeantwortete Frage. Die neuere Forschung neigt dazu, Philip Francis, einen hohen Beamten im Kriegsministerium, als Missetäter zu benennen. Das Ziel meiner Arbeit war es, diese Theorie zu überprüfen.«

»Und ist Ihnen das gelungen?«

»Ich habe meine Arbeit nie beendet.«

»Warum nicht?«

Umber fixierte Sharp, bis dieser den Blick abwandte. »Mir ist was dazwischengekommen.«

»Wer hat das Treffen in Avebury vorgeschlagen: Sie oder dieser mysteriöse Mr. Griffin?«

»Griffin. Aber weil Avebury in der Mitte zwischen Oxford und Yeovil liegt…«

»Es ist ein gutes Stück näher bei Oxford.«

»Wirklich? Er war derjenige, der mir einen Gefallen tat. Da wollte ich nicht feilschen.«

»Und worin bestand der Gefallen?«

»Nachdem Junius seine Briefkampagne beendet hatte, brachte Henry Sampson Woodfall, der Eigentümer des Public Advertiser, eine zweibändige Ausgabe der gesammelten Briefe heraus. Er und Junius führten eine geheime Korrespondenz, und Junius bat ihn um eine persönliche, in Velin gebundene Sonderausgabe mit Goldprägung, die ihm Woodfall auch zukommen ließ. Diese Ausgabe ist seitdem verschollen. Sollte sie je auftauchen, fände man sicher einen Hinweis auf Junius’ Identität. Gut, Griffin behauptete, sie zu haben, und war anscheinend auch bereit, sie mir mitsamt einer, wie er sagte, bezeichnenden Widmung zu zeigen. Das klang zu schön, um wahr zu sein. Eine solche Gelegenheit wollte ich auf keinen Fall verpassen.«

»Wenn Griffin diese … einzigartige Ausgabe besaß, warum hat er sie dann nicht – sagen wir – versteigern lassen?«

»Das hat er mir nicht verraten.«

»Warum wandte er sich an Sie, einen …?«

»Einen unbedeutenden Studenten?«

»Das haben Sie gesagt.«

»Ich weiß es nicht. Er versprach mir, dass mir bei unserem Treffen alles klar werden würde. Aber dazu ist es nie gekommen.«

»Könnte es ein Scherz gewesen sein? Irgendein Kommilitone, der Sie auf den Arm nehmen wollte?«

»Das glaube ich nicht.«

»Was glauben Sie denn, was dahintersteckte?«

»Ich weiß es nicht.«

»Haben Sie versucht, Griffin aufzuspüren, als Sie wieder in Oxford waren?«

»Ich habe mich umgehört, aber er war niemandem ein Begriff. Und nach all dem, was in Avebury geschehen war, kam mir das so … belanglos vor. Ich meine, wer schert sich denn noch um Junius? Wahrscheinlich war das einer der Gründe, warum ich die Doktorarbeit aufgegeben habe.«

»Und die anderen Gründe?«

»Die hatten größtenteils mit Sally zu tun.«

»Mir wurde gesagt, sie sei nach den Ermittlungen ins Ausland gegangen.«

»Das stimmt.«

»Sind Sie mit ihr gegangen?«

»Ja.«

»Es tut mir Leid, dass sie … tot ist.«

»Mir auch.«

»War es Selbstmord?«

»Wie kann ich das wissen? Wir hatten uns getrennt.«

»Aber was glauben Sie?«

Umber trank einen Schluck Bier und schaute Sharp eindringlich an. »Dasselbe wie Sie.«

Sharp räusperte sich. »Laut meinen Aufzeichnungen zog ich in Betracht, dass Sie die Sache mit Griffin nur erfunden haben könnten, um damit Ihre Anwesenheit in Avebury zu erklären.«

»Und zogen Sie in Betracht, warum ich ausgerechnet dort sein wollte?«

»Selbstverständlich.«

»Mit welchem Ergebnis?«

»Ich bin nicht dahintergekommen.«

»Das liegt daran, dass es nichts gab, hinter was Sie hätten kommen können.«

»Anscheinend nicht.«

»Kann ich mich jetzt also darauf verlassen: Sie glauben nicht mehr, dass ich damals gelogen habe?«

»Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich glaube auch nicht, dass Sie heute lügen. Mir ist nur nicht klar, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht ist.«

»Was, zum Teufel, soll das nun bedeuten?«

»Es bedeutet, dass Sie sich bezüglich Junius getäuscht haben. Jemand interessiert sich sehr wohl für ihn.«

Umber schnitt eine verblüffte Grimasse. Vielleicht hatte er zu viel getrunken. Oder Sharp. Worauf, in drei Teufels Namen, wollte der Mann hinaus?

»Ich habe vor ein paar Wochen einen Brief erhalten, in dem es hieß, ich hätte bei den Ermittlungen im Avebury-Fall gepfuscht und solle den Schaden gefälligst beheben. Anonym natürlich.«

»Dachten Sie, dass ich ihn geschrieben haben könnte? Ist das der Grund, warum Sie so weit gereist sind, um mit mir zu sprechen?«

»Ja.«

»Tja, dann haben Sie Ihre Reise umsonst gemacht.«

»Das sehe ich nicht so. Eines müssen Sie verstehen. Sie boten sich als Verdächtiger förmlich an.«

»Warum?«

»Wegen der Herkunft des Briefs.«

»Sie haben doch gerade gesagt, dass Sie den Absender nicht kennen.«

»Ich habe gesagt, dass er anonym war. Vielleicht hätte ich aber besser von einem … Pseudonym sprechen sollen. Das ist ja das Merkwürdige, verstehen Sie. Der Brief … stammte von Junius.«

Kapitel 3

21. Januar

SIR,

es ist das Unglück Ihres

Lebens, dass Sie nie früher mit der Wahrheit bekannt

werden sollten Dennoch ist es in Bezug auf die

Mörder von Marlborough

nicht zu spät, den

Fehler zu korrigieren. Ich bin nicht in der

Lage ihn zu korrigieren.

Die Zeit derer, die den eigenen Vorteil nicht im Auge haben, ist gekommen,

es ist an der Zeit, dass solche Männer sich einmischen. Sie haben bereits jetzt vieles zu verantworten.

Unsere Angelegenheiten kehren zu uns zurück.

JUNIUS

Auch nach mehrmaligem Lesen war David Umber nicht in der Lage, intelligent zu reagieren. Jemand hatte Wörter und halbe Sätze aus einer Ausgabe der Junius-Briefe geschnitten, auf einem Blatt Papier zu dieser höchst merkwürdigen Mitteilung zusammengestückelt und aufgeklebt. Was er jetzt in Händen hielt, war natürlich eine Fotokopie. Das Buch selbst war also nicht notwendigerweise verstümmelt worden. Egal, sagte sich Umber. Dieser Punkt war wirklich eine Nebensächlichkeit. Die zentrale Frage war: Warum?

Sharp sah ihn an. »Wollen Sie nichts dazu sagen?«

Sie saßen in der schmucklosen Bar von Sharps billigem Hotel in der Nähe des Karlsplatzes. Umber war mitgegangen, ohne wirklich überzeugt zu sein. Wenn er überhaupt etwas erwartet hatte, dann etwas, das sich auffällig von Junius unterschied. Doch das, was Sharp aus seinem Zimmersafe geholt hatte, war gespenstisch authentisch.

»Herrgott noch mal, so sagen Sie mir doch, was Sie davon halten, Mann!«

Endlich fand Umber die Sprache wieder. »Ich weiß es nicht. Ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht sagen.«

»Stammen die Worte auf dieser Seite von Junius oder nicht?«

»Die Worte? O ja. Ich erkenne einige Formulierungen wieder. Der Anfang ist aus seinem berühmten Brief an den König. Der Rest? Ich könnte Ihnen nicht genau sagen, aus welchen Briefen die Sätze stammen, aber sie sind alle von Junius. Das lange S ist typisch für die Druckerpressen des achtzehnten Jahrhunderts. Die eigentümliche Orthografie ist ebenfalls typisch für diese Epoche. Und auch das Datum ist authentisch, Junius’ erster Brief an den König war auf den 21. Januar 1769 datiert. Das hier müssen Ausschnitte aus einer sehr frühen Edition sein.«

»Wie diejenige, die Griffin Ihnen zeigen wollte?«

»In etwa, ja. Aber …«

»Es stammt aus dieser Edition, nicht wahr?«

»Wie wäre das möglich?«

»Wir beide sind auf Mutmaßungen angewiesen. Aber Ihre sind sicher stichhaltiger. Sie sind der Junius-Experte.«

»Ich war. Vor langer Zeit.«

»Trotzdem sind Sie immer noch einer der wenigen, die diesen Brief hätten zusammensetzen können. Jede Wette, dass Sie irgendwo eine Erstausgabe der Junius-Briefe rumstehen haben.«

»Eigentlich nicht«, brummte Umber. Damit sagte er sogar die Wahrheit, wenn auch nur wegen der Überschwemmung. Das war freilich ein Detail, das er für sich behielt. »Außerdem dachte ich, Sie hätten akzeptiert, dass ich das hier nicht angefertigt habe.«

»Ich habe es akzeptiert.« Sharp hörte sich an, als bedauerte er fast, Umber aus der Liste der Verdächtigen gestrichen zu haben.

»Wie ist der Brief zu Ihnen gelangt?«

»Sehen Sie selbst.« Sharp schob den Umschlag über den Tisch.

Es war ein weißes DIN-A5-Kuvert mit einer Briefmarke erster Klasse für beschleunigte Beförderung. Der Poststempel war verschmiert, und der Aufkleber mit der Anschrift sah aus, als wäre er mit einem Computer erstellt worden. George Sharp, 12 Bilston Court, Nunswood Road, Buxton, Derbyshire SK17 6AQ. Die Buchstaben enthielten keinerlei Hinweise. Die einzigen Spuren waren in dem Brief enthalten.

»Londoner Poststempel«, kommentierte Sharp. »Datum kaum leserlich. Aber wahrscheinlich der einundzwanzigste Januar. Ich habe ihn am zweiundzwanzigsten erhalten.«

»Ich war in der fraglichen Zeit hier«, sagte Umber.

»Das würde Sie in meinen Augen nicht entlasten.«

»Derbyshire, Mr. Sharp? Was hat Sie dorthin verschlagen?«

»Eine Rückkehr zu meinen Wurzeln. Sie können mich übrigens George nennen, weil wir in dieser Sache zusammenarbeiten.«

Umber konnte nicht bestimmen, was bedrohlicher war: Das Angebot, Sharps Vornamen zu benutzen, oder die Andeutung, dass eine Allianz zwischen ihnen bestünde. Er versuchte, nicht darauf einzugehen. »Ich vermute mal, dass derjenige, wer immer Ihnen das geschickt hat, Junius deshalb als Quelle gewählt hat, um den Verdacht auf mich zu lenken.«

»Wenn Sie Recht haben, bedeutet das, dass der Verfasser alles über den Fall Avebury weiß, was es zu wissen gibt. Der Grund, warum Sie am fraglichen Tag dort waren, gehörte damals nicht unbedingt zu den Topmeldungen.«

»Zwischen den Zeilen steht hier doch wohl, dass der Verfasser die ganze Wahrheit kennt.«

»Vielleicht. Aber er gibt genauso zu verstehen, dass ich hinter die Wahrheit kommen kann. Wenn ich mich dazu entschließe. Es ist ›nicht zu spät, den Fehler zu korrigieren. Beachten Sie, dass es ›die Mörder von Marlborough‹ heißt.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Junius jemals Avebury erwähnt hat. Aber der Duke of Marlborough müsste in seinen Briefen vorkommen. Und da die Stadt nur ein paar Meilen von Avebury entfernt ist…«

»Das habe ich nicht gemeint. Mir geht es um den Plural. Er spricht von Mördern. Ist das nicht ein Wink mit dem Zaunpfahl? Radds Geständnis wird damit für gegenstandslos erklärt.«

»War es das für uns nicht von vornherein?«

Sharp nippte an seinem Whisky. Er antwortete nicht. Allerdings stellte seine tief gefurchte Stirn so etwas wie eine Erwiderung dar. Der Brief war eine Kritik, aber auch eine Herausforderung. Und er war für beides empfänglich.

»Was wollen Sie jetzt unternehmen?«

Sharp sagte immer noch nichts.

»George?«

Endlich gab es eine Reaktion. Sharp stellte sein Whiskyglas mit einem dumpfen Knall auf den Tisch. »Genau das, wozu er mich herausfordert.«

»Den Fehler zu korrigieren?«

»Die Wahrheit enthüllen.«

»Was versprechen Sie sich heute davon, nachdem es Ihnen vor dreiundzwanzig Jahren nicht gelungen ist, Licht ins Dunkel zu bringen?«

»Heute bin ich kein Polizist mehr. Ich muss mich nicht mehr an die Regeln halten.«

»Haben Sie den Erhalt dieses Briefes gemeldet?«

»Natürlich nicht. Die Kriminalpolizei von Wiltshire würde es erst gar nicht wissen wollen. Die würden mir eher noch Knüppel zwischen die Beine werfen. Nein, mein einziger Vorteil ist, dass niemand damit rechnet, dass ich nach all den Jahren denselben Weg noch mal gehe.«

»Außer … Wie wollen wir Ihren Briefeschreiber nennen?… Junius?«

»So nennt er sich selbst.«

»Oder so nennt sie sich selbst.«

»Ja, es könnte auch eine Frau sein. ›Ich bin nicht in der Lage, den Fehler zu verbessernd ›Die Zeit ist gekommen, dass Männer sich einmischen.‹ Ich verstehe, was Sie meinen.«

»Sie ziehen da einen voreiligen Schluss, George. In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war es noch ein wenig zu früh für die Gleichbehandlung der Geschlechter. Junius – der echte Junius – hätte nie in Betracht gezogen, dass Frauen sich in etwas einmischen könnten. Ich wollte nur sagen, dass Sie überhaupt nicht wissen, mit wem Sie es zu tun haben.«

»Außer, dass er oder sie bestens mit Junius’ Briefen vertraut ist.«

»Bestens würde ich eigentlich nicht sagen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, ich habe vorhin gesagt, dass Junius’ erster Brief auf den 21. Januar 1769 datiert war. Das trifft auch zu – was die Erstausgabe der Briefe angeht. Aber sein erster Brief an den Public Advertiser erschien im November 1768. Aus welchem Grund auch immer, er hat beschlossen, diesen nicht in die Sammlung aufzunehmen. Natürlich ist es ungemein schwer, an eine Originalausgabe heranzukommen. Darum könnte das korrekte Datum nur jemand wissen, der …« Umber verstummte abrupt und griff nach dem Brief. In seinem Geist war eine Tür aufgegangen. Der Verfasser hatte mit einiger Berechtigung hoffen können, dass Sharp sich mit diesem Brief an ihn, Umber, wenden würde. Es konnte also sehr wohl eine Botschaft an sie beide sein. Und tatsächlich trafen die darin zum Ausdruck gebrachten Schicksale in vielerlei Hinsicht mehr auf ihn als auf Sharp zu. Das Unglück Ihres Lebens. Ja, was am 27. Juli 1981 in Avebury geschehen war, war genau das. Und seine Angelegenheit war zu ihm zurückgekehrt. Mit Macht. »Verdammte Scheiße.«

»Was?«

»Das muss Ihnen Griffin geschickt haben.«

»Sind jetzt nicht Sie derjenige, der übereilte Schlüsse zieht?«

»Vielleicht. Aber er ist damals nicht gekommen. Entweder lag das an den Straßensperren oder daran, dass er das nie vorhatte.«

»Und das bedeutet?«

»Es bedeutet, dass er mich vor Ort haben wollte. Als Zeugen.«

»Das ergibt doch keinen Sinn, Umber. Niemand hätte wissen können, dass Sally gerade an diesem Vormittag mit den Kindern der Halls einen Ausflug nach Avebury machen würde.«

»Gott, ja, stimmt.« Umber presste sich die Hände an die Stirn und ließ den Brief fallen. »Wer hätte das schon ahnen können?« Er ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. »Ich hätte schwören können, damit wäre es nach Sallys Tod vorbei: diese ewigen Selbstvorwürfe, das Was-wäre-wenn. Das nicht endende Bauen von Kartenhäusern auf der Grundlage wackeliger Hypothesen. Und dann zusehen, wie sie eines nach dem anderen einstürzen. Sie hat nie damit aufgehört. Ich schon. Am Ende hatte ich das einfach satt … so sehr, dass ich … sie satt hatte.«

»Sie wollen doch jetzt nicht rührselig werden, oder?«

Umbers Antwort kam erst nach langem Schweigen. »Ich werde mein Bestes tun, um das zu vermeiden.«

»Ich brauche Ihre Hilfe.«

» Meine Hilfe?«

»Um da durchzusteigen.«

»Das ist unmöglich.«

»Was – da durchzusteigen oder mir zu helfen?«

»Beides. Anders, als Junius behauptet, ist es zu spät.«

»Das wissen wir erst, wenn wir es versucht haben.«

»Wir?«

»Ich hätte schließlich weiterhin fröhlich meine Pension beziehen und meinen Garten pflegen können, verstehen Sie? Aber das geht jetzt nicht mehr. Nicht, seit ich daran erinnert worden bin, was ich damals falsch gemacht habe.«

»Und was haben Sie falsch gemacht?«

»Ich habe aufgegeben. Ich habe aufgehört zu suchen. Ich habe das kleine Mädchen abgeschrieben.«

»Ihnen ist ja nicht viel anderes übrig geblieben.«

»Wir werden das richtig stellen.«

»Aber ich kann mich da nicht reinziehen lassen, George. Nicht mehr. Nicht nachdem ich … das alles hinter mich gebracht habe.«

»Was haben Sie in den letzten dreiundzwanzig Jahren eigentlich gemacht, Umber?«

»Dieses und jenes.«

»Ich bin in der Annahme hergekommen, Sie hätten mir diesen Brief geschickt, weil Sie mir die Schuld an Sallys Tod geben.«

»Tut mir Leid, dass ich Sie enttäuschen muss.«

»Sie enttäuschen sich selbst. Und das wissen Sie auch. Sie leben in einem schäbigen Apartment und halten sich mit miesen Gelegenheitsjobs als Fremdenführer über Wasser. Haben Sie etwa vor, auch in den nächsten dreiundzwanzig Jahren so weiterzuleben?«

»Irgendwas wird sich schon ergeben.«

»Es hat sich soeben ergeben. Ihre – und meine – große Chance, die Dinge ins Lot zu bringen.«

»Sie machen sich was vor, George. Das ist ein Kampf gegen Windmühlen. Außerdem sind Sie der Polizist von uns beiden. Wozu brauchen Sie da mich?«

»Jüngere Beine. Schärfere Augen. Und der Junius-Spezialist. Dafür brauche ich Sie.« Sharp leerte sein Glas. »Ihre Reisekosten übernehme ich, wenn das der Grund ist, weshalb Sie zurückschrecken.«

»Die Pension für Polizisten muss ja großzügiger sein, als ich dachte.«

»Ich will nur nicht, dass Sie eine Ausrede finden, um mein Angebot abzulehnen.«

»Ich habe Ausreden nicht nötig.«

»Ist das so? Dann verraten Sie mir doch bitte, warum Sie so angestrengt nach einer suchen.«

»Ich kehre nicht mit Ihnen zurück, George.«

»Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit.«

»Die werden nichts daran ändern.«

»Stimmt.« Sharp steckte den Brief wieder in den Umschlag. »Weil Sie schon wissen, was Sie tun werden.« Er lächelte Umber an. »Sie bringen es nur nicht über sich, es zuzugeben.«

Eine halbe Stunde später saß Umber in einer Trambahn der Linie 24. Gemächlich fuhr sie durch die dunklen Straßen von Prag – Gassen, die Sally nie betreten hatte. Ihre Wanderschaft hatte sie in die meisten Hauptstädte Europas geführt, aber nie in diese. Das war, wie er genau wusste, einer der Gründe, warum er nach Prag gekommen – und hier geblieben – war. Er klappte seine Brieftasche auf und nahm Sallys Foto heraus, das er stets bei sich trug. Es war das einzige Bild, das er von ihr hatte. Die anderen Fotos hatte die Flut mit sich fortgerissen. Alles, was ihm geblieben war, war dieses winzige Passfoto von vor fast zwanzig Jahren.

Ihr schulterlanges dunkles Haar tauchte einen Teil ihres Gesichts in Schatten und hob ihre hohen Wangenknochen hervor, sodass sie hohlwangig und abgehetzt wirkte, obwohl er sie ganz anders in Erinnerung hatte. Nach wie vor hatte er ihr Lächeln wunderbar deutlich vor Augen. Andererseits hatte sie selten vor der Kamera gelächelt. Irgendwie hatte sie sich das nie zugetraut.

Er steckte das Foto wieder ein und betrachtete sein eigenes gespenstisch verzerrtes Spiegelbild im Fenster. »Was soll ich tun, Sal?«, murmelte er und beobachtete im Fenster, wie seine Lippen die Worte bildeten. »Sag’s mir einfach. Das ist alles, was du tun sollst. Mehr hättest du auch damals nicht tun müssen.«

Er bekam keine Antwort. Er würde nie eine bekommen. Dafür war es zu spät.