Dunkle Erinnerung - Harry Barnett ermittelt: Der dritte Fall - Robert Goddard - E-Book
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Dunkle Erinnerung - Harry Barnett ermittelt: Der dritte Fall E-Book

Robert Goddard

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Beschreibung

Die Geister der Vergangenheit können tödlich sein: Der düstere Krimi »Dunkle Erinnerung« von Robert Goddard jetzt als eBook bei dotbooks. »Der Meister des cleveren Twists!« Sunday Telegraph – Fünfzig Jahre ist es her, dass Harry Barnett seinen Dienst bei der Royal Air Force quittiert hat. Als ein Treffen ehemaliger Kameraden ansteht und Harry auf eine schottische Burg eingeladen wird, denkt er nicht zweimal nach und besteigt mit zwei alten Freunden den Zug nach Aberdeen. Doch während der Fahrt stirbt einer von ihnen – war es wirklich Selbstmord? Als kurz nach ihrer Ankunft ein weiterer Ex-Kamerad unter mysteriösen Umständen stirbt, weißen alle Indizien auf einen Täter: Harry. Um seine Unschuld zu beweisen und das Rätsel der ungeklärten Todesfälle zu lösen, muss er sich den Geistern seiner eigenen Vergangenheit stellen – und auf einen alten Freund vertrauen, der ihn schon einmal bitter verraten hat … »Robert Goddard ist der absolute Meister des Spannungsromans.« Daily Mirror Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der abgründige Kriminalroman »Dunkle Erinnerung« von Robert Goddard. Der dritte Fall für Harry Barnett – alle drei Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 506

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Über dieses Buch:

»Der Meister des cleveren Twists!« Sunday Telegraph – Fünfzig Jahre ist es her, dass Harry Barnett seinen Dienst bei der Royal Air Force quittiert hat. Als ein Treffen ehemaliger Kameraden ansteht und Harry auf eine schottische Burg eingeladen wird, denkt er nicht zweimal nach und besteigt mit zwei alten Freunden den Zug nach Aberdeen. Doch während der Fahrt stirbt einer von ihnen – war es wirklich Selbstmord? Als kurz nach ihrer Ankunft ein weiterer Ex-Kamerad unter mysteriösen Umständen stirbt, weißen alle Indizien auf einen Täter: Harry. Um seine Unschuld zu beweisen und das Rätsel der ungeklärten Todesfälle zu lösen, muss er sich den Geistern seiner eigenen Vergangenheit stellen – und auf einen alten Freund vertrauen, der ihn schon einmal bitter verraten hat …

Über den Autor:

Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane:»Im Netz der Lügen«»Der Preis des Verrats«»Eine tödliche Sünde«»Ein dunkler Schatten«»Denn ewig währt die Schuld«»Das Geheimnis von Trennor Manor«»Und Friede den Toten«»Das Geheimnis der Lady Paxton«»Das Haus der dunklen Träume«

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane:»Die Sünden unserer Väter«»Die Schatten der Toten«»Jäger und Gejagte«»Die Klage der Toten«»Der Kartograf von London«

Robert Goddard veröffentlichte außerdem bei dotbooks seine drei Kriminalromane mit dem Ermittler Harry Barnett:»Dunkles Blut«»Dunkle Sonne«»Dunkle Erinnerung«

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eBook-Neuausgabe August 2020

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »Never Go Back« bei bei Bantam Press, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Die Schatten von Aberdeen« im Wilhelm Goldmann Verlag.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2006 by Robert and Vaunda Goddard

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/John Gomez, Mro

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (tw)

ISBN 978-3-96148-894-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Robert Goddard

Dunkle Erinnerung

Harry Barnett ermittelt

Aus dem Englischen von Peter Pfaffinger

dotbooks.

In Gedenken an Daisy Taylor, eine liebe und wahre Freundin

Kapitel 1

Wenn er mit Donna zurückgeflogen wäre, wäre das vollkommen in Ordnung gewesen. Wenn ihre Maschine nur ein, zwei Stunden Verspätung gehabt hätte, dann hätte das auch schon genügt. Wenn er beim Verlassen des Friedhofs einfach nach rechts statt nach links abgebogen wäre, hätte er sich das alles wahrscheinlich erspart.

Aber nichts war in Ordnung; nichts hatte genügt; nichts blieb ihm erspart. Letztlich führte all das »wenn« und »deshalb« nirgendwohin. Das Schicksal hatte ihm an jenem Tag eine Falle gestellt. Und er tat ihm den Gefallen, arglos mitten hineinzutappen.

So fand ein Jahrzehnt, in dem es das Leben gut mit Harry Barnett gemeint hatte, ein jähes Ende, ohne dass er etwas davon ahnte. Hochzeit und Vaterschaft waren in diesen Jahren die Höhepunkte aller schönen Überraschungen gewesen. Er bedauerte allenfalls, dass er erst so spät dazu gefunden hatte, aber genau die Umstände, denen er zu guter Letzt Donna und ihre gemeinsame Tochter Daisy verdankte, hatten eben auch die Verspätung erzwungen. Andererseits war er nie einer von denen gewesen, die sich lange mit verpassten Gelegenheiten aufhielten. Die Gegenwart – und ihre gemeinsame Zukunft als Familie – gehörten ihm und wollten genossen werden.

Seine Zufriedenheit hatte auch der kürzliche Tod seiner Mutter nicht trüben können. Ein schneller und sanfter Abgang im Alter von dreiundneunzig Jahren war kein Anlass zu Kummer. Sie hatte ihren Lauf würdevoll beendet.

Mit dem Tod seiner Mutter waren auch Harrys Verbindungen zu seinem Geburtsort so gut wie abgestorben. Nach Swindon war er nur zurückgekehrt, um ihre Beerdigung zu organisieren und das Haus, in dem sie über siebzig Jahre lang gelebt hatte, zu räumen. Das Wohnungsamt wollte so bald wie möglich einen neuen Mieter hineinsetzen. Die Tatsache, dass die Falmouth Street Nummer 37 so viel von Harrys Vergangenheit barg, konnte es nicht aufhalten. Abgesehen davon lag das auch gar nicht in Harrys Interesse. Es war Zeit, weiterzuziehen.

Donna war an diesem Tag schon am Morgen nach Seattle zurückgeflogen, wo sie Daisy bei den Großeltern untergebracht hatten. Morgen würden Mutter und Tochter heim nach Vancouver fahren. Harry hatte vor, in ungefähr einer Woche wieder bei ihnen zu sein, sobald er die Kleider, Möbel und das Geschirr seiner Mutter entsorgt hatte. Er hätte sich eine schönere Aufgabe vorstellen können, aber sie musste erledigt werden. Abgesehen davon gab es niemanden, der sie ihm abnahm. Das war nun mal das Schicksal eines Einzelkindes.

Nachdem Harry sich am Heathrow Airport von Donna verabschiedet hatte und allein nach Swindon zurückgefahren war, überfiel ihn plötzlich Selbstmitleid. Er hatte keine Lust, die Schränke zu leeren und Müllbeutel vollzustopfen. So schlug er nach der Ankunft am Bahnhof nicht den Weg zum Haus seiner Mutter ein, sondern wanderte vorbei an der Mauer um die ehemalige Betriebsanlage der Great Western Railway zum Park und weiter zur Radnor Street, wo sich gegenüber seiner alten Grundschule, inzwischen zu einem Bürokomplex umgebaut, der Eingang zum Friedhof befand.

Zum ersten Mal, so weit Harry zurückdenken konnte, fehlte an dem vertrauten Ort nahe der höchsten Stelle des Friedhofs der Grabstein seines Vaters, Stanley Barnett, der bei einem Unfall im Lokomotivenfertigungswerk der Great Western Railway das Leben verloren hatte, als Harry drei Jahre alt gewesen war. Man hatte den Stein entfernt, um nun nach all den Jahren die Inschrift um Ivy Barnetts Namen zu erweitern. Harry blieb minutenlang vor dem mit Blumen übersäten Grabhügel stehen, in dem vor zwei Tagen der Sarg seiner Mutter auf den seines Vaters hinabgelassen worden war. Er sog die klare Frühlingsluft ein und blickte zum flachen Horizont. Schließlich wandte er sich ab und ging langsam davon.

Nachdem er den Friedhof am anderen Ende verlassen hatte, zog er kurz in Erwägung, einen Abstecher zum Beehive zu machen, seiner Stammkneipe in den lange zurückliegenden Jahren, als er schon ausgezogen war und sich als Mitinhaber von Barnchase Motors selbstständig gemacht hatte. Dann aber sagte er sich, dass ein Abgleiten in von Bier benebelte Nostalgie kein guter Beginn einer von Einsamkeit bestimmten, arbeitsreichen Woche sein würde. So steuerte er stattdessen lieber die Markthalle am Fuß des Friedhofshügels an, wo er zwei Lammkoteletts fürs Abendbrot kaufte, und kehrte in die Falmouth Street zurück.

Es war ein milder Aprilnachmittag, die Luft war erfüllt von fahlem Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Selbst den Bürogebäuden in der Innenstadt von Swindon gelang es in dem milden Licht, wenn schon nicht schön, so doch wenigstens harmlos auszusehen. Das Eisenbahnviertel wirkte ruhig und friedlich, ein Zustand, den allein der Altersdurchschnitt seiner Bewohner mehr oder weniger garantierte. Tapfer kehrte Harry der verlockenden knallgelben Fassade des Glue Pot den Rücken – oder beschloss zumindest, erst die Lammkoteletts in den Kühlschrank zu legen, ehe er sich ein schnelles Bier gönnte –, dann überquerte er den Emlyn Square und bog in die Falmouth Street ein.

Er entdeckte die zwei Männer, bevor ihm klar wurde, dass sie ausgerechnet vor der Tür seiner Mutter standen. Sie waren etwa in seinem Alter, das er früher einmal mit in die Jahre gekommen beschrieben hätte, jetzt aber, da er es erreicht hatte, als verblüffend hoch bezeichnete. Einer der beiden Männer war klein und gedrungen und mit Trainingsanzug, Anorak und Baseballmütze bekleidet. Der andere, der deutlich schlanker, wenn auch kaum größer war, trug schäbige, altmodische Sachen: einen Regenmantel ohne Gürtel, zerknitterte Hosen, Schnürschuhe, die dringend poliert gehörten. Er hatte strubbeliges, volles weißes Haar, ein kantiges Gesicht mit markanter Hakennase und einen ausgesprochen krummen Rücken. Im Gegensatz zu ihm schien sich sein Gefährte in seiner Haut wohlzufühlen; die Hände lässig in die Anoraktaschen gesteckt, starrte er Kaugummi kauend zur Nummer 37 hinüber, während das Sonnenlicht im Rhythmus der Bewegungen seines gut gepolsterten Unterkiefers auf seiner Brille aufblitzte. Ein träges Zucken seiner Schultern legte den Schluss nahe, dass sie sich wohl gerade beiläufig über etwas unterhielten. Neben ihnen standen ein abgewetzter Lederkoffer und eine durchaus elegante Reisetasche neueren Datums auf dem Bürgersteig. Harry kannte die Männer nicht und hatte keine Ahnung, was sie hier wollten. Was immer es jedoch sein mochte, er war sich sicher, dass sie nicht seinetwegen gekommen waren.

Dann bemerkte ihn der dünnere Mann und berührte den anderen am Arm. Sie wechselten ein Wort, wandten sich um und blickten Harry an. Erst jetzt blieb er stehen. Und mit ihm erstarrte alles andere, selbst das Kaugummikauen.

»Ossie?«, fragte der Dicke nach einem Moment völliger Stille und Reglosigkeit. »Das bist du doch, oder?«

Seit den Tagen des Wehrdienstes beim National Service, die er vor fünfzig Jahren hinter sich gebracht und fast genauso lange völlig vergessen hatte, hatte ihn niemand mehr Ossie genannt. Während sein Gehirn einen nicht allzu schnellen Trupp auf die Suche nach Erinnerungen losschickte, mit denen sich diese unvermutete Wendung vielleicht erklären ließe, öffnete er den Mund, um etwas zu sagen – aber ihm fiel nichts ein.

»Wir sind's, Jabber und Crooked.«

Diese Worte schlangen sich wie ein Lasso um Harrys herumirrende Gedanken und bändigten sie. Jabber und Crooked, die Spitznamen zweier seiner Kameraden während der eigenartigsten und denkwürdigsten Episode seiner Zeit in Uniform. Mervyn Lloyd, den sie wegen seiner Geschwätzigkeit Jabber – Plappermaul – genannt hatten, und Peter Askew, dem sie die Bezeichnung Crooked – krummer Hund – verpasst hatten, konnten beide als lehrreiche Beispiele für den Humor bei der Armee gelten. Was Harry betraf, bezog sich »Ossie« auf seinen zweiten Vornamen, Mosley, den ihm sein Vater zu seinem lebenslänglichen Verdruss angehängt hatte, um Oswald Mosley zu ehren.

»Erkennst du uns nicht?«

Eigentlich hätte die korrekte Antwort »gerade so eben« lauten müssen. Die Zeit war nicht gerade rücksichtsvoll mit den beiden umgesprungen. Lloyds walisischer Zungenschlag hatte überlebt, seine drahtige Figur nicht. Hätte er geleugnet, Mervyn Lloyd zu sein, Harry hätte ihm nicht widersprochen. Askew wiederum war von den Jahren gebleicht und gebeugt worden wie eine Topfpflanze, die man zu viele Winter im Freien hat stehen lassen.

»Himmeldonnerwetter«, brachte Harry schließlich hervor, »ihr seid's wirklich.«

»Schön, dich zu sehen, Harry«, sagte Askew, der nie zu den glühendsten Anhängern von Spitznamen gehört hatte, was vielleicht auch daran lag, dass er seinen eigenen verabscheut hatte.

»Äh ... es ist toll, euch zu sehen.« Harry schüttelte beiden die Hand. »Aber ...«

»Du wirkst irgendwie überrascht«, sagte Lloyd.

»Das bin ich auch.«

»Hast du Dangers Brief denn nicht gekriegt?«

Worauf das hier auch immer hinauslief, offensichtlich steckte auch Johnny Dangerfield mit drin. Es musste eine Art Treffen zur Feier des fünfzigsten Jahrestags ihrer Entlassung sein. Eine andere Erklärung konnte sich Harry einfach nicht vorstellen, obwohl er das Jubiläum völlig unbeachtet hätte verstreichen lassen, wenn es nach ihm gegangen wäre. »Ich habe keinen Brief gekriegt«, sagte er mit einem verwirrten Stirnrunzeln.

»Das kann nicht sein. Das hier ist die Adresse, die Danger uns gegeben hat.«

»Ich lebe hier schon seit Jahren nicht mehr. Seit Jahrzehnten, genauer gesagt. Das ist das Haus meiner Mutter. Sie ist kürzlich gestorben. Ich bin nur gekommen, um den Haushalt aufzulösen.«

»Dann haben wir ja Schwein gehabt, was meinst du, Crooked?« Lloyd grinste. »Weißt du, Ossie, Danger hatte uns gebeten, auf gut Glück vorbeizuschauen, weil es für uns mehr oder weniger auf dem Weg liegt.«

»Das mit deiner Mutter tut mir leid, Harry«, murmelte Askew

»Danke, Peter.«

»Wo lebst du denn jetzt?«, wollte Lloyd wissen.

»Kanada.«

»Manche haben's echt gut erwischt. Wie hat es dich dorthin verschlagen?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Glaub ich gern. Wann fliegst du zurück?«

»In einer Woche ungefähr.«

»Wunderbar. Hast du Lust, ein paar Tage nördlich der Grenze zu verbringen?«

»Grenze?«

»In Schottland, Ossie. Johnny hat für das kommende Wochenende ein Treffen von uns allen im Kilveen Castle auf die Beine gestellt.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein. Der ganze alte Trupp. Na ja, diejenigen, die noch unter den Lebenden weilen und die er aufspüren konnte. Bei dir hatten wir fast schon aufgegeben.«

»Meine Mutter muss vergessen haben, den Brief weiterzuleiten«, sagte Harry. »Oder er ist irgendwo verloren gegangen.«

»Na gut, man weiß ja, was aus der Post geworden ist. Aber reg dich nicht auf.« Lloyd klopfte Harry auf die Schulter. »Jetzt haben wir dich ja gefunden.«

Kapitel 2

Der Weg, der den jungen Harry Barnett im März 1955 zur Burg Kilveen Castle führen sollte, hatte schon zwei Jahre zuvor im Arbeitsamt von Swindon begonnen, als Harry bei einer flüchtigen Gesundheitsuntersuchung für wehrdiensttauglich befunden und ihm nahegelegt worden war, sich zur Royal Air Force zu melden, die gemeinhin im Vergleich zur Landarmee und zur Navy als weniger hart galt. Den Ausschlag gaben schließlich ein halbes Dutzend Schnupperwochenenden bei der Luftwaffenreserve in Wroughton und ein Gutschein für eine Zugfahrt dritter Klasse zum RAF-Standort in Padgate, der sechs Wochen später im Briefkasten des Hauses in der Falmouth Street Nummer 37 landete.

Nach der traumatischen Grundausbildung wurde er nach Stafford abkommandiert, wo seine unterbrochene Berufslaufbahn als Angestellter in der Registratur des Landratsamtes von Swindon als hinreichende Grundlage für die Arbeit im Magazin erachtet wurde. Gewagte Himmelsflüge sollte es für den Gefreiten Barnett trotz all seiner Kindheitsfantasien von tollkühnen Taten in der Manier der Helden beim Luftkampf um Großbritannien nicht geben. Seine Einheit war fest am Boden verankert.

Es war in den Tiefen der Katakomben des Zeugamts, wo Harry seinen künftigen Geschäftspartner Barry Chipchase bei der Bestandsaufnahme der Ausrüstung von nach dem Krieg aufgelösten Truppen kennenlernte. Obwohl er ungefähr in Harrys Alter war, hatte Barry irgendwo eine vorzeitige Reife erworben, die sich unter anderem in einem unfehlbaren Instinkt für die große Chance zeigte. Der Tag, an dem Barnchase Motors wegen seiner Mauscheleien Pleite machte und Harry seinen Freund endgültig durchschaute, lag zu dem Zeitpunkt noch zwanzig Jahre in der Zukunft. Fürs Erste war Harry froh, sich von Chipchase in allem anleiten zu lassen, was das Streben nach weiblicher Gesellschaft und schnellem Geld betraf. Was eine entsetzlich öde Dienstzeit in den Midlands hätte sein können, wurde so unter Chipchase' Fittichen eine Ausbildung in den Finessen einer raffinierteren Lebensart.

Am Anfang finanzierte Chipchase seine Unternehmungen mit redlichem Schwarzhandel, doch das Ende der Rationierung zwang ihn, sich auf andere Methoden des Gewinnerwerbs zu besinnen. 1954 war der Tausendsassa der Alleinherrscher über den Handel in der Garnison, an dem keiner vorbeikam, egal, ob es um Wochenendpässe oder bequeme Arbeit ging, und der jenseits des Tores so ziemlich alles verscherbelte, was nicht niet- und nagelfest war. Am Anfang ihrer Unternehmungen war Harry sein getreuer Helfer und an ihrem Ende sein zuverlässiger Partner.

Dieses Ende kam Anfang 1955, als Chipchase wenige Monate vor Ablauf ihrer Dienstzeit den Bogen überspannte. Treibstoff vom Panzer der Garnison abzuzapfen, um ihn an Farmer aus der Umgebung zu verkaufen, und nicht mehr benötigte Möbel aus der Offiziersmesse rauszuschmuggeln und in den Pubs von Stafford loszuschlagen genügte ihm nicht mehr. Er wollte höher hinaus – und eine große Nummer werden. Im Lager ruhten die Silbervorräte mehrerer Geschwader, die nicht so bald neu aufgestellt werden würden, solange nicht gerade ein Dritter Weltkrieg ausbrach. Ein Großteil des Silbers würde nach Chipchase' Einschätzung nie vermisst werden und darum eine viel segensreichere Verwendung finden, wenn sich damit eine von ihm sogenannte »Ausmusterungskasse« ausschließlich für seine und Harrys Zwecke einrichten ließe – ein Notgroschen für eine lässige und flotte Zukunft als Zivilisten.

Der Plan scheiterte – wie so oft bei solchen Vorhaben – am schieren Pech. Als der Kommandant der Garnison, Air Chief Marshal Bradshaw, in einem Birminghamer Laden ein Silbertablett mit den Insignien eines Geschwaders entdeckte, das er einmal befehligt hatte, leitete er eine Untersuchung ein, die die Militärpolizei auf langen, verzweigten Wegen nach Stafford zur Tür der Baracke der Gefreiten Barnett und Chipchase führte. Ihr Spiel war aufgeflogen.

Vergeblich beteuerte Chipchase vor Harry, dass er sich bei seinem Geschäft mit einem gewissen namenlosen Individuum fest darauf verlassen hätte, dass die Stücke eingeschmolzen und nicht so, wie sie waren, verkauft würden. Harry fand, Chipchase hätte doch klar sein müssen, dass er sich auf Leute einließ, denen man einfach nicht trauen konnte. Nun, in den Wochen, die sie bis zum Zusammentreten des Kriegsgerichts in Arrestzellen verbrachten, bekam Harry ausreichend Gelegenheit, sich zu diesem Punkt zu äußern. Ihre Aussichten waren düster, wie ihnen der als ihr Verteidiger benannte Fliegerhauptmann erklärte. Für ein derart ungeheuerliches Vergehen sowohl gegen das Eigentum als auch gegen die Ehre der Air Force sei mit einer Haftstrafe von sechs Monaten – wenn nicht noch mehr – zu rechnen. Zudem würde ihr Dienst um dieselbe Zeit verlängert. Und mit einer Vorstrafe wegen Diebstahls belastet, würde Harry bei seiner Rückkehr nach Swindon feststellen, dass dort keine Arbeit auf ihn wartete. Plötzlich sah die Zukunft alles andere als rosig aus. Auch Chipchase konnte ihn keineswegs damit aufmuntern, wenn er stur darauf beharrte, dass ihm beizeiten irgendwas einfallen würde, um sie rauszupauken.

Dann – mirabile dictu – kam die Rettung tatsächlich noch. Chipchase versuchte, das Verdienst dafür sich selbst zuzuschreiben, während Harry eher dazu neigte, seinem Schutzengel zu danken. Kurz vor Zusammentreten des Kriegsgerichts befahl sie der Kommandant, Group Captain Wyatt, unter strenger Bewachung in sein Büro und bot ihnen zu Harrys ungläubigem Staunen einen Ausweg an. Für ein spezielles Projekt, das auf drei Monate angelegt war, wurden Freiwillige gesucht. Weitere Details waren Wyatt nicht zu entlocken – bis auf die trockene Zusicherung, dass nicht vorgesehen sei, sie mit dem Fallschirm über Russland abspringen zu lassen. Wenn sie sich also dazu verpflichteten, während der gesamten Zeit zu tun, was man von ihnen verlangte, ohne Fragen zu stellen, und dabei eine reine Weste behielten, würde die Anklage fallen gelassen. Anderenfalls ...

Eine Weigerung stand für sie so gut wie außer Frage. Das musste Wyatt bereits einkalkuliert haben, denn er hatte ihre Seesäcke schon packen lassen. Er wollte sie loswerden. Und sie waren nur allzu froh, so davonzukommen.

Später sollte Chipchase Spekulationen darüber anstellen, dass es pensionierten hohen Tieren bei der Luftwaffe sauer aufstoßen würde, wenn sie erfuhren, wie schlecht bei ihrem alten Geschwader das Tafelsilber gehütet wurde. Ein Kriegsgericht hätte wohl ein höchst unerwünschtes öffentliches Echo ausgelöst. Vermutlich war also von höchster Stelle die Parole ausgegeben worden, dass das um jeden Preis verhindert werden musste. Kurz, er und Harry hätten ein besseres Angebot herausschlagen sollen.

Andererseits war das vorliegende schon ziemlich gut. Achtundvierzig Stunden später trafen sie auf Kilveen Castle ein, einem Außenposten der Royal Air Force in der Nähe von Aberdeen, wo sie die anderen Freiwilligen für besondere Aufgaben unbekannter Natur kennenlernten.

Sie waren insgesamt fünfzehn Männer gewesen, von denen fünfzig Jahre später drei gemütlich bei Tee in der Küche des Hauses Falmouth Street Nummer 37 zusammensaßen. In Peter Askews Fall war »gemütlich« natürlich ein relativer Begriff. Sein Gefühl sagte Harry, dass Peter wohl zu den Menschen gehörte, die die Kunst zu leben nie richtig beherrschten; wirklich schade, wenn er bedachte, wie viel unwiederbringlich an ihm vorbeigegangen war. Für Mervyn Lloyd dagegen schienen Hemmungen ein Fremdwort zu sein. Genauso wie Schweigen. Gerade jetzt im Moment machte er seinem Spitznamen alle Ehre, da er Harry eine Zusammenfassung von Johnny Dangerfields Brief gab, der ihn nicht erreicht hatte.

»Danger hat sich offenbar eine goldene Nase mit Nordseeöl verdient, und das sprudelt natürlich vor Aberdeen. Die Burg ist zu einem Hotel umgebaut worden. Und das hat ihn auf die Idee gebracht, zum fünfzigsten Jahrestag ein Jubiläumstreffen unserer kleinen Rasselbande zu veranstalten. Also hat er die Verwaltung der Universität gebeten, sich vom Verteidigungsministerium die Adressen geben zu lassen, die sie zum Zeitpunkt der Entlassung von jedem besaßen. Und als er sie erst mal hatte, hat er sich darangemacht, einen nach dem anderen anzuschreiben. Da musste ganz schön viel nachgeschickt und rumtelefoniert werden. Zwei von uns haben schon ins Gras gebissen. Aber was kann man bei unserem Alter anderes erwarten? Und ein, zwei Burschen waren richtig schwer aufzuspüren, genau wie du, Ossie. Aber Danger hat alles in allem verdammt gute Arbeit geleistet. Ich gebe dir nachher seinen letzten Brief, damit du ihn dir in Ruhe zu Gemüte führen kannst. Aber langer Rede kurzer Sinn: Er hat das Hotel fürs kommende Wochenende gebucht. Für uns allein. Und das Ganze ist gratis. Danger zahlt. Geht alles auf ihn. Na ja, wahrscheinlich hat er einen guten Preis rausgeschlagen, weil die Saison schließlich gerade erst anfängt, aber trotzdem ist das verdammt großzügig von ihm. Sieben von uns fahren morgen mit dem Zug von London aus dorthin. Ich übernachte bei meiner Tochter in Neasden. Sie weiß es noch nicht, aber Crooked ist auch mit von der Partie. Bei der Aktion ist nämlich rausgekommen, dass wir beide in Cardiff leben. Darum ist es nur logisch, dass wir zusammen nach Norden fahren. Außerdem liegst du auf dem Weg, und da haben wir hier gleich mal einen Zwischenhalt eingelegt und überprüft, ob du wirklich verschollen bist. Zu meiner großen Freude darf ich feststellen, dass das nicht der Fall ist.«

»Du bist doch dabei, Harry, oder?«, fragte Askew in wehleidigem Ton. »Ohne dich wäre es nicht das Gleiche.«

»Bestimmt nicht«, bestätigte Lloyd. »Die Einladung ist einfach zu gut, um sie auszuschlagen.«

»Kommt Barry auch?«, fragte Harry, der inzwischen zu dem Schluss gekommen war, dass Chipchase von allen am schwersten aufzutreiben gewesen sein musste.

»Wer?« Lloyd blinzelte ihn verwirrt an. Er war immer noch auf die Spitznamen von vor fünfzig Jahren fixiert.

»Fission.« Mit einer Geistesgegenwart, die ihn selbst überraschte, erinnerte Harry sich an das Wortspiel mit Barrys Nachnamen, das während ihres Exils in Aberdeenshire an seinem Freund kleben geblieben war. (Das Schlagwort »fission« – Kernspaltung – war damals ständig durch die Nachrichten gegeistert, auch wenn sie selbst eher Fish and Chips im Kopf gehabt hatten.) »Barry Chipchase.«

»Klar.« Askew nickte. »Der kommt auch.«

»Richtig, war ja dein bester Freund, jetzt fällt's mir wieder ein.« Lloyd richtete seinen wurstförmigen Zeigefinger auf Harry. Offensichtlich glaubte er, dass damit alles geregelt war. »Du wirst dir doch bestimmt nicht die Chance entgehen lassen, zu erfahren, was aus dem alten Fission geworden ist, was?«

»Er ist sogar schon dort«, warf Askew ein.

»Wirklich?«

»Bei diesem Brief ist das kein Wunder, Ossie«, bestätigte Lloyd. »Danger hat sich eben nicht lumpen lassen.«

»Na ja, ich kann nicht ...«

»Du kannst nicht nein sagen?« Lloyd zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Dann ist ja alles geregelt, oder? Uns geht's genauso. Man kann dem alten Danger doch nicht seinen Wunsch abschlagen, wenn er schon darauf besteht, mit dem Geld um sich zu schmeißen.

Als Harry Lloyd und Askew am Nachmittag zum Bahnhof begleitete, war seine Teilnahme an der Expedition praktisch ausgemachte Sache. Wenn ihm schon eine so exklusive Spritztour zu einer schottischen Burg spendiert wurde, an die er zwar gemischte, aber keineswegs traumatische Erinnerungen hatte, schlug das ein Wochenende allein in Swindon um Längen, zumal er die ganze Zeit damit beschäftigt wäre, das Haus seiner verstorbenen Mutter leer zu räumen. Er war zuversichtlich, dass Donna ihm ein kurzes Schwelgen in Erinnerungen nicht verübeln würde. Dass er ausschließlich in der Vergangenheit lebte, konnte ihm wirklich niemand vorwerfen. Und so ein flüchtiger Abstecher zu nostalgischen Reminiszenzen würde sicher keinen Schaden anrichten.

Kapitel 3

Die Operation Tabula rasa – oder »Unbeschriebenes Blatt«, wie die Teilnehmer dazu sagten – war das Geistesprodukt eines gewissen Professor Alexander McIntyre von der Universität Aberdeen. Er wollte seine Theorie überprüfen, dass jeder Einzelne jedes beliebige akademische Fach bis zu einem durchaus annehmbaren Leistungsstand erlernen konnte, solange nur das Umfeld und die Methoden stimmten. Ideale Voraussetzungen für ein solches Experiment schien ihm aufgrund seiner Abgeschiedenheit das dreißig Meilen westlich von Aberdeen im Landesinneren gelegene Kilveen Castle zu bieten, das zudem für eine spottbillige Miete zu haben war. Und das zu diesem Zweck gewünschte, wenig verheißungsvolle Material stellte eine Gruppe von Wehrpflichtigen dar, die allesamt grob gegen die Disziplin im Heer verstoßen hatten. Dank der Vermittlung durch einen Cousin, der im Verteidigungsministerium Assistent des Unterstaatssekretärs war, erklärte sich die RAF einverstanden, ihm fünfzehn solche Übeltäter zur Verfügung zu stellen, die alsbald im März 1955 kurzfristig aus Strafbataillonen, Gefängnistrakten und Arrestzellen geholt und zu dem dreimonatigen Experiment nach Schottland gekarrt wurden. Wenn Professor Mac sie haben wollte, so wurde ihm zu verstehen gegeben, konnte er sich gern bedienen.

Später wurden seitens des Professors Klagen laut, dass drei Monate nicht genügten. Mindestens sechs seien nötig. Doch die Universität, die die Miete zahlte und das Lehrpersonal stellte, war nicht bereit, die Frist zu verlängern. Auch bei der RAF stieß er auf taube Ohren, nachdem sie ohnehin schon höchst widerwillig einen Fliegerhauptmann und einen Feldwebel vom Geschwader 612 als Aufpasser zur Verfügung stellte, damit die fünfzehn Missetäter nicht Amok liefen.

In gewisser Hinsicht war das Experiment auf diese Weise von vornherein zum Scheitern verurteilt. Vom Standpunkt der Teilnehmer aus – der Studenten, wie Professor Mac sie nannte – war es freilich ein fulminanter Erfolg. Drei Monate lang auf einer schottischen Burg in einem Klassenzimmer herumzusitzen und sich in Kunst, Literatur, Geschichte, Algebra, Geometrie, Psychologie, Philosophie und dergleichen mit nicht gerade eiserner Entschlossenheit weiterzubilden, verlangte einem zwar ein gewisses Quäntchen an geistiger Anstrengung ab und erzeugte gelegentliche Anfälle von tödlicher Langeweile, war aber dennoch bei Weitem der Alternative vorzuziehen, so dass sich kein einziges Mal Widerspruch regte. Nicht einer verkrümelte sich, verstieß gegen die Hausordnung oder stahl auch nur einen Löffel. In disziplinarischer Hinsicht, wenn auch in sonst keiner, waren sie alle vorbildliche Studenten. Die drei Monate verstrichen ereignislos und endeten mit wenigen Anzeichen verblüffender geistiger Fortschritte, zumindest was den Gefreiten Harry Barnett betraf, auch wenn ein, zwei seiner Kommilitonen tatsächlich akademische Gewohnheiten annahmen und sogar Meriten erwarben. Gleichwohl entsprach das Gesamtergebnis keineswegs dem, was sich Professor Mac erhofft haben musste. So kehrte er an seinen Lehrstuhl zurück, während Harry und die anderen »Unbeschriebenen Blätter« ihrer Wege gingen.

Harry leistete den Rest seiner Dienstzeit in der Registratur des RAF-Außenpostens von Gloucester ab. Chipchase wurde in eine Reparaturwerkstatt an der Südküste versetzt, wo er Batterien aufladen musste. Sie sollten sich jahrelang nicht wiedersehen. Und nie hätten sie sich träumen lassen, dass sie noch einmal die dreizehn Männer treffen würden, mit denen sie im Frühling 1955 auf dem Gelände der Burg Kilveen Castle in Aberdeenshire eine Wellblechhütte geteilt hatten.

Die Wellblechhütte war zum Glück schon lange verschwunden. Als Unterkunft für die »Unbeschriebenen Blätter« waren die luxuriösen Gästezimmer des Kilveen Castle Hotels vorgesehen. Und das war nur eine der Verlockungen in Johnny Dangerfields letztem Rundbrief, den Harry auf dem Rückweg vom Bahnhof über einem Pint Bier im Glue Pot studierte. Dem üppigen Programm nach zu schließen, mit dem er sie verwöhnte, musste Dangerfield in der Ölbranche hervorragende Geschäfte gemacht haben. Andererseits war er schon immer großzügig gewesen und hatte sich nie lumpen lassen, wenn sich einer mal ein Pfund leihen oder an seiner Zigarette ziehen wollte. In diesem Rahmen entsprach das durchaus seinem Charakter.

Die per E-Mail übermittelten Fotos von Kilveen Castle verrieten, dass die Burg sich äußerlich kaum verändert hatte. Bei dem ursprünglichen Gebäude aus dem 16. Jahrhundert handelte es sich um einen gedrungenen Turm mit schmalen Fenstern und Zinnen an den Ecken. Gut zweihundert Jahre später war wie ein neuer Trieb aus einem knotigen Baumstumpf ein schlichtes, aber wohlproportioniertes georgianisches Herrenhaus angebaut worden. Allerdings war schon zu Harrys Zeit das Innere, vor allem der Turm, mehr als nur ein bisschen marode gewesen. Seitdem hatte man die Bausubstanz von Grund auf restauriert und die Zimmer von einem Top-Architekten auf den allerneuesten Stand bringen und mit hochmodernen Möbeln einrichten lassen. Der trübselige, zugige Speiseraum, in dem sie ihre kargen Mahlzeiten gegessen hatten, war in ein elegantes Restaurant verwandelt worden, während das Klassenzimmer, in dem sie sich an Kubismus und Infinitesimalrechnung die Zähne ausgebissen hatten, jetzt ein mit allen der Geschäftswelt bekannten Schikanen ausgestatteter Konferenzsaal war.

Kilveen Castle trug die Jahre mit einer Leichtigkeit, die sich nicht bei allen Veteranen der Operation »Unbeschriebenes Blatt« erkennen ließ. Dangerfield hatte zwar Angaben zu ihrem weiteren Berufsweg beigefügt, doch in einigen Fällen waren diese äußerst dürftig. Er selbst bezeichnete sich als »von einem Ölgiganten in Rente geschickt und von einer Männerfresserin geschieden«, doch seine Anschrift – Sweet Gale Lodge, Pitfodels, Aberdeen – klang nicht gerade nach einer Absteige, und Harry sah keinerlei Anlass, Lloyds Feststellung, Danger schwimme in Geld, in Zweifel zu ziehen.

Lloyd hatte vierzig Jahre damit verbracht, in der Hafenmeisterei von Cardiff Dokumente hin und her zu schieben, und verwies stolz auf eine Frau und drei erwachsene Kinder. Alles in allem war seine Lebensgeschichte wirklich nicht dazu angetan, den Puls zum Rasen zu bringen. Die von Askew ebenso wenig. Crooked hatte offenbar in verschiedenen Zoos und Veterinärspraxen mit Tieren gearbeitet. Über seine Beziehungen zu Menschen war nichts zu erfahren.

Trotzdem war eine Lücke immer noch einem Schlusspunkt vorzuziehen. Mike »Three Foot« Yardley hatte sich 1968 bei einem Motorradunfall verabschiedet. Les »Smudger« Smith, der es zum Vertreter von Doppelglasfenstern gebracht hatte, war 1993 einem Herzinfarkt erlegen, als er gerade einem Kunden die einzigartige Verzinkungstechnik seines Arbeitgebers erklärte. Leroy »Coker« Nixon war 1983 unter unbekannten Umständen ertrunken. Lester »Piggott« Maynard schließlich, der sich einen gewissen Namen als Autor von Radiokomödien gemacht hatte, war 1987 an AIDS gestorben, was einige – Harry nicht mit eingeschlossen – schon damals aus Zeitungsnachrufen erfahren hatten. Fehlen würde auch Ernie »Babber« Babcock, der früh nach Australien ausgewandert und seit einem Schlaganfall offenbar nicht mehr ganz zurechnungsfähig war. Auf diese Weise war die Zahl der Teilnehmer an dem Jubiläumstreffen, das Dangerfield sich in den Kopf gesetzt hatte, von fünfzehn Kameraden auf nur noch zehn geschmolzen.

Einige hatten es sichtlich besser getroffen als manche andere. Gilbert »Tapper« Tancred zum Beispiel war schon damals kein Hohlkopf gewesen. Harry konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die Tutoren auf Kilveen mehr als einmal mit seinem breiten Wissensspektrum überrascht hatte. Und er war auch derjenige, der sich die hintersinnigeren von den Spitznamen hatte einfallen lassen, die den »Unbeschriebenen Blättern« ausnahmslos verpasst worden waren. So überraschte es Harry nicht weiter, zu erfahren, dass er mit viel Geschick in der City untergekommen war, wo er in der Welt der von Nadelstreifenanzügen beherrschten Handelsbanken hoch genug aufgestiegen war, um jetzt als Rentner im Villenstädtchen Carshalton Beeches der Muße frönen zu können. Der andere Intellektuelle der Gruppe, Neville »Magister« Wiseman, hatte ebenfalls reüssiert und lebte als Kunsthändler im Teilruhestand im edlen Südwesten von London. Bill »Judder« Judd hatte es dank mehrerer Booms im Immobilienmarkt vom Bauarbeiter zum Bauunternehmer gebracht und war auch jetzt noch an dem in Essex ansässigen Familienbetrieb Judd and Sons beteiligt. Diese drei und dazu Dangerfield zählten unbedingt als Erfolgsstorys.

Was dagegen Owen »Gregger« Gregson betraf, dessen Geschichte war weniger glücklich. Als Angestellter bei Colman's Mustard in Norwich hatte er sich vorzeitig verrenten lassen, um seine schwerbehinderte Frau zu pflegen und Tauben zu züchten. Seine Biografie las sich nicht gerade so, als hätte er in den fünfzig Jahren seit den »Unbeschriebenes Blatt«-Tagen viel zu lachen gehabt. Recht viel lustiger war es wohl auch bei Milton »Paradise« Fripp nicht zugegangen, der vor seinem jetzigen ereignislosen Leben als lediger Rentner Buchhalter bei einer Wäscherei in Derby gewesen war.

Insofern war es vielleicht ganz gut, dass Harrys Werdegang im Rundbrief eine offene Frage geblieben war. Er konnte nur vermuten, dass seine Mutter Dangers erstes Schreiben einfach weggeworfen hatte. Wahrscheinlich hatte sie es für eine der vielen Werbesendungen gehalten, über die sie sich so oft beklagt hatte. Aber was, wenn sie ihm den Brief doch nachgeschickt hätte? Hätte er freiwillig Informationen über sich preisgegeben? Zehn Jahre lang bei der Stadtverwaltung von Swindon Memos in Ordner abheften; sieben Jahre als Geschäftsführer einer Autoreparaturwerkstatt, bis sie nach einem von Chipchase herbeigeführten Bankrott von der Bildfläche verschwand; sechs Jahre lang sich im Büro von Mallender Marine in Weymouth über Wasser halten; die nächsten neun auf Rhodos Lotusblüten essen; dann sechs Jahre in London vergammeln; und schließlich zehn Jahre als Ehemann einer schönen, intellektuellen Akademikerin aus Nordamerika: Nach einer zielgerichteten Karriere sah das nicht unbedingt aus, und eine Erklärung für jede einzelne der vielen Wegbiegungen wurde aus einer ganzen Reihe von sehr guten Gründen am besten gar nicht erst versucht.

Einen Teil der fehlenden Informationen hätte natürlich Barry liefern können, doch er schien in Bezug auf Harry genauso zurückhaltend wie bei sich selbst. Dangerfield erklärte, Fission hätte »mitten in den Vorbereitungen für seine Auswanderung nach Südafrika gesteckt, als ich ihn erreicht habe. Großherzig, wie er ist, hat er die ganze Aktion aufgeschoben, um uns alle auf Kilveen zu treffen, und danach will er in der Zeit bis zur großen Überfahrt seine Zelte in meiner bescheidenen Bleibe aufschlagen.« Was Chipchase in all den Jahren gemacht hatte, wurde nicht erwähnt, aber wenn er erst mal mit seinen alten Kameraden zusammensaß, würde er um eine Art Lebensgeschichte nicht herumkommen.

Dass zu diesen Kameraden auch Harry gehören würde, damit rechnete er vermutlich nicht. Lloyd würde am Abend Dangerfield anrufen und ihm melden, dass sie in Swindon doch noch fündig geworden waren. Frühestens dann würde Chipchase erfahren, dass Harry noch einmal in seinem Leben auftauchen würde. Zuletzt hatten sie sich rein zufällig vor zehn Jahren in Washington DC getroffen. Damals hatte Chipchase mit der reichen Witwe eines Bestattungsunternehmers aus Yorkshire geturtelt. Angesichts der bevorstehenden Auswanderung des alten Gauners beschlich Harry das Gefühl, dass nicht viel aus dieser Romanze geworden war – immer vorausgesetzt, er hatte das mit der Auswanderung nicht ohnehin bloß zu seinem Schutz erfunden. Alles in allem freute er sich darauf, Chipchase ein bisschen durch die Mangel zu drehen.

Und wenn er das nicht tat, würden es vielleicht andere versuchen. Professor Mac war längst tot und unter der Erde, also nicht mehr in der Lage, sich für etwaige langfristige Auswirkungen seiner Experimente zu interessieren. Bei seinem damaligen Assistenten dagegen, dem trübseligen jungen Donald Starkie – der jetzt nicht mehr jung, aber wahrscheinlich immer noch trübselig war –, war damit zu rechnen, dass ihn diese Frage sehr wohl umtrieb. Die Tatsache, dass ihn eine ehemalige Studentin von seiner Universität begleiten würde, eine gewisse Erica Rawson, ließ jedenfalls vermuten, dass mehr geplant war als ein bloßes Ehemaligentreffen. Dangerfield hatte an ihrer Teilnahme nichts auszusetzen gehabt. »Ich spreche wohl im Namen aller, wenn ich die Gesellschaft junger, intelligenter – genauer gesagt, hübscher – Personen weiblichen Geschlechts willkommen heiße. Seht nur zu, dass ihr sie nicht vor euren Frauen/Partnerinnen/Freundinnen/Geliebten erwähnt!«

Harry erwähnte Erica Rawson in seinem Telefongespräch mit Donna spät an diesem Abend tatsächlich nicht. Das lag jedoch nicht daran, dass er Dangerfields sexistische Anwandlungen geteilt hätte – sie hatten einfach über so vieles anderes zu reden. Wie er sich schon gedacht hatte, war Donna Feuer und Flamme für seine Reise nach Aberdeenshire.

»Da musst du hin, Schatz! Ich weiß noch gut, wie du mir von der Gegend erzählt hast. Du musst unbedingt rauskriegen, was die Burschen seitdem auf die Beine gestellt haben.«

»Nicht allzu viel, schätze ich. Es könnte ein grässliches Wochenende werden.«

»Aber Barry wird auch da sein, richtig?«

»Anscheinend.«

»Das wird doch bestimmt eine Riesenfreude, wenn ihr euch wiederseht!«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Freude das richtige Wort ist, aber ...«

»Fahr hin. Was hast du denn schon zu verlieren?«

»Zwei Tage bei der Haushaltsauflösung.«

»Dann wirst du dich eben umso mehr ins Zeug legen, wenn du zurück bist.«

»Na gut, aber ...«

»Daisy und ich erwarten eine Postkarte. Und nimm einen Fotoapparat mit. Ich will schon wissen, ob das Alter all diesen kriminellen Elementen so gut bekommen ist wie der herben Schönheit meines Mannes.«

»Du hältst es also für eine gute Idee?«

»Für eine gute Idee?« Donna lachte. »Klar, warum nicht?«

Kapitel 4

In sich zusammengesunken und benebelt hockte Harry am nächsten Morgen mit verquollenen Augen im Acht-Uhr-dreißig-Zug nach Paddington, seine Gedanken so verschwommen wie die vorbeifliegende Landschaft. Bei einem Schluck brühend heißem Kaffee aus der Plastiktasse verbrannte er sich fast die Zunge und überlegte daraufhin, ob eine Zigarette sein Denkvermögen schärfen würde. Eigentlich schon, lautete die Antwort, aber nach Daisys Geburt hatte er dem Tabak abgeschworen, und seine Lungen – wenn schon nicht das Gehirn – dankten es ihm. Außerdem hatte die Eisenbahngesellschaft in weiser Voraussicht das Rauchen in ihren Zügen verboten.

Das war nur einer der Aspekte, in denen sich sein Leben geändert hatte, seit er zuletzt nach Kilveen Castle gereist war, damals, am Frühlingsanfang 1955, zusammen mit Chipchase in einer ganzen Kette verqualmter Waggons dritter Klasse. Fünfzig, wenn nicht sogar sechzig Glimmstängel hatte sich jeder von ihnen im Verlauf ihrer strapaziösen Fahrt angesteckt, die vor Morgengrauen in Stafford begonnen und lange nach Einbruch der Dunkelheit dreißig Meilen westlich von Aberdeen in Lumphanan, dem am nächsten bei der Burg an einer Nebenstrecke gelegenen Bahnhof, geendet hatte. Harry fröstelte unwillkürlich bei der Erinnerung daran, wie er damals in die schneidend kalte Nacht hinausgetaumelt war. Er hatte noch im Ohr, wie Chipchase keuchte: »Leck mich am Arsch, die haben uns ja nach Sibirien geschickt!«

Als sibirisch hatte ihr Exil sich dann doch nicht erwiesen. Im Gegenteil. Die drei Monate auf Kilveen waren behaglicher gewesen, als die Männer eigentlich verdient hatten. »Unbeschriebenes Blatt oder nicht«, hatte Chipchase nach ein paar Tagen unter Professor Macs sanftem Regime gemeint, »hier pennen wir wenigstens in richtigen Federbetten, Harry.«

Sie hatten tatsächlich guten Grund, dankbar zu sein. »Ihnen allen ist eine zweite Chance geschenkt worden«, hatte ihnen der Kommandant des Luftwaffenstandorts von Dyce bei seinem ersten und letzten Besuch auf der Burg erklärt. »Sehen Sie zu, dass Sie das Beste daraus machen.« Und das hatten sie auch getan, wenn auch nicht zwangsläufig auf die Weise, die sich der Kommandant vorgestellt hatte. Und was die Frage betraf, ob ihre zweite Chance eine dauerhafte Wirkung gezeitigt hatte ... das würde sich noch erweisen.

Gleich nach der Ankunft im Bahnhof King's Cross ging Harry zum Fahrkartenschalter. Er war dankbar, dass der Zug nach Aberdeen erst in zwanzig Minuten abfuhr, aber auch so war die Warteschlange lang genug, um ihn an die Zeit der Rationierung zu erinnern. Dennoch sollte er nie bis zu ihrem Ende vorstoßen.

»Ossie«, raspelte eine raue Stimme an Harrys Ohr. Er drehte sich um und sah sich einem großen, breitschultrigen Mann mit Schmerbauch gegenüber, der über Jeans und Sweatshirt einen teuer aussehenden weiten Mantel trug. Sein breites, lächelndes Gesicht kam Harry bekannt vor, allerdings nur sehr vage, weil er es nie verquollen und von roten Äderchen durchzogen gesehen hatte. Das Haar war noch kürzer als am Tag nach dem Bürstenschnitt durch den Friseur der RAF und obendrein schlohweiß. Der an seinem rechten Ohrläppchen glitzernde Stecker erleichterte das Wiedererkennen auch nicht gerade. Aber das eine Wort verriet den unnachahmlichen Zungenschlag der Londoner Cockneys, und mehr Hinweise brauchte Harry nicht.

»Judder.«

»Schön, dich zu sehen, Kumpel.« Bill Judd quetschte Harry die Hand und verpasste ihm einen Klaps auf die Schulter, der sich mehr wie ein Prankenhieb anfühlte. »Komm mit rüber zu den anderen. Sie warten vorm Bahnsteig.«

»Ich hab noch keine Fahrkarte.«

»Wir haben dir vorsichtshalber eine besorgt, falls du auf den letzten Drücker aufkreuzt. Du warst ja schon immer eine Schlafmütze. Komm, auf geht's.«

Lloyd hatte angekündigt, dass sieben Leute mit dem Zug fahren würden. Darum rechnete Harry damit, gleich eine ganze Gruppe halb erinnerter Gestalten vor sich auftauchen zu sehen. Tatsächlich aber sah er nur Lloyd und Askew zusammen vor den Informationsmonitoren stehen – und weit und breit kein Zeichen von irgendjemandem sonst.

Lloyd schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Du wirst dich schon fragen, wo der Rest abgeblieben ist.«

»Na ja ...«

»Tapper ist schon an Bord. Hat offenbar lieber die Polstergarnitur der ersten Klasse unterm Arsch, als auf diesen Nagelbrettern hier draußen auf dich zu warten.«

»Unser Zug wird gerade aufgerufen, Harry«, brummte Askew und deutete mit dem Kinn auf den Monitor.

»Genau«, sagte Judd, »dann lasst uns mal die Knochen durchschütteln, Jungs. Nicht alle von uns sind noch so schnell auf den Beinen wie früher.«

»Hast du erste Klasse gesagt, Jabber?«, fragte Harry, als sie ihre Taschen hochwuchteten und sich dem allgemeinen Sturm auf Gleis 6 anschlossen, wo der Zug nach Aberdeen bereits wartete. »Fährt Tapper nicht mit uns zusammen?«

»Wir reisen alle erster Klasse, Kumpel«, rief Judd über die Schulter hinweg. »Ich hab uns gleich alle auf erste Klasse umgebucht, als Tapper sich verzogen hat. Ich glaub, er hat sich eine ruhige Fahrt erhofft. Solche Vorstellungen werden wir ihm schnell austreiben, was?«

»Aber ...«

»Keine Sorge, das geht auf mich.«

»Ich kann unmöglich ...«

»Widersprich ihm nicht, Ossie«, sagte Lloyd streng. »Sonst verdirbst du uns noch den Spaß.« Er zeigte auf den schon weit vor ihnen dahintrottenden Judd. »Ich schätze, Ziegel und Mörtel haben ihm gutgetan. Sieh dir nur an, wie sein Mantel geschnitten ist.«

»Na gut, dann widerspreche ich ihm nicht. Aber wo stecken die anderen? Du hast was von sieben gesagt.«

»Hast du Dangers Zettel nicht gelesen?«

»Doch, aber ...«

»Gregger und Paradise steigen später zu; sie wohnen auf unserem Weg. Gregger stößt in Peterborough zu uns und Paradise in York.«

»Sind immer noch erst sechs.«

»Nicht, wenn wir dich dazuzählen.«

»Aber ihr hattet doch gar nicht mit mir gerechnet! Oder etwa doch?«

»Nein. Aber bei Magister hat es eine Änderung gegeben. Ich erklär's dir, wenn wir eingestiegen sind. Vorher wirst du dich von dem Schock des Wiedersehens mit Tapper erholen müssen.«

»Schock? Warum sollte ...?«

»Wart's einfach ab.«

Harry folgte den anderen in den Waggon. Innerlich wappnete er sich schon gegen den Anblick von Gilbert »Tapper« Tancreds von der Zeit verwüstetem Gesicht. Vielleicht, so schoss es ihm durch den Kopf, musste er sich auf noch Schlimmeres einstellen als die Spuren der Jahre: Behinderung, Entstellung – was gab es noch?

Dann sah er Judd sich durch den Gang kämpfen, bis er bei einem Sitz stehen blieb und jemanden, der bereits Platz genommen hatte, an der Schulter berührte. Der Passagier sah zu Judd auf, erhob sich und drehte sich zu Harry um.

Der Schock bestand in der Leichtigkeit, mit der der andere zu erkennen war. Tancred war genauso schlank und drahtig wie als Zwanzigjähriger. Sein schwarzes Haar wurde von nur wenigen grauen Strähnen aufgehellt. Sein bleiches Gesicht mit den hohen Wangenknochen wies mehr Falten auf als damals, aber weit weniger, als zu erwarten gewesen wären. Alles in allem war er erstaunlich unverändert. Hätte er sein elegant geschnittenes Jackett und die auf Falte gebügelte Hose mit seiner alten RAF-Uniform vertauscht, wäre einem geradezu unheimlich geworden.

»Ah! Ihr habt ihn also gefunden.« Tancreds Stimme hatte sich verändert. Seine Laufbahn bei einer Handelsbank hatte ihr eine klebrige, schleppende Note verliehen, die Harry fremd war. »Dann hat ja alles geklappt, Ossie.«

Harry trat vor, um ihm die Hand zu schütteln. »Das Leben hat es gut mit dir gemeint, Tappen«

»Kann nicht klagen, altes Haus. Und selber?«

»Einigermaßen ordentlich.«

»Wollt ihr ... äh ... hierbleiben?« Tapper verfolgte stirnrunzelnd, wie Lloyd seine Reisetasche auf die Gepäckablage wuchtete.

»Wir haben uns gedacht, dass wir dir hier in der ersten Klasse Gesellschaft leisten könnten, Tapper«, erwiderte Judd mit einem breiten Grinsen. »Ein bisschen zusammen plaudern und so.«

»Wirklich?« Tancred lächelte. »Hervorragend. Ich hätte mich nach der Abfahrt selbstverständlich zu euch gesetzt, aber so ... ist es natürlich besser.«

»Blasierter Lackaffe«, flüsterte Lloyd Harry zu, als Judd sich vor sie stellte, um sein Gepäck nach oben zu hieven.

»Was wolltest du mir denn vorhin über Magister sagen, Jabber?«, fragte Harry laut genug, um von allen gehört zu werden.

»Ach, er fliegt. Das ist alles. Trifft uns dann dort.«

»Ganz alles ist das nicht, Ossie«, merkte Tancred an, während Harry, Lloyd, Askew und Judd auf der anderen Seite des Ganges Platz nahmen. Magister muss heute Nachmittag an einer Auktion in Genf teilnehmen. Darum fliegt er heute Abend von dort direkt nach Aberdeen. Das ist nun mal das Leben eines internationalen Kunsthändlers.«

»Er ist noch nicht ... in Rente gegangen?«, fragte Askew.

»Will auf gar keinen Fall als Rentner gelten«, meinte Tancred. »So hektisch, wie der seine Termine runtergerasselt hat, vermute ich einen klassischen Fall von Arbeitstier – den anderen immer eine Nasenlänge voraus.«

»Dir wäre so was natürlich völlig fremd, Tapper, oder?«, fragte Lloyd sarkastisch.

»Aus dem Hinterhalt schießen, bevor der Zug überhaupt losgefahren ist«, stöhnte Judd und presste sich seine Wurstfinger an die Schläfen. »Himmel, es ist ja schon jetzt wie damals in der Wellblechhütte.«

»Pax.« In einer Demutsgeste hob Tancred eine Hand und senkte den Kopf. »Meine Herren, wir haben das Glück, dass wir am Leben und gesund genug sind, um diese Reise antreten zu können. Richtig, wir haben uns damals oft genug übereinander geärgert und werden das an diesem Wochenende vielleicht wieder tun, aber dass wir uns überhaupt wieder treffen, ist doch ein Grund zu feiern. Wollen wir da nicht versuchen, irgendwelchen alten Groll über halb vergessene Bagatellen beiseitezuschieben und uns auf die anstehende Aufgabe zu konzentrieren?«

»Ich bin unbedingt dafür!«, rief Judd.

Lloyd zuckte mit den Schultern. »Ich auch.«

»Da schließe ich mich an«, sagte Harry.

»Aber ...« Askew sah fragend in die Runde. »Was für eine Aufgabe soll das ... eigentlich sein?«

»Was für eine Aufgabe? Na, Spaß haben, natürlich!« Tancred strahlte Askew selig an. »Was sonst?«

Kapitel 5

Tancred hielt Wort. Dabei war es Harry klar, dass er nur wenige echte Gemeinsamkeiten mit den übrigen Überlebenden der Operation »Unbeschriebenes Blatt« zu haben glaubte. Genau wie Harry selbst. Schließlich waren sie nicht die Veteranen eines kräftezehrenden Feldzugs weit weg von zu Hause in der Fremde. Vor fünfzig Jahren waren sie einfach nur unter merkwürdigen Umständen für drei Monate zusammengewürfelt worden. Von einer gefährlichen Mission konnte da nicht die Rede sein. Im Gegenteil, es gab jede Menge humorvolle Anekdoten über diese Zeit auszutauschen, und während der Zug dahinbrauste, tat Tancred sein Bestes, um das Gespräch in Gang zu halten, was den unüberhörbaren Unwillen mehrerer Geschäftsleute erregte, die sich für ihr Geld eine von Lachsalven freie Ruhezone erhofft hatten, in der sie sich auf ihre Laptops oder die Financial Times konzentrieren konnten.

Die Eröffnung des Büfetts war für Tancred das Signal, eine Flasche Champagner zu bestellen, der schnell eine zweite und dritte folgten, als Owen »Gregger« Gregson in Peterborough zu ihnen stieß. Gregson, der gleich in Waggon L gestiegen war, nachdem ihm Lloyd per Handy Bescheid gesagt hatte, hatte eine ruhigere Art und eine leisere Stimme, als Harry in Erinnerung hatte. Überhaupt war er zu einem verschrumpelten Mann mit verschwommenem Blick und leicht zitternden Händen geworden, der nur ein Mal an seinem Champagner nippte, um sich dann Tee zu bestellen, und der darauf bestand, Judd für den im Voraus entrichteten Aufpreis einen Scheck auszustellen. Als Askew sich nach Gregsons Frau erkundigte, folgte eine traurige Geschichte über ihren schwierigen Tagesablauf daheim, die allen fürs Erste den Spaß verdarb, bis Judd einen Vorfall im Pub von Lumphanan zum Besten gab, der irgendwie mit einer einen Meter langen Reihe von Biergläsern und einer Bedienung zu tun hatte und erneut dröhnendes Gelächter auslöste.

Großzügigerweise hatte die Bahngesellschaft in Waggon M eine kleine Raucherecke eingerichtet, in die sich Judd und Lloyd in regelmäßigen Abständen zurückzogen, während Tancred gemeinsam mit Harry das Hervorkramen weiterer Anekdoten übernahm. Gregson lächelte bei den lebhaft ausgeschmückten Reminiszenzen steif vor sich hin, als sei er sich nicht sicher, ob er wirklich jemals an solchen Streichen teilgenommen hatte. Die unbeschwerte Jugend schien für ihn noch weiter entfernt als die vagsten Erinnerungen. Askew wiederum wirkte zwar nervös und zerstreut, beteiligte sich aber doch ein wenig an dem Geplänkel und konnte sich noch an die Regeln eines Wortspiels erinnern, mit dem sie sich die eine oder andere müßige Stunde in der Hütte vertrieben hatten; Tancred, der ursprüngliche Erfinder, hatte sie fast völlig vergessen.

Askew war auch derjenige, der vor zwanzig Jahren im Daily Telegraph den Nachruf auf Professor Mac entdeckt hatte und nun Fotokopien davon verteilte. Die Operation »Unbeschriebenes Blatt« war darin nicht mal erwähnt worden, erklärte er. Tancred zeigte sich darüber nicht gerade erstaunt, und die meisten schlossen sich seiner Meinung an, dass Akademiker genauso wenig wie Politiker scharf darauf seien, ihre Misserfolge hinauszuposaunen. Eine undeutliche Kopie eines Fotos von »Professor Alexander Stuart McIntyre, verstorben am 24. Oktober 1985 im Alter von 87 Jahren« zeigte ihn so, wie er im Frühling 1955 gewesen war – kahlköpfig und mit hinter Halbmondbrillengläsern lachenden Augen, eine Hand um eine dicke Pfeife, die andere an das Revers seines schweren Tweedjacketts gelegt.

Als der Zug in York einfuhr, wo Milton »Paradise« Fripp sich zu ihnen gesellte, hatte der Champagner bereits verheerende Schäden an Harrys Denkvermögen angerichtet. Fripp, ein schlanker, gebeugter Mann mit schütterem Haar, erwies sich als sehr schweigsam und nahm ohne viele Worte nicht nur Judds großzügiges Angebot an, sondern trank auch fleißig mit, als einer die nächste Champagnerflasche bestellte. Der Alkohol löste ihm schnell die Zunge, auch wenn Harry schon eine Minute später nicht einmal vage hätte zusammenfassen können, was er gesagt hatte.

Dasselbe galt bald für jeden von ihnen. Trinkgelage im Macbeth Arms; Rumgebolze auf dem Rasen hinter der Burg; halbherzige militärische Drills auf der Tartanbahn vor der Hütte, wenn Feldwebel Trench den entsprechenden Befehl brüllte; die Eigenarten der Dozenten, die Professor Mac ihnen vorgestellt hatte; die Unzulänglichkeiten der lustlosen Studenten: all das und mehr schwebte zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, während der Champagner weiter floss und der Norden Englands am Fenster vorbeiglitt.

Als sich der Zug Newcastle näherte, beschloss man, sich in den Speisewagen zu begeben und ein Mittagessen einzunehmen, das das Potential hatte, bis Aberdeen vorzuhalten. Gregson, der praktisch nichts getrunken hatte, erklärte, dass er lieber bleiben und ein mitgebrachtes Sandwich essen wollte, woraufhin Judd die Augen verdrehte und Tancred ihn mit einem gönnerhaften Lächeln bedachte.

Gregsons Zurückhaltung brachte den Vorteil mit sich, dass die verbliebenen sechs Männer hinten im Speisewagen einen Tisch für vier und einen für zwei besetzen konnten, wo sie nun erst recht dem Alkohol zusprachen. Harry, der mit Askew am kleinen Tisch landete, saß allerdings etwas weit vorn Zentrum der Frotzeleien und Lachsalven entfernt. Irgendwann fiel jedoch Chipchase' Name, woraufhin sich Harry gezwungen sah, zuzugeben, dass sie ein paar Jahre nach der Episode auf Kilveen Castle für kurze Zeit eine Geschäftspartnerschaft eingegangen waren. Das weckte eine ungesund große Neugier, die Harry nach besten Kräften, wenn auch in Tancreds Fall nicht wirksam genug abwehrte.

»Eine Reparaturwerkstatt, sagst du, Ossie?«

»Ja. Barnchase Motors. In Swindon.«

»Mit Schraubenschlüsseln und ölverschmierten Lumpen hatte Fission ja schon immer den Bogen raus«, bemerkte Lloyd.

»Richtig«, stimmte Tancred zu. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob er mir als Geschäftspartner so angenehm gewesen wäre.«

»Das liegt daran, dass du von Natur aus misstrauisch bist, Tapper«, bemerkte Fripp trocken.

»Vielleicht. Aber bitten wir doch einfach Ossie um Aufklärung. War Fission so zuverlässig, dass man mit ihm zusammenarbeiten konnte?«

»Na ja ...«

»Ich ahne, dass die Antwort Nein lautet.«

Harry zuckte mit den Schultern. »Wir alle haben unsere Schwächen.«

»Was ist aus Barnchase Motors geworden?«

»Wurde dichtgemacht.«

»Und wessen Schuld war das?«

Harry brachte ein Grinsen zuwege. »Na ja, ich hab's immer auf einen gewissen Schwund zurückgeführt, seit sie an der New Yorker Börse aufs Dezimalsystem umgestellt haben.«

Damit hatte er fürs Erste die Lacher auf seiner Seite und lieferte Judd das Stichwort zu einer launigen Schmährede gegen moderne Reformen, egal, welcher Art.

Doch mitten in der sich daran anschließenden Debatte beugte sich Askew zu Harry hinüber und fragte leise, aber für ihn deutlich vernehmbar: »Bist du sicher, dass die Operation ›Unbeschriebenes Blatt‹ im Nachruf auf Professor Mac deshalb nicht erwähnt wurde, weil sie ein Fehlschlag war?«

»Wie bitte?«

»Bist du dir wirklich sicher?«

Tancred und Judd lieferten sich mittlerweile eine hitzige Diskussion über die Europäische Union, und Harry spürte, dass niemand auf Askews Frage – oder auf Harrys zögerlichen Versuch, sie zu beantworten – achtete. »Was ... Worauf willst du hinaus, Peter?«

»Wenn du an unsere Zeit auf Kilveen zurückdenkst, woran erinnerst du dich am besten?«

»Na ja ... wahrscheinlich an die Sachen, über die wir gelacht haben. Die Besäufnisse, den Scheiß, den wir gebaut haben. Das Übliche eben.«

»Und der Unterricht?«

»Da ist nicht viel hängen geblieben. Ich glaube nicht, dass wir das waren, was man Musterschüler nennt.«

»Weil nicht viel hängen geblieben ist?«

»Es war ja wirklich nicht viel, oder?«

»Vielleicht war das ja beabsichtigt.«

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß nicht.« Askew stieß ein verlegenes Lachen aus. »Tut mir leid. Vergessen wir's.«

»Schon, aber ...«

»Entschuldige mich.« Askew stand abrupt auf. »Ich bin gleich wieder da.«

Erst als Askew durch die Schiebetür verschwand, bemerkte Harry, dass er einen Anruf auf seinem Handy beantwortete. Er hörte Askew »Hallo« sagen, als die Tür zuging, und sah ihn den Apparat ans Ohr drücken. Offenbar war das Gerät auf Vibrieren eingestellt. Harry war etwas verwundert darüber, dass Askew dermaßen auf der Höhe der neuesten Entwicklungen war und so ein Ding nicht nur besaß, sondern auch noch die Technik beherrschte. Harry selbst war zwar theoretisch Besitzer eines Handys, aber er schaltete es ausschließlich dann ein, wenn er jemanden anrufen musste, was nur selten der Fall war. Und wenn doch, stellte er regelmäßig fest, dass der Akku leer war. Heute hatte er es in Swindon gelassen.

Als Askew auf leisen Sohlen zurückkehrte, hatte Tancred gerade begonnen, seine Vermutungen über Professor Macs Leistungen anzustellen, und ersparte es Harry somit, noch länger über Askews Fragen nach dem Zweck der Operation »Unbeschriebenes Blatt« zu grübeln.

»Wir alle haben uns damals doch für die Schulung bei Professor Mac dadurch qualifiziert, dass wir auf die eine oder andere Weise gegen die Disziplin bei der RAF rebelliert haben«, erklärte Tancred. »Und wie es aussieht, war danach bei uns, die wir jetzt hier versammelt sind, Schluss mit Rebellieren. Insofern könnte man sagen, dass der alte Knabe durchaus was erreicht hat, auch wenn es vielleicht nicht unbedingt das war, was er erwartet hatte. Natürlich ...«

»Ein paar von den anderen haben ja vielleicht eine Verbrecherlaufbahn eingeschlagen, ohne dass wir davon gehört haben«, meinte Fripp.

»Oder der eine oder andere unter uns stellt sein Licht als Rebell unter den Scheffel«, merkte Lloyd an.

»Dangers Nachforschungen haben nichts ergeben, was aus der Reihe getanzt wäre«, entgegnete Tancred. »Wir alle scheinen bis zur Verzweiflung ehrbar zu sein.«

»Wen nennst du hier ehrbar?«, knurrte Judd.

»Three Foot könnte ja nach einem Einbruch auf der Flucht gewesen sein, als er mit seinem Motorrad in den Tod gerast ist«, schlug Lloyd vor.

»Und wer sagt, dass der alte Coker nicht mit Gewalt unter Wasser gedrückt wurde, als er ertrank?«, warf Harry dazwischen. »Mir hat es um ihn leid getan, als ich von seinem Tod erfuhr. Nach allem, was er uns von den Dingen erzählt hat, die sie ihm in Deutschland zugemutet haben.« (Leroy Nixon war unter dem Druck rassistischer Misshandlungen bei der RAF in Gütersloh ausgerastet und hatte einem Feldwebel die Nase eingeschlagen, womit er sich die Reise nach Kilveen und Feldwebel Trenchs zähneknirschenden Respekt verdient hatte. In den monokulturellen Zeiten ihrer Jugend, als ein Jamaikaner in Aberdeenshire noch als Ding der Unmöglichkeit gegolten hatte, war sein Gesicht das erste schwarze gewesen, das die meisten von ihnen je gesehen hatten.) »Ich hätte ihn gern noch mal getroffen und ihm die Hand geschüttelt.«

»Das meinst du doch nicht im Ernst, Harry?«, fragte Askew unvermittelt.

Harry sah ihn verwirrt an. »Doch.«

»Ich meine das mit dem Ertrinken. Du glaubst doch nicht, dass er ... ermordet wurde, oder?«

»Ermordet? Nein, natürlich nicht. Ich wollte nur ...«

»Ossie hat das nur in einem metaphorischen Sinn gemeint, Crooked«, schaltete sich Tancred in öligem Ton ein.

Askew blickte sichtlich verwirrt von einem zum anderen. »Entschuldigung. Du hast recht. Muss wohl so sein. Ich weiß nicht, ob ich so viel Alkohol wirklich gewohnt bin. Sollte vielleicht lieber ein Nickerchen machen. Genau. Ein Nickerchen.« Damit stand er auf. »Das hab ich dringend nötig.«

»Fehlt dir was, Kumpel?«, rief Judd Askew nach, der bereits zum Waggon L strebte.

»Ich erhol mich schon wieder.« Askew winkte ihm kurz zu, ohne sich aufhalten zu lassen.

»Soll ich vielleicht mal nachschauen gehen, was mit ihm ist?«, fragte Harry, als die Tür am Ende des Waggons hinter Askew zugefallen war.

»Gregger wird sich schon um ihn kümmern«, meinte Lloyd. »Crooked braucht wahrscheinlich bloß eins von seinen Sandwiches, um wieder nüchtern zu werden.«

Das sorgte für allgemeine Heiterkeit. Und noch mehr wurde gelacht, als Fripp mutmaßte, dass die nächste Flasche jetzt umso länger halten würde. Allerdings dauerte es trotzdem nicht lange, bis wieder Nachschub bestellt wurde.

»Die Herren wollen uns wohl die Vorräte wegtrinken«, meinte der Kellner augenzwinkernd, während er die Flasche entkorkte. Sie einigten sich auf der Stelle, dass man eine solche Herausforderung unmöglich unbeantwortet lassen konnte.

Während des nächsten Aufenthalts, am Bahnhof von Edinburgh, trat Harry auf den Bahnsteig hinaus, um frische Luft zu schnappen. Nach dem übermäßigen Alkoholkonsum und dem langen Sitzen hatte er es dringend nötig, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es war wirklich unvernünftig, so ins Wochenende zu gehen, und er sah bei einigen seiner Gefährten einen verheerenden Kater voraus. Schließlich war keiner von ihnen mehr so jung, dass ihm ein solches Kampftrinken guttun konnte.

Weiter vorn ging Askew auf und ab, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt und schwer atmend. Irgendwie kam er Harry wie ein Mann vor, der sich vor einer wichtigen Rede in Fahrt brachte.

»Hast du dein Nickerchen halten können, Peter?«, rief er ihm zu.

Askew fuhr erschrocken herum. »Was? Ach, du bist's, Harry. Mein Nickerchen? Nein, noch nicht.«

»Du kommst mir ein bisschen ... angespannt vor.«

»Wirklich?« Askews Augen weiteten sich. Er schnitt eine Grimasse. »Na ja, kann schon sein. Um ehrlich zu sein, ich kriege langsam Zweifel, ob das mit dem Treffen so eine gute Idee war.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht ... Es ist nur ...« Askew trat näher und senkte die Stimme. »Wenn man Leute trifft, die man fünfzig Jahre nicht mehr gesehen hat, wird einem doch erst so richtig klar, wie schnell die Zeit vergangen ist – und wie wenig man im Vergleich dazu vorweisen kann.«

»Wir sitzen alle im gleichen Boot, Peter.«

»O nein. Glaub mir, das tun wir nicht.«

»Na gut«, lenkte Harry mit einem gewinnenden Lächeln ein. »Kommt wohl auf die jeweilige Sichtweise an.«

»Eigentlich kommt es darauf an, wie man sich an die Dinge erinnert. Und wie man sie vergisst.«

»Ich ...«

»Du verstehst nicht? Klar. Wie denn auch?« Askew schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Aus meinem Gerede kann wirklich keiner schlau werden.«

»Das von der Bande da hinten ist auch nicht viel besser.« Harry lachte und deutete mit dem Daumen auf den Speisewagen.

Askew rieb sich die Augen. »Ich denke, ich sehe mal zu, dass ich mich ein bisschen aufs Ohr lege.«

»Gute Idee. Ich schließ mich dir an.«

Beim Betreten des Waggons L trafen sie Gregson auf seinem Sitz dösend an. Harry ließ sich neben ihm nieder. Schon während der Zug langsam aus dem Bahnhof rollte, spürte er, wie seine Lider immer schwerer wurden. Askew saß ihm schräg gegenüber auf der anderen Seite des Ganges. Ob er auch am Einschlafen war, konnte Harry nicht beurteilen. Verschwommen hereinfallende Lichtstrahlen trübten seine Sicht. Askew wurde zu einer Silhouette, dann zu einem Schatten.

Harry schloss die Augen.

Er sollte Peter Askew nie wiedersehen.

Kapitel 6