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Nicht jede Lüge kann man mit ins Grab nehmen: Der fesselnde Kriminalroman »Im Netz der Lügen« von Robert Goddard jetzt als eBook bei dotbooks. Wie weit würdest du gehen, um die Wahrheit zu verbergen? In den 1930ern war Tristram Abberley ein berühmter britischer Dichter, der nach seinem Tod im spanischen Bürgerkrieg zum Helden verklärt wurde. Fünfzig Jahre später wird seine Schwester Beatrix in ihrem Cottage brutal ermordet. Charlotte, ihre Nichte, ahnt bald, dass der Tod von Beatrix und Tristram eine Verbindung haben … aber welche? Bei ihrer Suche nach Antworten stößt Charlotte auf eine dunkle Verschwörung, die ihre Familie seit Jahrzehnten überschattet – aber wenn sie dieses erschütternde Geheimnis enthüllt, könnte das Vermächtnis der Familie Abberley für immer zerstört werden … »Hochspannung! Robert Goddard ist zu Recht als ›schreibender Hitchcock‹ bezeichnet worden.« Brigitte Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Kriminalroman »Im Netz der Lügen« von Robert Goddard. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 797
Über dieses Buch:
Wie weit würdest du gehen, um die Wahrheit zu verbergen? In den 1930ern war Tristram Abberley ein berühmter britischer Dichter, der nach seinem Tod im spanischen Bürgerkrieg zum Helden verklärt wurde. Fünfzig Jahre später wird seine Schwester Beatrix in ihrem Cottage brutal ermordet. Charlotte, ihre Nichte, ahnt bald, dass der Tod von Beatrix und Tristram eine Verbindung haben … aber welche? Bei ihrer Suche nach Antworten stößt Charlotte auf eine dunkle Verschwörung, die ihre Familie seit Jahrzehnten überschattet – aber wenn sie dieses erschütternde Geheimnis enthüllt, könnte das Vermächtnis der Familie Abberley für immer zerstört werden …
Über den Autor:
Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.
Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane:»Im Netz der Lügen«»Der Preis des Verrats«»Eine tödliche Sünde«»Ein dunkler Schatten«»Denn ewig währt die Schuld«»Das Geheimnis von Trennor Manor«»Und Friede den Toten«»Das Geheimnis der Lady Paxton«»Das Haus der dunklen Träume«
Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane:»Die Sünden unserer Väter«»Die Schatten der Toten«»Jäger und Gejagte«»Die Klage der Toten«»Der Kartograf von London«
Robert Goddard veröffentlichte außerdem bei dotbooks seine drei Kriminalromane mit dem Ermittler Harry Barnett:»Dunkles Blut«»Dunkles Sonne«»Dunkle Erinnerung«
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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Juni 2020
Dieses Buch erschien erstmals 1992 unter dem Originaltitel »Hand in glove« bei Bantam Press, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Heute nicht und niemals wieder« bei Schweizer Verlagshaus, Zürich
Copyright © der englischen Originalausgabe 1992 Robert Goddard
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1994 Schweizer Verlagshaus, Zürich
Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Adobe Stock/Debu55y
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)
ISBN 978-3-96148-896-4
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Robert Goddard
Im Netz der Lügen
Roman
Aus dem Englischen von Werner Waldhoff
dotbooks.
Da war es wieder: dasselbe Geräusch. Und dieses Mal wußte sie, daß sie sich nicht täuschte. Es war das Geräusch von scharfem Metall auf weichem Holz, das verdächtig splitternde Geräusch jenes Einbruchs, den sie schon lange vorhergesehen hatte. Das war also das Ende, auf das sie sich vorbereitet hatte. Und gleichzeitig der Anfang.
Sie drehte ihren Kopf auf dem Kissen, um die Leuchtziffern der Uhr erkennen zu können. Acht Minuten vor zwei. Dunkler – und beunruhigender – als Mitternacht.
Von unten kam ein gedämpfter Schlag. Er war im Haus. Er war hier. Sie durfte nicht länger zögern. Sie mußte sich ihm entgegenstellen. Und bei diesem Gedanken, mit den undeutlichen Leuchtziffern der Uhr vor Augen, lächelte sie. Wenn sie es sich hätte aussuchen können – und in gewissem Sinn hatte sie dies ja getan –, würde sie diesen Weg gewählt haben. Kein jämmerlicher, langsamer Abschied vom Leben, sondern das, was nun kommen würde.
Sie schlug die Bettdecke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf den Bettrand. Die Wohnzimmertür war geöffnet worden – sehr vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug, daß es ihr entgangen wäre. Vermutlich stand er nun in der Halle. Jawohl, da war das Knarren des Dielenbrettes neben dem Schrank unter der Treppe, das ganz plötzlich wieder verstummte, als er erschrocken zurücktrat. »Kein Grund zur Beunruhigung«, fühlte sie sich versucht zu rufen, »ich bin bereit. Es wird keinen besseren Zeitpunkt geben.«
Sie fuhr mit den Füßen in die bereitstehenden Pantoffeln und stand auf. Ihr Nachthemd schmiegte sich um ihren Körper, und ihr panisches Herzklopfen ließ langsam nach. Vermutlich war immer noch genügend Zeit, nach dem Hörer zu greifen und die Polizei zu rufen. Natürlich würden sie zu spät kommen, aber vielleicht ...
Nein! Es war besser, wenn sie annahmen, sie sei im Schlaf überrascht worden.
Er war jetzt auf der Treppe und stieg vorsichtig am Rand der Stufen höher. Ein alter Trick. Vor langer Zeit hatte auch sie ihn benutzt. Sie lächelte wieder. Welchen Sinn hatte die Erinnerung jetzt noch? Sie bedauerte nichts. Was sie getan hatte, hatte sie im großen und ganzen gut gemacht.
Sie streckte den Arm aus und nahm die Taschenlampe vom Nachttisch. Ihr Griff lag glatt und kühl in ihrer Hand, so glatt und kühl wie ... Sie durchquerte das Zimmer und konzentrierte sich auf ihr Vorhaben, um sich von etwaigen Zweifeln abzulenken, die diese letzten Minuten mit sich bringen könnten.
Die Tür war nur angelehnt gewesen, und jetzt hob sie sie geringfügig an und öffnete sie geräuschlos. Dann trat sie auf den Flur und blieb erschrocken stehen. Er bog bereits um die letzte Kurve vor dem oberen Treppenabsatz, ein schwarzer, gekrümmter Schatten, den sie nur deshalb wahrnahm, weil sie wußte, daß er da sein würde. Trotz all der Vorbereitung, trotz der Probe, fürchtete sie sich jetzt. Es war verrückt. Und trotzdem war es zu erwarten gewesen.
Als er den Treppenabsatz erreichte, hob sie die Taschenlampe mit beiden Händen, um ihr Zittern zu verbergen, und schaltete sie mit dem Daumen ein. Und da war er für einen Augenblick, wie ein Kaninchen im Licht eines Scheinwerfers, überrascht, geblendet und verwirrt. Sie konnte Jeans, und eine schwarze Lederjacke ausmachen, aber sein Gesicht war nicht deutlich zu sehen, weil er etwas als Schutz vor die Augen hielt. Nicht, daß das nötig gewesen wäre, denn sie wußte sehr genau, wer er war. Dann erkannte sie, was er in der Hand hielt. Es war einer der Kerzenhalter vom Kaminsims im Wohnzimmer, seine Finger umklammerten die Spiralen aus Messing. Er hielt den Kerzenhalter verkehrt herum, so daß der schwere, scharfkantige Fuß nach oben zeigte.
»Hallo, Mr. Spicer«, sagte sie mit bemüht ruhiger Stimme. »Sie sind doch Mr. Spicer, nicht wahr?«
Er senkte den Kerzenhalter ein paar Zentimeter und versuchte, seine Augen an das Licht zu gewöhnen.
»Wissen Sie, ich wußte, daß Sie kommen würden. Ich habe auf Sie gewartet. Ich könnte sagen, daß Sie überfällig waren.«
Sie hörte, wie er leise fluchte.
»Ich weiß, wofür Sie bezahlt wurden. Und ich weiß auch, wer Sie dafür bezahlt hat; Ich weiß sogar, warum, und ich vermute, das ist mehr, als –«
Plötzlich war die Schrecksekunde vorbei. Er hatte sich von seiner Überraschung erholt. Er stürzte quer über den Gang und riß ihr die Taschenlampe aus der Hand. Er war viel stärker, als sie angenommen hatte, und sie war schwächer. Auf jeden Fall war der Unterschied groß. Als die Lampe scheppernd zu Boden fiel, erkannte sie, wie zerbrechlich und hilflos sie in Wirklichkeit war.
»Es hat keinen Sinn«, begann sie. »Sie werden nicht –« Dann traf sie der Schlag, und sie stürzte zu Boden. Sie brach am Fuß der Balustrade zusammen, ehe sie die Wucht des Schmerzes fühlte. Sie hörte sich stöhnen und schaffte es, die Hand zu heben, denn verschwommen sah sie, daß er zu einem zweiten Schlag ausholte. Aber sie würdigte ihn keines Blickes. Statt dessen konzentrierte sie sich auf die Sterne, die sie durch die zurückgezogenen Vorhänge am Nachthimmel sehen konnte – sie wirkten wie ausgestreute Diamanten auf dem Samttuch eines Juweliers. Tristram war auch nachts gestorben, erinnerte sie sich. Sie fragte sich, ob auch er noch einen letzten Blick auf die Sterne geworfen hatte, bevor der Tod über ihn hereinbrach. Hatte er sich ausgemalt, was ohne ihn aus ihr werden würde? Wenn ja, hätten seine Vorstellungen bestimmt anders ausgesehen. Denn dies konnte er niemals erwartet haben. Obwohl bei seinem Tod die Voraussetzungen dafür bereits bestanden hatten. Obwohl –
»Hallo?«
»Charlie? Hier ist Maurice.«
»Maurice? Was für eine nette Überraschung. Wie –«
»Der Grund meines Anrufes ist leider alles andere als nett, altes Mädchen. Ich habe schlechte Nachrichten. Es geht um Beatrix.«
»Beatrix? Was –«
»Ich fürchte, sie ist tot. Mrs. Mentiply hat sie heute nachmittag in ihrem Haus gefunden.«
»O mein Gott. Was ist passiert? War es das Herz?«
»Nein. Nichts dergleichen. Es scheint ... Mrs. Mentiply hat etwas von einem Einbruch erzählt. Beatrix wurde ... nun ... ums Leben gebracht. Ich kenne die Einzelheiten nicht. Die Polizei wird jetzt dort sein, nehme ich an. Ich mache mich auch auf den Weg. Die Frage ist ... Soll ich dich abholen?«
»Ja. Natürlich. Ja, gern. Maurice –«
»Es tut mir so leid, Charlie, wirklich. Du hast sie sehr gern gehabt, ich weiß. Wir alle mochten sie. Aber du besonders. Wir mußten natürlich irgendwann damit rechnen, aber das ist ... das ist eine beschissene Art zu sterben.«
»Sie wurde ermordet?«
»Raubmord, nehme ich an. Nennt die Polizei das nicht so?«
»Raub?«
»Mrs. Mentiply sagte, daß gewisse Gegenstände fehlen. Aber wir sollten nicht voreilig sein. Laß uns hinfahren und herausfinden, was wirklich geschehen ist.«
»Maurice –«
»Ja?«
»Wie wurde sie getötet?«
»Mrs. Mentiply zufolge ... Hör zu, lassen wir das jetzt, okay? Wir werden es bald genug wissen.«
»Ist gut.«
»Ich bin so schnell wie möglich bei dir.«
»Okay.«
»Mach dir einen Drink, ja? Es wird dir bestimmt gut tun.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Bestimmt. Aber jetzt fahre ich besser los. Bis gleich.«
»Fahr vorsichtig.«
»Natürlich. Tschüs.«
»Auf Wiedersehen.«
Charlotte legte den Hörer auf und ging wie betäubt ins Wohnzimmer zurück. Nun, da zu der Stille auch noch Traurigkeit hinzukam, wirkte das Haus noch größer und leerer. Zuerst dieser schleichende, langsame Tod ihrer Mutter. Und jetzt auch noch Beatrix, und mit dieser so unerwarteten Brutalität. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie sich in dem hohen Zimmer umsah und sich daran erinnerte, wie sie alle hier zusammengekommen waren und mit Papierhüten auf dem Kopf ihre Kindergeburtstage gefeiert hatten. Damals hatte natürlich auch ihr Vater noch gelebt, er hatte gelacht und, im Schein des Kaminfeuers mit seinen Händen Schattentiere an die Wand geworfen. Jetzt, dreißig Jahre später, bewegte sich nur noch ihr Schatten, als sie auf den Schrank mit den Getränken zuging. Dann blieb sie stehen und wandte sich langsam ab. Sie konnte nicht warten. Das hatte sie in all den Jahren oft genug getan, zu oft. Sie würde eine Nachricht für Maurice hinterlassen und selbst auf der Stelle nach Rye fahren. Natürlich würde sie dadurch zwar nichts gewinnen, außer der Erleichterung, etwas unternommen zu haben. Auf jeden Fall würde es sie jedoch abhalten, Trübsal zu blasen. Genau das würde auch Beatrix gesagt haben, in ihrer forschen, nüchternen Art. Und das war das wenigste, was sie ihr schuldete, dachte Charlotte.
Es war ein stiller, dunstiger Juniabend, der ihre Trauer durch seine Vollkommenheit zu verspotten schien. Ein Rasensprenger zischte auf dem Rasen des Nachbarhauses, als sie zu ihrer Garage ging, eine Taube gurrte in den Bäumen, hinter denen sich die Straße versteckte. In dieser süß duftenden Luft erschien der Tod grotesk und weit entfernt. Aber sie wußte, daß er ihr wieder einmal hart auf den Fersen war.
Sie fuhr, als ob sie ihm entkommen wollte, mit gefährlich hoher Geschwindigkeit hinunter über den Common und über die Bayham Road, erst nach Süden am zypressengesäumten Friedhof vorbei, wo ihre Eltern lagen, und dann nach Osten durch die verschlafenen Wälder und Felder, wo sie als Kinder gespielt und Picknicks gemacht hatten.
Sie war jetzt sechsunddreißig Jahre alt und finanziell besser gestellt als je zuvor in ihrem Leben, aber überwältigt von Einsamkeit und kaum unterdrückter Verzweiflung. Sie hatte ihre Berufstätigkeit aufgegeben – man konnte es wohl kaum ihre Karriere nennen –, um ihre Mutter während ihrer Krankheit zu pflegen, und dank ihrer Erbschaft mußte sie auch jetzt nicht mehr arbeiten. Manchmal wünschte sie, sie wäre nicht so unabhängig. Durch einen Job, wie stumpfsinnig auch immer, könnte sie neue Leute kennenlernen. Und die wirtschaftliche Notwendigkeit könnte sie dazu bringen, das zu tun, was sie eigentlich schon längst hätte tun sollen: Ockham House zu verkaufen. Statt dessen hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter vor sieben Monaten voller Trauer eine lange Italienreise angetreten, und bei ihrer Rückkehr wußte sie noch immer nicht, was sie eigentlich vom Leben erwartete. Vielleicht hätte sie Beatrix fragen sollen. Schließlich hatte sie in ihrer Abgeschiedenheit glücklich gewirkt – oder zumindest zufrieden. Warum konnte Charlotte nicht auch so sein? Natürlich wer sie jünger, aber Beatrix war auch einmal in ihrem Alter gewesen, und auch damals war sie alleinstehend gewesen. Während sie einen Sattelschlepper und einen Wohnwagen überholte, überlegte sie, in welchem Jahr Beatrix sechsunddreißig gewesen war.
1938. Natürlich. In dem Jahr, als Tristram Abberley gestorben war. Ein junger Mann mit dem Temperament eines Künstlers. Er war in einem spanischen Krankenhaus von einer Blutvergiftung dahingerafft worden, ohne zu wissen, welchen Ruhm die Nachwelt ihm würde zuteil werden lassen und welcher Reichtum seinen Erben dadurch zufallen würde. Er hatte eine junge Witwe in England zurückgelassen, Mary – aus deren zweiter Ehe Charlotte stammte –, Maurice, seinen einjährigen Sohn, Beatrix, seine einzige Schwester, und ein paar wenige avantgardistische Gedichte, die dazu bestimmt waren, von der Nachkriegsgeneration landauf, landab in die Lehrpläne der Gymnasien aufgenommen zu werden. Mit Hilfe der Tantiemen konnte Charlottes Vater ein eigenes Geschäft aufmachen, mit diesen Geldern wurde Ockham House gekauft und Charlottes Ausbildung bezahlt; sie waren für ihre augenblickliche Freiheit verantwortlich, aber auch dafür, daß sie keine Freunde hatte.
Plötzlich erkannte sie, was Beatrix' Tod für sie bedeutete: der Verlust einer Freundin. Sie schluckte trocken. Sie hätte Charlottes Großmutter sein können, und da sie keine leibliche Großmutter hatte, war Beatrix nur zu gern in diese Rolle geschlüpft. Während ihrer Schulzeit hatte Charlotte stets fast den ganzen August mit Beatrix verbracht. Sie erkundeten die Kopfsteinpflastergassen von Rye, bauten Sandburgen auf Camber Sands und schliefen bei dem sonderbaren, beruhigenden Geräusch ein, das der Wind in den Schornsteinen von Jackdaw Cottage verursachte. Es war so lange her, eine Ewigkeit In letzter Zeit – besonders nach dem Tod ihrer Mutter – hatte sie Beatrix nur noch selten gesehen, was sie jetzt natürlich bitter bereute.
Sie fragte sich, warum sie wohl die Gesellschaft der alten Dame gemieden hatte. Weil Beatrix nicht gezögert hätte, ihr zu sagen, daß sie ihr Leben verschwendete? Weil sie gesagt hätte, daß man Schuld und Schmerz niemals nachgeben sollte, damit sie nicht zu stark würden? Vielleicht, weil sie sich den Problemen nicht stellen wollte und genau wußte, daß Beatrix Abberley das unbequeme Talent hatte, einen zu zwingen, genau das zu tun.
Als Charlotte in Rye eintraf, waren die Tagesausflügler und Souvenirjäger bereits verschwunden, und der Ort versank in einem trägen, schläfrigen Sonntagabend. Sie fuhr die gewundenen Kopfsteinstraßen hinauf zur St. –Mary-Kirche, wo nach dem Abendgottesdienst noch immer ein paar Kirchgänger unterwegs waren. Als sie dann in Richtung Watchbell Street abbog, sah sie drei Polizeiautos, eines davon mit eingeschaltetem Blaulicht, gestreifte Absperrbänder, die die Vorderseite von Jackdaw Cottage sicherten, und eine Gruppe neugieriger Zuschauer.
Sie parkte auf dem Kirchplatz und ging langsam auf das Haus zu. Dabei erinnerte sie sich an die vielen Male, die sie diesen Weg gegangen war und gewußt hatte, daß Beatrix bereits auf sie wartete –groß, schlank, mit einem durchdringenden und forschenden Blick. Aber heute nicht. Heute nicht und niemals wieder.
Der diensthabende Polizist brachte sie ins Haus. Dort traf sie in jedem Zimmer auf Männer in Overalls mit Plastikhandschuhen, ausgerüstet mit Puder und kleinen Pinseln. Im Wohnzimmer stand ein Mann, der sich von den anderen abhob. Er trug einen grauen Anzug, blickte finster drein und arbeitete sich gerade durch die Teetassen und Zuckerdosen, die in einer von Beatrix' Vitrinen aufgestellt waren. Er sah auf, als Charlotte ins Zimmer trat.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich bin eine Verwandte, Charlotte Ladram, Miss Abberleys –«
»Ach ja, Sie müssen die Nichte sein. Die Haushälterin hat von Ihnen gesprochen.«
»Eigentlich bin ich nicht wirklich die Nichte. Aber das ist egal.«
»Nein. Richtig.« Er nickte müde. Man merkte, daß er sich um mehr Konzentration bemühte. »Mein Beileid. Muß ein schrecklicher Schock gewesen sein.«
»Ja. Ist ... ist Miss Abberley ...«
»Die Leiche wurde bereits weggebracht. Eigentlich ... Warum nehmen Sie nicht Platz? Setzen wir uns.« Er vertrieb eine gebückte Gestalt vor dem Kamin und führte Charlotte zu einem der Sessel, die auf beiden Seiten des Kamins standen, dann setzte er sich in den anderen. Es war Beatrix' Platz, wie Charlotte sofort an dem Durcheinander von Kissen erkannte und an dem schiefen Bücherstapel auf dem Boden daneben, wo ihn die alte Dame mit ihrem linken Arm bequem hatte erreichen können. »Entschuldigen Sie all die Leute. Sie sind ... leider nötig.«
»Ich verstehe schon.«
»Mein Name ist Hyslop. Chief Inspector Hyslop von der Polizei Sussex.« Er sah aus wie vierzig, mit schütterem Haar, das er nach vorn gekämmt hatte, etwas, das Charlotte überhaupt nicht leiden konnte. Aber da war ein sympathischer Anflug von Verwirrung in seinen Zügen und eine schuljungenhafte Unbeholfenheit in seiner Kleidung, so daß sie das Gefühl hatte, sie müßte ihn beruhigen und nicht umgekehrt. »Wie haben Sie davon gehört?«
»Maurice – Maurice Abberley, das ist mein Halbbruder – rief mich an. Ich vermute, Mrs. Mentiply fand ... was geschehen ist.«
»Ja. Wir haben sie gerade nach Hause geschickt. Sie war ziemlich durcheinander.«
»Sie arbeitete schon sehr lange für Miss Abberley.«
»Dann ist es nur verständlich.«
»Können Sie mir erzählen ... was Sie herausgefunden haben?«
»Sieht so aus, als ob ein Dieb vergangene Nacht hier eingebrochen hat und dabei gestört wurde, wie er sich gerade die Dinge aus« – er wies auf die andere Seite des Zimmers – »dieser Vitrine aneignen wollte.«
Charlotte drehte sich um und bemerkte erst jetzt, daß die Glasvitrine in der Ecke leer war und ihre Türen offenstanden, eine davon hing schief in den Angeln.
»Alles Gegenstände aus Holz, wie Mrs. Mentiply sagte.«
»Kunsthandwerk aus Tunbridge, um genau zu sein.«
»Und was ist das?«
»Es ist eine besondere Art von Mosaik-Tischlerarbeit. Dieses Kunstgewerbe gibt es schon lange nicht mehr. Beatrix – Miss Abberley – war eine passionierte Sammlerin.«
»Wertvoll?«
»Ich denke schon. Sie besaß einige Stücke von Russell. Er war eigentlich der führende Vertreter der ... Ach, der Arbeitstisch ist ja noch da. Wenigstens etwas.«
In der gegenüberliegenden Ecke, neben einem Bücherschrank, stand Beatrix' preisgekröntes Stück der Tunbridge-Sammlung, ein elegant gedrechselter Arbeitstisch aus Satinholz, komplett mit Schubladen, Ausziehplatten an Scharnieren zu beiden Seiten der lederbezogenen Oberfläche und einem seidenen Nähbeutel darunter. Alle hölzernen Oberflächen, sogar die Tischbeine, waren mit einem auffälligen Mosaik in Würfelmuster verziert. Trotzdem war es nicht das, sondern das Perlmutt-Nähzeug in den rosa, mit Seide ausgeschlagenen Schubladen, wovon Charlotte in ihrer Kindheit fasziniert gewesen war. Sie erinnerte sich genau.
»Man erreicht diesen Effekt, indem man ein Furnier von mehreren verschiedenen Holzarten aufträgt«, sagte sie abwesend. »Das ist natürlich sehr arbeitsaufwendig, besonders bei den kleineren Stücken. Vermutlich ist diese Kunst deswegen ausgestorben.«
»Ich habe noch nie davon gehört«, sagte Hyslop. »Aber wir haben einen Beamten, der auf solche Dinge spezialisiert ist. Ihm wird das vielleicht mehr sagen. Mrs. Mentiply erzählte mir, in dieser Vitrine hätten sich Teebüchsen, Schnupftabaksdosen, Brieföffner und ähnliches befunden. Deckt sich das mit Ihrer Erinnerung?«
»Ja.«
»Sie erklärte sich bereit, eine Liste für uns anzufertigen. Vielleicht könnten Sie die mit ihr durchgehen. Achten Sie bitte darauf, daß nichts vergessen wird.«
»Natürlich.«
»Sie sagen, dieses Zeug ist einiges wert?«
»Mehrere tausend Pfund, würde ich annehmen. Möglicherweise auch einiges mehr. Ich bin mir nicht sicher. Die Preise sind in letzter Zeit ganz schön in die Höhe geschnellt.«
»Nun, wir können davon ausgehen, daß unser Dieb das wußte.«
»Sie denken, er kam wegen der Tunbridge-Sammlung?«
»Sieht ganz so aus. Sonst wurde nichts angerührt. Natürlich kann dies auch dem Umstand zu verdanken sein, daß er gestört wurde. Das würde auch erklären, warum er den Arbeitstisch stehenließ. Wenn er in Panik geraten ist und so schnell wie möglich verschwinden wollte, hat er nur das mitgenommen, was leicht zu tragen war. Und er ist mit Sicherheit in Panik geraten – nach dem, was geschehen ist.« Charlotte blickte sich im Zimmer um. Außer der leeren Vitrine schien alles unversehrt zu sein und stimmte genau mit ihrer Erinnerung an die vielen Tee-Einladungen überein, bei denen sie sich unterhalten hatten. Sogar die Kaminuhr tickte im üblichen Takt. Sie war wohl zuletzt von Beatrix aufgezogen worden. »Wo ist ...«, begann sie. Dann, als ihr Blick den Kamin entlang wanderte, zog eine weitere Veränderung ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Da fehlt ein Kerzenleuchter«, sagte sie.
»Ich fürchte, er fehlt nicht«, antwortete Hyslop. »Das war die Mordwaffe.«
»O Gott. Er ... schlug sie damit?«
»Ja. Auf den Kopf. Wenn es Sie tröstet– der Polizeiarzt sagt, daß es ein schneller Tod gewesen ist.«
»Ist es hier geschehen – in diesem Zimmer?«
»Nein. Auf dem oberen Treppenabsatz. Sie ist aufgestanden, wahrscheinlich weil sie ihn hier unten gehört hat. Er ist vermutlich durch eines dieser Fenster eingestiegen. Keines davon hätte einem berufsmäßigen Einbrecher viel Kopfzerbrechen bereitet, und dieses hier« – er deutete auf die linke Seite des Erkers – »war offen, als wir eintrafen, und zeigte deutliche Spuren von Gewaltanwendung am Rahmen, vermutlich von einem Brecheisen. Wir können jedenfalls davon ausgehen, daß er sie oben gehört hat, sich mit dem Kerzenleuchter bewaffnete und hinaufging. Wahrscheinlich hatte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Absicht, sie umzubringen. Sie hatte eine Taschenlampe. Wir haben sie auf dem Fußboden des Treppenabsatzes gefunden. Vielleicht hat er durchgedreht, als sie ihn anleuchtete. Vielleicht gehört er aber einfach zu der brutalen Sorte. Ich fürchte, davon gibt es heutzutage eine ganze Menge.«
»Es ist letzte Nacht passiert?«
»Ja. Wir kennen die genaue Todeszeit natürlich noch nicht, aber es dürfte in den frühen Morgenstunden geschehen sein. Miss Abberley war im Nachthemd. Die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer, im Bad und hier unten waren zugezogen, als Mrs. Mentiply heute nachmittag um halb fünf hier eintraf.«
»Weshalb ist sie hierhergekommen? Normalerweise hat sie sonntags frei.«
»Ihr – Halbbruder, nicht wahr?– Mr. Maurice Abberley. Er versuchte mehrmals, seine Tante anzurufen, und war beunruhigt, weil sie nicht abnahm. , Offensichtlich hat sie ihm gesagt, daß sie dasein würde. Er wohnt ein gutes Stück entfernt, nicht wahr?«
»In Bourne End. Buckinghamshire.«
»Genau. Nun, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung ist, rief er Mrs. Mentiply an und bat sie, nachzuschauen. Er muß ihre Darstellung natürlich noch bestätigen, wenn er kommt. Sie wohnen nicht so weit weg?«
»In Tunbridge Wells.«
»Wirklich?« Hyslop hob in plötzlichem Interesse die Augenbrauen.
»Ja. Deswegen weiß ich auch so viel über das Tunbridge-Kunsthandwerk. Es ist eine örtliche Spezialität. Es gibt eine sehr gute Sammlung in –«
»Sagt Ihnen der Name Fairfax-Vane etwas, Miss Ladram?«
»Nein. Sollte er das?«
»Schauen Sie sich das an.« Er öffnete sein Notizbuch, nahm eine kleine Plastikhülle mit einer Karte heraus und gab sie ihr. In halbfetter gotischer Schrift stand quer über der Karte die Überschrift SCHATZGRUBE und darunter in einer kleineren Schrift: COLIN FAIRFAX-VANE, ANTIQUITÄTENHÄNDLER & SCHÄTZER, 1 A CHAPEL PLAGE, TUNBRIDGE WELLS, KENT TN 1 1YQ, TEL. (0892) 66 27 73. »Erinnern Sie sich jetzt an den Namen?«
»Ja, ich glaube, ich kenne das Geschäft. Warten Sie einen Augenblick. Ja, ich kenne den Namen. Wie sind Sie zu dieser Karte gekommen?«
»Wir haben sie in der Schublade des Telefontischchens in der Halle gefunden. Mrs. Mentiply erinnerte sich, daß es der Name des Antiquitätenhändlers war, der hier vor ungefähr einem halben Monat angerufen und behauptet hatte, Miss Abberley hätte ihn gebeten, einige Gegenstände zu schätzen. Aber es sieht so aus, als hätte ihn Miss Abberley keineswegs darum gebeten. Sie schickte ihn weg, aber vorher hatte ihn Mrs. Mentiply, die damals gerade hier war, in dieses Zimmer geführt, so daß er Gelegenheit hatte, sich, die Tunbridge-Stücke anzusehen. Also, woher kennen Sie ihn, Miss Ladram?«
»Durch meine Mutter. Vor ungefähr achtzehn Monaten verkaufte sie diesem Mann ein paar Möbel. Um die Wahrheit zu sagen, hatten sowohl Maurice als auch ich das Gefühl, daß sie dabei hereingelegt worden ist.« Und Charlotte erinnerte sich schuldbewußt, daß sie ihr deswegen ganz schön die Hölle heiß gemacht hatten.
»Also ist Fairfax-Vane ein ziemlich raffinierter Kerl, nicht wahr?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich habe ihn nie kennengelernt. Aber meine Mutter natürlich ... Nun, sie war leicht zu beeinflussen. Leichtgläubig, würden Sie wohl sagen.«
»Anders als Miss Abberley?«
»Ja. Ganz anders als Beatrix.«
»Aber Sie glauben nicht, daß Ihre Mutter vielleicht Fairfax-Vane von Miss Abberleys Sammlung erzählt hat?«
»Möglich. Sie wußte natürlich davon, wie wir alle. Aber es ist zu spät, um sie zu fragen. Meine Mutter ist vergangenen Herbst gestorben.«
»Mein Beileid, Miss Ladram. Es scheint, daß Ihre Familie in letzter Zeit schwer getroffen wurde.«
»Ja. Das stimmt. Aber – Sie denken doch wohl nicht, daß Fairfax-Vane dies getan hat, um die Tunbridge-Sammlung in die Hände zu bekommen?«
»Beim momentanen Stand der Ermittlungen denke ich noch gar nichts. Es ist einfach die deutlichste Spur.« Hyslop zeigte ein vorsichtiges Lächeln. »Um die Angelegenheit jedoch voranzutreiben, benötigen wir eine verbindliche Liste der gestohlenen Gegenstände, möglichst mit genauen Beschreibungen. Könnte ich Sie eventuell bitten herauszufinden, ob Mrs. Mentiply bereits Fortschritte in dieser Hinsicht gemacht hat?«
»Ich werde mich sofort auf den Weg machen, Chief Inspector. Ich bin sicher, daß Sie die Liste heute abend haben können.«
»Das wäre schön.«
»Ich gehe dann.« Mit diesen Worten – und dem beunruhigenden Gedanken, daß sie froh war, keine Entschuldigung dafür suchen zu müssen, daß sie nicht nach oben gehen wollte – erhob sich Charlotte und ging in die Halle. An der Eingangstür drehte sie sich um und stellte fest, daß Hyslop dicht hinter ihr war.
»Ihre Hilfe ist uns von großem Nutzen, Miss Ladram.«
»Das ist das mindeste, was ich tun kann, Chief Inspector. Beatrix war meine Patentante – und außerdem habe ich sie sehr bewundert. Daß ihr das passieren mußte, ist ... sehr schrecklich.«
»Sie war die Schwester des Dichters Tristram Abberley, soviel ich weiß.«
»Das ist richtig. Kennen Sie sein Werk?«
Hyslop schnitt eine Grimasse. »Mußte mich damit in der Schule beschäftigen. Nicht mein Fall, um ehrlich zu sein. Zu schwer verständlich für meinen Geschmack.«
»Das denken viele.«
»Ich war überrascht, daß er eine Schwester hatte, die noch lebte. Er starb doch sicher bereits vor dem Krieg.«
»Ja. Aber er starb sehr jung. In Spanien. Er hatte während des Bürgerkriegs als Freiwilliger in der Republikanischen Armee gekämpft.«
»Das stimmt. Natürlich. Das Ende eines Helden.«
»Ich glaube auch. Und trotzdem war es ein friedlicherer Tod als der seiner Schwester. Ist das nicht seltsam?«
Die Anstellung von Avril Mentiply hatte Beatrix' größtes Zugeständnis an das Alter symbolisiert. Wie sie Charlotte oft erklärt hatte, war es ein um so bedeutenderes Zugeständnis, als Mrs. Mentiplys Sauberkeitsbedürfnisse weniger anspruchsvoll waren als ihre eigenen. Trotzdem hatte diese Beziehung Bestand gehabt, viel länger als anfängliche Tadel und Kündigungsandrohungen hätten vermuten lassen. Tatsächlich hatte sich ihr Verhältnis schließlich sogar in so etwas Ähnliches wie Freundschaft verwandelt. Deshalb war Charlotte, als sie an diesem Abend in Mrs. Mentiplys Haus eintraf, keineswegs überrascht, sie angespannt und tränenüberströmt vorzufinden. Die versprochene Aufstellung der gestohlenen Tunbridge-Sammlung war weit davon entfernt, fertig zu sein. Sie lebte mit ihrem wortkargen Mann in einem merkwürdig sonnenlosen Kieselrauhputz-Bungalow an der Folkestone Road – eine –der wenigen Straßen von Rye, wohin Touristen sich niemals verirrten. Es war keine Umgebung, in der Charlotte länger verweilen mochte. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, denn Mrs. Mentiply bot ihr eine Tasse bitteren Tees nach der anderen an und überschüttete sie mit ihrer Verzweiflung über Beatrix' Tod.
»Ich wußte, daß sie alt war, meine Liebe, und zerbrechlicher, als sie jemals zugegeben hätte, aber sie sah immer so ... unerschütterlich aus ... daß man dachte, sie würde ewig leben. Aber auch sie war nicht gegen den Tod gefeit, nicht wahr? Nicht anders als wir alle, wenn wir in unserem eigenen Zuhause angegriffen werden. Wohin soll das noch führen, frage ich Sie, wenn so etwas einer angesehenen alten Dame geschehen kann?«
»Hätte schlimmer kommen können«, mischte sich Mr. Mentiply ein, von dem Charlotte gehofft hatte, daß er einen der vielen Hinweise verstehen und das Zimmer verlassen würde, aber statt dessen blieb er in seinem Sessel neben dem Gasfeuer mit den künstlichen Flammen sitzen. »Wenigstens war es keiner dieser Sexbesessenen. Nur ein gewöhnlicher Einbrecher.«
»Du solltest etwas mehr Respekt vor den Toten haben, Arnold«, erwiderte Mrs. Mentiply. »Miss Ladram möchte kein solches Gerede hören.«
»Ich schaue nur den Tatsachen ins Auge.«
»Nun, Tatsache ist, daß er Miss Abberley nicht ermordet hätte, wenn er nur ein gewöhnlicher Einbrecher gewesen wäre, nicht wahr?«
»Sie hätte im Bett bleiben sollen. Ihn in Ruhe lassen sollen. Dann wäre ihr nichts passiert.«
»Woher willst du das wissen?«
»Das ist doch logisch, nicht? Er war nur auf ihre Nippes aus. Das hast du selbst gesagt.«
Als sie sah, daß Mrs. Mentiply den Tränen nahe war, beschloß Charlotte einzuschreiten. »Mit Sicherheit ist es die Tunbridge-Sammlung, worüber die Polizei informiert werden will. Wollen wir nicht die Liste überprüfen und überlegen, ob wir auch nichts vergessen haben?«
»Aber natürlich, meine Liebe.«
»Eine Teebüchse mit einer Ansicht von Bodiam Castle auf dem Deckel. Zwei Kuchenkörbchen. Ein Tablett mit Würfelmuster. Zwei weitere Tabletts mit Einlegearbeit. Ein Thermometerständer. Ein Solitärspiel. Drei Papier –«
Beim ersten Läuten des Telefons in der Diele sprang Mrs. Mentiply aus ihrem Sessel und eilte aus dem Zimmer. Charlotte holte tief Luft und legte die Aufstellung beiseite. Dann kam Mrs. Mentiply zurück. »Es ist Ihr Bruder, Miss Ladram. Er möchte Sie sprechen.«
Charlotte lächelte und ging zum Telefon. »Hallo, Maurice?«
»Ich bin in Jackdaw Cottage, Charlie. Chief Inspector Hyslop hat mich über alles informiert. Das alles ist ja so deprimierend.«
»Ich weiß. Ich stelle gerade mit Mrs. Mentiply eine Liste der verschwundenen Gegenstände zusammen.«
»Das habe ich schon gehört. Der Kommissar möchte, daß ich ihn zur Leichenhalle begleite. Um Beatrix zu identifizieren.«
»Wirklich? Er hat mich nicht –« Charlotte stockte. Hyslop hatte wahrscheinlich gedacht, ihr einen Gefallen damit zu tun, daß er sie nicht darum gebeten hatte. »Wirst du jetzt gleich gehen?«
»Ja. Aber ein Polizist wird hier bleiben, um die Liste entgegenzunehmen, wenn ihr damit fertig seid. Wahrscheinlich ist es am besten, die Identifikation so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.«
»Natürlich.«
»Danach, nun ... ich habe mich gefragt, ob ich wohl in Ockham House übernachten könnte.«
»Aber sicher. Du mußt doch nicht fragen.«
»Morgen werden unzählige Formalitäten zu erledigen sein. Auf dem Standesamt, bei ihrem Rechtsanwalt und so weiter. Und ich kann nicht behaupten, daß ich mich darum reiße, heute abend den ganzen Weg nach Bourne End zurückzufahren.«
»In Ordnung. Wir sehen uns später.«
Als sie den Hörer auflegte, wurde Charlotte bewußt, welche Erleichterung es sein würde, Maurice die Verantwortung für die ganze traurige Angelegenheit zu überlassen. Seit dem Tod ihres Vaters war er zum ruhigen und tüchtigen Verwalter der Familiengeschäfte geworden. Er hatte die Leitung der Ladram Aviation, der wenig solventen Flugschule ihres Vaters, übernommen und sie, in die Ladram Avionics umgewandelt, eine international erfolgreiche Firma. Er hatte die Verträge über die Veröffentlichung der Gedichte seines Vaters ausgehandelt, aus denen ihre Mutter – und später auch sie – großen Gewinn gezogen hatte. Und er war immer bereit gewesen, seiner Halbschwester zu helfen, ohne je zu versuchen, sich in ihr Leben einzumischen. Auch jetzt würde er ihr wieder einmal zu Hilfe kommen. Und als sie langsam ins Wohnzimmer der Mentiplys zurückging, gestand sie sich ein, daß sie froh war, je eher er es tat.
Die Aufstellung wurde schließlich doch noch fertig, und nachdem Charlotte sie nach Jackdaw Cottage gebracht hatte, fuhr sie zurück nach Tunbridge Wells. Es war stockdunkel, als sie Ockham House erreichte, und kalt genug, daß die Wärme des vergangenen Tages nur mehr eine schwache Erinnerung war. Auf jeden Fall kam es ihr kalt vor, und Charlotte war sich nicht sicher, ob die Temperatur daran schuld war – oder Mrs. Mentiplys Schilderung, wie sie Beatrix gefunden hatte.
»Er hat sie mit einem der schweren Messingleuchter niedergeschlagen. Mehr als einmal, denke ich. Ich habe sie zuerst kaum erkannt. Ihr Haar war völlig mit Blut verschmiert. Und dann diese fürchterliche Wunde an einer Seite ihres Kopfes. Sie haben mir gesagt, es sei schnell vorüber gewesen, und ich hoffe bei Gott, sie haben recht. Aber das werde ich nicht so schnell vergessen, kann ich Ihnen sagen. Ich werde niemals vergessen, wie ich jene Stufen hinaufging und sie zusammengekauert in der Ecke des Gangs fand. Niemals.«
Charlotte schaltete mehr Lampen ein als gewöhnlich und entzündete ein Feuer, dann goß sie sich den Drink ein, den ihr Maurice vor Stunden empfohlen hatte. Als das Feuer prasselte und ihr endlich warm wurde, holte sie das Familienalbum und fand darin das letzte Foto, das von Beatrix aufgenommen worden war. Es war älter, als sie erwartet hatte, und stammte von der Feier ihres achtzigsten Geburtstags. Auf dem Rasen von Swans' Meadow– Maurices Haus neben der Themse in Bourne End – hatte die Familie eine seltene, fotografisch dokumentierte Zusammenkunft inszeniert.
Beatrix war natürlich der Mittelpunkt des Septetts. Für eine Frau ihrer Generation war sie ungewöhnlich groß, und der Lauf der Zeit hatte ihrer aufrechten Haltung nichts anhaben können. Frisch vom Friseur und fast ohne Lächeln schaffte sie es, auf dem Bild sogar noch größere Selbstbeherrschung zu zeigen als im wirklichen Leben. Mary, Charlottes Mutter, die links neben Beatrix stand, hätte gut genauso alt sein können, obwohl sie zwölf Jahre jünger war. Gebeugt und schielend schaffte sie es irgendwie, gleichzeitig die Stirn zu runzeln und zu lächeln, und ihr Anblick löste in Charlotte einen so starken Gefühlsschwall von Trauer und Schuld aus, daß sie das Album zuschlug. Aber nach einem Schluck Gin öffnete sie es wieder. Ihr Blick fiel auf sich selbst, sie stand links neben ihrer Mutter und grinste starr in die Kamera. Damals war ihr Haar viel zu lang gewesen, und sie hatte formlose Gewänder bevorzugt, um ihr Übergewicht zu verbergen. Nicht daß sie sich heute deswegen Sorgen machen müßte. Fünf Jahre später hatte ihre große Trauer bewirkt, was ein Dutzend verschiedener Diäten nicht zustande gebracht hatten. Dennoch hatte dieses Bild von ihr sie daran erinnert, warum sie stets, sogar schon als Kind, versucht hatte zu vermeiden, fotografiert zu werden. Nicht weil sie abergläubisch oder schüchtern gewesen wäre, sondern weil die Kamera sie zwang, das zu tun, was sie am wenigsten wollte: sich selbst so zu sehen, wie andere sie sahen.
Links von Charlotte stand Marys Bruder Jack Brereton, der das Gleichgewicht der Gruppe störte, da er ungefähr einen Schritt zurückgetreten war. Bei seinem Anblick, rotgesichtig und offensichtlich mehr als nur angetrunken, kicherte Charlotte. Onkel Jack, dreizehn Jahre jünger als seine Schwester, war der freie und aufreizende Geist, den, wie Charlotte glaubte, jede Familie brauchte. Witzig, wenn er nüchtern war, und unverschämt, wenn nicht – und das war er mindestens die Hälfte der Zeit –, war er genauso unzuverlässig wie liebenswert. Da ihre Eltern schon so früh gestorben waren, hatte er stets bei Mary gelebt, auch nach ihrer Heirat mit Tristram Abberley. Später, während des Kriegs, hatten sie alle bei Beatrix in Rye gewohnt, und in diesen ereignisreichen Jahren in Jackdaw Cottage hatte Onkel Jack eine Menge Anekdoten gesammelt, um damit jene zu unterhalten, die – wie Charlotte – nicht täglich mit ihm zusammenleben mußten.
Die drei Personen auf Beatrix' rechter Seite waren Maurice, seine Frau Ursula und ihre Tochter Samantha. Sie waren eine Familie innerhalb der Familie, sie waren der Familienzweig, in dem Konvention und Kontinuität gesichert schienen. Sie waren alle auf fallend gutaussehend und offensichtlich glücklich, ihre Zuneigung für die anderen beiden auf lockere Art zu zeigen. Zum Beispiel die beiläufige Geste, mit der Maurice seinen Arm um Ursulas Taille gelegt hatte. Oder die unbeabsichtigte Leichtigkeit, mit der Samantha die Hand ihrer Mutter hielt.
Sogar mit fünfzehn waren Samanthas makelloser Teint und ihre Schönheit nicht in Gefahr, obwohl sich ihre Formen, mit denen sie später so vielen den Kopf verdrehen sollte, erst noch ausbilden mußten. Ursula und sie konnten leicht – wie Charlotte widerwillig zugeben mußte – für Schwestern gehalten werden, so leicht und elegant war Ursula mit Mutterschaft und fortgeschrittenem Alter fertig geworden. Beide hatten naturgewellte Haare und eine angeborene Gewandtheit im Auftreten, obwohl es gerade das Bewußtsein ihrer Überlegenheit war, das sich darin ausdrückte, wie sie ihr Kinn hochhielten oder wie sie in die Kamera schauten, das Charlotte immer auf die Palme gebracht hatte.
Als ihr Blick zu Maurice wanderte – ruhig, flott und fröhlich grinsend –, hörte sie das Knirschen von Autoreifen auf dem Kies der Einfahrt, und sie wußte, daß er gleich persönlich auftauchen würde. Plötzlich, ohne den Grund dafür zu verstehen, wurde ihr bewußt, daß sie nicht beim Betrachten einer alten Fotografie überrascht werden wollte, auf der zwei Menschen abgebildet waren, die jetzt tot waren. Deshalb schloß sie das Fotoalbum und legte es eilends beiseite. Sie gestattete sich nur einen kurzen Augenblick, um sich vor dem Spiegel wieder in die Gewalt zu bekommen, ehe sie die Eingangstür öffnete.
»Hallo, altes Mädchen.« Er begrüßte sie mit einer Umarmung und einem müden Lächeln.
»Hallo, Maurice.« Als sie sich aus seiner Umarmung löste, erwischte sich Charlotte dabei, wie sie ihn für einen Augenblick mit seinem Foto verglich.
Seine Haare waren nun unwesentlich dünner, die grauen Stellen an seinen Schläfen vielleicht etwas ausgedehnter. Andererseits war er mit fünfzig genauso, wie er mit fünfundvierzig gewesen war: schlank und auf kantige Art gutaussehend, mit einer beruhigenden Ausstrahlung von Stärke und Ernsthaftigkeit. Er flößte sogar jenen Vertrauen ein – vielleicht besonders jenen –, die ihn nicht kannten. Und die, die ihn kannten, konnten ihm gelegentliche Ausrutscher ins Beleidigtsein leicht verzeihen, wenn sie an seine unbestrittene Großzügigkeit dachten.
»Ich könnte wirklich einen Drink vertragen, Charlotte.«
»Ich mache dir einen. Komm herein und setz dich ans Feuer.«
Er folgte ihr ins Wohnzimmer und sank in einen Sessel. Als sie mit einem großen Scotch mit Soda von der Bar zurückkehrte, hatte er bereits seine Krawatte gelockert und massierte sich die Stirn. »Wie gut, daß du die angezündet hast«, sagte er und nickte zu den brennenden Holzscheiten hinüber. »Diese Leichenhallen lassen einem das Blut in den Adern gefrieren, das kann ich dir sagen.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Sei froh, daß du nicht mehr tun mußt. Erinnerst du dich noch, wann ich das letzte Mal in einer war?«
»Wegen Dad.« Sie erinnerte sich nur zu gut. Das würde sie nie vergessen. An einem nebligen Novembernachmittag im Jahr 1963 war ihr Vater mit seinem kleinen Flugzeug in Mereworth Woods verunglückt, und er und sein Passagier wurden dabei getötet. Das war der Zeitpunkt gewesen, als Maurice aus dem Schatten Ronnie Ladrams heraustrat und der Familie seine wahren Fähigkeiten bewies. Charlotte hatte oft geargwöhnt, daß er im geheimen über den Tod seines Stiefvaters erleichtert gewesen war, wenn auch nur deswegen, weil er endlich die chaotischen Angelegenheiten von Ladram Aviation in Ordnung bringen konnte. Obwohl er das auch heute, mehr als zwanzig Jahre später, niemals zugeben würde.
»Ich habe Ursula vom Autotelefon aus angerufen. Sie läßt dich herzlich grüßen – und es tut ihr so leid!«
»Das ist lieb von ihr.« Charlotte ging mit ihrem Glas zur Zimmerbar, schenkte sich nochmals ein und kehrte zum Feuer zurück. Maurice hatte sich eine dünne Zigarre angezündet und bot auch Charlotte eine an – zu ihrer eigenen Überraschung nahm sie sie.
»Die Polizei fragte mich nach Fairfax-Vane«, sagte er nach einem Moment des Schweigens.
»Ich weiß. Sie denken, daß er hinter dem Einbruch steckt. Aber ich glaube kaum –«
»Du kennst ihn nicht, Charlie.« Das war richtig. Es war Maurice gewesen, der beauftragt worden war, Fairfax-Vanes Geschäft aufzusuchen und die Möbel zurückzukaufen, die ihm Mary überlassen hatte. Leider jedoch ohne Erfolg, wie sich herausgestellt hatte.
»Erschien er dir schlimmer als ein gewöhnlicher Schwindler?«
»Ich traue ihm alles mögliche zu.«
»Sogar einen Mord?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß er das von Anfang an geplant hat. Ich glaube nicht einmal, daß er selbst der Einbrecher war. Wahrscheinlich hat er irgendeinen jungen Rabauken dafür engagiert, der dann durchgedreht hat.«
»Also wurde Beatrix wegen einer Tunbridge-Sammlung im Wert von ein paar tausend Pfund umgebracht?«
»Mehr als ein paar tausend. Ist dir klar, wieviel das Zeug heutzutage einbringt?«
»Offenbar nicht.«
»Verdammt viel, glaub mir.«
»Wenn du das sagst. Aber trotzdem, es ist ... so ein trauriger und sinnloser Tod.«
»Da hast du recht. Obwohl Beatrix nicht so denken würde.«
»Wie meinst du das?«
»Nun, sie war keine, die sich jemals fügte, nicht wahr? Die Vorstellung, in Verteidigung ihres Besitzes zu sterben, könnte ihr gefallen haben. Sie war 85. Vielleicht war es besser als ... was ihr noch hätte zustoßen können.«
»Vielleicht.«
»Das ist so ungefähr der einzige tröstliche Gedanke, den ich anbieten kann, fürchte ich.«
»Dann sollten wir uns besser daran festhalten, nicht wahr?«
Charlotte seufzte und starrte ins Feuer. »Wenn uns nichts Besseres einfällt.«
Entgegen Charlottes Erwartungen wurde sie am folgenden Tag von den Ereignissen überrollt. Die Gedanken an Beatrix – und die Umstände ihres Todes – hatten sie bis in die frühen Morgenstunden wach gehalten. Dann, als die Erschöpfung schließlich die Oberhand gewann, schlief sie bis spät am Morgen. Als sie herunterkam, telefonierte Maurice gerade mit seiner Sekretärin bei Ladram Avionics. Wie sie bald merkte, hatte er für diesen Nachmittag bereits eine Verabredung für sie beide mit Beatrix' Rechtsanwalt in Rye getroffen. Seine Arbeit zwang ihn, die Dinge voranzutreiben. Er entschuldigte sich dafür, aber Charlotte fand, das sei nicht nötig. Soweit es sie anging, wurden die Formalitäten am besten schnell erledigt. Wenn Maurice sich nach dem Tod ihrer Mutter genauso verhalten hätte – anstatt sie möglichst mit allem zu verschonen –, wäre sie ihm, wie sie jetzt dachte, dankbar gewesen.
Bei einem späten Frühstück sprachen sie über ihre letzten Treffen mit Beatrix. Charlotte hatte sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen, aber verschiedentlich mit ihr telefoniert, das letzte Mal an ihrem 85. Geburtstag. Maurice dagegen war erst vor knapp vier Wochen zum Tee nach Jackdaw Cottage eingeladen worden, an dem Sonntag, bevor Beatrix zu ihrem alljährlichen vierzehntägigen Treffen mit Lulu Harrington nach Cheltenham aufgebrochen war. Die beiden waren zusammen zur Schule gegangen, und Charlotte stellte bestürzt fest, daß Lulu noch nicht über den Tod ihrer alten Freundin benachrichtigt worden war.
Sie hatte sich gerade mit dem unerfreulichen Gedanken auseinandergesetzt, sie anzurufen, als das Telefon klingelte. Es war der Assistent von Chief Inspector Hyslop, der sie beide bat, so bald wie möglich das Polizeirevier in Hastings aufzusuchen. Er weigerte sich, den Grund dafür zu nennen, aber da die Dringlichkeit so offensichtlich war, beschlossen sie, sofort aufzubrechen.
Als sie eintrafen, konnte Hyslop seine Zufriedenheit kaum verbergen. Er begleitete sie zu einem Raum, in dem auf einem langen Tisch die vermißten Gegenstände der Tunbridge-Sammlung aufgestellt waren, die Charlotte und Mrs. Mentiply am vorhergehenden Abend in ihrer Liste aufgeführt hatten.
»Erkennen Sie sie, Miss Ladram?«
»Aber natürlich. Das sind die Sachen aus Beatrix' Vitrine. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.«
»Das dachten wir uns. Sie passen genau auf Ihre Beschreibung.«
»Sie haben alles wiedergefunden?« warf Maurice ein.
»Ja, Sir.«
»Wo haben Sie es, entdeckt?«
»In einem Lagerraum an der Rückseite der ›Schatzgrube‹, dem Geschäft von Fairfax-Vane in Tunbridge Wells. Die Räumlichkeiten wurden heute in aller Frühe durchsucht.«
»Und Fairfax-Vane?«
»Verhaftet. Er ist außerstande nachzuweisen, wie er in den Besitz dieser Dinge gekommen ist.«
»Meinen Glückwunsch, Chief Inspector. Das ist ein schöner, Erfolg.«
»Vielen Dank, Sir. Dürfte ich Sie bitten, Miss Ladram, eine offizielle Erklärung darüber abzugeben, daß Sie die Gegenstände als Miss Abberleys Eigentum identifiziert haben?«
»Mit Vergnügen.«
»Dann darf ich mich jetzt entschuldigen und zu meinem Verhör von Mr. Fairfax-Vane zurückkehren. Obwohl ich ihn vielleicht besser nur Fairfax nennen sollte. Wir vermuten, daß er ›Vane‹ seinem Namen nur aus beruflichen Gründen hinzugefügt hat.«
»Sogar sein Nachname ist also ein Betrug?« fragte Maurice.
»Ja, Sir.« Hyslop lächelte. »Sie sagen es.«
Charlotte hätte sich eigentlich mehr über Fairfax-Vanes Verhaftung freuen sollen. Aber ihrer Meinung nach verstärkte die schnelle Aufklärung des Verbrechens seine Sinnlosigkeit nur noch.. Diebstahl und Mord waren schon schlimm genug, überlegte sie, und mußten nicht durch Unfähigkeit verstärkt werden.
Nachdem sie ihre Erklärung abgegeben hatte, gingen sie zum nahe gelegenen Standesamt. Die Beschaffung eines Totenscheins nahm mehr Zeit in Anspruch, als nötig schien, aber schließlich war auch das erledigt. Eigentlich verspäteten sie sich nur um wenige Minuten, als sie kurz nach drei Uhr zu ihrer Verabredung bei Beatrix' Rechtsanwalt Mr. Ramsden eintrafen. Er war ein schwerfälliger, ehrerbietiger Mann in mittleren Jahren, dem Beatrix' einfache Wünsche ausgesprochen durchschnittlich erschienen sein mußten. Er sprach ihnen sein Beileid aus und erklärte dann die Bestimmungen des Testamentes, das er vor einigen Jahren für seine Klientin aufgesetzt hatte.
»Mr. Abberley, ich glaube, Sie wissen bereits, daß Miss Abberley Sie zu Ihrem Testamentsvollstrecker bestimmt hat?«
»Jawohl.«
»Dann genügt es wohl, wenn ich zusammenfasse, wie ihr Vermögen verteilt werden soll. Mrs. Avril Mentiply bekommt zehntausend Pfund, und fünftausend Pfund gehen als Schenkung an den East Sussex Naturalists' Trust.«
»Schräge Vögel waren ihre Spezialität«, sagte Maurice.
Ramsden warf jedem von ihnen einen kurzen Blick zu, sichtlich verunsichert von dieser Sorte Humor. »Lassen Sie uns fortfahren. Jackdaw Cottage, das ihr allein gehörte, fällt Ihnen zu, Miss Ladram, zusammen mit allem, was darin ist, einschließlich Miss Abberleys persönlichem Besitz.«
»Lieber Himmel! Ich hatte ja keine Ahnung.« Soweit sie sich überhaupt darüber Gedanken gemacht hatte, hatte sie angenommen, daß Maurice, als Beatrix' nächster Blutsverwandter, alles erben würde.
»Sie hat es mir vor einiger Zeit erzählt, altes Mädchen«, sagte Maurice und tätschelte ihre Hand. »Schließlich warst du ihre Patentochter.«
»Aber ...« Es war nutzlos zu erklären, daß diese Großzügigkeit ihre Schuldgefühle nur noch verstärkte, weil sie Beatrix in den vergangenen Monaten aus dem Weg gegangen war. Sie schwieg.
»Der Rest ihres Eigentums«, nahm Ramsden den Faden wieder auf, »geht auf Sie über, Mr. Abberley. Er umfaßt jenes Vermögen, das nach Abzug der Schenkungen und der Erbschaftssteuer noch übrig ist, und jene Tantiemen, die weiterhin aus dem Besitz von Mrs. Abberleys verstorbenem Bruder, Mr. Tristram Abberley, fällig werden. Das Urheberrecht seiner Werke läuft, glaube ich, Ende nächsten Jahres aus.«
»Abgesehen von seinen postum veröffentlichten Gedichten, das ist richtig«, sagte Maurice. »Vielleicht ist es ganz gut, daß sie nie lernen mußte, ohne diese Einkünfte zu leben.«
Vielleicht hatte Maurice recht, dachte Charlotte. Schließlich besaß er Ladram Avionics, worin sich die Anlage der Abberley-Tantiemen ganz anständig bezahlt gemacht hatte. Und sie hatte ihren eigenen beträchtlichen Aktienanteil an der Firma, den ihre Mutter ihr vererbt hatte. Aber Beatrix hatte wahrscheinlich genausoviel weggegeben, wie sie während all der Jahre angespart hatte. Obwohl sie sich niemals von Armut bedroht fühlen mußte, hätte sie die Notwendigkeit zu sparen vielleicht als Bedrohung empfunden. Daß ihr diese Erfahrung erspart geblieben war, bedeutete einen schwachen Trost.
Ramsdens Büro war nur wenige Schritte vom Haus des bedeutendsten Leichenbestatters von Rye entfernt. Dort wurden Charlotte und Maurice mit anteilnehmender Dienstbeflissenheit empfangen und behutsam durch das Labyrinth der unterschiedlichen Begräbnismöglichkeiten geleitet. Beatrix hatte in ihrem Testament nicht festgehalten, ob sie begraben oder verbrannt werden wollte, und weder Charlotte noch Maurice konnten sich erinnern, daß sie sich jemals darüber geäußert hätte. Ihre ordentliche, unsentimentale Natur legte jedoch nahe, daß sie sich vermutlich für die Einäscherung entschieden hätte.
Draußen waren die Straßen überfüllt mit Kauflustigen und Touristen. Ihre lauten Stimmen und gaffenden Gesichter schienen die Hitze des Nachmittags noch zu verstärken. Charlotte wünschte sich nichts weiter, als daß sie endlich die ganze Angelegenheit vom Hals hätte, derentwegen sie nach Rye gekommen waren, und frei von den Verpflichtungen wäre, die Beatrix ihr angehängt hatte. Aber wie sie genau wußte, waren nicht alle Wünsche so leicht zu erfüllen.
»Denkst du, wir sollten zum Haus hinaufgehen?« fragte Maurice. »Die Polizei sollte inzwischen fertig sein, und wir könnten bei Mrs. Mentiply den Schlüssel holen.«
»Lieber nicht. Es ist noch zu früh, um Beatrix' Sachen durchzusehen. Ich würde immer denken, sie stünde hinter mir und blicke mir über die Schulter. Vielleicht nach der Beerdigung.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich als ihr Testamentsvollstrecker so lange warten kann. Ich muß ihre Scheckhefte und Bankauszüge für gerichtliche Zwecke suchen. Schauen, ob es irgendwelche unbezahlten Rechnungen gibt.«
»Natürlich. Daran hatte ich nicht gedacht.« Es war typisch für Maurice, daß er seine Verpflichtungen so ernst nahm. Zum Glück mußte sie sich nicht damit befassen. »Kannst du nicht allein gehen?« fragte sie ihn in einem Ton, der ihn zwang, ja zu sagen.
»Kann ich, Charlie, aber natürlich. Mit deiner Erlaubnis. Denk dran, du bist die neue Eigentümerin.«
»Sei nicht albern. Natürlich hast du meine Erlaubnis. Geh schon. Ich bin ja nur froh, wenn ich es nicht selbst machen muß.«
»Also gut. Ich komme morgen wieder und versuche, alles zu ordnen, wenn dir das recht ist.«
»Ja. Danke.«
Maurice schlug vor, daß sie an diesem Abend essen gehen sollten, und Charlotte nahm den Vorschlag nur zu gern an. Sie hoffte, daß ein gutes Essen in einer angenehmen Umgebung ihre Lebensgeister wieder wecken würde. Doch davor war noch eine Pflicht zu erledigen, die sich weder aufschieben noch vermeiden ließ. Lulu Harrington mußte benachrichtigt werden.
Charlotte hatte Lulu niemals kennengelernt, obwohl sie und Beatrix seit ihrer gemeinsamen Schulzeit Freundinnen gewesen waren. Sie hatte ungefähr vierzig Jahre am Cheltenham Ladies' College unterrichtet und lebte nun in einer, wie Charlotte sich vorstellte, angemessen spröden Wohnung in der Stadt und genoß ihre Zurückgezogenheit. Als Lulu ans Telefon ging, antwortete sie, wie es im Buche steht. Sie nannte sowohl das Fernamt als auch ihre Telefonnummer und sprach alle drei Silben in »Cheltenham« aus.
»Miss Harrington?«
»Ja. Wer ist dort, bitte?« Sie klang zerbrechlich und ein bißchen nörglerisch. Charlottes Mut sank.
»Mein Name ist Charlotte Ladram, Miss Harrington. Wir haben uns nie kennengelernt, aber –«
»Charlotte Ladram? Oh, natürlich! Ich weiß, wer Sie sind.« Ihre Stimme klang jetzt herzlicher. »Beatrix' Nichte.«
»Eigentlich nicht wirklich ihre Nichte, aber –«
»So gut wie, dachte ich immer. Nun, verzeihen Sie mir. Miss Ladram. Darf ich Sie Charlotte nennen? Beatrix spricht immer so von Ihnen.«
»Natürlich. Ich –«
»Es ist ein großes Vergnügen, endlich mal mit Ihnen zu reden. Welchem Umstand –« Sie unterbrach sich unvermittelt und sagte dann: »Ist mit Beatrix alles in Ordnung?«
Da sie plötzlich befürchtete, Lulu würde die Wahrheit erraten, bevor sie sie ihr mitteilen konnte, platzte Charlotte heraus: »Ich muß Ihnen leider sagen, daß sie gestern gestorben ist.« Dann bedauerte sie ihre Schroffheit. »Es tut mir leid, das muß ein Schock für Sie sein. Das war es für uns alle.« Schweigen am anderen Ende. »Miss Harrington? Miss Harrington, sind Sie noch da?«
»Ja.« Sie klang jetzt ruhig und traurig. »Darf ich ... Ich meine, was ist passiert?«
Natürlich wollte sie es erfahren. Es gab keine Möglichkeit, ihr vorzumachen, daß Beatrix friedlich gestorben sei. Während sie die Umstände erklärte, spürte Charlotte, wie brutal und ungerecht diese für jemanden klingen mußten, der in Beatrix' Alter war und ebenfalls allein lebte. Aber die Umstände waren nun mal so, wie sie waren.
Als sie geendet hatte, herrschte einen weiteren Augenblick Stille. Dann sagte Lulu einfach nur: »Ich verstehe.«
»Es tut mir wirklich sehr leid, daß ich Ihnen solche Neuigkeiten mitteilen muß.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, meine Liebe. Es war lieb, daß Sie angerufen haben.«
»Das war doch selbstverständlich, schließlich waren Sie Beatrix' älteste Freundin.«
»War ich das?«
»Aber natürlich. Sie sagte das immer.«
»Das war lieb von ihr.«
»Miss Harrington –«
»Nennen Sie mich doch bitte Lulu.«
»Sind Sie sicher, daß es Ihnen gut geht? Das muß ein furchtbarer Schock für Sie sein.«
»Nicht wirklich.
»Wie meinen Sie das?«
»Verzeihen Sie. Aber in unserem Alter – in Beatrix' und meinem – kann der Tod keine Überraschung sein.«
»Aber das ist etwas anderes ... Es war kein ...«
»Kein natürlicher Tod. Ganz richtig, meine Liebe. Ich versichere Ihnen, ich vergesse den Unterschied nicht.«
»Wie können Sie ...« Charlotte unterbrach sich. Die alte Dame war sichtlich verwirrt. Es würde am besten sein, was immer sie sagte, nicht allzu ernst zu nehmen. »Möchten Sie zur Beerdigung kommen, Lulu? Sie findet am nächsten Montag statt, dem neunundzwanzigsten. Natürlich haben Sie einen langen Anfahrtsweg, aber ich könnte Ihnen eine Übernachtungsmöglichkeit anbieten, wenn Ihnen das helfen würde.«
»Vielen Dank. Das ist nett von Ihnen. Aber ... Ich werde darüber nachdenken, Charlotte. Ich werde es mir überlegen und Ihnen Bescheid sagen.«
»Natürlich. Natürlich. Tun Sie das. Sind Sie sicher, daß es Ihnen gut geht –«
»Vollkommen. Auf Wiederhören, Charlotte.«
»Auf –« Die Leitung war tot, bevor sie den Satz beenden konnte. Verwirrt starrte sie ihr stirnrunzelndes Spiegelbild über dem Telefon an.
»Fairfax.«
»Guten Morgen. Spricht dort Mr. Derek Fairfax?«
»Am Apparat.«
»Mein Name ist Dredge, Mr. Fairfax. Albion Dredge. Ich bin Rechtsanwalt und vertrete Ihren Bruder, Mr. Colin Fairfax.«
Derek fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Jetzt war es passiert. Was er befürchtet hatte, seit Colin in Tunbridge Wells eingetroffen war. Ein Rückfall in seine alten Gewohnheiten, würden einige sagen. Ein Unglücksfall, würde Colin zweifellos protestieren. Aber ohne Frage ein Problem, auf das Derek hätte verzichten können. »Wobei vertreten Sie ihn, Mr. Dredge?«
»Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, Mr. Fairfax, daß Ihr Bruder gestern von der Polizei in Sussex festgenommen und anschließend wegen schwerwiegender Straftaten angeklagt wurde.«
»Was für Straftaten?«
»Besitz gestohlener Waren. Komplizenschaft bei einem, Einbruch. Begünstigung. Beihilfe zu Mord.«
Es war noch schlimmer, als er erwartet hatte. Viel schlimmer. »Mord, sagen Sie?«
»Eine alte Dame wurde am Sonntagnachmittag übel zugerichtet und tot in ihrem Haus in Rye aufgefunden. Vielleicht haben Sie einen Bericht darüber in den Nachrichten des Lokalfernsehens gesehen.«
»Nein. Ich glaube nicht.«
»Dann lassen Sie es mich erklären.« Während Dredge sprach, fühlte Derek eine düstere Vorahnung in sich aufsteigen. Colin hatte mit Gewalt nichts zu tun. Das war sicher. Aber er hatte sich noch nie um die Herkunft dessen gekümmert, was er kaufte und verkaufte. Er befand sich ständig auf einer Gratwanderung. Aber könnte er so weit gegangen sein, einen Einbrecher zu beauftragen, nur um in den Besitz einer Tunbridge-Sammlung zu gelangen? Wenn er wußte, daß er daraus genügend Gewinn schlagen konnte, mußte die Antwort ja lauten, besonders wenn sich seine Finanzen in einem mehr als prekären Zustand befanden. Einen Mord würde er jedoch niemals unterstützen. Oder einen tätlichen Angriff jeglicher Art. Aber wenn er seine Komplizen falsch eingeschätzt hatte, könnten die Folgen durchaus so aussehen, wie die Polizei behauptete. »Im Augenblick wird er im Polizeirevier Hastings festgehalten«, schloß Dredge. »Und morgen vormittag muß er vor Gericht erscheinen.«
»Streitet er ... die Anschuldigungen ab?«
»Unmißverständlich.«
»Und wie erklärt er die Tunbridge-Sammlung in seinem Laden?«
Dredge seufzte. »Er behauptet, daß sie ihm hineingeschmuggelt wurde.«
»Sie scheinen das zu bezweifeln.«
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht diesen Eindruck erwecken. Es ist nur ... nun, nach Auffassung der Polizei wäre es genau das, was er sagen würde, nicht?«
»Er hat nicht angedeutet, daß sie sie hineingeschmuggelt haben, oder?«
»Zum Glück nicht.«
»Also wer ... warum sollte ...«
»Mr. Fairfax, ich möchte nicht unhöflich sein, aber diese Fragen sollten wir vielleicht besser zu einem anderen Zeitpunkt erörtern. Der Zweck meines Anrufes heute besteht lediglich darin, Sie zu fragen, ob Sie bereit sind, als Bürge aufzutreten für den Fall, daß das Gericht die Freilassung gegen Kaution bewilligt. Falls ja, wird die verlangte Summe sehr wahrscheinlich die Möglichkeiten Ihres Bruders übersteigen.«
Das hätte Derek ihm auch sagen können. Colins Einnahmen konnten seines Wissens nie mit seinen Ausgaben Schritt halten. In der Vergangenheit war Derek oft genug gezwungen gewesen, ihm aus der Patsche zu helfen, sowohl buchstäblich als auch bildlich gesprochen. Und jedesmal hatte er geschworen, es wäre das letzte Mal. »Über welchen Geldbetrag reden wir?« fragte er abwehrbereit.
»Schwer zu sagen. Die Polizei wird gegen eine Kaution sein. Vielleicht stellt sich die Frage überhaupt nicht.«
»Aber wenn sie sich stellt?«
»Dann wird es eine beträchtliche Summe sein.«
»Wie beträchtlich?«
»Ich würde schätzen ... so zwischen fünf- und zehntausend Pfund.«
Ein erschreckend großer Teil von Dereks Ersparnissen, der verloren sein würde, falls Colin sich entschließen sollte, sich bei Nacht und Nebel in ein Land davonzumachen, das ihn nicht ausliefern würde. Während Derek sich mit dieser Möglichkeit vertraut machte, ertappte er sich beim Gedanken, daß es vielleicht den Verlust einer solchen Summe wert wäre, wenn Colin ihn nie mehr um Hilfe angehen könnte.
»Ihr Bruder gab mir zu verstehen, daß Sie vermutlich die einzige Person sind, die bereit wäre zu helfen.«
»Ohne Zweifel.«
»Und werden Sie ... ihm helfen?«
»Ja. Ich denke, das werde ich.«
»Können Sie morgen vormittag ins Gericht kommen?«
Derek warf einen Blick auf seinen Kalender, der offen vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Am Mittwoch, dem 24. Juni, war kein Termin eingetragen, der nicht verschoben werden konnte. »Ja. Ich werde da sein.«
»Das Gericht befindet sich in der Bohemia Road in Hastings. Die Anhörung beginnt um halb elf.«
»In Ordnung. Ich treffe Sie dort.«
Derek legte den Hörer auf, nahm seine Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Als er die Augen schloß, schwebte die Gegenwart – seine düstere Stimmung, sein Schreibtisch, das Büro, die Aussicht durchs Fenster auf den Calverley Park, Beweis und Merkmal seines Alters und seiner Stellung – davon wie Spinnfäden im Wind. Er und Colin waren wieder Kinder zu Hause in Bromley. Colin war sechs Jahre älter als er und ebenso clever und wagemutig, wie Derek schüchtern und furchtsam war. Damals hatte Derek oft die Schuld für die Streiche seines Bruders auf sich genommen, seine Spuren verwischt und seine Alibis gefälscht. Im Grunde hatte sich seither nichts geändert.
Er stand auf und trat ans Fenster. An diesen ruhigen Hochsommertagen sah Tunbridge Wells am besten aus, die blassen Fassaden der Regency-Villen wirkten wie Punkte inmitten all des Grüns; die diesige Luft schien die schweren Blätter der Roßkastanien im Park noch stärker niederzudrücken. Seit sieben Jahren lebte er jetzt hier, sieben gute, wenn auch wenig ruhmreiche Jahre des ständigen Vorwärtskommens bei der Firma Fithyan & Co. Wenn keine Katastrophen passierten, lag eine Partnerschaft im Bereich des Möglichen. Aber würde Fithyan seine Verbindung mit einem korrupten Antiquitätenhändler – oder noch schlimmer, mit einem Mörder – nicht als Katastrophe ansehen? Was würden die Kunden sagen? Was würden die Geschäftspartner denken?
Wie sehr wünschte er, daß sich Colin niemals in Tunbridge Wells niedergelassen hätte. Zuerst war es nur als vorläufige Lösung gedacht gewesen, als Möglichkeit, ihm den Weg, zurück ins normale Leben zu erleichtern. Statt dessen hatte er die »Schatzgrube« gefunden und einen raschen Weg zurück zu dem Beruf, der ihn bereits einmal ruiniert hatte. Und jetzt, so schien es, hatte er ihn erneut ruiniert, so gewaltig, daß es auch seinen Bruder mitreißen konnte.
Maurice hatte sich schon früh auf den Weg nach Rye gemacht und würde von dort direkt nach Bourne End zurückkehren. Zum ersten Mal seit Beatrix' Tod war Charlotte mit sich selbst und ihren Gedanken allein. Den Morgen hatte sie mit intensiver Gartenarbeit verbracht, aber das war nicht dazu geeignet gewesen, ihre Unruhe zu vertreiben. Am Nachmittag ging sie in die Stadt und graste die Geschäfte nach einem halben Dutzend Dinge ab, die sie gar nicht brauchte.
Kurz vor Geschäftsschluß befand sie sich in der Mitte der High Street und stellte mit leiser Überraschung fest, daß sie auf Chapel Place zusteuerte. Sie hätte leicht kehrtmachen und einen kürzeren Weg zu ihrem Haus in Mount Ephraim wählen können. Aber sie tat es nicht. Die Neugier – oder irgend etwas in der Art – besiegte ihre Furcht, und sie setzte ihren Weg fort. Ihr Ziel war, wie sie erkannte, die »Schatzgrube«.