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VON EINER PRINZESSIN ERWARTET NIEMAND, DASS SIE BRUTAL IST ... ... und genau das spielt Lada Dragwyla in die Hände. Seit sie und ihr sanftmütiger jüngerer Bruder Radu aus ihrer walachischen Heimat gerissen und von ihrem Vater verlassen wurden, um am osmanischen Hof aufzuwachsen, weiß die Prinzessin, dass Rücksichtslosigkeit der Schlüssel zum Überleben ist. Sie und Radu sind dazu verdammt, Schachfiguren in einem bösen Spiel zu sein, in dem ein unsichtbares Schwert über jeder ihrer Bewegungen schwebt. Denn die Abstammung, die sie zu etwas Besonderem macht, macht sie gleichzeitig auch zur Zielscheibe. Lada hegt nichts als Verachtung für die Osmanen und plant ihre Rache für den Tag, an dem sie in die Walachei zurückkehren und ihr Geburtsrecht einfordern kann. Radu hingegen sehnt sich nur nach einem Ort, an dem er sich sicher fühlen kann. Und als sie Mehmed begegnen, dem so trotzigen wie einsamen Sohn des Sultans, der ein ganzes Land regieren soll, hat Radu das Gefühl, einen wahren Freund gefunden zu haben - und Lada fragt sich, ob sie endlich jemanden gefunden hat, der ihrer Leidenschaft würdig ist. Doch Mehmed ist der Erbe genau des Reiches, das Lada zu bekämpfen geschworen hat - und das Radu nun als seine Heimat betrachtet. Zusammen bilden Lada, Radu und Mehmed ein toxisches Dreieck, das die Bande der Liebe und Loyalität bis zum Zerreißen strapaziert.
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Seitenzahl: 613
Ins Deutsche übertragen von Helga Parmiter
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Text copyright © 2024 by Kiersten White. All Rights Reserved.
Jacket art copyright © 2024 by Sam Weber.
Map art copyright © 2024 Isaac Stewart.
Titel der Englischen Originalausgabe: »And I Darken« by Kiersten White, published 2016 in the US by Delacorte Press, an imprint of Random House Children’s Books, a division of Random House LLC, New York.
Deutsche Ausgabe 2024 Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Helga Parmiter
Lektorat: Katharina Altreuther
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDWHITE001E
ISBN 978-3-7569-9971-2
Gedruckte Ausgabe:
1. Auflage, März2024, ISBN 978-3-8332-4483-4
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Für Noah Te iubesc
1
1435: Schäßburg, Siebenbürgen
Vlad Draculs hohe Stirn verzog sich finster, als der Arzt ihm mitteilte, dass seine Frau ein Mädchen entbunden habe. Seine anderen Kinder – eines von seiner ersten Frau, das jetzt nahezu erwachsen war, und sogar ein Bastardkind von seiner Geliebten, das letztes Jahr geboren worden war – waren Jungen gewesen. Er hatte seinen Samen nicht für schwach genug gehalten, um ein Mädchen zu zeugen.
Er stieß die Tür auf und trat in die dichte, schwere Luft des winzigen Schlafzimmers. Es stank nach Blut und Angst und erfüllte ihn mit Abscheu.
Ihr Haus in der befestigten Bergstadt Schäßburg war weit von dem entfernt, was er verdiente. Es lag neben dem Haupttor in der erdrückenden Enge des Platzes neben einer Gasse, die nach menschlichen Abfällen stank. Seine zehnköpfige Gefolgschaft war rein zeremoniell und machte ihn zu einem besseren Platzhalter. Er war vielleicht der Militärgouverneur von Siebenbürgen, aber er sollte der Herrscher der gesamten Walachei sein.
Vielleicht war das der Grund, warum er mit einem Mädchen verflucht worden war. Eine weitere Beleidigung seiner Ehre. Er war im Drachenorden, der vom Papst höchstpersönlich sanktioniert war. Er sollte der Woiwode, der Kriegsfürst, sein, aber sein Bruder saß auf dem Thron, während er nur Statthalter der Sachsen war, die auf den Ländereien seines eigenen Landes hockten.
Bald würde er ihnen seine Ehre mit dem Ende eines Schwertes zeigen.
Vasilissa lag schweißgebadet auf dem Bett und stöhnte vor Schmerz. Sicherlich war die Schwäche, die in ihrem Schoß heranwuchs, ihre eigene gewesen. Bei ihrem Anblick drehte sich ihm der Magen um; sie war weder im Auftreten noch in der Erscheinung eine Prinzessin.
Das Kindermädchen hielt ein schreiendes, rotgesichtiges kleines Monster hoch. Er hatte keine Namen für ein Mädchen. Vasilissa würde zweifellos etwas zu Ehren ihrer Familie wollen, aber Vlad hasste das moldawische Königshaus, dem sie entstammte, weil es ihm keinen politischen Vorteil verschafft hatte. Seinen Bastard hatte er bereits Vlad genannt, nach sich selbst, und er würde auch seine Tochter so nennen.
»Ladislava«, verkündete er. Es war die weibliche Form von Vlad. Verkleinert. Abgewertet. Wenn Vasilissa einen starken Namen wollte, würde sie ihm einen Sohn gebären müssen. »Beten wir, dass sie hübsch ist, damit sie uns zumindest etwas Nutzen bringt«, sagte er. Der Säugling schrie lauter.
Vasilissas königliche Brüste waren viel zu wichtig, als dass an ihnen genuckelt werden durfte. Die Amme wartete, bis Vlad gegangen war, und hielt das Kind dann an ihre gewöhnlichen Zitzen. Sie hatte noch viel Milch von ihrem eigenen Kind, einem Jungen. Als das Baby mit überraschender Heftigkeit an der Brust saugte, sprach die Amme ihr eigenes Gebet. Lass sie stark sein. Lass sie schlau sein. Sie sah zu der fünfzehnjährigen Prinzessin hinüber, lieblich und zart wie die ersten Frühlingsblüten. Sie lag verwelkt und gebrochen auf dem Bett.
Und lass sie hässlich sein.
2
Vlad hatte keine Lust, bei der Geburt seines zweiten Kindes von Vasilissa anwesend zu sein: ein Sohn, ein Jahr jünger als seine Schwester, der ihr praktisch in diese Welt hinterherjagte.
Das Kindermädchen beendete die Reinigung des Neugeborenen und hielt ihn seiner Mutter hin. Er war winzig, perfekt, mit einem Mund wie eine Rosenknospe und einem vollen Schopf aus dunklem Haar. Vasilissa lag stumm und mit glasigen Augen auf dem Bett. Sie starrte an die Wand. Ihr Blick wanderte nicht einmal zu ihrem Sohn. Ein Zupfen am Rock des Kindermädchens lenkte dessen Aufmerksamkeit nach unten, wo die kleine Lada mit finsterem Blick stand. Das Kindermädchen drehte das Baby in Richtung seiner Schwester.
»Ein Bruder«, sagte sie mit sanfter Stimme.
Das Baby begann zu weinen, ein schwacher, verzerrter Laut, der das Kindermädchen beunruhigte. Ladas finsterer Blick vertiefte sich. Sie schlug ihm eine Hand auf den Mund. Das Kindermädchen zog ihn schnell weg, und Lada sah mit wutverzerrtem Gesicht hoch.
»Meiner!«, rief sie.
Das war ihr erstes Wort.
Das Kindermädchen lachte schockiert und hielt das Baby wieder tiefer. Lada starrte ihn an, bis er aufhörte zu weinen. Dann trollte sie sich aus dem Zimmer, scheinbar zufrieden.
3
Wenn Vasilissa ihre Tochter mit den Hunden und dem Sohn des Kindermädchens, Bogdan, auf dem Boden ringen sähe, würde das Kindermädchen seine Stellung verlieren. Doch seit der Geburt von Radu vor vier Jahren hatte Vasilissa ihr Zimmer nicht verlassen.
Radu hatte all die Schönheit bekommen, die sein Vater sich für seine Tochter gewünscht hatte. Seine Augen waren von dichten Wimpern umrahmt, seine Lippen voll, seine sanften Locken mit einem Hauch von sächsischem Gold geküsst.
Bogdan schrie, als Lada – Ladislava, jetzt fünf Jahre alt, die sich weigerte, auf ihren vollen Namen zu hören – ihm in den Oberschenkel biss. Er schlug sie. Also biss sie noch fester zu, und er schrie um Hilfe.
»Wenn sie dein Bein essen will, darf sie das«, sagte das Kindermädchen. »Hör auf zu schreien, oder ich lasse sie auch dein Abendbrot essen.«
Wie ihr Bruder hatte Lada große Augen, aber ihre standen unter gewölbten Augenbrauen eng beisammen, wodurch sie ständig verärgert aussah. Ihr Haar war ein Wirrwarr und so dunkel, dass ihre blasse Haut kränklich wirkte. Ihre Nase war lang und hakenförmig, ihre Lippen waren dünn, ihre Zähne klein und – nach Bogdans wütenden Schreien zu urteilen – ziemlich scharf.
Sie war widerspenstig und bösartig und das gemeinste Kind, das das Kindermädchen je betreut hatte. Außerdem war sie der Liebling des Kindermädchens. Eigentlich sollte die Kleine still und brav, ängstlich und einfältig sein. Ihr Vater war ein machtloser Tyrann, grausam in seiner Machtlosigkeit und monatelang abwesend. Ihre Mutter war ebenso abwesend, zurückgezogen und ohne jeden Nutzen in ihrem Haus, unfähig, etwas zu tun, um sich selbst zu helfen. Sie standen stellvertretend für die gesamte Region, insbesondere für die Heimat des Kindermädchens, die Walachei.
Aber in Lada sah sie einen Funken, einen leidenschaftlichen, wilden Schimmer, der sich weder verstecken noch abschwächen ließ. Anstatt zu versuchen, diesen Funken um Ladas Zukunft willen zu unterdrücken, nährte das Kindermädchen ihn. Das gab ihr auf merkwürdige Weise Hoffnung.
Wenn Lada das stachelige grüne Unkraut war, das inmitten eines ausgetrockneten Flussbettes wuchs, war Radu die zarte, süße Rose, die in allem verwelkte, was nicht den perfekten Bedingungen entsprach. In diesem Moment jammerte er, weil das Kindermädchen eine Pause dabei machte, ihm den dünnen, mit Honig gesüßten Brei in den Mund zu löffeln.
»Bring ihn zum Schweigen!« Lada kletterte über den großen Hund ihres Vaters, der mit dem Alter mürrisch und geduldig geworden war.
»Wie soll ich das machen?«
»Ersticke ihn!«
»Lada! Hüte deine Zunge. Er ist dein Bruder.«
»Er ist ein Wurm. Bogdan ist mein Bruder.«
Das Kindermädchen machte ein finsteres Gesicht und wischte Radu mit ihrer Schürze über das Gesicht. »Bogdan ist nicht dein Bruder.« Ich würde eher bei den Hunden liegen als bei deinem Vater, dachte sie.
»Ist er wohl! Du bist es. Sag, dass du es bist.« Lada sprang auf Bogdans Rücken. Obwohl er zwei Jahre älter und viel größer war, drückte sie ihn zu Boden und rammte ihren Ellbogen in seine Schulter.
»Ich bin es! Ich bin es!«, sagte er halb kichernd, halb weinend.
»Schmeiß Radu mit den Nachttöpfen raus!«
Radu heulte noch lauter und steigerte sich in einen Anfall hinein. Das Kindermädchen schnalzte mit der Zunge und hob ihn hoch, obwohl er viel zu groß war, um herumgetragen zu werden. Er steckte eine Hand in ihre Bluse und kniff in ihre Haut, die locker und faltig war wie ein alter Apfel. Manchmal wünschte auch sie sich, er würde still sein, aber wenn er sprach, war es immer so süß, dass es seine Wutausbrüche wettmachte. Er roch sogar gut, so als ob ihm zwischen den Mahlzeiten Honig im Mund klebte.
»Sei ein braver Junge«, sagte das Kindermädchen, »dann kannst du später mit Lada und Bogdan Schlitten fahren. Würde dir das gefallen?«
Radu schüttelte den Kopf, seine Lippen zitterten und weitere Tränen drohten.
»Wir könnten auch die Pferde besuchen.«
Er nickte langsam, und das Kindermädchen seufzte erleichtert. Sie sah hoch und stellte fest, dass Lada verschwunden war. »Wo ist sie hin?«
Bogdans Augen weiteten sich vor Angst und Unentschlossenheit. Er wusste schon nicht mehr, wessen Zorn er mehr fürchtete – den seiner Mutter oder den der kleinen Lada.
Schnaufend stemmte das Kindermädchen Radu auf ihre Hüfte, wobei seine Füße bei jedem Schritt gegen ihre Beine schlugen. Sie schlich den Flur entlang in Richtung der schmalen Treppe, die zu den Schlafzimmern führte. »Lada, wenn du deine Mutter weckst, wird es …«
Sie blieb stehen und hielt ganz still, ihr ängstlicher Gesichtsausdruck entsprach dem von Bogdan. Aus dem Wohnzimmer an der Vorderseite des Hauses hörte sie Stimmen. Leise Stimmen. Männerstimmen. Sie sprachen Türkisch, die Sprache ihrer ständigen Feinde, der Osmanen.
Das bedeutete, Vlad war zu Hause und Lada war …
Das Kindermädchen lief den Flur entlang und stürmte ins Wohnzimmer, wo Lada mitten im Raum stand.
»Ich töte Ungläubige!«, knurrte das Kind und schwang ein kleines Küchenmesser.
»Tust du das?« Vlad sprach mit ihr in der Sprache der Sachsen, der Sprache, die in Schäßburg am meisten gesprochen wurde. Das Kindermädchen sprach nur gebrochen Sächsisch, und obwohl Vasilissa mehrere Sprachen fließend beherrschte, sprach sie diese nie mit den Kindern. Lada und Radu sprachen nur Walachisch.
Lada fuchtelte als Antwort auf die Frage, die sie nicht verstand, mit dem Messer herum. Vlad hob eine Augenbraue. Er war in einen feinen Mantel gehüllt und hatte einen kunstvollen Hut auf dem Kopf. Es war fast ein Jahr her, dass Lada ihren Vater gesehen hatte, und sie erkannte ihn nicht wieder.
»Lada!«, flüsterte das Kindermädchen. »Komm sofort her.«
Lada reckte sich so weit nach oben, wie es ihre kurzen, stämmigen Beine zuließen. »Dies ist mein Zuhause! Ich bin der Drachenorden! Ich töte Ungläubige!«
Einer der drei Männer, die Vlad begleiteten, murmelte etwas auf Türkisch. Das Kindermädchen spürte, wie ihr der Schweiß auf dem Gesicht, im Nacken und auf dem Rücken ausbrach. Würden sie ein Kind töten, weil es sie bedroht hatte? Würde ihr Vater das zulassen? Oder würden sie sie einfach töten, weil sie nicht in der Lage war, Lada zu kontrollieren?
Vlad lächelte nachsichtig über den Auftritt seiner Tochter und verbeugte sich dann vor den drei Männern. Sie erwiderten die Verbeugung und gingen hinaus, ohne das Kindermädchen oder ihren ungehorsamen Schützling zu beachten. »Wie viele Ungläubige hast du getötet?« Vlads Stimme, diesmal in der melodischen romanischen Sprache der Walachei, war sanft und kalt.
»Hunderte.« Lada richtete das Messer auf Radu, der sein Gesicht an der Schulter des Kindermädchens verbarg. »Den da habe ich heute Morgen getötet.«
»Und jetzt wirst du mich töten?«
Lada zögerte und ließ ihre Hand sinken. Sie starrte ihren Vater an, und die Erkenntnis sickerte über ihr Gesicht wie Milch, die in klares Wasser fällt. Schnell wie eine Schlange riss Vlad ihr das Messer aus der Hand, packte sie dann am Fußknöchel und hob sie in die Luft.
»Und wie«, sagte er, ihr auf dem Kopf stehendes Gesicht auf gleicher Höhe mit seinem, »hast du gedacht, jemanden töten zu können, der größer, stärker und klüger ist als du?«
»Du hast geschummelt!« In Ladas Augen brannte ein Blick, den das Kindermädchen zu fürchten gelernt hatte. Dieser Blick bedeutete Verletzung, Zerstörung oder Feuer. Oft sogar alles zusammen.
»Ich habe gewonnen. Das ist alles, was zählt.«
Mit einem Schrei wand Lada sich nach oben und biss in die Hand ihres Vaters.
»Gottes Wunden!« Er ließ sie zu Boden fallen. Sie rollte sich zu einem Ball zusammen, kugelte aus seiner Reichweite, kauerte sich zusammen und fletschte die Zähne. Das Kindermädchen zuckte zusammen und wartete darauf, dass Vlad in Wut geriet und Lada schlug. Oder sie schlug, weil sie es nicht geschafft hatte, Lada zahm und gefügig zu halten.
Stattdessen lachte er. »Meine Tochter ist verwildert.«
»Es tut mir so leid, Mylord.« Das Kindermädchen senkte den Kopf und gestikulierte krampfhaft in Ladas Richtung. »Sie ist überglücklich, Euch nach so langer Abwesenheit wiederzusehen.«
»Was ist mit ihrem Unterricht? Sie spricht kein Sächsisch.« »Nein, Mylord.« Das war nicht ganz richtig. Lada hatte sächsische Obszönitäten aufgeschnappt und brüllte sie häufig aus dem Fenster den Leuten auf dem belebten Platz entgegen. »Sie kann ein bisschen Ungarisch. Aber es gab niemanden, der sich um die Erziehung der Kinder gekümmert hat.«
Er schnalzte mit der Zunge, und ein nachdenklicher Blick stand in seinen scharfen Augen. »Und was ist mit ihm hier? Ist er auch so ein Wildfang?« Vlad beugte sich zu der Stelle, an der Radu nach draußen spähte.
Radu brach sofort in Tränen aus, vergrub sein Gesicht wieder an der Schulter des Kindermädchens, schob seine Hand unter ihre Mütze und wickelte ihr Haar darum.
Vlad verzog angewidert die Lippen nach oben. »Der hier kommt nach seiner Mutter. Vasilissa!«, rief er so laut, dass Radu erschrocken verstummte, nur unterbrochen von Schluckauf und Schniefen. Das Kindermädchen wusste nicht, ob sie bleiben oder gehen sollte, allerdings war sie nicht entlassen worden. Lada ignorierte sie und starrte ihren Vater misstrauisch an.
»Vasilissa!«, brüllte Vlad erneut. Er streckte die Hand aus, um Lada zu packen, aber dieses Mal war sie bereit. Sie krabbelte weg und kroch unter den polierten Tisch. Vlad klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. »Sehr gut. Vasilissa!«
Seine Frau stolperte ins Zimmer, mit offenem Haar und nur in einen Morgenmantel gehüllt. Sie war abgemagert. Ihre Wangenknochen stachen unter ausdruckslosen, leeren Augen hervor. Wenn die Geburt von Lada sie schon fast umgebracht hatte, so hatte die von Radu ihr jegliches Leben entzogen, das ihr noch geblieben war. Sie nahm die Szene – Radu tränenüberströmt, Lada unter dem Tisch, und ihr Mann, der endlich zu Hause war – mit einem stumpfen Blick auf.
»Ja?«, fragte sie.
»Begrüßt du so deinen Mann? Den Woiwoden der Walachei? Den Fürsten?« Er lächelte triumphierend, sein langer Schnurrbart hob sich und gab den Blick auf dünne Lippen frei.
Vasilissa erstarrte. »Sie machen dich zum Fürsten? Was ist mit Alexandru?«
»Mein Bruder ist tot.«
Das Kindermädchen fand, dass Vlad nicht gerade wie ein trauernder Mann aussah.
Endlich bemerkte Vasilissa ihre Tochter und winkte ihr zu. »Ladislava, komm da unten heraus. Dein Vater ist zu Hause.«
Lada bewegte sich nicht. »Er ist nicht mein Vater.«
»Sie soll rauskommen«, schnauzte Vasilissa das Kindermädchen an.
»Kannst du deinem eigenen Kind nicht gebieten?« Vlads Stimme war so klar wie ein blauer Himmel mitten im eisigen Winter. Sonne mit Zähnen, so nannte man diese Tage.
Das Kindermädchen schrumpfte immer weiter in sich zusammen und ging zur Seite, sodass zumindest Radu nicht mehr in Vlads Blickfeld war. Vasilissa schaute verzweifelt nach beiden Seiten, aber es gab kein Entkommen aus dem Zimmer. »Ich will nach Hause«, flüsterte sie. »Zurück nach Moldawien. Bitte lass mich.«
»Bettle.«
Vasilissas kleiner Körper zitterte. Dann sank sie auf die Knie, senkte den Kopf und nahm Vlads Hand in die ihre. »Bitte. Bitte, ich flehe dich an. Lass mich nach Hause gehen.«
Vlad streckte seine andere Hand aus und streichelte Vasilissas schütteres, fettiges Haar. Dann packte er es und riss ihren Kopf zur Seite. Sie schrie auf, aber er zog fester und zwang sie aufzustehen. Er presste seine Lippen auf ihr Ohr. »Du bist die schwächste Kreatur, die ich je gekannt habe. Krieche zurück in dein Loch und versteck dich dort. Krieche!« Er warf sie zu Boden, und sie kroch schluchzend aus dem Zimmer.
Das Kindermädchen hielt den Blick auf den fein gewebten Teppich gerichtet, der den Steinboden bedeckte. Sie rührte sich nicht und sagte nichts. Sie betete, dass Radu schweigen möge.
»Du.« Vlad zeigte auf Lada. »Komm raus. Sofort.«
Sie tat es und beobachtete immer noch die Tür, durch die Vasilissa verschwunden war.
»Ich bin dein Vater. Aber die Frau dort ist nicht deine Mutter. Deine Mutter ist die Walachei. Deine Mutter ist die Erde, auf der wir wandeln, das Land, dessen Fürst ich bin. Verstehst du das?«
Lada sah in die tief liegenden Augen ihres Vaters, die von jahrelanger Gerissenheit und Grausamkeit gezeichnet waren. Sie nickte, dann streckte sie die Hand aus. »Die Tochter der Walachei will ihr Messer zurück.«
Vlad lächelte und gab es ihr.
4
1446: Tergowiste, Walachei
Radu schmeckte Blut in seinem Mund. Es vermischte sich mit dem Salz der Tränen, die über sein Gesicht liefen.
Andrej und Aron Danesti traten ihn erneut. Ihre Stiefel trafen seinen Bauch, und er spürte einen scharfen Schmerz. Radu rollte sich auf die Seite, krümmte sich zusammen und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Die getrockneten Blätter und Steine, die den Waldboden bedeckten, zerkratzten seine Wangen. Hier draußen konnte ihn niemand hören.
Er war es gewohnt, nicht gehört zu werden. Niemand hörte ihn im Schloss, das sich auch nach sechs Jahren nur dann wie ein Zuhause anfühlte, wenn er in seinem Zimmer mit seinem Kindermädchen war. Seine Erzieher befanden sich in einem ständigen Machtkampf mit Lada, und Radus vorbildliche Arbeit blieb oft unbemerkt. Lada war immer entweder mit Lernen beschäftigt oder mit Bogdan unterwegs, und sie hatte nie Zeit für ihn. Ihr älterer Halbbruder Mircea zwang Radu, Verstecke zu finden, um seinen schonungslosen Kommentaren und noch schonungsloseren Fäusten zu entgehen. Und sein Vater, der Fürst, nahm seine Existenz wochenlang nicht einmal zur Kenntnis.
Der Druck baute sich wie Dampf auf, bis Radu nicht mehr wusste, ob er mehr Angst davor hatte, dass sein Vater ihn nie wieder wahrnehmen würde oder dass er es doch tun würde.
Es war sicherer, unbemerkt zu bleiben.
Leider hatte er heute dabei versagt. Aron Danesti lachte, ein Ton, der schärfer war als seine Stiefel. »Du quiekst wie ein Ferkel. Mach das noch mal.«
»Bitte.« Radu schützte seinen Kopf, als Aron ihm auf die Wangen schlug. »Halt. Hör auf.«
»Wir sind hier, um stärker zu werden«, sagte Andrej. »Und niemand ist schwächer als du.«
Mindestens einmal im Monat wurden alle Jungen im Alter von sieben bis zwölf Jahren aus Bojarenfamilien – Bojar war ein Wort für Adel, das, wenn Lada es sagte, mit verzerrten Lippen und einem höhnischen Grinsen ausgesprochen wurde – tief im Wald ausgesetzt. Es war eine Tradition, über die die meisten Erwachsenen nachsichtig lachten. Ein Spiel, nannten sie es. Aber alle beobachteten mit zusammengekniffenen Augen, wer als Erster auftauchte und aussah, als sei er nur spazieren gewesen und nicht müde und verängstigt wie ein normaler Junge.
Die Danestis, die den Thron in den letzten fünfzehn Jahren immer wieder im Wechsel mit der Familie Basarab innegehabt hatten, waren besonders daran interessiert, wie es Aron und Andrej, beide ein Jahr älter als Radu, erging. Sie hatten nicht besonders viel für die Draculesti-Usurpatoren übrig.
Radu war der Sohn des Fürsten, ein Draculesti, der kleinste Junge und das größte Ziel. Er war nie der Gewinner. Und heute fragte er sich zum ersten Mal, ob er es überhaupt wieder zurückschaffen würde. Die Angst kratzte in seiner Kehle. Sein Atem kam in kurzen, schmerzhaften Stößen.
Andrej packte Radu, und seine Finger gruben sich in seine Arme, als er ihn auf die Füße stellte. Sein Mund befand sich an Radus Ohr und sein Atem war heiß. »Meine Mutter sagt, dein Vater wünschte, du wärst nie geboren worden. Wünschst du dir das auch?«
Aron schlug ihm in den Magen, und Radu musste würgen.
»Sag es«, befahl Andrej mit fröhlicher Stimme. »Sag, dass du dir wünschst, nie geboren worden zu sein.«
Radu kniff seine Augen fest zu. »Ich wünschte, ich wäre nie geboren worden.«
Aron schlug ihn.
»Ich habe es gesagt!«, schrie Radu, hustete und rang nach Atem.
»Ich weiß«, sagte Andrej. »Schlag ihn noch mal.«
»Mein Vater wird …«
»Dein Vater wird was? Dem Sultan schreiben und ihn darum bitten, uns schelten zu dürfen? Meine Familie bitten, für den Thron zu spenden, damit er sich eine Rute leisten kann, mit der er uns auspeitscht? Dein Vater ist ein Nichts. Genau wie du.«
Radu war auf einen weiteren Schlag gefasst, als Arons Schrei ihn dazu brachte, die Augen zu öffnen. Aron drehte sich im Kreis und versuchte verzweifelt, Lada abzuschütteln. Sie sollte eigentlich nicht hier sein, aber irgendwie war ihre Anwesenheit nicht überraschend. Sie war auf den Rücken des Jungen gesprungen, hatte ihre Arme um ihn geschlungen und drückte seine Arme an seine Seiten. Radu konnte ihr Gesicht durch ihren wirren Haarschopf nicht sehen, bis Aron sich zur Seite drehte und es sich zeigte, dass Lada ihre Zähne in seine Schulter gegraben hatte.
Andrej stieß Radu weg und eilte vorwärts, um seinem Cousin zu helfen. Lada ließ Aron los, sprang von seinem Rücken und ging in die Hocke. Ihre Augen verengten sich. Andrej war elf Jahre alt, genauso alt wie Lada, aber größer als sie. Aron stolperte zu einem Baum und lehnte sich weinend an den Stamm, wobei er sich die Schulter hielt.
Lada lächelte Andrej mit blutverschmierten Zähnen an.
»Du Dämonenmädchen, ich …«
Lada stand auf und schlug mit der Hand auf Andrejs Nase. Er schrie auf, sank auf die Knie und schniefte. Lada ging zu ihm und trat ihm in die Seite, sodass er auf den Rücken fiel. Er starrte zu ihr auf, während er fast an dem Blut erstickte, das aus seiner Nase floss. Sie setzte ihren Fuß auf seine Kehle und drückte zu, sodass sich seine Augen vor Panik wölbten.
»Raus aus meinem Wald«, knurrte sie.
Sie hob den Fuß und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie Andrej und Aron sich gegenseitig stützten. Jegliche Großspurigkeit war verschwunden. Sie rannten davon.
Radu wischte sich das Gesicht am Ärmel ab und hinterließ auf dem Stoff ein Durcheinander aus Blut und Schmutz. Er sah Lada an, die in der Mitte eines Lichtstrahls stand, der durch eine Lücke im dichten Geäst fiel. Zum ersten Mal in seinem Leben war er dankbar für ihr bösartiges Temperament, für ihr seltsames instinktives Wissen, wie man jemanden am besten und mit dem geringsten Aufwand verletzen konnte. Er war so müde und so verängstigt, und sie hatte ihn gerettet. »Danke.« Er stolperte mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Wenn er Schmerzen hatte, schloss sein Kindermädchen ihn in die Arme und schottete ihn von der Welt ab. Das wollte – brauchte – er jetzt.
Lada schlug ihm in den Magen. Er krümmte sich vor Schmerzen und sank auf die Knie. Sie kniete sich neben ihn und hielt ihn an den Ohren fest. »Du brauchst mir nicht zu danken. Ich habe ihnen doch nur beigebracht, mich zu fürchten. Wie soll dir das helfen? Nächstes Mal schlägst du zuerst zu, du schlägst härter zu und du sorgst dafür, dass dein Name für Angst und Schmerz steht. Ich werde nicht mehr hier sein, um dich zu retten.«
Radu zitterte und versuchte, nicht zu weinen. Er wusste, dass Lada es hasste, wenn er weinte, aber sie hatte ihm wehgetan. Und sie hatte ihm einen unmöglichen Auftrag erteilt. Die anderen Jungs waren größer, gemeiner, schneller. Was auch immer Lada besser machte als sie, es war ihm völlig entgangen.
Er verbrachte den langen, elenden Weg aus dem Wald auf den Spuren seiner Schwester und fragte sich, wie er wie sie sein könnte. Die Bojaren warteten unter Zelten und tratschten, während Diener ihnen Luft zufächelten. Mircea unterhielt sich dort mit Vlad Danesti, und sein Gesichtsausdruck, als er Radus Gesicht sah, deutete darauf hin, dass er den Schaden, den dieses genommen hatte, billigte. Und vielleicht wollte er noch mehr hinzufügen.
Radu trat komplett hinter Lada; alle anderen Augen waren ohnehin auf sie gerichtet. Die Bojaren waren erstaunt, dass die Fürstentochter hoch erhobenen Hauptes aus dem Wald kam. Allerdings war niemand überrascht, Radu schmutzig und blutig zu sehen, obwohl er nicht so blutig war wie Aron und Andrej. In ihrer Eile, vor Lada zu fliehen, hatten sich die Danesti-Cousins verlaufen und mussten gerettet werden.
Danach wurden die Waldstunden abgesagt, und die Bojarenfamilien tuschelten untereinander über die Fürstentochter. Sie war den Jungen in ihrem Alter immer voraus und verlangte, dass man ihr alles beibrachte, was man auch ihren Bruder lehrte, aber das hier spielte sich vor den Augen der Öffentlichkeit ab. Anstatt Lada zu schelten, lachte ihr Vater und prahlte mit seiner Tochter, die so wild und grimmig sei wie ein Wildschwein. Wenn Radu als Sieger aus dem Wald gekommen wäre, hätte er es dann überhaupt bemerkt?
Radu hörte alles, versteckte sich hinter Wandteppichen und wartete in dunklen Ecken. Er hatte gesehen, dass Aron und Andrej ihn beobachteten, aber nach zwei Wochen war es ihnen noch nicht gelungen, ihn allein zu erwischen. Wenn Erwachsene anwesend waren, konnte Radu lächeln und charmant sein und sich in Sicherheit wiegen.
Lada hatte recht gehabt. Sie hatte ihn nicht gerettet. Die Blicke in den Augen seiner Feinde, wenn sie ihn sahen, machten das deutlich.
Also wartete er, versteckte sich und beobachtete. Und dann, an einem kühlen Herbstabend, machte er seinen Zug.
»Hallo«, sagte er mit fröhlicher Stimme, die strahlend genug war, um das Zwielicht zu erhellen.
Der Dienerjunge erschrak und sprang wie vom Blitz getroffen auf. »Kann ich Euch helfen?« Sein Hemd war fast durchgescheuert. Radu konnte die scharfen Linien seiner Schlüsselbeine sehen, die spröde Länge seiner dünnen Arme. Sie waren wahrscheinlich gleich alt, aber Radus Leben war viel angenehmer gewesen. Zumindest was das Essen anging.
Radu lächelte. »Möchtest du etwas essen?« Die Augen des Jungen weiteten sich vor Staunen und er nickte.
Radu wusste, wie wertvoll es war, übersehen zu werden, weil er selbst so oft ungesehen war. Er führte Emil in die Küche, einen Diener, der so unscheinbar war, dass er für die Bojaren, bei denen er beschäftigt war, geradezu unsichtbar zu sein schien.
Das Schloss wurde von einer Diebstahlplage heimgesucht. Nach jedem Fest, an dem die Bojarenfamilien teilnahmen, bemerkte jemand das Fehlen einer Halskette, eines Juwels oder eines persönlichen Wertgegenstandes. Das warf ein schlechtes Licht auf den Fürsten, und so verkündete Vlad, dass derjenige, der hinter den Verbrechen steckte, öffentlich ausgepeitscht und auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis geworfen werden würde. Die Bojaren murmelten kaum hörbar wütende, hässliche Dinge, und Vlad schlich mit zusammengekniffenen Augen durch das Schloss. Seine Schultern waren gebeugt unter der Last seiner Scham, sein eigenes Haus nicht unter Kontrolle zu haben.
Einige Wochen später stand Radu ganz vorne am Rand der Menge, als Aron und Andrej mit tränen- und rotzverschmierten Gesichtern an einen Pfosten in der Mitte des Platzes gebunden wurden.
»Warum sollten sie diese Dinge gestohlen haben?« Lada beobachtete sie mit vor Neugierde nach unten gezogenen Mundwinkeln.
Radu zuckte mit den Schultern. »Alle fehlenden Gegenstände wurden von einem Diener unter ihren Betten gefunden.« Ein Diener, der nicht länger bis an die Schmerzgrenze unterernährt war und Radu für seinen besten und einzigen Freund auf der Welt hielt. Radu lächelte. Es hatte eigentlich keinen Grund gegeben, so lange zu warten, die Bestrafung seiner Feinde hinauszuzögern und seinen Vater noch länger in Verlegenheit zu bringen. Aber die Vorfreude war köstlich gewesen. Und jetzt gab es die Belohnung.
Lada drehte sich zu ihm um und zog misstrauisch die Brauen zusammen. »Hast du das getan?«
»Es gibt andere Wege, jemanden zu schlagen, als mit den Fäusten.« Radu stupste sie mit einem Finger in die Seite.
Sie überraschte ihn mit einem Lachen. Er richtete sich auf, und ein stolzes Grinsen darüber, dass er Lada erstaunt und erfreut hatte, huschte über sein Gesicht. Sie lachte nie, es sei denn, sie lachte über ihn. Er hatte etwas richtig gemacht!
Dann begannen die Peitschenhiebe.
Radus Lächeln wurde schwächer und erstarb. Er wandte den Blick ab. Er war jetzt in Sicherheit. Und Lada war stolz auf ihn, was noch nie zuvor der Fall gewesen war. Er konzentrierte sich darauf, die Übelkeit zu ignorieren, die sich in seinem Magen ausbreitete, als Aron und Andrej vor Schmerzen schrien. Er wollte sein Kindermädchen – er wollte, dass sie ihn festhielt und tröstete –, und auch das brachte ihn dazu, sich zu schämen.
Lada beobachtete die Peitsche mit einem berechnenden Blick. »Trotzdem«, sagte sie. »Fäuste sind schneller.«
5
1446: Curtea de Arges, Walachei
Auf dem Höhepunkt des Sommers in Ladas zwölftem Lebensjahr, als die Pest mit dem eindringlichen Summen von tausend blauschwarzen Fliegen hereinbrach, schaffte Vlad Lada und Radu aus der Stadt. Mircea, ihre Nervensäge von einem älteren Bruder, war in Siebenbürgen, um Spannungen zu mildern. Lada fühlte sich prachtvoll sichtbar, wie sie so an der Seite ihres Vaters ritt. Radu, das Kindermädchen und Bogdan ritten hinter ihnen, und die Wachen ihres Vaters waren noch weiter hinten. Ihr Vater wies sie auf verschiedene Merkmale der Landschaft hin – einen versteckten Pfad an einem Berghang, einen Friedhof, auf dem längst vergessene Menschen mit glatten Steinen markiert waren, die Art und Weise, wie die Bauern Gräben aushoben, um Wasser aus dem Fluss in ihre Felder zu leiten. Sie trank seine Worte mit mehr Durst als der gierige Boden.
In der kleinen grünen Stadt Curtea de Arges hielten sie kurz an und machten einer Kirche ihre Aufwartung, der ihr Vater seine Gunst gewährte. Normalerweise störte sich Lada an religiöser Unterweisung. Doch wenn sie mit ihrem Vater in die Kirche ging, war es immer eine politische Pflicht, gesehen zu werden, beobachtet zu werden, zuzulassen, dass die eine oder andere Familie ihnen aus Prestigegründen nahe war. Die Priester sangen einschläfernd, die Luft war süßlich, und das Licht war schwach, bedrückend gefiltert durch Buntglas. Sie waren orthodox, aber ihr Vater hatte über den Drachenorden politische Verbindungen zum Papst, deshalb war es umso wichtiger, dass sie aufrecht stand, dem Priester zuhörte und alles genau so tat, wie es für andere aussehen musste.
Es war ein Auftritt, der Lada die Zähne zusammenbeißen ließ.
Doch hier, in dieser Kirche, war der Name ihres Vaters in die Wand gemeißelt. Er war mit Blattgold überzogen und stand neben einem riesigen Mosaik von Christus am Kreuz. Das gab ihr ein starkes Gefühl. Als würde Gott selbst den Namen ihrer Familie kennen.
Eines Tages würde sie ihre eigene Kirche bauen, und Gott würde auch sie sehen.
Sie setzten ihre Reise entlang des Flusses Arges fort, der mal schmal und heftig aufgewühlt, mal breit und glatt wie Glas war. Er schlängelte sich durch das Land, bis er die Berge erreichte. Alles war von einem so tiefen Grün, dass es fast schwarz war. Dunkelgraue Steine und Felsbrocken ragten aus den steil aufstrebenden Hängen, und unter ihnen verlief der Arges.
Hier war es kühler als in Tergowiste; eine Kälte, die nie ganz verflog, haftete an den Felsen und dem Moos. Die sich auftürmenden Berge waren so steil, dass die Sonne nur wenige Stunden am Tag direkt auf die Reisenden schien, bevor die Schatten die Pässe zurückeroberten. Es roch nach Kiefer und Holz und Fäulnis – aber selbst die Fäulnis roch reich und gesund, anders als die versteckte Fäulnis von Tergowiste.
Eines späten Nachmittags, kurz vor dem Ende ihrer Reise, griff ihr Vater nach einem immergrünen Baum, der seitlich aus einem Felsbrocken wuchs. Er brach einen Zweig ab, roch daran und reichte ihn mit einem Lächeln an Lada weiter. Es war ein Lächeln, bei dem sie sich so erfüllt und schwindelig fühlte, wie in der Bergluft selbst. Ein friedliches Lächeln. Sie hatte noch nie ein solches Lächeln auf dem Gesicht ihres Vaters gesehen, und die Tatsache, dass er es ihr schenkte, ließ ihr Herz mit einem rasenden Glücksgefühl schlagen.
»Wir sind dieser Baum«, sagte er und ritt voraus.
Lada zog an den Zügeln, um ihr Pferd, eine gutmütige, dunkelbraune Kreatur, anzuhalten. Sie betrachtete den Baum, der Leben aus dem Stein quetschte. Er war verdreht und klein, aber grün und wuchs der Schwerkraft zum Trotz seitwärts. Er lebte dort, wo eigentlich nichts gedeihen sollte.
Lada wusste nicht, ob ihr Vater ihn und sie oder die ganze Walachei meinte. In ihrem Kopf war inzwischen beides untrennbar miteinander verbunden. WirsinddieserBaum, dachte sie und hielt sich den duftenden Zweig an die Nase. Wir trotzen dem Tod, um zu wachsen.
An diesem Abend kamen sie in ein Dorf, das sich zwischen den Fluss und die Berge schmiegte. Die Häuser waren einfach, spartanisch, nichts im Vergleich zu ihrem Schloss. Aber die Kinder rannten und spielten in den Gassen, und in winzigen Beeten wurden leuchtende Blumen gezüchtet. Hühner und Schafe liefen frei umher.
»Was ist mit Dieben?«, fragte Radu. In Tergowiste wurden die Tiere sorgfältig eingepfercht, und es wurde jemand beauftragt, sie rund um die Uhr zu bewachen.
Das Kindermädchen machte eine ausladende Bewegung mit ihrem Arm, um das ganze Dorf zu erfassen. »Jeder kennt jeden. Wer würde schon seinen Nachbarn bestehlen?«
»Ja, denn man würde sofort entdeckt und bestraft werden«, sagte Lada.
Radu runzelte die Stirn und lächelte sie an. »Weil sie sich umeinander sorgen.«
Man servierte ihnen Essen – warme, runde Brote, außen geschwärztes und innen brühend heißes Hühnerfleisch. Vielleicht lag es an der Reise oder am Geruch von Grünzeug überall um sie herum, aber selbst das Essen hier schmeckte für Lada gehaltvoller und echter.
Am nächsten Morgen wachte Lada früh auf, das Stroh unter ihrer Pritsche stach durch ihr Unterhemd und in ihren Rücken. Das Kindermädchen schnarchte und Bogdan und Radu hatten sich wie Welpen in der Ecke zusammengerollt, also schlüpfte Lada zum Fenster hinaus.
Das Häuschen – gemütlich und ordentlich, das schönste im Dorf – war an der Baumgrenze gebaut, und es dauerte nur eine Handvoll Schritte, bis Lada in eine neue, geheime Welt eintauchte, die von grün gefiltertem Licht und dem ständigen Summen unsichtbarer Insekten erfüllt war. Der Boden unter ihren nackten Füßen war morgendlich feucht und übersät mit gestreiften Schnecken von der Größe ihres Zeigefingers. Nebel hängte sich ans Geäst der Bäume und begrüßte sie mit fast gefühlvollen Ranken. Sie kletterte geradewegs nach oben, suchte sich einen gefährlichen Pfad und schlängelte sich langsam auf die Spitze des nächstgelegenen Gipfels aus massivem grauem Stein zu.
Dort oben gab es die Ruinen einer alten Festung, die vor langer Zeit gefallen war. Sie lockte sie mit kurzem Aufblitzen durch den Nebel und rief auf eine Weise nach ihr, die sie nicht erklären konnte.
Sie musste dorthin.
Lada kletterte eine kleine Schlucht hinunter und dann geradewegs die Felswand des Gipfels hinauf. Ihre Füße rutschten ab, sie presste ihr Gesicht gegen den Stein und atmete schwer. In den Stein gehämmert waren die verrosteten Überreste von Pflöcken, die einst eine Brücke getragen haben mussten. Lada griff nach einem, dann nach einem anderen, bis sie sich über die bröckelnden Reste einer Mauer hievte.
Sie überquerte das Fundament, wobei sich zerklüftete Ziegel- und Teerreste in ihre Füße bohrten. Am äußersten Rand, wo sogar die Mauer weggebrochen war, gab es nur noch eine Plattform aus Kopfsteinpflaster, die über dem leeren Raum hing. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie auf den Arges hinunterblickte, der nur noch ein kleiner Bach war, und auf das Dorf, das nur noch aus Kieselsteinen bestand. Die Sonne kletterte über die gegenüberliegenden Gipfel und fiel direkt auf sie. Sie verwandelte die Wolken in Gold und den Nebel in leuchtende Regenbogentröpfchen. Eine stachelige violette Blume, die auf dem alten Fundament wuchs, fiel ihr ins Auge. Sie pflückte sie und hielt sie gegen das Licht, dann drückte sie sie an ihre Wange.
Eine Art Verzückung überkam sie und ebenso das Wissen, dass dieser Moment, dieser Berg, diese Sonne, für sie bestimmt waren. Am nächsten war sie diesem Hochgefühl – sowohl dem Brennen als auch der Leichtigkeit in ihrer Brust – gekommen, als ihr Vater mit ihr zufrieden gewesen war. Aber das hier war neu, größer, überwältigend. Es war die Walachei – ihr Land, ihre Mutter –, die sie begrüßte. So sollte sich Kirche anfühlen. Sie hatte noch nie den göttlichen Geist innerhalb der Mauern einer Kirche erlebt, aber auf diesem Gipfel, in dieser Landschaft fühlte sie Frieden und Sinn und Zugehörigkeit. Dies war die Herrlichkeit Gottes.
Dies war die Walachei.
Dies gehörte ihr.
Nachdem die Sonne die Schlucht fast durchquert hatte und sich darauf vorbereitete, hinter dem Berg zu verschwinden, machte sich Lada auf den Weg zurück nach unten. Es war schwieriger als der Aufstieg, ihre Füße waren unsicherer, ihre Absicht weniger zielgerichtet.
Als sie mit schmerzenden Füßen und hungrig ins Dorf zurückkehrte, erwartete sie eine scharfe Strafpredigt von ihrem verzweifelten Kindermädchen. Radu schmollte, dass sie seinen ganzen Tag ruiniert hätte, und auch Bogdan schimpfte, weil sie ihn nicht mitgenommen hatte.
Aber sie waren ihr egal – sie wollte ihrem Vater erzählen, wie sie sich auf dem Berg gefühlt hatte, wie ihre Mutter, die Walachei, sie umarmt und sie mit Licht und Wärme erfüllt hatte. Lada war zum Bersten voll davon, und sie wusste, dass ihr Vater es verstehen würde. Sie wusste, er würde stolz sein.
Aber er hatte ihre Abwesenheit nicht einmal bemerkt, und beim Abendessen war er übellaunig und klagte über Kopfschmerzen. Lada verstaute die Blume, die sie den ganzen Tag aufbewahrt hatte, unter dem Tisch. Später am Abend steckte sie sie in das kleine Buch der Heiligen, das ihr Kindermädchen für sie eingepackt hatte, neben den Zweig des immergrünen Baumes.
Am nächsten Tag ging ihr Vater fort, um sich um andere Dinge zu kümmern.
Dennoch war dieser Sommer der beste in Ladas Leben. Gemeinsam mit ihrem Vater war ihr verzweifeltes Verlangen verschwunden, ihm gefallen zu müssen. Sie planschte mit Bogdan und Radu im Fluss, kletterte auf Felsen und Bäume, quälte die Dorfkinder und wurde selbst von ihnen gequält. Sie und Bogdan schufen eine Geheimsprache, eine Bastardversion ihrer Muttersprache, in die sich Latein, Ungarisch und Sächsisch mischten. Wenn Radu mit ihnen spielen wollte, antworteten sie ihm in ihrer verstümmelten, komplizierten Sprache. Oft weinte er vor Frustration, was lediglich bewies, dass es nur richtig war, nicht mit einem so weinerlichen Baby zu spielen.
Eines Tages, hoch oben auf dem Berg, erklärte Bogdan seine Absicht, Lada heiraten zu wollen. »Warum sollten wir heiraten?«, fragte Lada.
»Weil andere Mädchen nicht lustig sind. Ich hasse Mädchen. Alle außer dich.«
Lada begriff bereits auf eine vage und ängstliche Weise, dass sich ihre eigene Zukunft um die Ehe drehte. Da ihre Mutter längst nach Moldawien zurückgekehrt oder dorthin geflohen war, je nachdem, welchen Klatsch Lada nicht überhören konnte, gab es niemanden, den sie nach solchen Dingen fragen konnte. Selbst das Kindermädchen schnalzte nur mit der Zunge und sagte ihr damit: Jeder Tag ist schon Plage genug. Woraus Lada nur ableiten konnte, dass die Ehe eine Plage sei.
Manchmal stellte sie sich eine schattenhafte Gestalt vor, die vor einem steinernen Altar stand. Sie würde ihre Hand aufhalten und diese Gestalt würde alles, was sie besaß, an sich nehmen. Der Gedanke an diesen Mann, der nur darauf wartete, dass sie vor ihm kriechen würde, ließ Hass in ihr lodern.
Aber dies war Bogdan. Sie nahm an, wenn sie schon jemanden heiraten müsste, dann ihn. »Gut. Aber nur, wenn wir uns darauf einigen, dass ich immer das Sagen habe.«
Bogdan lachte. »Was ist daran anders als jetzt?« Nachdem Lada Bogdan einmal kräftig gegen die Schulter geboxt hatte, hatte sie plötzlich das dringende Bedürfnis, den Albtraum des Schattenmannes loszuwerden. Hier, auf diesem Berg, war alles perfekt. »Wir sollten sofort heiraten.«
»Wie?«
»Gib mir deine Hand.«
Er gehorchte und zischte vor Schmerz, als sie ihr Messer über seine Handfläche zog. Sie tat dasselbe mit ihrer Hand, dann nahm sie seine in ihre, und die warme Nässe vermischte sich zwischen ihren kleinen, schmutzigen Händen. »Auf diesem Berg, mit meiner Mutter Walachei als Zeugin, heirate ich Bogdan für immer und keinen anderen.«
Er grinste, seine großen Ohren glühten rot im Gegenlicht der untergehenden Sonne. »Auf diesem Berg, wo Ladas Mutter, die aus Felsen und Bäumen besteht, zusieht, heirate ich Lada für immer und keine andere.«
Sie drückte seine Hand fester. »Und ich habe das Sagen.«
»Und du hast das Sagen.« Sie ließen einander los, und Bogdan setzte sich mit einem verwirrten und enttäuschten Stirnrunzeln auf den Boden. »Was jetzt?«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe noch nie jemanden geheiratet.«
»Wir sollten uns küssen.«
Lada zuckte gleichgültig mit den Schultern und presste ihre Lippen auf Bogdans. Seine Lippen waren weich und trocken, warm an den ihren, und er war so dicht vor ihr, dass seine Züge verschwammen und es so aussah, als habe er drei Augen. Sie lachte, und er lachte auch. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie damit, ihre Nasen aneinanderzupressen und sich gegenseitig zu sagen, wie monströs sie mit einem Auge oder drei, oder was auch immer für Streiche ihr Sehvermögen ihnen spielte, aussahen.
Sie sprachen nie wieder über ihre Ehe, aber es dauerte Wochen, bis ihre Handflächen verheilt waren.
Als sie nach unendlich vielen goldenen und grünen Tagen endlich nach Tergowiste zurückkehrten, fühlte es sich wie das Gegenteil einer Heimkehr an. Lada sehnte sich nach dem, was sie hinter sich gelassen hatten. Eines Tages würde sie zum Arges zurückkehren und die Festung auf diesem Berg wieder aufbauen, um dort mit ihrem Vater und Bogdan zu leben. Vielleicht sogar mit Radu.
Es wäre besser als Tergowiste. Alles wäre besser als Tergowiste.
6
1447: Tergowiste, Walachei
Radu – elf Jahre alt und immer noch klein für sein Alter – trat gegen den harten, verkrusteten Schnee. Ihm war kalt und langweilig und er war wütend. Lada und Bogdan kreischten vor Vergnügen, als sie an ihm vorbeisausten, wobei der alte Metallschild kaum groß genug für die beiden war. Sie stürzten am Fuße des Hügels von ihm hinunter und kamen am Ufer des Flusses schlitternd zum Stehen. Es hatte sie eine Ewigkeit gekostet, hierherzuwandern, während sie den schweren, gestohlenen Schild hinter sich herzogen. Obwohl Radu geholfen hatte, ihn mitzubringen, ließen sie ihn nicht mitmachen.
Während Lada und Bogdan den Schild für eine weitere Runde den Hügel hinauftrugen, plapperten sie in ihrer Geheimsprache. Die, von der sie immer noch glaubten, Radu könne sie nicht verstehen.
»Sieh ihn dir an.« Bogdan lachte, seine tölpelhaften Ohren waren von der Kälte heftig gerötet. »Ich glaube, er wird weinen.«
»Er weint immer«, antwortete Lada und würdigte Radu keines Blickes.
Das trieb Radu natürlich die Tränen in die Augen. Er hasste Bogdan. Wenn dieser blöde Trottel nicht hier wäre, könnte er – Radu – mit Lada den Berg hinuntersausen, und sie würde ihre Geheimnisse mit ihm teilen.
Er stapfte durch den Schnee, der die Sonne gleißend hell reflektierte. Wenn sie ihn mit Tränen in den Augen erwischten, würde er behaupten, es sei das Licht. Aber sie würden die Wahrheit kennen. Am Ufer des Flusses war das Wasser gefroren, so weit sein Auge reichte. In der Nähe spielten mehrere Kinder, einige ungefähr so alt wie er. Radu näherte sich ihnen vorsichtig, wobei er versuchte, es so aussehen zu lassen, als würde er ohnehin in diese Richtung gehen.
Er wollte, dass sie ihn zum Mitmachen aufforderten.
Er wollte es so sehr, dass es mehr schmerzte als seine gefrorenen Finger.
»Ich habe einen Honigkuchen für den, der es wagt, in die Mitte des Flusses zu gehen«, verkündete der älteste Junge. Seine schuhlosen Füße waren in Lumpen gewickelt, aber er hielt sich so aufrecht wie jedes Bojarenkind.
»Lügner«, antwortete ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen, die unter dem um den Kopf geschlungenen Schal herabhingen. »Du hast nie etwas zu essen, Costin.«
Der Junge hob sein Kinn, Stolz und Zorn waren an seinen zusammengepressten Lippen zu erkennen. »Ich kann weiter hinausgehen als jeder von euch. Ich fordere euch heraus. Wer ist mutig genug?«
»Ich«, sagte Radu und bedauerte es sofort. Radu war von Natur aus vorsichtig und hatte immer Angst, verletzt zu werden, deshalb scheute er das Risiko. Das war einer der Gründe, weshalb Bogdan und Lada ihn am häufigsten verspotteten. Sich auf einen gefrorenen Fluss zu begeben, war nichts, was er jemals freiwillig tun würde.
Beinahe hätte er einen Rückzieher gemacht, als er hinter sich Bogdans lautes Freudengeheul hörte. Stattdessen trat er einen Schritt vor.
Die Gruppe sah zu ihm hinüber und bemerkte ihn erst jetzt. Costin kniff die Augen zusammen, als er Radus feine Kleidung registrierte. Sein Blick blieb an den Lederstiefeln hängen. Radu wollte sein Freund sein. Mehr als das – auf eine Weise, die Radu nicht einmal verstand, wollte er Costin sein. Er wollte den anderen direkt ins Gesicht sehen, ohne Angst, ohne Scham, auch wenn er nichts besaß.
Costin zog seine Oberlippe hoch, und Radu wurde von einer plötzlichen Angst ergriffen, die schlimmer war als die vor dem gefrorenen Fluss. Er hatte Angst, Costin würde ihn ignorieren oder ihm sagen, er solle gehen. Er hatte Angst, dass diese Kinder ihn ansehen und wissen würden, dass er ihre Zeit nicht wert war.
»Wenn du weiter gehst als ich, kannst du meine Stiefel haben«, sagte Radu, dessen Worte verzweifelt aus ihm heraussprudelten.
Costins Augenbrauen hoben sich, und seine Miene wurde verschlagen. »Schwörst du?«
»Bei allen Heiligen.«
Die Kinder schauten gleichermaßen entsetzt und beeindruckt von Radus dreister und unangemessener Erklärung. Es war ein sehr großer Schwur, denn es gab mehr Heilige, als Radu sich je merken konnte. Und er wusste, dass er sie für so etwas nicht anrufen sollte. Radu straffte sich und ahmte Costins aggressive Haltung nach.
»Und was ist, wenn du weiter gehst als ich?« Costins Ton verriet, dass er das für unmöglich hielt.
Radu lächelte und ließ sich auf Costins offensichtliche Lüge ein. »Der Honigkuchen.«
Costin nickte, und sie traten vom Ufer an den Fluss. So nahe am Ufer war das Eis milchig weiß und mit kleinen Kieselsteinen übersät. Radu bewegte seine Füße zögerlich, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie seine Stiefel rutschen könnten.
Lachend glitt Costin auf seinen umwickelten Füßen nach vorne, als hätte er das schon hundertmal gemacht. Das hatte er wohl auch.
Während er Costin beobachtete, rutschte Radu weiter vorwärts. Er kam allmählich besser voran, obwohl er immer noch weit zurücklag. Das war in Ordnung. Radu wollte den Jungen eigentlich nicht schlagen, denn er war sich sicher, dass Costin keinen Honigkuchen anzubieten hatte. Wenn Menschen Erwartungen nicht erfüllen konnten, reagierten sie entweder beschämt oder wütend, hatte Radu festgestellt. Er vermutete, dass Costin der Typ war, der wütend werden würde, und er wollte sein Freund sein, nicht sein Feind.
Er hatte sowieso noch ein anderes Paar Stiefel zu Hause. Das Kindermädchen würde ihn zwar ausschimpfen, aber sie würde es seinem Vater nicht sagen. Und sie war immer nett und sanft zu ihm, nachdem sie ihn ordentlich ausgeschimpft hatte.
Sie hatten sich schon einige Körperlängen vom Flussufer entfernt, als ein lauter Knall um sie herum ertönte. Radu erstarrte.
Costin blickte zurück, die dunklen Augen blitzten und das Kinn hob sich. »Zur Mitte geht es hier entlang, Feigling.« Er machte noch ein paar Schritte und fiel mit einem berstenden Geräusch durch das Eis.
»Costin!«, rief Radu und bewegte sich auf den Bruch zu. Der Junge kam wieder an die Oberfläche und versuchte, sich auf dem Eis festzuhalten. Radu ließ sich auf den Bauch fallen und schob sich vorwärts. Er konnte Costins Hände beinahe erreichen, aber er hörte, wie das Eis unter ihm schwächer wurde.
Jemand packte ihn am Knöchel und riss ihn zurück.
»Warte!«, schrie er und streckte Costin die Hände entgegen, der mit dem Bauch über die Kante lehnte, aber den Rest seines Körpers nicht aus dem Wasser bekam. Er griff nach Radu, aber es war zu spät. Costins Augen weiteten sich vor Schreck, sein Gesicht war so weiß wie das Eis, als Radu weggezogen wurde.
»Wartet, wartet, wir müssen ihm helfen!« Radu versuchte, sich aufzurappeln, aber eine andere Hand griff nach seinem anderen Knöchel, sodass er auf den Boden knallte. Sein Kinn prallte auf das Eis, er biss sich auf die Zunge und blutete. Dann wurde er an das Ufer des Flusses geschleudert, und Lada schlug ihm ins Gesicht.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, schrie sie.
»Wir müssen ihm helfen!«
»Nein!«
»Er wird ertrinken! Lass mich los!«
Sie packte ihn an seinem Kragen und schüttelte ihn. »Du hättest sterben können!«
»Er wird sterben!«
»Er ist nichts! Dein Leben ist hundertmal so viel wert wie seins, verstehst du? Riskiere es nie wieder für jemand anderen.«
Sie schüttelte ihn immer noch, und sein Kopf flog hin und her, sodass er den Fluss nicht sehen konnte; nicht sehen konnte, ob Costin es geschafft hatte oder nicht. Er hörte die anderen Kinder schreien, aber ihre Stimmen klangen weit entfernt und undeutlich über das Hämmern seines Pulses hinweg. Schließlich sah Radu Lada an, in der Erwartung, Wut zu sehen, aber stattdessen sah sie … ungewohnt aus. Ihre Augen waren voller Tränen, wofür sie ihn verspottet hätte.
»Mach das nie wieder.« Sie stand auf und zog ihn an ihrer Seite hoch. Bogdan nahm seinen anderen Arm, und sie zerrten ihn weg. Radu wollte zurückblicken, aber Lada packte ihn am Hals und zwang ihn, den Blick nach vorne zu richten. Er erwartete, dass sie auf dem langen, kalten Weg nach Hause vor ihm hergehen oder ihn anschreien würde. Stattdessen blieb sie schweigend an seiner Seite.
»Es ging ihm gut«, sagte sie schließlich, nachdem sie Radu mehrere Minuten lang schniefen gehört hatte. »Er ist rausgeklettert.«
»Ist er?« Radu zitterte vor Hoffnung, und Schauer liefen über seinen ganzen Körper.
Lada zeigte auf den Schild. »Setz dich.« Sie zwang Bogdan, Radu darauf zu ziehen. Sie warf Bogdan so viele Ausdrücke für Esel an den Kopf, dass Radu Costins Gesicht vergaß und vor Lachen umfiel. Daheim saß sie dann dicht neben ihm, während sie vor dem Feuer zu Abend aßen, und hackte auf ihm herum, was ihre Art war, sich um ihn zu kümmern.
Als sie dachte, er würde schlafen, schlich sie sich in sein Zimmer. Radu schlief nicht viel, er war immer wach und machte sich über irgendetwas Sorgen. Aber er lag so ruhig wie möglich, achtete darauf, gleichmäßig zu atmen, und war gespannt, was sie tun würde.
Sie saß eine ganze Weile neben seinem Bett. Schließlich legte sie eine Hand auf seine Schulter und flüsterte: »Du gehörst mir.«
Radu hatte über die Art und Weise nachgedacht, wie Lada geklungen hatte, als sie ihm sagte, dass Costin dem Fluss entkommen war. Der Tonfall ihrer Stimme, das Fehlen von Schärfe. Er war sich fast sicher, dass sie gelogen hatte. Er schlief ein, eingehüllt in die sichere Wärme ihrer Nähe und geplagt von Schuldgefühlen darüber, wie glücklich ihn der Tag gemacht hatte.
Ihn immer noch machte.
7
Im Frühling, nachdem sie Radu beinahe im eisigen Fluss verloren hatte, lag Lada auf dem Rücken und starrte auf die belaubten Äste über ihr, die so dicht miteinander verflochten waren, dass alles durch leuchtendes Grün gefiltert wurde. Ihr Lehrer leierte etwas herunter – heute Latein –, und Radu wiederholte pflichtbewusst alles. Er war fast zwölf Jahre alt, und sie näherte sich der Vollendung des dreizehnten Lebensjahrs. Irgendetwas am Lauf der Zeit und der Hinzufügung von Jahren zu ihrem Namen erfüllte sie mit Furcht. Sie war nicht genug. Noch nicht. So viel Zeit war vergangen, und sie hatte noch so viel vor sich.
Aber nach sieben Jahren Studium – sieben Jahre in dieser Stadt, im Schloss – konnte sie so gut wie jeder andere lesen, schreiben und Latein sprechen. Es war die Sprache der Verträge und Briefe und Gottes, förmlich und steif in ihrem Mund. Walachisch galt als eine niedere Sprache. Es war eine gesprochene Sprache, selten eine geschriebene.
Aber oh, wie gut es auf der Zunge schmeckte.
»Ladislava«, forderte der Hauslehrer sie auf. Er war ein junger Mann, glatt rasiert, weil er kein Land besaß und sich deshalb keine Gesichtsbehaarung wachsen lassen durfte. Lada fand ihn unausstehlich, aber ihr Vater bestand darauf, dass sie mit Radu gemeinsam unterrichtet wurde. Die genauen Worte ihres Vaters lauteten: »Es ist eine Verschwendung, den quäkenden Wurm zu erziehen, aber wenigstens können wir Lada einbeziehen, die ein Gehirn hat, das es wert ist, geformt zu werden. Schade, dass sie ein Mädchen ist.«
Klüger, stärker, größer. Sie hatte die Gründe nie vergessen, die ihr Vater vor all den Jahren aufgezählt hatte, weshalb sie nicht hoffen durfte, ihn zu schlagen. Seitdem war es ihr Ziel, sich seine Liebe zu verdienen und ihm zu zeigen, dass sie all dies sein konnte. Diese Herausforderung verfolgte sie unerbittlich. Denn auf der anderen Seite dieser Aufgabe – wenn sie es geschafft hatte, klüger, stärker und größer zu werden – war sie sich sicher, dass ihr Vater sie mit mehr Stolz und Liebe betrachten würde, als er es jemals bei ihrem älteren Bruder Mircea getan hatte. Er war jetzt zwanzig, ein erwachsener Mann, und der Erbe ihres Vaters. Mircea führte Feldzüge, wenn Schlachten es erforderten, besänftigte Spannungen zwischen Bojarenfamilien, aß mit ihrem Vater, plante mit ihrem Vater, ritt mit ihrem Vater. Er war die rechte Hand der Walachei; es war seine Hand, die immer an den Haaren zog, in die Haut zwickte, kleine Wege fand, jemanden zu verletzen, die niemand sonst sehen konnte.
Und eines Tages würde er Fürst sein.
Wenn er so lange lebte.
Aber Lada würde Mirceas Platz im Herzen ihres Vaters einnehmen, bevor es zu spät war. An dem Tag, da er ihr das Messer zurückgegeben und sie Tochter der Walachei genannt hatte, war es das erste Mal gewesen, dass er sie wirklich angesehen hatte, und die Erinnerung daran war sowohl eine Freude als auch eine Qual, die sie seither genossen hatte.
Sie wiederholte den letzten Satz, den ihr Hauslehrer auf Latein gesagt hatte, und wiederholte ihn dann obendrein auf Ungarisch und Türkisch.
»Sehr gut.« Der Hauslehrer rutschte unbehaglich auf dem Holzschemel herum, den er mitgebracht hatte. »Obwohl uns allen besser gedient wäre, wenn wir drinnen lernten.«
Ihr letzter Hauslehrer hatte sie geohrfeigt, als sie verlangte, nach draußen zu gehen. Sie brach ihm die Nase. Dieser hier tat nie mehr, als ihr sanfte Vorschläge zu machen, die sie kurzerhand ignorierte.
»Dies ist mein Land.« Lada stand auf und streckte die Arme über den Kopf, die steifen Ärmel spannten sich gegen ihre Bewegungen. Sie blieb nicht gern im Schloss, um zu lernen. Jeden Tag sorgte sie dafür, dass sie aus der ummauerten Innenstadt hinausritten – vorbei an den kleineren Häusern, dann an den Hütten und dann an den schmutzigen, schäbigen Außenbezirken des Lebens, die sich an die Hauptstadt klammerten – in die frische, grüne Landschaft. Die Pferde wurden auf Feldern zurückgelassen, auf denen violette Blumen erstrahlten, während sie und Radu im Schatten dichter Bäume mit blasser Rinde lernten.
»Das Land gehört nicht dir.« Radu schabte mit einem Stock über den Boden, um seine lateinischen Verben aufzuschreiben.
»Ist dies nicht die Walachei?«
Radu nickte. Er hatte einen Schmutzfleck auf der Nase. Das ließ ihren Bruder klein und lächerlich aussehen, und das wiederum ärgerte Lada. Er war immer bei ihr, ein Anhängsel in ihrem Leben, und sie konnte sich nie entscheiden, was sie von ihm halten sollte. Manchmal, wenn er lächelte wie die Sonne, die sich in einem Bach spiegelte, oder wenn sie sah, wie er sich im Schlaf entspannte, überkam sie eine Art unerklärlicher Schmerz. Es machte ihr Angst.
»Setz dich grade hin.« Sie zerrte an seinem Kinn und wischte seine Nase so heftig mit ihrem Hemd ab, dass er aufschrie und versuchte, sich loszureißen. Sie packte sein Kinn fester. »Das ist die Walachei, und ich bin ihre Tochter. Unser Vater ist der Fürst der Walachei. Dies ist mein Land.«
Radu wehrte sich endlich nicht länger und starrte sie stattdessen an. In seinen großen Augen sammelten sich Tränen. Ihr Bruder war so schön. Er hatte ein Gesicht, das die Frauen dazu brachte, in den Gassen stehen zu bleiben, um ihn anzustarren. Wenn er sein Lächeln mit den Grübchen aufblitzen ließ, gab ihm die Köchin Extraportionen von dem, was er am liebsten aß. Und wenn Lada sah, dass er verletzt wurde, wollte sie ihn beschützen, was sie wütend machte. Er war schwach, und ihn zu schützen, kam ihr wie eine Schwäche vor. Mircea wurde jedenfalls ihretwegen nicht von solch einer Schwäche überwältigt.
Sie ließ Radus Kinn los und rieb sich den Hinterkopf. Letzten Monat hatte Mircea sie so heftig an den Haaren gezogen, dass eine kahle Stelle entstanden war, die sich erst jetzt zu füllen begann. Mädchen sollten wissen, wo sie hingehören, hatte er gezischt.
Lada hob ihr Gesicht zu einem Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die Blätter bahnte. Hier. Hiergehöre ich hin. Ihr Vater hatte es ihr geschenkt, und die Walachei würde immer ihr gehören.
Radu trat gegen seine Kritzeleien im Schmutz. »Nicht jeder will, dass das Land uns gehört.«
»Können wir wieder zurück …«, begann der Hauslehrer, aber Lada hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Sie ging in die Hocke und hob einen runden Stein auf, der perfekt in ihre Handfläche passte. Ausgewogen. Schwer. Sie wirbelte herum und schleuderte den Stein durch die Luft. Einem dumpfen Aufprall folgte ein spitzer Wutschrei, dann Gelächter. Bogdan erhob sich von der Stelle, an der er über den Boden gerobbt war, um sich an sie heranzuschleichen.
»Streng dich mehr an, Bogdan.« Ladas Grinsen verwandelte sich in ein Lächeln. »Komm, setz dich. Radu macht Kauderwelsch aus Latein.«
»Radu macht sich sehr gut.« Der Hauslehrer sah Bogdan stirnrunzelnd an. »Und ich bin nicht angestellt, um den Sohn eines Kindermädchens zu erziehen.« Lada starrte ihn mit der ganzen kalten, gebieterischen Befehlsgewalt an, die ihr angeboren war. »Du bist angestellt, um zu tun, was man dir sagt.«
Der Lehrer, der seine gerade, makellose Nase sehr schätzte, seufzte müde und setzte den Unterricht fort.
»Jetzt auf Ungarisch«, befahl Lada Bogdan und ging mit schnellem und sicherem Schritt den Flur entlang. Tergowiste war gebaut wie eine große byzantinische Stadt: in der Mitte die Burg, um sie herum die Herrenhäuser der Bojaren, um diese herum die Wohnungen der Handwerker und Künstler, die die Gunst der Bojaren verdienten, und dann, außerhalb der massiven Steinmauern, alle anderen. Innerhalb der Mauern waren die Häuser in schillernden Rot-, Blau-, Gelb- und Grüntönen gestrichen. Blumenpracht und plätschernde Brunnen wetteiferten um die Aufmerksamkeit. Doch unter allem lauerte der Gestank menschlicher Abfälle, und die armen und kranken Massen schienen immer näher an die Innenstadt heranzurücken. Lada hatte sogar gesehen, dass ihre Hütten an die Mauer angelehnt gebaut wurden.
Lada und Radu durften keine Zeit in den Außenbezirken von Tergowiste verbringen. Sie wurden in aller Eile gemeinsam durch die Straßen gescheucht, wann immer sie die Stadt verließen, wobei sie nur einen flüchtigen Blick auf baufällige Häuser und argwöhnische, eingefallene Augen erhaschen konnten.
Sie wohnten in der Burg, die, so sehr sie sich auch bemühte, nicht an die Pracht von Konstantinopel heranreichen konnte. Sie war schummrig, dunkel, eng. Die Wände waren dick, die Fenster schlitzförmig, die Gänge geradezu ein Labyrinth. Die Konstruktion der Burg bewies, dass die Teiche und Gärten und die bunt gekleideten Körper eine Lüge waren. Tergowiste war kein glitzerndes Byzanz. Selbst Byzanz war nicht mehr Byzanz. Wie alles andere in der Nähe des Osmanischen Reiches war auch die Walachei zu einem Tummelplatz für stärkere Armeen geworden, zu einem Weg, der immer wieder von gepanzerten Füßen zertrampelt wurde.
Lada legte ihre Hand an die Mauer und spürte die Kälte, die die Steine nie ganz verließ. Die Burg war Ziel und Falle zugleich. Sie hatte sich hier nie sicher gefühlt. Sie wusste aus dem schnippischen Tonfall und der angespannten Haltung ihres Vaters, dass auch er sich ständig bedroht fühlte. Sie sehnte sich danach, woanders zu leben, auf dem Lande, in den Bergen, irgendwo, wo man sich gut verteidigen und die Feinde schon meilenweit entfernt kommen sehen konnte. Irgendwo, wo ihr Vater sich entspannen konnte und Zeit hatte, mit ihr zu sprechen.
Zwei Janitscharen gingen vorbei. Sie waren osmanische Elitesoldaten, die als junge Burschen im Namen der Steuern aus anderen Ländern geholt und für den Dienst am Sultan und seinem Gott ausgebildet wurden. Ihre bronzenen Zeremonienmützen mit fließendem, weißem Nackenschutz wippten, während sie lachten und sich ganz entspannt unterhielten. Ihr Vater bestand darauf, dass die Burg ein Symbol der Macht sei, aber er weigerte sich, die wahre Symbolik von Tergowiste zu erkennen. Es gab ihnen keine Macht – es gab den anderen Macht über sie. Sie waren hier gefangen, Gefangene der Forderungen der mächtigen Bojarenfamilien. Schlimmer noch, trotz der Salbung ihres Vaters zum Kreuzritter durch den Papst waren sie immer noch ein Vasallenstaat des Osmanischen Reiches. Ihr Vater opferte dem osmanischen Sultan Murad Geld, Leben und seine eigene Ehre für das Privileg dieses Throns.