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Make laugh, not war
Ein Einhörnchen, das lieber rückwärts leben möchte; ein Werwolf, der ein Wiewolf sein will; eine fleischfressende Pflanze, die gern Vegetarierin wäre; zwei Vampirgeierbrüder, die Aas verachten – etliche Bewohner des Kontinentes Zamonien haben Probleme mit ihrer Identität und daher kein leichtes Leben. Aber ob Dummwolf oder Schlaufuchs, ob Schmiegehäschen oder Halbtagsfliege, ob Froschling oder Buchling, sie alle finden ihren Weg in dieser Welt, in der die Fantasie und der Humor völlig außer Kontrolle geraten sind.
Zwanzig zamonische Flabeln* über diverse Spielarten zamonischen Daseins aus der Feder von Bestsellerautor Hildegunst von Mythenmetz, kongenial übersetzt, mit einem Nachwort – »Humor ist ein ernstes Geschäft« – und 45 Illustrationen von Walter Moers.
*Die »Flabel« bezeichnet eine humorvoll-anarchische zamonische Kurzgeschichte und kennt, im Gegensatz zur klassischen Tierfabel, keinerlei Moral.
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Seitenzahl: 137
Ein neuer zamonischer Streich des SPIEGEL-Bestsellerautors
Ein Einhörnchen, das lieber rückwärts leben möchte; ein Werwolf, der ein Wiewolf sein will; eine fleischfressende Pflanze, die sich vegetarisch ernähren möchte; ein Trollbluthund, der lieber eine Kratze wäre – etliche Bewohner des Kontinentes Zamonien haben Probleme mit ihrer Identität und daher kein leichtes Leben. Aber ob Dummwolf oder Schlaufuchs, ob Schmiegehäschen oder Halbtagsfliege, ob Silberne Witwe oder Buchling, sie alle finden ihren Weg in dieser Welt, in der die Fantasie und der Humor völlig außer Kontrolle geraten sind.
Zwanzig zamonische Flabeln* über diverse Spielarten zamonischen Daseins aus der Feder von Bestsellerautor Hildegunst von Mythenmetz, kongenial übersetzt, illustriert und mit einem Nachwort – »Humor ist ein ernstes Geschäft« – von Walter Moers.
*Die »Flabel« bezeichnet eine humorvoll-anarchische zamonische Kurzgeschichte und kennt, im Gegensatz zur klassischen Tierfabel, keinerlei Moral.
Der Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz ist der bedeutendste Großschriftsteller Zamoniens. Berühmt wurde er durch seine 25-bändige Autobiographie »Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers«, ein literarischer Bericht über seine Abenteuer in ganz Zamonien und vor allem in der Bücherstadt Buchhaim.
Sein Schöpfer Walter Moers hat sich mit seinen fantastischen Romanen, weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus, in die Herzen der Leser und Kritiker geschrieben. Alle seine Romane wie Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär, Die Stadt der Träumenden Bücher und zuletzt Die Insel der Tausend Leuchttürme waren Bestseller.
Neben dem Kontinent Zamonien mit seinen zahlreichen Daseinsformen und Geschichten hat Walter Moers so erfolgreiche Charaktere wie den Käpt’n Blaubär, das Kleine Arschloch und die Comicfigur Adolf, die Nazi-Sau geschaffen.
»Diesem deutschen Großmeister der Fantasy nach Zamonien zu folgen …, zählt zu den großen Lesefreuden unserer Gegenwart.« Tagesspiegel, Denis Scheck
»Der Autor Walter Moers verzaubert mit seinen Geschichten Groß und Klein.« Nicole Abraham, hr1
»Erschreckend wie Hieronymus Bosch, fantasievoll wie Douglas Adams und witzig wie Woody Allen …« facts
www.penguin-verlag.de
Walter Moers
Zwanzig zamonische Flabeln von Hildegunst von Mythenmetz
Übersetzt, illustriert und mit einem Nachwort versehen von Walter Moers
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Copyright © 2024 Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Rainer Wieland
Covermotiv: Walter Moers
Gesamtgestaltung und Satz: Oliver Schmitt, Mainz
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31522-1V001
www.penguin-verlag.de
www.zamonien.de
Wer mit einer Raupe ins Bett geht, sollte sich nicht wundern, wenn er mit einem Schmetterling aufwacht.
Zamonisches Sprichwort
Das Einhörnchen, das rückwärts leben wollte
Der verantwortungsvolle Biber und der hinterlistige Kristallskorpion
Der Ubufant, dem nichts unmöglich war
Der Beißwolf und das Schmiegehäschen
Der Birkenfuchs, der Schuhu und der Laubwolf
Das Monokel des Zyklopen
Der Werwolf, der ein Wiewolf sein wollte
Die neun Dummwölfe und der Schlaufuchs
Die Blaufell-Lemminge und die Schwarzweißen Hermeline
Die zweitausendjährige Schildkröte und die Halbtagsfliege
Die fleischfressende Pflanze, die sich vegetarisch ernähren wollte
Der Ubufant, der nur donnerstags war
Die zwei Blattschneiderameisen
Die vier Musiktiere
Die beiden Vampirgeierbrüder, die immer einer Meinung waren
Ein Froschling macht noch keinen Sommer
Der Habicht, der alles und nichts haben wollte
Der yhollisische Trollbluthund und die Kratze
Die Silberne Witwe und ihr kleiner Gatte
Der Buchling, der nur noch knoteln wollte
Humor ist ein ernstes Geschäft: Nachwort
Ein Einhörnchenmännchen namens Kelvin, das zusammen mit seiner Frau Thelma, vielen anderen Verwandten und Artgenossen in einem großen Kastanienbaum in einem kühlen Wald im Schatten der Finsterberge lebte, glaubte eines Tages, eine geniale Idee zu haben, welche die gesamte Einhörnchengesellschaft radikal verändern könnte.
»Warum«, dachte sich Kelvin, »streben wir in unserer Existenz eigentlich immerzu vorwärts? Am Ende erwartet uns ja doch nur der Tod. Sollten wir nicht lieber in die andere Richtung streben? Gegen den Strom der Zeit? Vielleicht schlagen wir dem Tod ein Schnippchen, wenn wir konsequent rückwärts leben.« Er teilte seine Idee umgehend seiner Einhörnchengattin mit.
»Und wie soll das bitte gehen?«, fragte Thelma skeptisch. »Wie kann man denn rückwärts leben? Das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Daran arbeite ich noch«, antwortete Kelvin. »Aber wenn es eine Nuss ist, dann kann man sie auch knacken.« Er zitierte diese abgedroschene Einhörnchenweisheit immer wieder gerne, obwohl er bei den alljährlichen Nussknackerwettbewerben regelmäßig auf den hinteren Rängen landete.
Ein paar Tage später beobachtete Thelma, wie Kelvin versuchte, rückwärts den Kastanienbaum hinunterzuklettern.
»Versuchst du etwa, rückwärts zu klettern?«, fragte sie ihn entsetzt. »Bist du bescheuert? Du könntest danebentreten, abstürzen und dir das Rückgrat brechen.«
»Keine Sorge!«, antwortete Kelvin. »Es sieht gefährlicher aus, als es ist.«
In der darauffolgenden Woche sah Thelma ihren Mann beim Nüssesammeln am Fuß des Baumes rückwärts durch das Laub wanken.
»Versuchst du etwa, rückwärts zu gehen?«, fragte sie besorgt. »Du könntest in den Bach fallen.«
»Alles klar!«, sagte Kelvin. »Ich passe schon auf! Alles im sicheren Bereich, Schatz!«
Von nun an bemühte sich Kelvin, seine Experimente im Geheimen zu praktizieren. Er versuchte, rückwärts zu denken, rückwärts zu atmen und rückwärts zu schlafen, mit unterschiedlichen Ergebnissen. Aber ein paar Tage später ertappte Thelma ihn dabei, wie er ein Buch langsam von hinten nach vorne durchblätterte und dabei angestrengt hineinstarrte.
»Versuchst du etwa, das Buch rückwärts zu lesen?«, fragte Thelma wie beiläufig.
»Äh, nein!«, sagte er schnell. »Ich hab nur mal geguckt, wie die Geschichte ausgeht.« Aber an dem Flackern in seinen Augen erkannte sie, dass sie recht gehabt hatte.
Der Winter stand vor der Tür. Einhörnchen halten keinen richtigen Winterschlaf, aber sie schlafen in der kalten Jahreszeit sehr viel. Sie verlassen kaum ihre Wohnhöhle und legen Wert auf eine gut gefüllte Vorratskammer.
»Hast du genügend Haselnüsse gesammelt?«, fragte Thelma ihren Mann beim Frühstück. »Bald wird es frieren. Ich möchte nicht an Kalziummangel draufgehen.«
Eigentlich war diese Frage ein Scherz, denn Kelvin war derart obsessiv auf seinen Kalziumhaushalt fixiert, dass ihre Vorratskammer fast immer bis zur Decke mit Nahrung gefüllt war, weswegen er im Kastanienbaum den Spitznamen »Kalzium-Kelvin« trug.
Kelvin blickte zerstreut von seiner Zeitung hoch, und Thelma erkannte an seinem Gesichtsausdruck, dass er gerade versucht hatte, sie rückwärts zu lesen.
»Tamoralk!«, entgegnete er. »EgroS eniek! NessüN tim llov tlemmareg tsi remmakstarroV eid!«
»Wie bitte?«, fragte Thelma.
»Ääh … ich meinte: Klaromat!«, wiederholte Kelvin seine Antwort auf die korrekte Weise. »Die Vorratskammer ist tlemmareg, äh, ich meinte: gerammelt voll mit Nüssen! Keine Sorge.«
Thelma sah ihn besorgt an. »Hast du etwa gerade rückwärts gesprochen?«
»Ach, das ist nur so ein neues Hobby«, antwortete Kelvin verlegen. »Eine Art, äh, mentales Training.« Er stand auf und ging ins Badezimmer. Eine Weile war es still, dann hörte Thelma, wie er versuchte, rückwärts zu gurgeln, und sich dabei verschluckte.
Bei einem Kaffeekränzchen in Abwesenheit ihres Gatten erzählte Thelma ihren Verwandten von ihren Beobachtungen und Befürchtungen. »Ich glaube, Kelvin versucht tatsächlich, rückwärts zu leben, aus Angst vor dem Tod. Es ist wohl eine Art Midlife-Crisis. Er hat so viele Nüsse gesammelt, dass wir davon ewig leben könnten. Jetzt hat er zu viel Zeit zum Grübeln. Das hat ihn in ein Vakuum gestürzt, befürchte ich.«
»Das ist viel eher Blasphemie«, sagte ihre Schwester, die zu denjenigen Einhörnchen gehörte, die an das Große Einhörnchen und an die Einhörnchenseelenwanderung glaubten. »Wenn das Große Einhörnchen gewollt hätte, dass wir ewig leben, dann hätte es uns keinen Einhörnchenhimmel gegeben.«
»Der ist einfach nur bekloppt«, sagte ihr Bruder. »Ich habe dir immer schon gesagt, dass du einen Vollidioten geheiratet hast. Sammeln kann er ja vielleicht ganz gut, aber im Knacken ist er eine Pfeife. Der könnte nicht mal eine Nuss knacken, wenn er ein Nussknacker wäre.« Thelmas Bruder gelangte bei den alljährlichen Nussknackerwettbewerben regelmäßig auf einen der vorderen Ränge.
»Ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich nach dem Frühstück den Finger in den Hals gesteckt hat«, berichtete Thelma. »Nur um rückwärts zu essen. Das ist doch nicht normal.«
»Das ist nicht nur nicht normal, das ist eine Krankheit«, sagte ihre Schwester. »Und sie hat einen Namen: Man nennt es Bulimie.«
»Hey, das ist doch eigentlich absolut super, Leute!«, warf ihr Onkel ein, der als der Scherzkeks der Familie galt. »Das ist eine perfekte Steilvorlage für einen Streich! Den könnten wir ihm spielen – und ihn vielleicht gleichzeitig von seiner Macke heilen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Thelma.
»Nun, wir lassen ihn rückwärts in der Zeit reisen, sozusagen!«, sagte der Onkel und grinste. »So, wie er es sich wünscht. Das ist ganz einfach.« Dann erklärte er ihnen unter allgemeinem Prusten und Kichern seinen Plan.
Sie warteten ein paar Tage, bis sie Kelvin ein paar K.-o.-Tropfen in seinen Kräutertee träufelten, woraufhin er in einen tiefen ohnmachtsähnlichen Schlaf fiel. Dann fingen sie an, ihre Maskeraden anzulegen. Der Onkel und ihr Bruder klebten sich lange Bärte an, Thelma und ihre Schwester färbten ihr Fell grau. Alle malten sich dunkle Ränder unter die Augen und gilbten sich die Zähne. Der Onkel hatte sich eine Krücke besorgt, der Bruder einen Gehstock. Dann versammelten sie sich um Kelvins Bett und riefen mit brüchig und krächzend klingenden Stimmen: »He, Kelvin, alte Schlafmütze, aufwachen! Wach auf, du Langschläfer!«
Als Kelvin erwachte, traute er seinen Augen kaum. »Du meine Güte!«, rief er. »Wie seht ihr denn aus?«
»Au contraire!«, krächzte der Onkel und deutete wie anklagend auf Kelvin. »Die Frage ist doch wohl eher, wie du aussiehst? Seht ihn euch an! Er ist um keinen Tag gealtert.«
»Heiliges Großes Einhörnchen!«, rief Thelmas Bruder mit bebender Stimme. »Wahrhaftig! Er muss sich tatsächlich rückwärts in der Zeit bewegt haben! Ist das zu glauben? Während wir alle rasant gealtert sind, ist er jung geblieben.«
»Das ist ein Wunder!«, kreischte die Schwester etwas zu dramatisch und warf die Hände in die Luft. »Eine Naturunmöglichkeit.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Kelvin verdattert. »War es sehr lange?«
»Jahre!«, antwortete Thelma mit ernster und brüchiger Stimme. »Viiiele Jahre. Du warst einfach nicht wach zu kriegen. Wir mussten dich, äh, künstlich ernähren. Hier, sieh dich an!« Sie gab ihm ihren Schminkspiegel.
Es folgte eine lange Gesprächspause, in der Kelvin sein Spiegelbild mit den Gesichtern seiner Verwandten verglich.
Schließlich erhob er sich, stieg aus dem Bett, reckte und streckte sich und sagte: »Puh, das muss ich erst mal verdauen. Ich gehe kurz frische Luft schnappen. Bin gleich wieder zurück.« Draußen atmete Kelvin tief durch und dachte eine Minute lang nach.
Dann machte er sich aus dem Staub. Einhörnchen sind flink – auch was die Entschlussfreudigkeit angeht. Der Gedanke, von heute auf morgen die soziale Verantwortung für eine ganze Familie von senilen Einhörnchen am Rande der Pflegebedürftigkeit zu übernehmen, während er sich selbst offensichtlich immer weiter verjüngte, war eine unbehagliche Zukunftsperspektive. Unter solchen Umständen konnte er niemals die Einhörnchengesellschaft reformieren, jedenfalls nicht in diesem Baum. Also verließ er fluchtartig seine Heimatkastanie und zog ein paar Bäume weiter, wo es angeblich von jungen Einhörnchenmädchen nur so wimmelte.
Etwa nach einer Woche im neuen Baum versuchte Kelvin, ein junges Einhörnchenmädchen namens Louise zu beeindrucken. Er wollte rückwärts den Baum herabklettern und damit demonstrieren, auf welche Weise er sich verjüngte.
»Ich nenne es Kelvinismus!«, rief er. »Keine Angst! Es sieht gefährlicher aus, als es ist. Wusstest du, dass Muskeln ein eigenes Gedächtnis haben? Sie merken sich eingeübte Bewegungen und wiederholen sie immer wieder von selbst, und zwar völlig korrekt.«
Mit diesen Worten trat er statt auf einen Ast ins Leere, stürzte zwölf Meter in die Tiefe, brach sich das Rückgrat und war anschließend von der Hüfte an abwärts gelähmt. Da in dem anderen Baum niemand die soziale Verantwortung für einen verunglückten Fremdling übernehmen wollte, starb Kelvin einsam und ohne Betreuung an Kalziummangel und viel zu früh für sein Alter.
Thelma heiratete nicht lange nach dem mysteriösen Verschwinden ihres Gatten ein anderes Einhörnchenmännchen aus der höheren Baumkrone namens Knuth, das im letzten Jahr im Nussknackerwettbewerb auf Platz eins gekommen war. Thelma und Knuth hatten zusammen sieben Einhörnchenkinder, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute von Kelvins Vorräten.
Eines Tages gelangten ein Biber und ein Kristallskorpion gleichzeitig an das Ufer eines tiefen und reißenden Flusses. Beide arbeiteten für konkurrierende Lieferdienste, und jeder von ihnen hatte ein wichtiges Eilpaket auszuliefern.
»Mist!«, fluchte der Biber. »Ich wusste gar nicht, dass hier ein verdammter Fluss verläuft. Gestern war er noch nicht da.«
»Das hat sicher mit dem Klimawandel zu tun«, antwortete der Kristallskorpion. »In der letzten Zeit gab es 0,4 Prozent mehr Starkregen in dieser Region. Da ist es ja wohl kein Wunder, wenn Flüsse plötzlich ihre Richtung ändern.«
»Das tun sie schon seit Millionen von Jahren aus den unterschiedlichsten Gründen«, entgegnete der Biber, der einmal ein paar Semester Geologie studiert, dann aber das Studium abgebrochen hatte, um zu Bauingenieurwesen, Landschaftsarchitektur und Holztechnologie zu wechseln, mittlerweile aber trotz eines guten Abschlusses immer noch keinen festen Arbeitsplatz in einer seiner Ausbildung entsprechenden Branche gefunden hatte, etwa im Holzbrückenbau. »Aber das ist nicht unser wichtigstes Problem«, fuhr er fort. »Unser Problem ist, wie wir über diesen verdammten Fluss kommen.«
»Du hast recht«, seufzte der Kristallskorpion. »Wir könnten vielleicht eine Brücke bauen.«
»Für so einen breiten Fluss müssten wir eine Zweistegige Plattenbalkenbrücke bauen«, sagte der Biber fachmännisch. »Außerdem haben wir keine Baugenehmigung.«
»Mist!«, fluchte der Skorpion. »Das stimmt.«
Eine Weile blickten sie ratlos auf den reißenden Fluss.
»Ich habe frisches Blutplasma für eine kranke Großmutter auszuliefern«, sagte der Biber. »Wenn sie nicht bald ihre wöchentliche Blutwäsche macht, wird sie qualvoll sterben.«
»Ich habe nur ein paar sündhaft teure Stöckelschuhe für eine verwöhnte Prinzessin zu liefern, die an Oniomanie leidet«, antwortete der Skorpion.
»Oniomanie?«, fragte der Biber. »Was ist das denn?«
»Krankhafte Kaufsucht«, sagte der Skorpion. »Einer der wichtigsten Stützpfeiler unserer Branche.« Die beiden lachten freudlos.
»Wir könnten schwimmen«, sagte der Skorpion plötzlich.
»Stimmt«, sagte der Biber und schlug sich gegen die Stirn. »Das ist diese verfluchte Fachidiotie! Da fallen einem die einfachsten Lösungen nicht mehr ein. Ich bin ein guter Schwimmer. Ich kann sogar Rückenschwimmen.«
»Na ja«, sagte der Skorpion. »Ich kann eigentlich überhaupt nicht schwimmen. Ich bin Nichtschwimmer. Ich bin aus Kristall. Ich versinke im Wasser wie ein Senkblei.« Er überlegte eine Weile. »Aber na ja …«, sagte er dann.
»Na ja – was?«, fragte der Biber.
»Na ja … wenn ich mich auf deinen Bauch setzen würde, dann könnten wir beide das andere Ufer erreichen. Rückenschwimmend, meine ich.«
»Das ist wohl wahr«, sagte der Biber und nickte. »Das wäre für mich eine Kleinigkeit. Ich habe mal den Gumpensund rückwärts schwimmend durchquert, während ich dabei mit der Nase eine Kokosnuss auf einem Strohhalm balanciert habe.«
»Na also!«, rief der Skorpion. »Worauf warten wir dann noch?«
»Nun ja«, entgegnete der Biber. »Ich mache mir so meine Gedanken über unsere arttypischen Grundeigenschaften.« Er zögerte einen Augenblick, bevor er fortfuhr. »Also auf die Gefahr hin, hier ein uraltes Rollenklischee zu strapazieren – aber Skorpione gelten nun mal als hinterhältig und tückisch. Sie verbergen sich in Schuhen, um ihre Besitzer zu stechen, wenn diese sie wieder anziehen.«
»Zugegeben …«, gab der Skorpion kleinlaut zu. »Davon habe ich auch schon gehört. Einige meiner Artgenossen sollen so etwas getan haben – und das bringt unsere ganze Spezies in Verruf. Aber es ist ein weitverbreitetes Vorurteil, dass dieses Verhalten mit Hinterhältigkeit zu tun hat. Skorpione haben es gerne dunkel und feucht, und wenn es nachts kühl wird, schlüpfen wir in geschützte Räume. Und das kann dann auch schon mal ein Schuh sein. Aber das ist Instinkt, keine Heimtücke. Und wer in einer Gegend mit hoher Skorpionpopulation morgens nicht seine Schuhe ausschüttelt, ist einfach ein Idiot.«
Der Biber nickte. »Stimmt«, sagte er.
»Ich gebe dir mein Ehrenwort als Berufskollege«, fuhr der Skorpion fort, »dass ich dich nicht stechen werde. Da wäre ich ja auch schön bescheuert! Ich würde zusammen mit dir ertrinken, wenn ich dich während unserer Überquerung töte.«
»Stimmt ebenfalls!«, sagte der Biber. »Aber jetzt musst du mir noch erklären, warum ich jemandem helfen soll, der für ein konkurrierendes Unternehmen arbeitet. Wir nehmen uns gegenseitig die Butter vom Brot.«
»Wie wäre es mit einem weiteren Rollenklischee?«, fragte der Skorpion. »Biber gelten als familiär, sozial verantwortungsvoll und gutmütig. Du musst also nur instinktiv deinem moralischen Kompass folgen.«
»Das ist schon wieder richtig«, seufzte der Biber. »Und das ist ausnahmsweise mal überhaupt kein Vorurteil, sondern Veranlagung, worauf ich mir deswegen auch nichts einbilden kann. Es ist einfach meine Natur. Na los – spring schon rauf, Kollege!«
Der Biber warf sich rücklings in den Fluss, sie stapelten die beiden Pakete auf seinen Bauch, und der Skorpion kletterte obendrauf.