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Die Buchlinge sind wieder da!
In den Katakomben von Buchhaim erzählt man sich eine alte Geschichte vom sprachmächtigen Drachen Nathaviel. Angeblich besteht er aus lauter Büchern, die von der mysteriösen Kraft des Orms durchströmt sind. Die Legende besagt, der Bücherdrache habe auf jede Frage die richtige Antwort.
Der Buchling Hildegunst Zwei, benannt nach dem zamonischen Großschriftsteller Hildegunst von Mythenmetz, macht sich eines Tages auf den Weg in den Ormsumpf, wo Nathaviel hausen soll. Dabei wagt er sich in Bereiche der Katakomben, in denen es von Gefahren wie den heimtückischen Bücherjägern nur so wimmelt. Und er ahnt nicht, dass die größte Gefahr, die ihm droht, vom Bücherdrachen selber ausgeht.
Dies ist ein Roman, der im legendären Bücherreich Zamonien spielt. Folgende weitere Zamonienromane sind bislang erschienen:
Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär
Ensel und Krete
Rumo & Die Wunder im Dunkeln
Der Schrecksenmeister
Das Labyrinth der Träumenden Bücher
Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr
Weihnachten auf der Lindwurmfeste
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Seitenzahl: 192
Walter Moers
Der Bücherdrache
Ein Roman aus Zamonien vonHildegunst von Mythenmetz
Aus dem Zamonischen übertragenund illustriert vonWalter Moers
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Copyright © 2019 beim Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Lektorat: Rainer Wieland
Covergestaltung: bürosüd nach einem Entwurf von Oliver Schmitt unter Verwendung einer Illustration von Walter Moers
Gesamtgestaltung und Satz: Oliver Schmitt, Mainz
Illustrationen: Walter Moers
ISBN 978-3-641-23423-2V004
www.penguin-verlag.de
www.zamonien.de
rzähl einfach, was du wirklich erlebt hast!«, forderte ich ihn auf. »Eine Geschichte aus deinem Leben.«
»Eine Geschichte aus meinem Leben?« Hildegunst Zwei sah mich irritiert an. »Ich habe nichts erlebt. Null. Ich bin ein Buchling. Wir lesen. Wir schlafen und träumen. Buchlinge haben kein aufregendes Leben.«
»Komm schon!«, versuchte ich ihn aufzumuntern. »Jeder hat was erlebt. Du bist ein Bewohner der Katakomben. Ihr schürft nach Diamanten. Ihr sucht nach seltenen Büchern. Ihr treibt euch auch außerhalb der Ledernen Grotte herum. Denk nach! Dir muss doch mal was Außergewöhnliches passiert sein. Eine aufregende Situation. Gefährliche Daseinsformen. Mörderische Bücherjäger. Gefräßige Harpyre. Riesige Insekten mit üblen Absichten. Irgendwas.«
Hildegunst Zwei dachte angestrengt nach. Dann schien ihm etwas einzufallen.
»Also … na ja … da war diese Geschichte mit Nathaviel.«
»Nathaviel?«
»Ja. Der Ormdrache. Oder der Bücherdrache. Nathaviel eben. Er hat viele Namen. Also, das war ziemlich …« Er stockte.
»Die Geschichte vom Bücherdrachen?« Ich winkte ab. »Nein, das zählt nicht. Das ist doch nur ein Mythos. Davon habe ich schon oft gehört. Du sollst keine erfundene Geschichte nacherzählen. Sondern etwas, das dir selber widerfahren ist.«
»Das ist nicht erfunden. Es ist eine wahre Geschichte.«
Ich horchte auf. »Tatsächlich? Na, dann lass mal hören!«
»Ähm …«, machte Hildegunst Zwei und schob einen Finger unter seine Unterlippe, wie es die Buchlinge gerne tun, wenn sie angestrengt nachdenken. »Das war … Also das fing eigentlich mit einer Schulstunde an.«
»Ihr habt Schulunterricht hier unten?«
»Klar. Die Alten unterrichten die Jungen. Habt ihr das da oben nicht?«
»Doch, haben wir. Obwohl … ich hatte hauptsächlich Privatunterricht. Bei meinem Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler. Er …« Ich unterbrach mich selbst. »Egal. Weiter.«
»Na ja«, fuhr Hildegunst Zwei fort. »Viel Unterricht haben wir eigentlich nicht. Nur das Nötigste: Schreiben, Lesen, Zählen. Und Grammatik. Alte Sprachen. Angewandter Antiquarismus. Buchdruck. Typographie. Außerdem Katakombenmythologie – das ist das, was ihr wahrscheinlich als Geschichtsunterricht bezeichnen würdet. Aber Katakombenmythologie ist keine exakte Wissenschaft. Na, du weißt schon: Legenden. Märchen. Mythen. Lagerfeuergeschichten. Und meine Geschichte fängt in einer Katakombenmythologiestunde an. Der Lehrer erzählte uns den Mythos von Nathaviel, dem Bücherdrachen.«
»Also doch: ein Mythos.«
Hildegunst Zwei sah mich missmutig an. »Ja ja … Aber das ist nur der Beginn der Geschichte. Der Rest ist mir wirklich passiert.«
»Entschuldigung. Leg einfach los!«
»Danke. Nun, der Lehrer erzählte uns die Geschichte von einem riesigen Bücherwurm, der tief unten im Ormsumpf haust. Da, wo die wirklich alten, besonders wertvollen Bücher der Katakomben verrotten.«
Der Ormsumpf. Darüber hatte ich in Colophonius Regenscheins Buch »Die Katakomben von Buchhaim« gelesen. Wenn ich mich recht entsann, wurde auch der Ort selbst von Regenschein als ›mythisch‹ beschrieben, als fiktives und romantisch verklärtes Gegenstück zur real existierenden Müllhalde von Unhaim, wo hauptsächlich wertlose Bücher vergammelten. Diese Halde, das wusste ich, gab es wirklich, denn ich war dort gewesen. Der Ormsumpf aber – das schien mir ein typisches Bücherjägermärchen. Ein fiebriger Wunschtraum jener Art, wie ihn Elfenbeinhändler von Elefantenfriedhöfen fantasieren. Eine Einbildung, hervorgebracht von der unstillbaren Gier nach immer selteneren und kostbareren Büchern. Was Hildegunst Zwei da erwähnte, klang wie die Katakombenversion der sattsam bekannten Legende von der überquellenden Schatzkammer, in der alle möglichen Kostbarkeiten für arbeitsscheue und gesetzlose Subjekte auf einem riesigen Haufen zur freien Verfügung liegen. Ich erinnerte mich ebenfalls noch, dass der Ormsumpf ein beinahe ausgetrockneter Ableger des Untenweltflusses Magmoss sein sollte, bestehend aus einem Geäst von Abzweigungen und Kanälen. Was zumindest eine pseudowissenschaftliche Erklärung für all die ormgesättigten Bücher war, die sich dort angeblich stapelten. Denn der Magmoss transportiert ja tatsächlich Unmengen von verfaulenden Büchern und alles mögliche andere Zeug. Das hatte ich bei einem Spaziergang mit der Schreckse Inazea Anazazi mit eigenen Augen gesehen, bei dem sie mir die Stelle gezeigt hatte, an welcher der Magmoss mitten in Buchhaim hervorbricht.1
»Und zwar lauter Bücher, die allesamt älter und wertvoller sind als sämtliche Favoriten von der Goldenen Liste«, plapperte Hildegunst Zwei weiter. »Werke von Dichtern einer vergangenen Ära, in der noch alle Künstler vom Orm durchströmt waren.«
Noch so ein Mythos: Von jener legendären Epoche, in der sämtliche Künstler vom Orm erfüllt waren – und zwar ausnahmslos. Von einer Zeit, in der an jeder Ecke ein Meistersinger stand, der nicht nur ein Virtuose mit Stimme und Laute war, sondern auch Texte und Kompositionen von überirdischer Qualität vortrug. Wo jedes Ölbild ein Meisterwerk darstellte, jedes Gedicht eine Erleuchtung und jeder Roman eine Offenbarung. Ein nostalgischer Früher-war-alles-besser-Mythos, geradezu anrührend in seiner naiven Redlichkeit. Und natürlich waren die Bücher all der Dichter dieser »güldenen Epoche« heute verschollen oder sammelten sich im Ormsumpf. Ich nickte. »Davon habe ich gehört«, sagte ich, lächelte milde und verkniff mir eine ironische Bemerkung.
»Der Lehrer hat uns erzählt, dass der Bücherdrache Nathaviel genannt wurde. Aber auch – je nach Legende – Elivathan, Thanaviel, Levanthia oder Ilathevan. Und dass er sich seit Urzeiten in diesem Büchersumpf herumwälzt. Denn das ist es ja wohl, was sagenumwobene Drachen so treiben: Sie liegen irgendwo rum und wälzen sich in Schätzen, nicht wahr? Wenn sie gerade keine Jungfrauen fressen.« Hildegunst Zwei grinste. »Was im Falle Nathaviels dazu geführt haben soll, dass sich mit der Zeit diese ormgesättigten Bücher in seine Haut eingedrückt haben und dort festgewachsen sind, bis fast sein ganzes Schuppenkleid aus eingewachsenen Folianten bestand. Daher nennt man ihn auch den Ormdrachen, klar?«
»Ja, verstehe!«, antwortete ich. »Eine Bibliothek des Orms auf vier Beinen. Mit Kopf und Schwanz. Sehr metaphorisch.«
»Davon gab es früher sogar Bilder bei uns in der Ledernen Grotte.« Hildegunst Zwei nickte. »Auf Mosaiken und Teppichen. Bevor die Bücherjäger kamen und alles zerstörten. Du müsstest sie eigentlich noch gesehen haben.«
»Stimmt«, antwortete ich. »Ich erinnere mich dunkel an solche Darstellungen. Auf Wandgemälden und so.«
»Nun«, fuhr der kleine Buchling fort, »dieses Dauerbad in ormgetränkter Literatur verwandelte Nathaviel mit der Zeit in das klügste Geschöpf der Katakomben – so behauptete man jedenfalls. Das Orm drang in all seine Poren, in seinen Blutkreislauf, in sein riesiges Herz und gelangte schließlich in sein Gehirn, welches dadurch komplett, wie soll ich sagen … durchormt wurde, verstehst du?«
»Durchormt?«
»Genau. Oberklug. Superinspiriert. Über die Maßen kreativ aufgeladen. Von allen Musen geküsst. Der Drache soll druckreif gesprochen haben. Auf Zuruf sogar in Reimen von jedem beliebigen Versmaß. Man glaubte, dass er auf alle – wirklich alle! – Fragen eine Antwort hatte. Erschöpfend, endgültig und so makellos formuliert, dass man seine Antworten gleich in Stein meißeln konnte. Ohne Lektorat.«
»Ein Orakel also«, sagte ich. »Auch ein beliebter Mythenstoff. Wann kommt denn endlich die echte Geschichte?«
»Nun warte es doch ab! Der Lehrer erklärte uns dann noch, dass der Drache eigentlich ein Symbol sei. Eine Metapher, wie du schon richtig erfasst hast. Ein ideales Bild für den Wunsch nach grenzenlosem Wissen – und für den uralten Traum, dieses Wissen mühelos zu erwerben. Denn Nathaviel musste die Bücher ja nicht erst mühsam lesen und verstehen, um sich ihren Gehalt anzueignen. Nö! Der nicht! Der musste nur den ganzen Tag darin baden. Oder nachts darin schlafen. Sich darin wälzen, wie ein Sumpfschwein im Schlamm. Logisch, dass dies bei uns jungen Buchlingen ziemlich gut ankam. Der Traum des faulen Schülers: Während sich die anderen abrackern und wie blöde pauken, wälzt sich so ein cleverer Drache einfach in einem Haufen alter Schwarten. Und bekommt dadurch nicht nur einen unschätzbar wertvollen Panzer aus Büchern der Goldenen Liste. O nein! Er wird sogar noch das ormgesät-tigste Lebewesen der Katakomben. Einfach so. Damit konnte man sich blendend identifizieren. Dagegen verblasste selbst die Geschichte vom Schattenkönig.«
Ich erschauderte, denn die bloße Erwähnung des Schattenkönigs weckte in mir heftige Gefühle.
»Außerdem betonte unser Lehrer«, fuhr Hildegunst Zwei fort, »dass Nathaviel ein extrem ungewöhnlicher Drache sei: Ein Guter! Also nicht so eine hinterhältige, kreidefressende Riesenechse wie die Viecher in den meisten Legenden, denen man nicht den Rücken zuwenden darf. Sondern ein zum Mitleid befähigtes, friedfertiges und vernunftbegabtes Wesen, gutmütig und gütig. Durch seine regelmäßigen Buchvollbäder philosophisch und literarisch umfassend geschult. Juristisch bestens unterrichtet, wissenschaftlich beschlagen, weise und gerecht, auch zu moralischen Erkenntnissen und den nötigen Schlussfolgerungen in der Lage. Und so weiter – also lauter Sachen, die man Riesenechsen gewöhnlich nicht nachsagt. Er sei völlig aus der Art geschlagen. Manchmal soll er in seinen Äußerungen etwas nebulös und kryptisch gewesen sein. Aber das wird von Orakeln ja schließlich erwartet, nicht wahr? Ein Orakel, das Klartext redet, wäre ja ein Widerspruch in sich. In den alten Tagen sind die verschiedensten Bewohner aus allen Bereichen der Katakomben angeblich scharenweise zu Nathaviel gepilgert, um ihm ihre brennenden Fragen zu stellen. Mächtige Bücherfürsten, Dichter, Philosophen und Schriftgelehrte sollen seinen Rat erfleht haben: Wo sollen wir unsere Bücherschätze verstecken, Thanaviel? Wie erlangt man das Orm, Elivathan? Wie übersetzt man aus dem Uraltflorinthischen, Ilathevan? Er soll darüber hinaus die Verläufe von militärischen Konflikten exakt vorausgesagt haben und so was. Vor Erdbeben und Vulkanausbrüchen hat er gewarnt, angeblich auf die Stunde genau. Stammesfehden hat er mit weisen Ratschlüssen geschlichtet. Über Generationen hinweg schwelende Grenzkriege hat er mit simpelsten Lösungen beendet. Und so weiter. Ein Spitzendrache also! Nathaviel. Elivathan. Thanaviel, Levanthia oder Ilathevan – such dir deinen Lieblingsnamen aus! Ich finde Nathaviel am besten. Zum Schluss gab uns der Lehrer noch die Hausaufgabe, uns eine gute Frage für den Bücherdrachen auszudenken.«
»Ausgesprochen originelle Idee für einen Lehrer«, warf ich ein.
»Allerdings«, sagte Hildegunst Zwei und seufzte. »Und verhängnisvoll. Denn damit fing alles an. Die Frage für den Bücherdrachen brachte mich mächtig ins Grübeln. Als der Unterricht zu Ende war, trieb ich mich mit ein paar anderen Schülern in der Nähe der Klassenräume herum. Du musst dir vorstellen, dass ich der Jüngste in der Klasse war, daher lief ich immer den Größeren hinterher und machte mit, was sie eben so anstellten. Meistens Unfug, wie du dir sicher denken kannst. Es war eine Bande von insgesamt sechs Rabauken der übelsten Sorte.
Sie hießen Estrakos, Arkaneon, Eliastrotes, Eideprius, Steraphasion und Klosophes. Aber sie sprachen sich mit Abkürzungen an: Estra, Arka, Elias, Eidep, Steraph und Kloso. Wegen ihrer Namen wurden sie von den anderen Schülern gelegentlich »die Klassiker« oder »die Klassikerbande« genannt. Denn sie trugen alle Namen von Dichtern des zamonischen klassischen Altertums, und wahrscheinlich war das eine der Ursachen dafür, dass sie eine derart verschworene Gemeinschaft bildeten.
Also, irgendwann muss ich wohl so was gesagt haben wie: ›Eigentlich schade, dass es den Bücherdrachen gar nicht gibt. Ich wüsste sehr wohl, was ich ihn fragen würde.‹
Der Buchling namens Estrakos, also Estra, der so was wie der Wortführer der Gruppe war, wandte sich an mich und fragte mit amüsiertem Unterton: ›Ach ja? Was würdest du ihn denn fragen?‹
›Na ja, öh … Ich würde ihn fragen … äh …‹
›He! Psst!‹, unterbrach mich Estra und hielt mir den Mund zu. ›Nicht so laut! Hier haben die Wände Ohren! Flüstere mir die Frage zu!‹
Ich war etwas verdattert, aber er ließ mich wieder los, und ich wisperte die Frage wie geheißen.
Estra horchte aufmerksam zu, dann trat er einen Schritt zurück. Er sah mich lange an und sagte: ›Beim Orm, Kleiner! Das ist wirklich mal eine gute Drachenfrage. Du meine Güte.‹ In seiner Stimme schwang echte Anerkennung. Er ging zu den anderen Buchlingen und teilte ihnen flüsternd die Frage mit. Auch sie zeigten sich beeindruckt.
›Hui! Verdammt gute Frage!‹, staunte Arka.
›Allerdings!‹, stimmte Elias zu. ›He! Wieso sind wir da noch nicht draufgekommen?‹
›Weil wir blöd sind‹, sagte Eidep. ›Der Kleine hat echt was auf dem Kasten.‹
›Dabei ist sie so naheliegend‹, grinste Steraph.
›Das sind gute Fragen oft‹, sagte Kloso. ›Man muss nur draufkommen, das ist die Kunst. Respekt, Kleiner!‹
›Na ja …‹, sagte ich. ›Eine gute Frage erkennt man daran, dass sie das Rätsel erkannt hat, welches einer befriedigenden Erklärung bedarf.‹
Die sechs Klassiker rückten näher und bildete einen Halbkreis um mich.
›Hör zu, Kleiner‹, sagte Estrakos, der mir am nächsten stand und jetzt mit gesenkter Stimme sprach. ›Du bist anscheinend ziemlich weit für dein Alter. Daher werde ich dir ein Geheimnis verraten, das eigentlich uns Älteren vorbehalten ist – vorausgesetzt, dass du es nicht ausplauderst. Schaffst du das?‹
Ein Geheimnis behalten? Ich nickte grimmig, obwohl ich das gar nicht wissen konnte. Schon deswegen, weil ich noch nie ein Geheimnis für mich behalten hatte. Kein einziges! Niemand hatte mir bisher eines anvertraut –woran du ermessen kannst, wie jung und unerfahren ich damals war.«
»Ein unbeschriebenes Blatt«, grinste ich.
»Genau!« Hildegunst Zwei nickte wieder.
»Aber Frechheit siegt, stimmt’s? Na, jedenfalls packte mich Estra bei den Schultern, sah mich durchdringend an und sagte dann feierlich: ›Halt dich fest, Kleiner: Den Bücherdrachen gibt es wirklich.‹
Ich löste mich aus seinem Griff, wich einen Schritt zurück und keuchte: ›Nein!‹
›Schhh …‹, machte Estra und blickte sich nervös um. ›Doch. Es gibt ihn. Nathaviel. Elivathan. Thanaviel. Der Bücherdrache. Er lebt. Ich habe ihn gesehen.‹ Als er meinen ungläubigen Blick bemerkte, wies er auf seine Freunde und fügte hinzu: ›Wir alle haben ihn gesehen. Stimmt’s, Leute?‹
Die Klassiker blickten sich gegenseitig an und schienen einen Augenblick lang unentschlossen zu sein, ob sie mit der Wahrheit herausrücken sollten. Dann nickten sie gemeinsam.
›So ist es‹, sagte Arkaneon ernst. ›Wir haben ihn gesehen. Er ist …‹
›Riesig!‹, ergänzte Eliastrotes schnell.
›Gigantisch!‹, sagte Eideprius.
›Monströs!‹, bestätigte Steraphasion.
›Kolossal!‹, sagte Klosophes.
›Riiiiiiiiiesig‹, fügte Eideprius hinzu.
›Das erwähnte ich bereits‹, korrigierte ihn Eliastrotes.
›Hörst du das ferne Drachenlachen / Aus einem tiefen Drachenrachen?‹, rezitierte Arkaneon dramatisch.
›Das ist’s, was alle Drachen machen: / Lauter böse Drachensachen‹, ergänzte Klosophes das Gedicht, das die beiden wahrscheinlich auf einer Wand der Schultoilette gelesen hatten. Die Klassiker lachten und tauschten wissende Blicke untereinander aus, deren Bedeutung ich nicht verstand.
›Ist das wahr?‹, fragte ich, immer noch verunsichert. ›Ihr … wollt mich doch nicht etwa veräppeln, oder? Weil ich kleiner bin und so? Hm?‹
Estra sah mich mit einem Blick an, in dem sich Mitleid, Aufrichtigkeit und Zuneigung mischten. ›Pass auf!‹, sagte er. ›Ich weiß nicht genau, warum die großen Buchlinge uns das Märchen auftischen, dass der Bücherdrache gar nicht existiert. Aber vielleicht machen sie sich Sorgen. Wahrscheinlich haben sie Angst davor, dass wir auf eigene Faust die Lederne Grotte verlassen und uns im Labyrinth verlaufen. Nicht ganz zu Unrecht, es ist verdammt gefährlich da draußen! Aber uns hat die Geschichte einfach keine Ruhe gelassen. Und eines Tages sind wir dann …‹
›Moment mal!‹, hakte ich ein. ›Eines Tages? Wir haben die Legende vom Bücherdrachen doch heute zum ersten Mal gehört. Zusammen im Unterricht.‹
Estra grinste breit. ›Du vielleicht. Wir kennen das alles schon lange.‹
›Laaange‹, wiederholte Arka gedehnt.
Die anderen nickten wieder.
›Ach ja?‹, fragte ich. Ich war zwar noch ziemlich klein, aber nicht mehr so leichtgläubig, dass ich jedem, der ein Stückchen größer war als ich, irgendeine haltlose Behauptung unbesehen abgekauft hätte. ›Woher denn?‹
Estra blickte milde lächelnd auf mich herab. ›Was meinst du eigentlich, warum wir alle größer sind als du? Hm? Und älter? Ich sag’s dir: Wir drehen eine Ehrenrunde, mein Freund! Wir machen doch alle das Schuljahr noch mal.‹
Die anderen knufften sich gegenseitig mit dem Ellbogen und lachten dreckig. ›Genau‹, sagte Kloso. ›Weil’s so schön war.‹ Die ganze Klassikerbande lachte abgefeimt über seinen Witz.
Und plötzlich bekam ihr Gruppenname für mich eine neue, fast komische Bedeutung: Klassiker waren sie auch dadurch, dass sie älter waren als die anderen Schüler meiner Klasse und das Schuljahr wiederholen mussten.
›Ihr seid … Sitzenbleiber!‹, wollte ich rufen, konnte mir aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge beißen. ›Klar‹, sagte ich stattdessen, ›verstehe.‹ Die sechs umzingelten mich immer enger. Ich kam mir in ihrer Gesellschaft irgendwie verrucht vor. Rebellisch. Als würde ich von einer Bande von Gesetzlosen aufgenommen. Ein mulmiges, aber gleichzeitig prickelndes Gefühl.
Estra legte mir einen Arm um die Schulter. ›Hör zu‹, sagte er, ›wir wollen dich an unserem Erfahrungsschatz teilhaben lassen, mein junger Freund. Profitiere von unserer Reife und Erkenntnisfülle! Das bieten wir nicht jedem an.‹
›Allerdings‹, ergänzte Arka. ›Sei dir dieser Auszeichnung bewusst! Das ist wie ein Ritterschlag. Du bist ein Erwählter. Du könntest ein Ormling werden. Das ist etwas, wonach sich einige Eingeweihte in der Ledernen Grotte verzehren. Aber nur den wenigsten widerfährt diese Ehre.‹ Die anderen nickten ernst.
›Ein … Ormling?‹, fragte ich. Das war neu. Ich hatte vom Orm gehört. Vom Ormen und von ormdurchströmten Dichtern. Von ormerfüllter Literatur. Vom Ormsumpf erst heute im Unterricht. Aber noch nie etwas von Ormlingen.
›Wir sind ein Geheimbund‹, raunte Kloso mir zu. ›Eine Art Eliteeinheit sozusagen. Die Besten der Allerbesten, verstehst du? Buchlinge sind wir in der Grotte alle. Aber zum Ormling werden nur die wenigsten. Die Auserwählten. Wir haben …‹, er senkte die Stimme zu einem kaum noch hörbaren Flüstern, ›… eigene Rituale.‹
›Rituale?‹, hauchte ich. Allein der Klang des Wortes erregte mich. Blutsbrüderschaft? Gesänge in verschollenen Sprachen? Meinte er solche Sachen?
›Haufenweise!‹, sagte Kloso. ›Und nicht nur das. Ich sage nur: Konspirative Treffen. Losungswörter. Erkennungszeichen. Sogar Geheimnamen.‹
Mein Herzschlag beschleunigte sich. ›Davon hatte ich ja keine Ahnung!‹, keuchte ich.
›Das will ich hoffen‹, lachte Kloso. ›Denn wenn du bereits davon gewusst hättest, hätten wir ja versagt. Aber wir machen keine Fehler. Stimmt’s, Leute?‹
›Nur, wenn die anderen denken sollen, dass wir falsch liegen‹, sagte Arka mit einem spöttischen Lächeln. Sie waren atemberaubend arrogant.
›So ist es!‹, bestätigte Estra. ›Wenn es mal so aussieht, dass wir danebenliegen, dann ist es tatsächlich Teil unserer raffinierten Strategie. Warum sind wir alle sitzengeblieben? Weil wir zu doof sind?‹ Die anderen lachten höhnisch. ›Im Gegenteil! Weil wir zu schlau zum Lernen sind! Was meinst du eigentlich, warum wir alle Klassiker des zamonischen Altertums auswendig lernen? Estrakos, Klosophes, Arkaneon? Steraphasion? Hm? Weil die so waaahnsinnig interessant sind? Die alten Langweiler mit ihren öden Tragödien? Und Komödien, bei denen es nichts zu lachen gibt? Quatsch! Sondern weil von denen nur ganz wenig Text überliefert ist! Manchmal sind es nur ein paar schlaue Sprüche. Oder ein dünnes Buch mit kurzen Gedichten. Eigentlich reicht ein einziger Spruch, den man immer wieder runterleiert.‹
›Einem Krebs kann man nicht beibringen, gerade zu gehen‹, deklamierte Steraphasion wichtigtuerisch.
›Vorsicht ist die rechte Tapferkeit‹, fügte Eideprios mit Pathos hinzu.
›Zuweilen ist’s ein Unglück, recht zu haben‹, rief Klosophes und klopfte sich vor die Brust.
›Einen Fehler durch eine Lüge zu verdecken heißt, einen Flecken durch ein Loch zu ersetzen‹, sagte Eliastrotes gravitätisch.
›Des Lebens Lust genießen darfst doppelt du im Alter, je näher dir der Tod‹, rief Arkaneon.
›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹, deklamierte Estrakos.
›Das reicht völlig‹, sagte Steraph und winkte lässig ab. ›Da muss man viel weniger auswendig lernen als bei den meisten Dichtern. Die Sprüche müssen nicht mal gut sein, wie du siehst. Dass so ein Klassiker sie vor Tausenden von Jahren oder so abgelassen hat, heißt ja nicht unbedingt, dass sie auch was taugen. Kapiert? Wir sind unsere Lebenszeit anderen Dingen schuldig. Dem Geheimnis. Dem Abenteuer.‹
›Es ist immer von Vorteil, unterschätzt zu werden‹, sagte Elias. ›Das ist Teil unserer Tarnung. Ein Deckmantel für unsere weitverzweigten Geheimtätigkeiten. Für unsere Verpflichtungen als Ormlinge. Da bleibt natürlich kaum Zeit zum Pauken. Wer braucht schon diesen Streberkram?‹
›Wenn er …‹, flüsterte mir Eidep von der anderen Seite in mein Ohr, ›… ein Ormling sein kann?‹
Ein Ormling sein! Ich war wie elektrisiert. Du meine Güte! Es gab da noch eine weitere Existenzform in der Ledernen Grotte! Man musste gar nicht sein Dasein als langweiliger Buchling fristen wie jeder andere. O nein! Man konnte eine verborgene Identität annehmen! Ein zweites, abenteuerliches Leben führen! Direkt unter den Augen der anderen, die nichts davon ahnten.
›Wie seid ihr dahintergekommen?‹, fragte ich. ›Ich meine, hinter das mit dem Drachen?‹
›Durch unsere unermüdlichen verdeckten Ermittlungen‹, sagte Kloso.
›Durch das Sammeln von Indizien und Beweisen‹, ergänzte Arka.
›Durch Kombinationsgabe‹, das war Eidep.
›Lauschangriffe‹, hauchte Estra.
Verdeckte Ermittlungen! Indizien! Lauschangriffe! Das klang alles noch viel aufregender als Geheimnamen.
›Na ja‹, sagte Estra. ›Wir haben einfach das Auge und die Ohren offengehalten, nicht wahr? Man glaubt ja nicht, was die Großen so alles ausplaudern, wenn sie denken, dass wir Kleinen mit uns selbst beschäftigt sind. Ein spielender, schulpflichtiger Buchling ist für die gar keine lebendige Person, sondern wie ein toter Gegenstand. Ein Möbel. Die glauben, wir wären völlig ins Spiel versunken. Und dann reden sie, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen – völlig schamlos. Aber wir kriegen natürlich alles mit.‹
Eidep grinste. ›Alles! Wir plantschen zusammen mit ihnen in den Heißen Quellen. Krabbeln in der Kerzenfabrik zwischen ihren Beinen rum. Hocken horchend unter den Tischen, wenn sie Karten oder Schach spielen – wir Ormlinge sind überall und nirgends! Wir sind wie Schatten. Allgegenwärtig, aber ignoriert. Und dann plappern sie eben Sachen aus. Bemerkungen über den Bücherdrachen zum Beispiel. Einzelheiten, die wir aufschnappen. Und sammeln. Ordnen. Archivieren. Analysieren. Die sich irgendwann zu einem Verdacht verdichten. Dem wir dann nachgehen.‹
›So läuft das. Das ist unsere Methode. So sind wir dem Bücherdrachen auf die Spur gekommen‹, ergänzte Estra. ›Durch zähe Ermittlungsarbeit. Kombination. Logik.‹
Ich war mächtig beeindruckt. ›Und er hält sich tatsächlich in der Nähe der Ledernen Grotte auf? Warum kommt er nicht hierher?‹
›Weil er zu groß ist‹, antwortete Arka. ›Die Ein- und Ausgänge zur Ledernen Grotte sind allesamt zu klein, um erheblich größere Kreaturen als Buchlinge passieren zu lassen. Eine uralte Vorsichtsmaßnahme.‹
›Und wie gelangt man zum Ormsumpf? Es gibt ziemlich viele Wege aus der Grotte. Welcher ist der richtige?‹, fragte ich.
Die Sitzenbleiber tauschten wieder verschwörerische Blicke aus, bis Elias schließlich die Wegbeschreibung übernahm: ›Nun … Der ist etwa einen halben Tagesmarsch von hier entfernt. So übern Daumen. Du weißt doch, wie man zum Kristallgarten kommt? Den musst du ganz durchqueren. Am Bernsteinbach entlang, unter den Glaspilzen durch. Du verlässt den Bereich der Ledernen Grotte durch den hintersten Ausgang des Gartens, da, wo die Smaragdbäume stehen. Dann, öh, links. Hinter den letzten Smaragdbäumen führt eine natürliche Granittreppe abwärts. Kaum ein Buchling verläuft sich je dahin, weil es da dieses gefährliche Kristallgras gibt. Halte dich fern davon! Die Treppe gehst du runter, dann kommst du durch einen Tunnel, in dem ein paar unsympathische Insekten hausen. Deswegen geht da ja auch keiner rein. Die Viecher ignorierst du einfach, denn sie sind nicht giftig. Aber tritt nicht drauf, beißen tun sie trotzdem! Wenn du dann aus dem Tunnel raus bist, wird es noch einfacher.‹ Elias klopfte mit einem Finger an ein Nasenloch. ›Du orientierst dich mit deinem Geruchssinn!‹ Er holte schnaufend Luft. ›Man kann den Drachen