Das einsame Haus - Hannes Nygaard - E-Book

Das einsame Haus E-Book

Hannes Nygaard

3,8

Beschreibung

Auf Nordstrand, der idyllischen Halbinsel im Wattenmeer, wird ein brutaler Banküberfall verübt. Kommissar Christoph Johannes und eine Angestellte werden als Geiseln entführt. Eine dramatische Suche nach den Tätern beginnt, denn jede Minute rückt die Gefangenen dem Tod ein Stück näher. Kommt Große Jäger noch rechtzeitig? Christoph Johannes' persönlichster Fall. Hart. Verstörend. Mitreißend.

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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv:Vera Wosnitza Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-964-6 Hinterm Deich Krimi Originalausgabe

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Für Birthe

Wer spricht vom Siegen? Überstehen ist alles!

Rainer Maria Rilke

Eins

Weiße Wattetupfer hingen am blauen Himmel. Kumulus, überlegte Christoph, hießen diese dichten und scharf abgegrenzten Wolken, die ein wenig an einen aufquellenden Blumenkohl erinnerten. Dort, wo die Sonne sie bestrahlte, waren sie leuchtend weiß. Gedankenverloren schweifte sein Blick aus dem Fenster über die satte grüne Marsch hinweg, unterbrochen von Feldern, auf denen in wenigen Tagen der Raps blühen und das Auge mit einem unbeschreiblich grellen Gelb nahezu blenden würde. In der Ferne war der Seedeich zu erkennen, der in den letzten Jahren zu einer der sichersten Schutzanlagen an der Nordseeküste verstärkt worden war.

Die sieben Köge seiner Wahlheimat Nordstrand lagen tief, teilweise sogar unter Normalnull. Deshalb hatten die Menschen ihre Häuser früher an die Binnendeiche gebaut, die die Köge abgrenzten. Er wurde oft belächelt, wenn er seine Adresse nannte: England. Nein, war seine Standardantwort, wir haben keine Königin. England stammt von »enges Land«. Genauso wie der Osterkoog, über den er jetzt sah, nichts mit dem hohen christlichen Fest gemein hatte, sondern »östlicher Koog« bedeutete. Nordstrand war seit der Eindeichung des großen Naturschutzgebiets Beltringharder Koog eigentlich eine Halbinsel. Hier fühlte er sich wohl, hier würde er…

»Na?« Anna hatte ihren Arm ausgestreckt und ihre Hand auf seine gelegt. »Träumst du schon von der vielen freien Zeit, die du bald haben wirst?«

Er wollte protestieren, unterdrückte es aber. »Ich freue mich über den wunderbaren Ausblick. Haben wir es nicht gut hier?«

Anna seufzte. »Du. Ich muss noch ein paar Jahre arbeiten.«

»Du musst?«, fragte er vorsichtig.

Sie antwortete nicht. Alle Versuche, sie zu überreden, ihre Tätigkeit als Arzthelferin bei Dr.Hinrichsen im Husumer Schlossgang aufzugeben, waren gescheitert. Auch wenn sie immer wieder über den Stress und die hohe Belastung stöhnte, konnte sie sich ein Leben ohne diese Aufgabe nur schwer vorstellen.

Ihm ging es für sich selbst genauso. Aber für Beamte galt die Pensionsgrenze, insbesondere für Polizeibeamte. Ja, es war wirklich schön hier. Aber es würde eine Umstellung für ihn bedeuten, nicht mehr täglich zur Husumer Polizei fahren zu müssen. Zu müssen? Oder zu dürfen? Es hatte ihn getroffen, als vor einem Jahr Harm Mommsen als Kriminalrat nach Husum zurückgekehrt war und die Leitung der Kriminalpolizeistelle, wie sie etwas umständlich hieß, übernommen hatte; ein Amt, das er zehn Jahre als kommissarischer Leiter innegehabt hatte. Nun sollte es bald vorbei sein. Er hatte es nicht fertiggebracht, mit Anna über seinen Seelenzustand zu sprechen. Derzeit bummelte er seinen letzten Urlaub ab. Christoph empfand es fast als Generalprobe für die Zeit danach. Dann war er Erster Kriminalhauptkommissara.D.

Anna sah auf die Uhr, dann auf den gedeckten Frühstückstisch.

»Ich muss los«, sagte sie und zeigte auf die Überreste des Morgenmahls. »Räumst du bitte ab? Du hast ja Zeit.«

Christoph nickte versonnen. »Leider«, murmelte er, aber Anna hatte es nicht mehr gehört.

Sie war aufgestanden und kramte ihre Sachen zusammen. Kurz darauf erschien sie wieder, gab ihm einen Kuss und verabschiedete sich. Er begleitete sie zur Tür und sah ihr nach, wie sie in den Golf stieg und Richtung Hauptstraße davonfuhr. Er winkte dem Wagen hinterher und registrierte, dass auch sie kurz den Arm gehoben hatte.

Mit hängenden Schultern kehrte er ins Haus zurück, räumte den Tisch ab, setzte sich ins Wohnzimmer und schlug die Husumer Nachrichten auf. Nach einer Weile registrierte er, dass er den Text gar nicht aufnahm. Ob es anderen Menschen auch so ging? Man sollte sich darüber freuen, wenn man nach einem erfüllten Arbeitsleben Zeit für sich fand. Vielleicht würde sich das Gefühl der Erleichterung noch einstellen, dachte Christoph. Noch spürte er es nicht.

Er legte die Zeitung auf den Tisch zurück und ging ins Arbeitszimmer, das er sich mit Anna teilte. Vorsichtig fuhr seine Hand über die Tischplatte. Der Schreibtisch war fast leer. So würde seiner in der Husumer Polizeidienststelle auch bald aussehen.

Er nahm einen der Zettel zur Hand, die er gemeinsam mit Anna über Excel erstellt hatte. Es waren die Notizen für seine Verabschiedung. Seit Wochen hatten sie daran gesessen, geplant, welche Gäste kommen würden. Dazu gehörten nicht nur Kollegen und Vorgesetzte, mit denen er in den letzten Jahren zusammengearbeitet hatte, auch Offizielle aus der Stadt und der Kreisverwaltung würden anwesend sein. Und die Presse. Anna und er hatten sich Gedanken zum Ablauf und zum Catering gemacht.

»Du wirst ein paar Worte sagen müssen«, hatte Anna ihm erklärt.

Davor fürchtete er sich fast ein wenig. Ebenso über die Reden, die andere über ihn halten würden. Am Abend würden sie sich im kleinen Kreis im »Glücklich am Meer« treffen. Dort würden nur die engsten Kollegen erscheinen. Kollegen? Nein! Christoph schüttelte für sich selbst den Kopf. Sie waren in den Jahren Freunde geworden. Gute Freunde.

Er kam sich ein wenig verloren vor, als er durchs leere Haus ging. Auf der Arbeitsfläche in der Küche fand er einen Zettel mit Annas Handschrift.

»Kannst du Brötchen besorgen? Und Friesenkruste? Es wäre schön, wenn du auch noch etwas zum Abendessen kaufen würdest. Mach dir etwas Schönes zum Mittag. Kuss.«

War das künftig sein Leben? Hausmann?

Gut, beschloss er, dann werde ich die Aufträge ausführen. Zuvor muss ich aber noch zur Sparkasse und Geld abheben.

Vor der Tür wurde er von seinem Nachbarn begrüßt.

»Moin«, rief Hinnerk Leversen und hielt mit dem Fegen inne. »Übst du schon für dein Rentnerdasein?«

Christoph erwiderte den Gruß. »Den Unterschied werde ich kaum bemerken«, erwiderte er. »Ich habe so viel auf meinem Zettel, dass ich froh bin, wenn ich nicht mehr täglich zum Dienst muss.«

»Na. Die Gangster werden sich freuen, wenn du ihnen nicht mehr auf den Fersen bist.«

»Dafür gibt es genug motivierte und erstklassig ausgebildete Kollegen. Die werden es gar nicht merken, wenn ich nicht mehr da bin.«

»Wir freuen uns schon auf deine Abschiedsparty«, rief Leversen und schien ein wenig enttäuscht zu sein, dass Christoph das Gespräch kurz hielt und in seinen Volvo einstieg.

Christoph startete den Motor und ließ das Fahrzeug langsam die Straße entlangrollen. Einige Meter weiter fand in den Sommermonaten dienstags der Wochenmarkt statt, ein beliebter Anlaufpunkt für Urlaubsgäste. Er hob kurz die Hand vom Lenkrad, um einen Einheimischen zu grüßen. Es war hier üblich, jeden, dem man begegnete, mit einem »Moin« zu grüßen oder beim Autofahren kurz die Hand zu heben. Nicht nur das war ihm vertraut, sondern auch die Häuser, Gärten bis zum hölzernen Unterstand an der Straße, an dem Brennholz angeboten wurde, oder der fahrbare Verkaufsstand für Erdbeeren gegenüber.

Links tauchte das Haus mit dem besonders gepflegten Vorgarten auf. Im Sommer hatte der Bewohner oft die Landesflagge am Mast hochgezogen. Kurz darauf hatte Christoph sein erstes Ziel erreicht und parkte direkt vor der Geschäftsstelle der Uthlande-Sparkasse. Er hatte Glück, noch einen freien Platz zu bekommen. Die wenigen Parkmöglichkeiten wurden oft von den Patienten der stark frequentierten Arztpraxis und den Kunden des Friseursalons in Beschlag genommen. Sein Blick fiel kurz auf das Gebäude gegenüber, in dem früher die örtliche Polizeistation untergebracht gewesen war. Heute mussten die Ordnungshüter vom zwanzig Kilometer entfernten Festland anrücken.

Christoph ging zum Geldautomaten im kleinen Vorraum, führte seine Bankcard ein, legitimierte sich durch die Eingabe der PIN-Nummer und hielt gewohnheitsmäßig die linke Hand über die Tastatur. Es dauerte einen Moment, dann begann der Automat zu rattern und spuckte den gewünschten Betrag aus. Aus alter Gewohnheit trug er seine Kredit- und anderen Karten im Portemonnaie mit sich herum. Es war unklug, aber bequem. Nachdem er alles verstaut hatte, wandte er sich zum Ausgang und hatte schon die Tür geöffnet, als ihm einfiel, noch einmal nach einem Termin mit dem Anlageberater des Instituts zu fragen.

Er öffnete die zweite Tür, die in den eigentlichen Raum der kleinen Geschäftsstelle führte. Dorle Hansen, die einzige Angestellte, sah kurz auf, unterbrach ihr Gespräch mit einer älteren Dame, die Christoph vom Ansehen kannte, für ein freundliches »Moin« und setzte dann den Dialog mit der Kundin fort. Unfreiwillig hörte Christoph, wie die beiden über »den ollen Iwersen« sprachen. Im hier noch weitverbreiteten Plattdeutsch wunderte sich die ältere Dame, dass Iwersen trotz seiner enormen gesundheitlichen Beeinträchtigungen immer noch »hinter jedem Rock« her war.

»Mensch, Dorle, der kann kaum noch kriechen, der alte Bock. Seh’n tut er auch nix mehr.« Sie fasste sich an die Stirn. »Da oben ist doch auch nicht mehr all’ns in Ordnung. Aber wenn die Kerle ’nen Rock seh’n, ist die Demenz wie weggeblasen. Ich versteh die Fruunslüd auch nicht. Was woll’n die von dem?« Sie rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Die sind nur hinter sein’ Geld hinterher.« Sie beugte sich vor. »Sag mal, stimmt das, dass er so viel auffe hohe Kante hat?«

Dorle Hansen warf Christoph einen raschen Blick zu. »Du weißt doch, Meta, darüber darf ich nichts sagen.«

»Ich will ja nicht ’nen genauen Betrag wissen. Nur, ob er wirklich was anne Hacken hat.«

Die Sparkassenangestellte sah erneut Christoph an. »Tut mir leid, Meta. Aber ich muss mich um den Kunden kümmern. Bis andernmal.«

Die alte Dame raffte ihre Sachen zusammen, warf Christoph einen bösen Blick zu, mit dem sie ihn für die Unterbrechung des für sie so bedeutsamen Informationsaustausches verantwortlich machte, und verließ mit einem leicht gekränkt klingenden »Tschüss denn« die Sparkasse.

»Herr äh…«

»Johannes.« Man kannte sich vom Sehen. Seinen Namen kannte die Angestellte nicht. Christoph wickelte seine Bankgeschäfte übers Internet ab. Er suchte die Filiale im Allgemeinen nicht auf.

»Was kann ich für Sie tun?«

Er trug seine Bitte um ein Gespräch mit dem Anlageberater vor.

»Das macht Herr Paulsen. Er ist am nächsten Donnerstag auf Nordstrand. Nachmittags. Soll ich einen Termin für Sie vormerken?«

Christoph nickte.

»Um drei?« Sie wurde kurz abgelenkt und sah an ihm vorbei. »Entschuldigung, aber da kommt der Geldtransporter.« Plötzlich wirkte sie ein wenig nervös. »Wir erwarten heute eine etwas größere Summe.«

Christoph war erstaunt über die Indiskretion. Er hätte nicht vermutet, dass ein Bankmitarbeiter so etwas ausplauderte. Schließlich war er kein langjährig bekannter Kunde dieser Zweigstelle.

»War’s das?«, fragte Frau Hansen, und er hatte das Gefühl, sie wollte ihn abwimmeln.

»Ich melde mich«, sagte er und wandte sich zur Tür. Dort kam ihm ein Mann in einer beigefarbenen Uniform entgegen. Auf der Brusttasche seiner Jacke prangte das Logo des Unternehmens, darunter war der Schriftzug »Nord Secure« gestickt. Er hielt einen Metallkoffer in der linken Hand, der durch eine Kette mit seinem Handgelenk verbunden war. Rechts baumelte ein Revolver an seiner Seite. Christoph lächelte. Es erinnerte ihn ein wenig an einen Sheriff in irgendeinem düsteren Nest im tiefen Wilden Westen. Westen war hier auch, aber nicht wild.

Er hielt dem Mann die Tür auf und wurde mit einem kritischen Blick gestreift. Dann sah der Geldbote wieder Richtung Bedientresen, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Der Mann lächelte.

»Moin, Frau Hansen«, sagte er und ließ automatisch seine rechte Hand über dem Griff des Revolvers kreisen, als er Christophs Interesse für die Waffe aus den Augenwinkeln registrierte. Die Finger öffneten sich leicht, so als würde er ziehen wollen.

In diesem Moment wurde die äußere Tür aufgerissen. Sie bekam einen heftigen Stoß und flog krachend gegen den Türstopper.

»Flossen hoch«, brüllte eine Stimme, die gedämpft hinter einer Skimaske hervordrang.

Die Hand des Geldboten lag immer noch über dem Griff seines Revolvers. Es war ein Reflex, dass sich die Finger krümmten, ohne die Waffe zu umschließen. Alles geschah während der Dauer eines Wimpernschlags. Der Mann mit der Skimaske musste es auch gesehen und missdeutet haben. Christoph zuckte zusammen, als die Waffe in der Hand des Maskierten aufbellte. Wie von einer Riesenfaust getroffen, taumelte der Geldbote vorwärts und prallte gegen Christoph, der immer noch die Tür aufhielt. In der Vorwärtsbewegung versuchte der Uniformierte instinktiv, seine Waffe zu greifen. Der Täter schoss erneut. Christoph hatte die Arme vorgestreckt, um den Geldboten aufzufangen. Er spürte, wie das Geschoss in den Körper des Mannes eindrang, der Geldbote sich aufbäumte, geschüttelt wurde. Dann pendelte der Kopf in seine Richtung. Christoph sah in die weit aufgerissenen Augen, die ihn ungläubig ansahen. Der Mund war geöffnet. Christoph wurde mit dem Rücken gegen die Tür gedrückt, als der Geldbote gegen ihn fiel.

»Du Schwein«, schrie der Maskierte. »Du Schwein wolltest schießen.«

»Er hat nicht…«, begann Christoph, hielt aber mitten im Satz inne, als der Täter »Schnauze!« schrie und seine Waffe drohend auf ihn richtete.

Christoph hielt den Geldboten im Arm. Der Körper war schwer und schlaff.

»Lass die Sau los«, schrie der Täter. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, gab er erneut einen Schuss in Richtung der Bankangestellten ab.

Vorsichtig ließ Christoph den Geldboten auf den Boden gleiten.

»Zurück«, befahl der Maskierte und deutete an, dass Christoph sich in Richtung des Tresens bewegen sollte.

Christoph tastete sich vorsichtig zwei Schritte rückwärts. Es war sinnlos, mit dem Täter zu reden. Für das Opfer konnte er im Augenblick nichts tun. Mit einem raschen Blick stellte er fest, dass der Geldbote zwei Mal in den Rücken getroffen war, links und rechts der Wirbelsäule, etwa in Höhe von Herz und Lunge. Der Geldbote musste unbedingt in ärztliche Behandlung, schoss es ihm durch den Kopf.

»Flossen hoch. Beide«, befahl der Täter, bückte sich und zerrte am Geldkoffer. »Scheiße«, fluchte er laut. »Verdammte Scheiße. Dieser Hurensohn.«

Er stellte den Fuß auf den Arm des am Boden Liegenden und zerrte mit aller Kraft am Behälter. Christoph sah, wie die Haut am Gelenk aufriss. Aber die Kette hielt.

»Los«, forderte der Gangster Christoph auf und wedelte mit der Waffe. »Der Schlüssel. Den muss dieser Dreckskerl bei sich haben.«

»Der Schlüssel…«, wagte Dorle Hansen mit kaum wahrnehmbarer Stimme zu sagen, »den habe ich.«

»Her damit. Aber fix.« Jetzt wanderte der Lauf der Waffe Richtung Bankangestellte.

Frau Hansen griff irgendwo hinter den Tresen und hielt den Schlüssel hoch.

»Du da. Mach«, forderte der Maskierte Christoph auf. Der nahm den Schlüssel entgegen und öffnete das Schloss. Der Täter schnappte sich den Koffer und machte einen halben Schritt rückwärts. Plötzlich schien er es sich anders überlegt zu haben. »Pack das Geld ein. Alles. Aber ein bisschen zackig«, schrie er die Angestellte an. »Und mach keine Zicken. Sonst…«

Er beugte sich zum Geldboten hinab, hielt die Pistole etwa zwanzig Zentimeter über den Hinterkopf und drückte ab. Christoph gelang es im letzten Moment, ruckartig den Kopf zur Seite zu drehen. Der Knall unterdrückte das Geräusch berstender Knochen. Ihm wurde übel. Auch wenn er dem Tod oft professionell begegnet war, machte es einen Unterschied, ob man ein Mordopfer in Augenschein nahm oder bei einer brutalen Tötung zugegen war. In ihm keimte Wut. Und Verzweiflung. Sie waren dem Maskierten ausgesetzt.

»Machen Sie, was er Ihnen befohlen hat«, riet Christoph Dorle Hansen, ohne dabei den Kopf zu wenden.

»Der erste kluge Satz heute.« Die Worte trieften vor Hohn.

Hinter seinem Rücken hörte Christoph es klimpern und rascheln.

»Das ist alles«, meldete sich die Angestellte mit erstickter Stimme. Alle drei zuckten zusammen, als es vor der Tür knallte. Es war ein kurzer Feuerstoß aus einer, so vermutete Christoph, Maschinenpistole. Der Täter drehte sich nicht um, als ein zweiter Maskierter erschien.

»Mach hinne. Wo bleibst du so lange? Da sitzt noch so ein Typ im Geldtransporter. Die Kiste ist gepanzert. Da kommen wir nicht ran. Der hat bestimmt schon Hilfe angefordert. Da rollt jetzt eine ganze Bullenarmee heran. Außerdem sind Figuren aus den Löchern links und rechts aufgetaucht. Die hab ich mit einer Salve verjagt. Wir müssen los. Komm.«

»Der Sausack wollte die Kröten nicht herausrücken.« Der erste Täter trat dem erschossenen Geldboten wuchtig in die Seite. »Los. Zwei Säcke, in denen Geld transportiert wird«, forderte er Dorle Hansen auf. Die mussten sich die Angestellte und Christoph über den Kopf ziehen. »Nimm den Koffer«, forderte der Täter Christoph auf und schob ihm den Geldbehälter mit dem Fuß zu.

»Was soll das?«, fragte sein Kumpan.

»Wir nehmen die beiden Figuren mit.«

»Aber warum denn? Was wollen wir mit denen?«

»Du Idiot. Du hast selbst gesagt, da rücken alle Bullen Nordfrieslands an. Da kommt keine Maus mehr über den Damm. Die sind unsere Lebensversicherung.«

Er stieß Christoph den Pistolenlauf in die Rippen, dass es wehtat, und dirigierte ihn und die Angestellte vor die Tür. Christoph schrammte sich das Schienbein auf, als er von hinten einen Stoß erhielt und auf die hintere Sitzbank eines Autos mit laufendem Motor gedrückt wurde. Er wollte den Oberkörper aufrichten, erhielt aber einen Schlag gegen die Schläfe.

»Bleib unten.«

Er fühlte den warmen Oberschenkel Dorle Hansens am Kopf, dann fielen die Türen zu, der Motor heulte auf, und der Wagen jagte mit quietschenden Pneus davon. Die Täter fuhren die Landesstraße Richtung Festland. An der nächsten Kreuzung bogen sie links ab. England. Hier wohnte Christoph. Nordstrand war übersichtlich. Er konnte den Weg verfolgen, auch wenn er nichts sah.

»Wohin?«, fragte der zweite Täter mit der etwas hart klingenden Aussprache, während der erste ein unverkennbares norddeutsches Idiom hatte, auch wenn er hochdeutsch sprach.

Christoph holte tief Luft. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Alles war unheimlich schnell abgelaufen. Die Täter mussten auf den Geldtransporter gewartet haben.

Der zweite Täter, der fuhr, wiederholte seine Frage.

»Fahr zu. Wir müssen erst mal ein Stück weg.«

Sie waren viel zu schnell unterwegs für den schmalen Deich, auf dem sie sich fortbewegten.

»Langsamer, du Idiot. Sonst fallen wir sofort auf«, befahl der Deutsche, wie Christoph ihn zur Unterscheidung einsortierte. Der andere mochte ein Türke sein.

Der Fahrer trat zu heftig auf die Bremse. Das Fahrzeug kam ein bisschen ins Schlingern.

»Keine Sorge«, sagte der Türke. »Ich hab alles im Griff.« Nach einem kurzen Moment fragte er: »Was ist mit dem zweiten Typen aus dem Geldtransporter?«

»Der muss nicht mehr arbeiten. Der Scheißkerl wollte den Helden spielen und zur Waffe greifen.«

»Du hast ihn…?«

Christoph hörte eine Spur Unsicherheit in der Stimme.

»Es war wie das Duell am O.K. Corral in Tombstone, als Wyatt Earp und Doc Holliday die Clantons erledigten. Bamm. Bamm.«

»Wer war das?«, wollte der Fahrer wissen.

Aber der Deutsche antwortete nicht. Die Reifen quietschten, der Wagen rutschte über den Asphalt, und Christoph wurde unsanft gegen die Vorderlehne geschleudert.

»Wenn du das noch mal machst, verpasse ich dir eine«, drohte der Deutsche. Er musste die Wucht von Christophs Aufprall auf den Sitz gespürt haben.

Die Türen wurden aufgerissen und Christoph aus dem Wagen gezerrt. Unsanft wurde er umgedreht, bekam einen Stoß und prallte mit dem Rücken gegen ein anderes Fahrzeug.

»Los«, befahl der Deutsche. »Fessel die beiden.«

»Arme vor«, forderte der Türke.

Als Christoph die Arme vorstreckte, brüllte der Deutsche: »Bei dem Kerl sollen die Flossen auf den Rücken.«

Dann schlossen sich Kabelbinder um Christophs Handgelenke.

»Fester«, sagte der Deutsche, und sein Kumpan zog noch einmal nach.

Schmerzhaft schnitten sich die Plastikstränge tief in die Haut. Dorle Hansen stöhnte auf, als ihr das Gleiche widerfuhr. Erneut wurden sie geschubst. Diesmal fielen die beiden Geiseln übereinander auf den Rücksitz eines anderen Wagens.

»Wer den Kopf hebt, bekommt ein Loch in den Schädel«, drohte der Deutsche. »Denkt an den Blöden vom Geldtransporter.«

Zwei

Ein tiefes Brummen erfüllte den Raum, schwoll an und steigerte sich zu einem noch durchdringenderen Geräusch.

Oberkommissar Große Jäger musste nicht aufsehen. Die Diesellokomotive auf dem gegenüberliegenden Bahnhof setzte sich in Bewegung und rollte samt den sechs Wagen langsam Richtung Westerland. Es musste um halb sein. Zu dieser Stunde trafen sich auf dem Husumer Bahnhof die Züge der Nord-Ostsee-Bahn Richtung Sylt oder in der Gegenrichtung mit dem Ziel Hamburg; gleichzeitig setzten sich die Triebwagen nach Kiel und St.Peter-Ording in Bewegung. Nur wenn Intercityzüge Husum anliefen, wurde dieser Rhythmus unterbrochen. Sonst, so schien es, lief alles nach einem festgefügten Plan in der bunten Stadt am Meer, die mit dem heutigen Erscheinungsbild ihrem großen Sohn Theodor Storm und seinen melancholischen Versen von der »grauen Stadt am Meer« energisch widersprach.

Husum war weltoffen, galt als begehrtes Reiseziel für Tagestouristen, erfüllte Einkaufswilligen fast jeden Wunsch und war zu einem namhaften Messestandort herangewachsen. Trotzdem hatte es die Stadt vermocht, sich ihren reizvollen und provinziell anmutenden Charme zu bewahren.

Ob Mats Skov Cornilsen das auch so sah? Der junge Kommissar saß ihm am Zweierschreibtischblock gegenüber, starrte auf den Bildschirm und hämmerte mit zwei Fingern einen Text in das System. Große Jäger nahm eine Büroklammer und warf sie seinem Kollegen gegen die Brust.

»Husum. Ist doch eine andere Welt als Niebüll, oder?«

Cornilsen sah auf. »Wie kommst du jetzt darauf?«

»Zwischen den Einbruchdiebstählen, Rauschgiftsachen und Betrugsanzeigen sind doch auch mal philosophische Gedanken erlaubt.«

Der große, schlaksige Kommissar mit dem blonden Haarschopf, der einen leichten Rotschimmer aufwies, schüttelte den Kopf, dass der ein-Euro-Stück-große goldene Ring am Ohr in Bewegung geriet.

»Niebüll hat einen ganz anderen Charakter. Ich mag beide. Husum und meine Heimat Niebüll. Oma würde nie weiter nach Süden ziehen als Niebüll.«

»Gehört Oma auch zur dänischen Minderheit?«

Cornilsen lachte noch einmal. »Was heißt hier Minderheit? Vi er røde, vi er hvide, vi er Danish dynamite.«

Große Jäger winkte ab. »Europameisterschaft 1992. Da warst du noch gar nicht geboren.«

»Doch. Natürlich. Oma erzählt davon noch heute.«

»Kennst du auch die Übersetzung? Wir sind rot– wir sind weiß. Wir sind die Dänen– so’n Scheiß.«

Cornilsen griff zur Cola-Flasche und ließ gluckernd einen großen Schluck die Kehle hinablaufen.

»Das Zeug ist ungesund.« Große Jäger tippte gegen den fleckigen Kaffeebecher vor sich. »Ein anständiger Polizist trinkt Kaffee. Das musst du noch genauso lernen wie das Kochen dieses lebenserhaltenden Getränks.«

»Karriere macht man mit Kaffee aber nicht, zumindest nicht in Husum. Der Chef trinkt Tee und Christoph auch.«

»Das war jetzt falsches Deutsch. Christoph ist der Chef. Jedenfalls, solange er noch im Dienst ist. Merk dir das, Hosenmatz.« Der Oberkommissar streckte den Finger aus. »Was schenkt man ihm zum Abschied? Hast du endlich eine Idee?«

»Wieso ich?«

»Du bist Beamter– auf Probe. Da solltest du wissen, dass man Aufträge der Vorgesetzten bedingungslos befolgt. Und du hast die Aufgabe, kreativ zu sein.«

»Na denn dann. Welche Hobbys hat er?«

Große Jäger legte die Stirn in Falten. »Blöde Frage. Seinen Beruf. Aber wir können ihm zur Pensionierung doch nicht ein Dutzend Ganoven schenken.«

»Wie wäre es mit einem Stapel ungeklärter Fälle?«, schlug Cornilsen vor.

»Haben wir nicht. Nicht in Husum. Früher hat er Golf gespielt.«

»Komisch. Man behauptet doch, die Leute beginnen mit diesem Sport erst, wenn sie keinen Sex mehr haben. Hat er wieder damit angefang…«

»Blöder Kommentar. Ich mag es nicht, wenn man so über Christoph spricht. Klar?«

Cornilsen schluckte. »Sollte nur flapsig klingen«, sagte er entschuldigend.

Sie wurden abgelenkt durch Unruhe, die plötzlich im Haus entstand und bis in ihr Büro drang.

»Was ist da los?«, fragte Große Jäger, als die ersten Martinshörner ertönten. »Gleich mehrere.« Er wollte zum Telefonhörer greifen, als die Tür aufgerissen wurde und Kriminalrat Mommsen ihnen zurief: »Banküberfall mit Geiselnahme auf Nordstrand.«

»Typisch«, brummte der Oberkommissar und sprang auf. Cornilsen folgte ihm. Es war erstaunlich, wie behände sich Große Jäger bewegen konnte. Der Schmerbauch, der die Gürtelschnalle verdeckte, schien ihn ebenso wenig zu behindern wie die flatternde speckige Lederweste mit dem Einschussloch, das er einem früheren Einsatz verdankte. Typisch für ihn waren auch das Holzfällerhemd und die Jeans, von der man den Eindruck gewinnen konnte, dass sie noch keine Duzfreundschaft mit der Waschmaschine eingegangen war.

Mommsen hatte sich einen Vorsprung erlaufen und betätigte schon die Fernbedienung, bevor er das Fahrzeug erreichte. Schnaufend ließ sich Große Jäger auf den Beifahrersitz fallen, während Cornilsen versuchte, seine fast zwei Meter Körpergröße auf der Rückbank unterzubringen. Große Jäger fluchte, als Mommsen die Kurve vom Parkplatz auf die Poggenburgstraße nahm, während er selbst versuchte, das mobile Blaulicht auf dem Dach zu platzieren.

»Anschnallen«, befahl der Kriminalrat.

»Ich bin ein Mann und deshalb kein Multitalent«, erwiderte der Oberkommissar. »Da funktioniert alles nur sequenziell.«

Sie umrundeten den Binnenhafen, überquerten die Klappbrücke, die diesen vom Außenhafen trennte, und wenig später schlängelte sich Mommsen zwischen den Fahrzeugen, die nur widerwillig an die Seite fuhren, auf der neuen Umgehungsstraße hindurch. An der Einbiegung zur Straße nach Nordstrand mussten sie energischen Gebrauch vom Signalhorn machen, um sich freie Fahrt zu verschaffen. Das galt auch für die Ortsdurchfahrt durch den Husumer Vorort Schobüll, den vorwitzige Zungen das Blankenese von Husum nannten.

»Marlene ist auch schon da«, erklärte Große Jäger, als sie an ihrem Stammlokal vorbeikamen, vor dem mit einem Stellschild für »Warme und kalte Küche« geworben wurde. Ob die Pappfigur der Frau mit den wenig vorteilhaften Proportionen, die von der Mauer zu einem Hechtsprung ins imaginäre Nass ansetzte, dem Namen des Restaurants »Glücklich am Meer« gerecht wurde?, überlegte er.

»Sieh dir diesen Trottel an«, fluchte er im nächsten Moment. »Das hast du immer wieder auf dieser Strecke. Diese Typen tragen ihren Wagen durch den Ort. Die sollten ein Strafmandat wegen zu schnellen Parkens bekommen.«

Mommsen umrundete den Streifenwagen, der am Anfang des Damms eine Straßensperre errichtet hatte. Die uniformierten Kollegen würden niemanden ungeprüft den Kontrollpunkt passieren lassen.

»Hoffentlich geht das gut«, sagte Große Jäger. »Wenn die Täter bewaffnet sind, ist das ein gefährlicher Job, den die beiden haben.«

Erst auf dem kilometerlangen Damm, der Nordstrand mit dem Festland verband, konnte Mommsen auf über einhundertfünfzig Stundenkilometer beschleunigen.

Große Jäger hatte inzwischen den Polizeifunk eingestellt, sodass die drei die einlaufenden Meldungen verfolgen konnten. Noch war die Lage diffus. Die zentrale Leitstelle in Harrislee wusste auch nur zu vermelden, dass es einen bewaffneten Überfall gegeben hatte. Hinzukommende Zeugen hatten berichtet, dass es Opfer gab.

»Verletzt?«, fragte Mommsen.

»Das weiß man noch nicht«, erwiderte Große Jäger.

Er vermied es, sich in den hektischen Funkverkehr einzuschalten. Die Leitstelle bemühte sich, weitere Streifenwagen auch aus entfernten Gebieten abzuziehen und hierher zu beordern.

Sie hatten keinen Blick für das Gelb des Löwenzahns, das wunderbar mit dem satten Grün der stillen Marschinsel und dem Blau des Himmels harmonierte. Große Jäger sah auch nicht auf die sieben steinernen Flaggen, die am Ende des Damms die Besucher grüßten und deren jede für einen der Köge Nordstrands stand.

Dafür fluchte der Oberkommissar mörderisch, als Mommsen die Stöpe zu hart nahm und Große Jäger mit dem Kopf gegen das Wagendach stieß.

Die Stöpe war ein verschließbarer Durchlass für eine Straße oder einen anderen Verkehrsweg durch– meistens– einen Binnendeich, also die zweite Deichlinie. Zwei Reihen Holzbohlen und Sandsäcke sollten verhindern, dass sich bei Gefahr das Wasser einen Weg durch den Durchlass bahnte.

Die Fahrt führte sie durch die Teilorte, die sich aneinanderreihten und deren Namen alle auf »-koog« endeten. Wenig später hatten sie ihr Ziel erreicht. Zwei Streifenwagen waren vor ihnen eingetroffen.

Mommsen steuerte den Wagen auf den Parkplatz vor den Gebäuden mit den Giebelseiten, die zur Straße zeigten. Ein weißes Schild mit der Aufschrift »Arzt« und einem roten Kreuz wies den Weg zum rechten, etwas vorspringenden Gebäudeteil. Im mittleren Teil des Komplexes war die Zweigstelle der Uthlande-Sparkasse untergebracht. Direkt davor stand ein gepanzerter Geldtransporter der »Nord Secure«. Das Kennzeichen verriet, dass das Unternehmen in Lübeck ansässig war.

Ein uniformierter Beamter kam ihnen entgegen. Der Polizeihauptmeister nickte kurz zur Begrüßung.

»Es gibt nur vage Informationen«, erklärte er, an Mommsen gewandt. »Sicher ist, dass die Sparkasse«, dabei zeigte er mit dem Daumen über die Schulter, »überfallen wurde, als der Geldtransporter auftauchte. Zeugen wollen zwei Täter beobachtet haben. Die Aussagen sind aber widersprüchlich. Allen sitzt der Schreck noch in den Knochen.« Jetzt wies sein Daumen zur benachbarten Arztpraxis. »Wir haben Glück, dass heute Donnerstag ist. Da ist die Praxis geschlossen. Sonst wäre hier viel mehr los gewesen.«

»Opfer?«, fiel ihm Große Jäger ins Wort.

Der Polizeihauptmeister nickte. »Ja. Einer der Geldboten wurde erschossen. Er liegt dort drüben im Eingangsbereich.«

»Was ist mit dem zweiten?«, wollte Große Jäger wissen.

»Ein Stück die Straße runter ist die zweite Arztpraxis von Nordstrand. Der Doktor ist sofort alarmiert worden, hat festgestellt, dass er ihm da«, erneut zeigte der Finger zur Sparkasse, »nicht mehr helfen kann, und hat sich um den Kollegen gekümmert. Der saß im Auto und ist unverletzt, hat aber einen schweren Schock und ist nicht ansprechbar. Wir haben lediglich seinen Namen in Erfahrung bringen können. Er heißt Marius Bauerfeindt.«

»Was ist mit dem Personal der Sparkasse? Waren Kunden anwesend?«

Der Polizist zuckte die Schultern. »Eine ältere Frau hat sich gemeldet. Ihr Name ist Meta…« Er warf einen kurzen Blick in ein Notizbuch, »Dethlefsen. Sie wohnt am Osterdeich. Das ist in die Richtung. Die nächste Querstraße.«

»Was hat die gesagt?«

»Nicht viel. Sie war in der Sparkasse und hat mit der Angestellten gesprochen.«

»Nur mit einer?«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es nur die eine Mitarbeiterin, Dorle Hansen mit Namen. Dann ist ein älterer Mann aufgetaucht. Daraufhin ist sie gegangen.«

»Wie sah der aus?«

»Keine Ahnung. Das haben wir nicht in Erfahrung bringen können.«

Große Jäger nickte Cornilsen zu. »Kümmere dich darum.«

»Das tu ich machen«, sagte der Kommissar und fragte, wo die Zeugin sei.

»Die muss da drüben sein«, erwiderte der Uniformierte gereizt. »Mensch, wir sind auch gerade erst hier. Was sollen wir schon alles festgestellt haben?«

»Ruhig, Robert«, sagte Große Jäger beschwichtigend. »Keiner macht euch einen Vorwurf.« Der Oberkommissar sah sich um. »Wo sind die Angestellte und der Kunde?«

Mommsen räusperte sich. »Die Leitstelle hat durchgegeben, dass die beiden in der Hand der Täter sind. Diese Auskunft kam vom zweiten Geldboten…«

»Bauerfeindt«, warf Große Jäger ein. »Das habe ich auch gehört. Aber die Frage ist doch einen Versuch wert. Sehen wir uns das Opfer und den Tatort an.«

»Ich organisiere den Einsatz«, erklärte Mommsen und kehrte zum Einsatzfahrzeug zurück.

Der Oberkommissar folgte dem Streifenbeamten, der am Türeingang stehen blieb, verharrte ebenfalls an Ort und Stelle und klopfte dem Polizisten auf die Schulter.

»Gute alte Schule, Robert. Manch junger Kollege wäre ungestüm hineingerannt.« Er legte die Hände trichterförmig an den Mund. »Hallo?«, rief er. »Ist dort jemand? Hier ist die Polizei.«

Der Uniformierte grinste. »Glaubst du, die Täter haben sich versteckt und kommen jetzt heraus?«

»Nicht die Täter, aber eventuell ein anderer, der sich aus Angst verborgen hält.«

Niemand reagierte auf das Rufen.

Sie hörten das Näherkommen von Signalhörnern. Kurz darauf traf der erste Rettungswagen aus Husum ein. Große Jäger sah, wie Mommsen kurz mit der Besatzung sprach und in Richtung der zweiten Arztpraxis zeigte. Das wiederholte sich, als der Notarzt eintraf, der in der Kreisstadt am Krankenhaus stationiert war.

Während Große Jäger versuchte, aus der Distanz etwas zu erkennen, kehrte Cornilsen zurück.

»Meine Oma ist aber fitter in der Birne«, begann er mit seiner Erklärung. »Die Zeugin wollte mir zunächst Inseltratsch erzählen. Das, so sagte sie, habe sie mit Dorle besprochen. Das ist die…«

»Weiter«, unterbrach ihn Große Jäger ungeduldig. »Wer ist der Mann, der dabei war?«

»Den hat sie schon mal gesehen. Keine Ahnung, wie der heißt oder wo der wohnt. Muss aber irgendwo hier auf Nordstrand sein.«

»Also möglicherweise kein Tatbeteiligter, sondern ein Opfer.«

Cornilsen warf einen Blick auf den Toten. »Mann, den haben sie regelrecht massakriert«, sagte er ein wenig atemlos. »Sieht so aus, als wäre er nicht nur mit einem Schuss niedergestreckt worden. Ob das ein Feuergefecht war?« Dann fiel sein Blick auf den Kopf. »Der ist ja…« Der junge Kommissar stockte.

»Sprich es aus. Hosenmatz. Der arme Kerl ist regelrecht hingerichtet worden. Ich will der Spurensicherung und der Rechtsmedizin nicht vorgreifen, aber der Schuss wurde aus nächster Nähe abgegeben.«

»Warum das denn?«

»Gute Frage. Es ist der erste Anschein, was ich jetzt sage. Noch keine Bestätigung.«

»Logisch«, pflichtete Cornilsen bei.

»Die Täter haben offensichtlich gewartet, bis der Geldtransporter eingetroffen ist. Sie hatten es auf den abgesehen.«

»Dann haben sie die Sparkasse längere Zeit überwacht und ausgespäht, oder…«

»Richtig. Jemand hat ihnen einen Tipp gegeben.«

Cornilsen zeigte auf den toten Geldboten. »Du meinst, es könnte der da gewesen sein? Man hat ihn kaltblütig ermordet, um einen Mitwisser auszuschalten?«

»Ich meine gar nichts«, sagte Große Jäger. »Manchmal denke ich nur laut. Die Gangster sind nicht nur mit der Beute geflüchtet…«

»Wieso Beute? Woher willst du das wissen?«, unterbrach ihn Cornilsen.

Große Jäger zeigte auf die Kette am Arm des Geldboten.

»Potz Blitz.« Der junge Kommissar knuffte Große Jäger freundschaftlich in die Seite. »Du hast ein gutes Auge.«

»Sie haben nicht nur die Beute, sondern vermutlich auch noch zwei Geiseln. Die Bankangestellte und den älteren Unbekannten.«

Sie wurden durch den zweiten Rettungswagen abgelenkt, der eingetroffen war. Die beiden Rettungsassistenten stiegen aus und sahen sich suchend um. Robert, der Polizeihauptmeister, ging auf sie zu und sprach mit ihnen.

»Versuch, weitere Zeugen zu finden«, wies Große Jäger seinen Kollegen an.

»Na denn dann.« Cornilsen wollte sich entfernen, als ihn der Oberkommissar am Jackensaum festhielt.

»Wart mal.« Große Jäger sah am Einsatzfahrzeug, mit dem sie gekommen waren, vorbei auf die Reihe der geparkten Autos. »Das ist doch…«, murmelte er und ging zu den Autos. »Das ist doch…«, wiederholte er und starrte auf den Volvo.

»Der Chef«, sagte Cornilsen atemlos und zeigte auf das Nummernschild »NF-CJ«.

»Das ist Christophs Wagen.« Große Jäger sah sich um. »Wo ist er? Der muss doch hier sein, wenn sein Auto hier parkt. Da sind nur die geschlossene Arztpraxis und der Friseursalon. Sonst ist hier nichts, wo er sein könnte.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Der stellt doch nicht seinen Volvo hier ab. Einfach nur so.«

»Da ist noch die Sparkasse…«, warf Cornilsen ein.

»Das weiß ich auch«, blaffte ihn Große Jäger an, zog sein Handy hervor und wählte Christophs Mobilnummer. Unruhig ging er auf und ab. »Los, mach schon. Geh ran. Nimm ab«, sagte er unablässig.

Er merkte nicht, wie er von den Umstehenden beobachtet wurde. Sein »Scheiße« wurde mit Erstaunen aufgenommen, als die Mobilbox ansprang. Große Jäger wählte die Festnetznummer an. Auch hier ließ er es so lange klingeln, bis der Anrufbeantworter um eine Nachricht bat.

»Was ist in dich gefahren?«, wollte Mommsen wissen, der Große Jägers Aktionismus fragend beobachtet hatte.

Der Oberkommissar zeigte auf den Volvo.

»Verdammt«, sagte der Kriminalrat.

»Hosenmatz. Du springst ins Auto und fährst ein Stück zurück. Nächste Kreuzung links abbiegen. Das heißt dort England.« Dann beschrieb Große Jäger das Haus. »Nummer weiß ich nicht. Sieh nach, ob der Chef da ist. Aber fix. Klar?« Den Oberkommissar störte es nicht, dass Mommsen beim »Chef« eine Augenbraue hochzog.

»Alles klar«, bestätigte Cornilsen, »ich tu das machen«, und fuhr davon.

Große Jäger wählte die Praxis Dr.Hinrichsens in Husum an. »Ich versuche, Anna zu erreichen«, erklärte er Mommsen. Dann folgte ein Fluchen. »Da ist besetzt.« Sein Versuch, Annas Mobiltelefon zu kontaktieren, landete sofort auf der Mobilbox. »Das hat sie abgestellt.«

Drei

Christoph versuchte sich zu orientieren. Es war schwieriger, als er gedacht hatte. Es gab keine Kurven, keine Abbiegungen, keinen Halt an Ampeln oder Kreuzungen. Er versuchte, die Sekunden zu zählen. Wie schnell mochte der Wagen fahren? Wenn es sechzig Stundenkilometer waren, legte der Wagen in der Sekunde– er überschlug es– ein Sechzigstel eines Kilometers zurück.

Er verlor die Übersicht, da er sich nicht voll auf die Rechnung konzentrieren konnte. Bei dreihundertvierundzwanzig verlangsamte das Fahrzeug die Geschwindigkeit. Dann bremste es ab. Christoph hörte deutlich die Signalhörner eines Einsatzfahrzeuges, das von links kam und sich nach rechts entfernte. Jetzt wusste er wieder, wo sie waren. Es musste die Kreuzung England und Osterkoogstraße sein. Der Klang des Martinshorns verriet ihm, dass ein Streifenwagen vorbeigefahren war.

»Sieh an, die bescheuerten Bullen«, sagte der Deutsche. »Das hier ist tiefste Provinz. Da läuft so ein richtig dickes Ding ab, und die schicken eine Bullenkutsche. Die hätten wir auch abgeknipst, wenn sie uns in die Quere gekommen wären.«

»Die müssen erst von Husum rüberkommen. Der Damm ist verdammt lang«, erklärte sein Kumpan. »Wohin jetzt?«

»Da längs«, hörte Christoph. »Ich hätte Bock, da mal vorbeizufahren und mir die blöden Gesichter anzusehen.«

»Spinnst du?«, fragte der Türke.

»Fahr jetzt. Oder brauchst du eine Einladung?«

Das Fahrzeug setzte sich wieder in Bewegung. Sie fuhren geradeaus Richtung Herrendeich. An den kurzen Ausweichmanövern erkannte Christoph, dass sie die Schikanen zur Verkehrsberuhigung passierten.

»Halt«, befahl der Deutsche. »Bieg mal da ab.«

»Kannst du das nicht früher sagen?«

»Schnauze. Mach schon. Dann halt an.«

Der Wagen rollte noch ein wenig weiter, dann wurde er abgebremst und hielt an.

Der Deutsche ließ ein meckerndes Lachen hören. »Wie findest du das?«

»Was meinst du?«

»Da drüben.«

»Die Volksbank? Was ist damit?«

Wieder lachte der Deutsche. »Wär doch geil, wenn wir da jetzt reingehen würden. Die Bullen stieren sich die Augen aus dem Kopf, während wir hier noch einmal abräumen. Das wäre doch ein Superding.«

»Du bist verrückt.«

»Nee, Atatürk. Genial.«

»Die sind doch schon auf Nordstrand. Die jagen uns wie die Hasen. Was ist mit denen dahinten?«

»Die knipsen wir aus.«

Christoph hörte, wie einer der beiden heftige Schluckbewegungen ausführte.

»Ohne mich«, sagte der Türke schließlich und ließ offen, ob er damit den zweiten Überfall oder die Ermordung der Geiseln meinte.

Dann herrschte für eine längere Zeit Schweigen. Nur die Atemzüge der beiden Täter waren zu vernehmen, unterbrochen von einem tiefen Rülpsen, das von der Beifahrerseite kam.

Dorle Hansen lag auf Christoph. Er spürte das Zittern der Sparkassenmitarbeiterin. Die Frau versuchte, keinen Laut von sich zu geben. Sie atmete flach, als fürchtete sie, selbst damit die Aufmerksamkeit der Täter zu erregen.

Christoph merkte, wie sich in seiner Hosentasche das Handy mit Vibrationsalarm meldete. Zwei Herzschläge später ertönte Entengeschnatter.

»Was ist da…?«, zeigte sich der Deutsche überrascht. Dann lachte er lauthals auf. »Heiß. Ein super Klingelton. Wer war das?«

»Ich«, meldete sich Christoph.

Seine stille Hoffnung, über das Handy Hilfe anzufordern, war zerstoben. Selbst wenn er sich nicht hätte melden können, wäre das Handy hilfreich gewesen. Man hätte seinen Volvo gefunden und dann versucht, sein Handy zu orten. Jetzt hatte ihn der Klingelton verraten.

Er wollte nicht, dass man bei Dorle Hansen nach dem Apparat suchte.

Der Vordersitz knarrte, dann merkte er, wie eine Hand in die Tasche seiner Hose fuhr, den Hosenstoff einfach aufriss und das Mobiltelefon hervorholte.

»Große Jäger«, las der Deutsche vor. »Was heißt das?«

»Ich bin Hobbyjäger«, log Christoph. »Das ist der Vorsitzende unserer Jagdgenossenschaft. Intern nennen wir ihn Großer Jäger.«

»Du hast vergessen, den Geiseln die Handys abzunehmen«, warf der Türke seinem Kumpanen vor. »Was ist, wenn sie uns darüber geortet haben?«

»Quackikram. So fix sind die nicht im Denken.«

»Mach das Ding rott«, schlug der Türke vor. »Sonst machen die das mit der Ortung.«

»Musst mir nicht sagen«, antwortete der Deutsche, besann sich aber eines anderen. »Ich nehm die Karte raus. Vielleicht brauchen wir das Ding noch.«

Christoph hörte ein leises Fluchen.

Dann meldete sich der Fahrer. »Gib mal her. Ich weiß, wie das funktioniert.«

Während der Türke Christophs Handy außer Betrieb setzte, fragte der andere: »Hast du auch so ein Ding, Schlampe? Heute läuft keiner ohne Handy herum.«

»Ja«, antwortete Dorle Hansen kaum wahrnehmbar. »Meins bewahre ich in der Handtasche auf.«

»Wo ist die?«

»Auf dem Schreibtisch am Arbeitsplatz.«

»Du lügst«, behauptete der Mann, und Christoph bekam mit, wie er begann, Dorle Hansen abzutasten. Dabei wurde sein Atem etwas schneller, während die Sparkassenangestellte die Luft anhielt und sich versteifte. Sie lag immer noch halb auf Christoph, der jetzt ihre Reaktion hautnah erlebte.

»Das könnte eine Lieblingsbeschäftigung von mir werden. Weißt du, Atatürk«, quetschte der Deutsche zwischen den Zähnen hervor, »wenn die nicht so mies zahlen würden, hätte ich Bock darauf, als Weiberfilzer bei der Sicherheit am Flughafen zu arbeiten.«

Der Mann grapschte weiter an Dorle Hansen herum. Dabei berührte er Christophs Oberschenkel und hielt urplötzlich inne.

»Iiih. Wir haben uns hier eine schwule Sau eingehandelt«, brüllte er. »So ein Schweinkram.« Ruckartig nahm er die Hände weg. »Nicht mit mir«, fluchte der Mann.

Vier

Große Jäger hatte sich mit dem Notarzt angelegt. Der Mediziner wollte es nicht zulassen, dass man dem zweiten Geldboten Fragen stellte.

»Kommt nicht in Frage«, lehnte der Arzt jeden Kontaktversuch ab. »Der Patient hat einen schweren Schock erlitten. Ich habe ihn sediert. Er kann Ihnen ohnehin nicht mehr antworten.«

Missgelaunt kehrte der Oberkommissar zum Tatort zurück. Inzwischen war ein weiteres Fahrzeug der Husumer Kripo mit drei Beamten eingetroffen.

»Tante Hilke? Was machst du hier?«

Die rotblonde Kommissarin lächelte.

»Meinen Job«, erklärte sie kurz angebunden. »Harm Mommsen hat schon berichtet, dass ihr vermutet, Christoph könnte hier involviert sein.«

Große Jäger nickte ernst. »Möglicherweise. Mats ist unterwegs und versucht herauszufinden, ob Christoph eventuell zu Hause oder unterwegs ist.« Er zog erneut sein Handy hervor und betätigte die Wahlwiederholung. Enttäuscht beendete er das Gespräch. »Das ist keine Arztpraxis bei Dr.Hinrichsen, sondern eine Quatschbude. Ständig ist besetzt.« Er hielt das Telefon in die Höhe. »Ich versuche, Christophs Frau zu erreichen.«

Hilke Hauck sah sich um. »Ich sehe mich einmal nach Augenzeugen um«, erklärte sie.

Große Jäger berührte sie leicht am Oberarm. »Prima.« Er sah auf, als von Weitem das Signal eines Einsatzwagens ertönte. Wenig später tauchte der Mercedes Vito der Flensburger Spurensicherung auf.

»Moin, Klaus«, begrüßte er den fast kahl geschorenen Leiter desK6 der Bezirkskriminalinspektion.

Hauptkommissar Jürgensen sah sich um. »Das ist doch die Westküste, oder? Dann passt es ja: Wildwest in Nordfriesland.«

»Nun meckere nicht herum. Extra für dich war heute Morgen die Putzfrau da und hat den Tatort gewischt. Nebenan wohnt ein Doktor. Sollen wir den bitten, alles zu desinfizieren, bevor du anfängst?« Große Jäger sah an Jürgensen vorbei. »Bist du allein?«

»Allein?«, echote der Flensburger. »Bist du blind? Da sind die beiden Kollegen.«

»Das meine ich nicht. Wo ist dein Röcheln? Dein Husten? Dein Niesen?«

»Friesischer Kasperkopf«, erwiderte Jürgensen und sah sich um. »Sag mal– die haben dich doch nicht allein von der Leine gelassen. Wo steckt Christoph?«

Große Jäger hüstelte.

Das veranlasste Jürgensen zu einem breiten Grinsen. »Imitierst du mich? Oder willst du es auch einmal probieren?«

Der Oberkommissar legte dem Flensburger die Hand auf die Schulter. »Wir haben noch keine Bestätigung dafür, aber es könnte sein, dass Christoph von den Tätern als Geisel genommen wurde.«

»Wie bitte?« Jürgensen sah Große Jäger aus weit geöffneten Augen erstaunt an. »Einen Polizisten?«

»Sie wissen vermutlich nicht, dass er zu uns gehört. Er war als Kunde hier und ist vom Überfall überrascht worden.«

»Das kann nicht wahr sein.« Der Flensburger wirkte betroffen. Dann drehte er sich abrupt um und begann, seine Leute einzuweisen.

Kriminalrat Mommsen war zu den beiden herangetreten und hatte zugehört. Als Jürgensen sich abgewandt hatte, sagte er: »Weitere Einsatzkräfte sind unterwegs. Aus Eutin ist eine Einsatzhundertschaft in Marsch gesetzt worden.«

»Nach allem, was wir bisher feststellen konnten, handelt es sich um zwei Täter«, erklärte Große Jäger. »Die können eigentlich noch nicht von der Insel herunter sein. Sie müssen sich noch auf Nordstrand verborgen halten.«

»Davon könnte man ausgehen«, stimmte Mommsen zu. »Am Ende des Damms, an der Wobbenbüller Abzweigung, haben die Kollegen eine Straßensperre errichtet. Dort kommen keine Fahrzeuge, aber auch keine Fußgänger oder Radfahrer unkontrolliert durch. Auch der Hafen in Strucklahnungshörn ist abgesichert. Von dort geht die Fähre nach Pellworm. Die zweite tägliche Linienverbindung nach Sylt ist noch nicht durch. Sie wird von den Beamten am Hafen überwacht. Die haben auch ein Auge auf einen möglichen Fluchtversuch mit einem Boot. Ein Streifenwagen ist von den Bredstedter Kollegen unterwegs nach Lüttmoorsiel und bewacht dort einen möglichen Fluchtweg am Deich entlang. Damit sind alle Fluchtmöglichkeiten unter Kontrolle.«

»Was ist mit den Segelschiffen in Süderhafen? Außerdem gibt es noch einen Hafen für den Küstenschutz am Holmer Siel. Dort werden Materialien gelagert und umgeschlagen.«

»Darum kümmert sich die Wasserschutzpolizei«, erklärte Mommsen. »Nordstrand ist hermetisch abgeriegelt. Derzeit kommt keiner unkontrolliert herunter.«

»Wir müssen die Insel durchkämmen. Haus für Haus. Irgendwo müssen die Täter sich mit ihren Geiseln versteckt haben. Das kann doch nicht so schwierig sein.« Große Jäger schlug mit der rechten Faust in die linke Handfläche. »Verdammt noch mal.«

Sie wurden abgelenkt durch den Rettungswagen, der Richtung Husum unterwegs war. Er hielt kurz an, und der Notarzt erschien in der sich öffnenden Seitentür, sah sich suchend um und winkte Große Jäger heran.

»Ich habe ganz kurz mit dem Patienten sprechen können«, sagte er. »Nur bruchstückhaft. Er selbst heißt Marius Bauerfeindt, sein Kollege, mit dem er unterwegs war, Ömer Akalin. Es waren zwei Täter. Die haben zwei Leute mitgenommen. Mehr Informationen waren nicht herauszuholen.«

»Danke, Doktor«, sagte Große Jäger und sah dem Rettungswagen nach, der in Richtung Festland davonfuhr. Tonlos formte der Oberkommissar den Namen des zweiten Geldboten. Der Tote hatte einen Namen. Ömer Akalin.

Große Jäger ging zu Mommsen zurück und berichtete die Neuigkeiten. In diesem Moment kehrte Cornilsen zurück. An seinem Gesichtsausdruck war ablesbar, dass er keine guten Nachrichten mitbrachte.

»Ich habe mit einem Nachbarn gesprochen, der in seinem Garten beschäftigt war. Hinnerk Leversen heißt der Mann. Er erzählte, dass er mit dem Chef…« Cornilsen hielt erschrocken inne und sah Mommsen an.

Der Kriminalrat nickte ihm aufmunternd zu.

»Also. Der Nachbar erzählte, dass Christoph heute Morgen aus dem Haus kam, nachdem dessen Frau zur Arbeit gefahren war. Sie haben ein paar Worte gewechselt, dann ist Christoph mit dem Auto weggefahren.«

»Das untermauert unseren Verdacht«, sagte Große Jäger. »Verdammt und zugenäht.«

Mommsen zupfte den Oberkommissar am Ärmel und zog ihn ein Stück außer Hörweite der anderen.

»Ich weiß, wie gut ihr befreundet seid«, sagte der Kriminalrat leise. »Es wäre besser, wenn wir dich hier abziehen.«