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Rahel Jaeggi macht deutlich, dass Kritik immer weniger mit dem Überblick des Kommandohügels operieren kann. Kritik muss immer stärker mit den konkreten empirischen Ressourcen rechnen, die zur Verfügung stehen, sie muss Praktikabilität nachweisen, um nicht ins Leere zu laufen.
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Seitenzahl: 28
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Rahel Jaeggi
Das Ende der Besserwisser
Eine Verteidigung der Kritik in elf Schritten
Die Kritik ist in der Krise. Das liegt nicht etwa nur daran, dass die Möglichkeiten von Kritik angesichts gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich als alternativlos darstellen und in denen die Entscheidungsspielräume schwinden, beschränkt sind, oder daran, dass sich das Kritisierte als außerordentlich beständig erwiesen hätte. Vielmehr gerät die Kritik als solche ins Visier einer Kritik der Kritik1. Diesen Kritikern zufolge haben sich die kritisierten Verhältnisse gerade nicht als beständig, sondern als geradezu verblüffend wenig kritikresistent erwiesen. Sie haben sich, so eine mehrfach variierte Diagnose, die Kritik zu eigen gemacht, sie absorbiert und sich entsprechend dieser gewandelt2. Kritik ist dann nicht mehr kritisch, sondern affirmativ. Kritik ist zum Teil des Bestehenden, Kitt des Bestehenden, Schmiermittel seiner (neoliberalen) Transformation geworden. Und noch schlimmer: Gerade als solche sei die kritische Haltung hegemonial geworden. Keine Anpassung mehr ohne Kritik. Angesichts des ebenso besserwisserischen wie affirmativ-legitimierenden Charakters von Kritik sollten wir also vom klassischen Anspruch der Kritik – ein Anspruch, der sich etwas unoriginell als der einer begründeten Infragestellung und Distanzierung von bestehenden Praktiken und Institutionen mit dem Ziel ihrer Abschaffung, Veränderung oder Transformation erläutern lässt – Abstand nehmen.
Frühere Generationen haben das wohlbekannte Phänomen der Absorption kritischer Gehalte (man denke an Marcuses Motiv der »repressiven Toleranz«) zum Anlass genommen, die Dynamik dieser Vereinnahmung selbst zu untersuchen und die Verfälschung, Vereinseitigung oder gar Verkehrung, die der kritische Gehalt bei einer solchen Transformation erleidet, aufzuzeigen, um so den Abstand zwischen Affirmation und Negation immer wieder neu zu vermessen. Heute gerät so etwas als Immunisierungsstrategie unter Verdacht – und das »kritische Verhalten« als solches ins Visier der – nun ja, »Kritik« der Kritik. Nun könnte man solche Interventionen als Pirouetten eines stets auf Überbietung zielenden akademischen Betriebs oder als Dekadenzphänomen abtun, das mit der realen Praxis und den komplexen Schwierigkeiten kritischer Praxis wenig zu tun hat. Die mit einer solchen der Kritik der Kritik aufgeworfene Frage aber, wie sich Kritik als nichtaffirmative, nichtautoritäre transformative Praxis – eine Kritik, die nicht auf Besserwisserei zielt, sondern ein Katalysator zur Transformation bestehender Verhältnisse wäre – verstehen und initiieren lässt, ist wichtig. Die Vielfalt der Mittel und Möglichkeiten des »kritischen Verhaltens« sind zu Recht Gegenstand einer in den letzten Jahren äußerst lebendigen und kontroversen Diskussion gewesen3, in der viele der traditionellen Überzeugungen und Grenzziehungen in Frage gestellt worden sind. Was Kritik ist und wie wir sie praktizieren sollten, ist umstritten und immer wieder neu zu justieren. Und obwohl manchmal durchaus treffend angemerkt wird, dass sich gerade kritische Theoretiker_innen der Kritik lieber inhaltlich widmen und sich um die Welt kümmern sollten, als sich in Metadiskussionen über mögliche Formen der Kritik zu ergehen, ist es doch manchmal – auch und gerade für die in die kritische Praxis Involvierten – sinnvoll, sich über die Implikationen des kritischen Tuns klar zu werden. Was also ist und wozu betreiben wir Kritik? Ich möchte zunächst an ein paar Binsenweisheiten erinnern und dann einen Vorschlag machen.
1. Alltägliche Praxis
Wenn »Kritik« nicht einfach nur »Vernunftgebrauch überhaupt«, sondern ein »Verhalten« mit dem Ziel der Transformation gegebener sozialer Praktiken und Institutionen bezeichnen soll, dann ist Kritik vornehmlich