Kritik von Lebensformen - Rahel Jaeggi - E-Book

Kritik von Lebensformen E-Book

Rahel Jaeggi

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Beschreibung

Lassen sich Lebensformen kritisieren? Lässt sich über Lebensformen sagen, sie seien gut, geglückt oder gar rational? Die politische Ordnung des liberalen Rechtsstaats versteht sich als Versuch, das gesellschaftliche Zusammenleben auf eine Weise zu gestalten, die sich zu den unterschiedlichen Lebensformen neutral bzw. »ethisch enthaltsam« verhält. Dadurch werden Fragen nach der Art und Weise, in der wir individuell oder kollektiv unser Leben führen, in den Bereich nicht weiter hinterfragbarer Präferenzen oder als unhintergehbar gedachter Identitätsfragen ausgelagert. Wie über Geschmack lässt sich über Lebensformen dann nicht mehr streiten. Rahel Jaeggi hingegen behauptet: Über Lebensformen lässt sich mit Gründen streiten. Lebensformen sind als Ensembles sozialer Praktiken auf die Lösung von Problemen gerichtet. Sie finden ihren Maßstab »in der Sache« des Problems.

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Lassen sich Lebensformen kritisieren? Lässt sich über Lebensformen sagen, sie seien gut, geglückt oder gar rational? Die politische Ordnung des liberalen Rechtsstaats versteht sich als Versuch, das gesellschaftliche Zusammenleben auf eine Weise zu gestalten, die sich zu den unterschiedlichen Lebensformen neutral bzw. »ethisch enthaltsam« verhält. Dadurch werden Fragen nach der Art und Weise, in der wir individuell oder kollektiv unser Leben führen, in den Bereich nicht weiter hinterfragbarer Präferenzen oder als unhintergehbar gedachter Identitätsfragen ausgelagert. Wie über Geschmack lässt sich über Lebensformen dann nicht mehr streiten. Rahel Jaeggi hingegen behauptet: Über Lebensformen lässt sich mit Gründen streiten. Lebensformen sind als Ensembles sozialer Praktiken auf die Lösung von Problemen gerichtet. Sie finden ihren Maßstab »in der Sache« des Problems.

Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Suhrkamp Verlag erschienen: Was ist Kritik? (stw 1885, hg. zusammen mit Tilo Wesche), Sozialphilosophie und Kritik (stw 1960, hg. zusammen mit Rainer Forst, Martin Hartmann und Martin Saar) und Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis (stw 2066, hg. zusammen mit Daniel Loick).

Rahel Jaeggi

Kritik von Lebensformen

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1987.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

© Rahel Jaeggi 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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eISBN 978-3-518-73577-0

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

Einleitung: Wider die »ethische Enthaltsamkeit«

Erster Teil Ein Ensemble von Praktiken: Lebensformen als soziale Gebilde

1. Was ist eine Lebensform?

1.1 Lebensform: Begriff und Phänomen

1.2 Dauer, Tiefe, Umfang

1.3 Ein modulares Konzept von Lebensformen

2. Lebensformen als träger Zusammenhang von Praktiken

2.1 Was sind (soziale) Praktiken?

2.2 Der Zusammenhangscharakter

2.3 Das Trägheitsmoment

2.4 Praxis, Kritik, Reflexion

Zweiter Teil Problemlösungen: Lebensformen als normativ verfasste Gebilde

3. Die Normativität von Lebensformen

3.1 Normen und Normativität

3.2 Modi der Normativität

3.3 Drei Arten von Normbegründung

3.4 »Seinem Begriff nicht entsprechen«

4. Lebensformen als Problemlösungsinstanzen

4.1 Was sind Probleme?

4.2 Gegeben oder gemacht? Das Problem mit den Problemen

4.3 Problemlösungsversuche: Hegels Theorie der Familie

4.4 Krisen der Problemlösung

4.5 Probleme zweiter Ordnung

6Dritter Teil Formen der Kritik

5. Was ist interne Kritik?

5.1 Externe und interne Kritik

5.2 Die Strategie interner Kritik

5.3 Vorteile und Grenzen interner Kritik

6. »Aus der Kritik der alten Welt die neue finden«: Immanente Kritik

6.1 Eine Kritik neuen Typs

6.2 Die Strategie immanenter Kritik

6.3 Potentiale und Schwierigkeiten

Vierter Teil Die Dynamik der Krise und die Rationalität sozialen Wandels

7. Gelingende und scheiternde Lernprozesse

7.1 Veränderung, Lernen, Entwicklung, Fortschritt

7.2 Können Lebensformen lernen?

7.3 Defizitäre Lernprozesse

7.4Why does history matter?

8. Kriseninduzierte Transformationen: Dewey, MacIntyre, Hegel

8.1 Sozialer Wandel als experimentelle Problemlösung

8.2 Die Dynamik von Traditionen

8.3 Geschichte als dialektischer Lernprozess

9. Problem oder Widerspruch?

9.1 Probleme als Unbestimmtheit

9.2 Krise als Kontinuitätsbruch

9.3 Krise als dialektischer Widerspruch

9.4 Das Problem mit dem Widerspruch

10. Die Dynamik von Lernprozessen

10.1 Problemlösung als experimenteller Lernprozess

10.2 Die Dynamik von Traditionen

10.37»Die Quelle des Fortschritts wie des Verderbens«

10.4 Ein dialektisch-pragmatistisch verstandener Lernprozess

Schluss: Eine kritische Theorie der Kritik von Lebensformen

8Für Andreas und Jakob

9Vorwort

Die Kritische Theorie der Gesellschaft hat […] dagegen die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand. […] Was jeweils gegeben ist, hängt nicht allein von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag.

Max Horkheimer

Bundestagswahlen, Feierstunden der Olympiade, Aktionen eines Scharfschützenkommandos, eine Uraufführung im Großen Schauspielhaus gelten als öffentlich. Ereignisse von überragender öffentlicher Bedeutung wie Kindererziehung, Arbeit im Betrieb, Fernsehen in den eigenen vier Wänden gelten als privat. Die im Lebens- und Produktionszusammenhang wirklich produzierten kollektiven gesellschaftlichen Erfahrungen der Menschen liegen quer zu diesen Einteilungen.

Oskar Negt und Alexander Kluge

Lassen sich Lebensformen kritisieren? Lässt sich von Lebensformen sagen, ob sie als Lebensformen gut, geglückt oder gar rational sind? Seit Kant gilt als ausgemacht, dass sich Glück oder das gute Leben im Gegensatz zum moralisch Richtigen philosophisch nicht bestimmen lassen. Und mit John Rawls und Jürgen Habermas schlagen die zurzeit wohl einflussreichsten Positionen der politischen Philosophie unter Verweis auf den irreduziblen ethischen Pluralismus moderner Gesellschaften vor, sich der philosophischen Diskussion des ethischen Gehalts von Lebensformen zu enthalten. Die Philosophie zieht sich damit von der sokratischen Frage, »wie zu leben sei«, zurück und beschränkt sich auf das Problem, wie angesichts der Vielzahl miteinander inkommensurabler Vorstellungen des guten Lebens ein gerechtes Zusammenleben als Nebeneinander verschiedener Lebensformen gesichert werden kann. Die politische Ordnung des liberalen Rechtsstaats stellt sich entsprechend als der Versuch einer lebensformneutralen Organisation dieses Zusammenlebens dar. Sofern es dann aber nicht mehr um die richtige gemeinsame Lebensform geht, sondern um das möglichst konfliktfreie Miteinander verschiedener Lebensformen, werden damit 10Fragen nach der Art und Weise, in der wir unser Leben führen, in den Bereich privater Präferenzen verschoben. Wie über Geschmack lässt sich über Lebensformen dann nicht mehr streiten. Sie werden zu einer unzugänglichen black box; mit Gründen kritisieren lassen sich allenfalls ihre Effekte.

Nun gibt es für eine solche Position naheliegende Gründe. Nicht nur ist der Zweifel berechtigt, ob sich angesichts der fundamentalen Unterschiede in Bezug auf Weltauffassungen und ethische Überzeugungen so leicht eine Übereinstimmung zwischen den Beteiligten herstellen ließe. Auch gehört der Wunsch, sich hinsichtlich der Gestaltung des eigenen Lebens nicht von (philosophischen) Sittenrichtern »hereinreden lassen« zu wollen, zu den unhintergehbaren Komponenten unseres modernen Selbstverständnisses. Deshalb mag es so aussehen, als ob die liberale black box zu den Bedingungen der Möglichkeit moderner Selbstbestimmung gehört und erst den Freiraum schafft, in dem sich eine Vielfalt von Lebensweisen ungestört entwickeln (oder erhalten) kann.

Die vorliegende Untersuchung ist von der Vermutung geleitet, dass an dieser These etwas nicht stimmt, ja, dass es sich in mancher Hinsicht geradezu umgekehrt verhält. Wenn wir die innere Verfasstheit unserer sozialen Praktiken und Lebensformen der »außerphilosophischen Dunkelheit« überlassen, wie der kanadische Philosoph Charles Taylor es ausgedrückt hat, geraten wir in Gefahr, sie auf unangemessene Weise als gegeben hinzunehmen. Wir erklären damit etwas, das »öffentliche Bedeutung« hat, vorschnell zur unhintergehbaren Identitätsfrage und entziehen damit Themenbereiche der rationalen Argumentation, die man aus dem Einzugsbereich demokratisch-kollektiver Selbstbestimmung nicht herauslösen sollte. Vielleicht sollte man die Beweislast umkehren: Die ethische Frage, »wie zu leben sei«, lässt sich aus den Prozessen individueller, aber auch kollektiver Willensbildung gar nicht so leicht ausklammern. Sie ist in jeder gesellschaftlichen Formation implizit oder explizit immer schon beantwortet. Das gilt auch noch für diejenige gesellschaftliche Organisationsform, die sich dem Pluralismus von Lebensformen verschrieben hat. Dann aber ist die Frage nach der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen in gewisser Weise gar nicht richtig gestellt. Nicht trotz, sondern gerade angesichts der Situation moderner Gesellschaften – als der »ungeheuren Macht, die alles an sich reißt« (Hegel) – lässt sich die 11Bewertung von Lebensformen nicht ins Reservat partikularer Vorlieben und unhintergehbarer Bindungen abdrängen.

Das wird insbesondere in gesellschaftlichen Konflikt- und Umbruchsituationen deutlich. So gibt es Situationen, in denen durch neue Technologien – man denke an die Gentechnologie – bislang unhinterfragte ethische Grundsätze plötzlich zur Debatte stehen. Aber auch die Konfrontation mit anderen Lebensformen kann zu Konflikten, Krisen und Selbstverständigungskrisen führen, in denen der Gehalt und die Grundorientierungen der eigenen wie der fremden Lebensform selbst ins Blickfeld geraten und eingelebte soziale Praktiken fraglich werden. Man muss hier nicht gleich an die vielerorts fälschlicherweise zum »Kampf der Kulturen« hypostasierten Konflikte oder an Grundlagenkrisen unserer moralischen Bezugssysteme denken. Auch ganz alltägliche Kontroversen um die Gestaltung des städtischen Raums[1] oder der öffentlichen Kinderbetreuung,[2] um die Vermarktlichung von Gütern wie Gesundheit, Bildung oder Wohnraum oder um das Selbstverständnis unserer Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft lassen sich als Auseinandersetzung um die Integrität und den Zuschnitt von Lebensformen verstehen.

Einer Kritik von Lebensformen geht es also nicht etwa (im Sinne einer luxurierten Philosophie der Lebenskunst) um »Sahnehäubchenfragen« des guten Lebens, die zu stellen sich erst lohnte, wenn die Basisfragen gesellschaftlicher Organisation gelöst wären. Es geht um die innere Gestalt jener Institutionen und überindividuellen Zusammenhänge, die unser Leben formen und innerhalb 12derer sich unsere Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erst ergeben. Wenn nun aber das Projekt der Moderne, der Anspruch der Individuen darauf, »ihr eigenes Leben zu leben«, sich nicht nur in der einfachen Freiheit gegenüber der Einmischung anderer realisiert, dann ist – so die hier verfolgte These – die öffentliche und auch philosophische Reflexion über Lebensformen weniger eine problematische Intervention in nicht zu hinterfragende Residuen individueller oder kollektiver Identität als vielmehr die Bedingung der Möglichkeit einer Transformation und Aneignung der eigenen Lebensbedingungen. Die Kritik an Lebensformen, oder besser: eine kritische Theorie der Kritik von Lebensformen, so wie ich sie hier konzipieren will, soll dann nicht etwa einem Rückfall in vormodernen Paternalismus das Wort reden, sondern die Bedingungen dessen untersuchen, was sich in der Traditionslinie der Kritischen Theorie als Ferment individueller wie kollektiver Emanzipationsprozesse auffassen lässt.

Von der gefürchteten »Sittendiktatur« unterscheidet sich eine solche Perspektive auch dadurch, dass sie Teil einer Suchbewegung ist, deren Ausgangspunkt nicht das Beharren auf der einen, richtigen Lebensform, sondern die Einsicht in die vielfältigen Defizite der eigenen wie der fremden Lebensformen ist. Wie Hilary Putnam es formuliert: »Unser Problem besteht nicht darin, dass wir zwischen einer gegebenen Anzahl von ›besten Lebensweisen‹ wählen müssten; unser Problem besteht darin, dass wir nicht einmal eine einzige solcher ›besten Lebensweisen‹ kennen.«[3] Wenn wir aber keine einzige »gute Lebensform« kennen, so hätten wir diese erst in Prozessen zu entwickeln, in denen schon die Vorstellung von unhintergehbaren »Identitäten« und der damit verbundenen »Konzeptionen des Guten« sich auflöst. Die Grenze zwischen dem »Innerhalb« und dem »Außerhalb« einer Lebensform, auf der die Vorstellungen von deren Unhintergehbarkeit in einiger Hinsicht beruhen, wird damit, ebenso wie das hier in Anspruch genommene kollektive »Wir«, durchlässig. Auch der Unterschied zwischen inter- und intrakulturellen Konflikten fällt dann nicht mehr groß ins Gewicht. Ob wir uns – interkulturell – über arrangierte Ehen oder – intrakulturell – über gay marriage streiten, ist, wenn 13man die Trennung zwischen Innen und Außen in der hier eingeschlagenen Perspektive zu obstruieren versucht, keine kategoriale Differenz, sondern allenfalls eine Frage der kontextspezifischen Sensibilität. Lebensformen sind, diesem Verständnis nach, nicht nur Gegenstand, sondern immer auch auch Resultat von Auseinandersetzungen.

Der Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die Annahme, dass wir Lebensformen nicht nur kritisieren können, sondern dass wir sie (und damit uns in unseren Lebensvollzügen) auch kritisieren sollten und dies, implizit oder explizit, auch immer schontun. Zu bewerten und zu kritisieren – und das gilt besonders für die sogenannten »posttraditionalen Gesellschaften« – ist Teil dessen, was es bedeutet, eine Lebensform zu teilen und (dabei) mit anderen Lebensformen konfrontiert zu sein. Die Behauptung, der ich in der folgenden Untersuchung nachgehen werde, lautet also: Über Lebensformen lässt sich streiten, und zwar mit Gründen streiten. Mit Lebensformen sind Geltungsansprüche impliziert, die sich nicht folgenlos »einklammern« lassen, selbst wenn es sich hier nicht um letztbegründbare (und in diesem Sinne zwingende) Gründe handelt. Vermittelt über die Frage ihrer Kritisierbarkeit geht es somit auch um die spezifische Rationalität von Lebensformen.

Gegenstand meines Buches ist damit die Frage nach der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen, sein Ziel die Ausarbeitung und argumentative Verteidigung einer bestimmten Konzeption von Kritik – geleistet wird hier nicht die sozialkritische Diagnose einer spezifischen Lebensform selbst.

Dass ich die Frage nach dem Gelingen von Lebensformen dabei aus der Perspektive der Kritik stelle, ist kein Zufall. Es soll nämlich nicht darum gehen, die Generalkonzeption einer richtigen Lebensform am grünen Tisch zu entwerfen – solche ethischen Gesamtentwürfe scheinen mir weder wünschenswert noch aussichtsreich. Vielmehr richtet sich mein Blick negativistisch auf das spezifische Nichtgelingen von Lebensformen, auf die Krisen, in die sie geraten, und die Probleme, die an ihnen auftreten können – die Hinsichten also, in denen mit Lebensformen »etwas nicht stimmt« und in denen sie sich deshalb der Kritik aussetzen.

Auch der Umstand, dass ich mich hier mit der Struktur und der Dynamik von Lebensformen beschäftige (und entsprechend den in der Debatte verwendeten Begriff der Lebensform selbst ernst 14nehme), statt das Problem von der Seite der Begründbarkeit ethischer Werte her anzugehen, hat seinen Grund nicht lediglich im Sprachgebrauch einer speziellen philosophischen Diskussion.[4] Die Perspektive des Gelingens von Lebensformen – wenn man diese, wie ich vorschlagen werde, als Zusammenhang von sozialen Praktiken auffasst – ermöglicht es nämlich, Bewertungskriterien zu entwickeln, die sich an den normativen Bedingungen des Gelingens dieser Praktiken ausrichten.

Das Moment der Funktionsstörung oder Krise wird sich dabei als ein wichtiges Movens dessen erweisen, was in meinem Entwurf »Kritik« heißen soll. Setzt die Kritik von Lebensformen, wie ich sie hier konzipieren möchte, dort ein, wo es Probleme, Krisen oder Konflikte gibt, so wird sie nicht aus einer extern-autoritären Perspektive betrieben, sondern ist, wie man sagen könnte, das Ferment eines Prozesses, in dem Kritik und Selbstkritik miteinander verschränkt sind. Die angestrebte Kritik soll also, um die jeweils gegenläufigen Momente zu skizzieren, nicht »ethisch enthaltsam«, aber auch nicht paternalistisch sein; sie verhält sich nicht relativistisch zu den Geltungsansprüchen von Lebensformen, soll aber trotzdem keine antipluralistischen Konsequenzen haben. Und am Ende wird sich zeigen, dass es gerade der Umstand ist, dass sich Lebensformen als historisch sich entwickelnde und mit normativem Anspruchsniveau versehene Lernprozesse verstehen lassen, der uns den Schlüssel zu ihrer Beurteilung in die Hand gibt.

Der Aufbau meiner Untersuchung ist einfach: In der Einleitung werden die Fragestellung und mein Ansatz anhand der Auseinandersetzung mit der Gegenposition – das heißt mit den verschiedenen Varianten einer »ethischen Enthaltsamkeit« – entwickelt. Der erste Teil stellt dann die Frage, was eine Lebensform – verstanden als Zusammenhang sozialer Praktiken – ausmacht. Der zweiteTeil arbeitet die spezifische Normativität von Lebensformen aus und stellt ein Konzept von Lebensformen als Problemlösungsstrategien vor. Der dritte Teil beschäftigt sich mit Formen der Kritik und ent15wickelt das Konzept einer ideologiekritisch inspirierten »starken« Version immanenter Kritik. Im vierten Teil schließlich wird die Idee eines normativ gerichteten sozialen Lernprozesses ausgearbeitet. Damit transformiert sich die Frage danach, wann eine Lebensform defizitär ist oder gelingt, in die Frage nach den Kriterien für das Gelingen oder Nichtgelingen eines solchen Prozesses als rationalen Lernprozesses.

Danksagungen

Dieses Buch ist die substantiell überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, mit der ich im Frühjahr 2009 am Philosophischen Institut der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main habilitiert worden bin.

Auch diese Arbeit wäre ohne die Unterstützung durch Axel Honneth nicht denkbar gewesen. Der nunmehr fast fünfzehnjährigen Zusammenarbeit verdanke ich philosophische Inspiration, Ermutigung, aber auch das Vorbild einer Haltung zum Philosophieren, die sich »große Fragen« zutraut, dabei aber bei aller Ernsthaftigkeit den Pathologien der Selbstüberschätzung zu entkommen vermag. Kaum überbewerten lässt sich auch die Rolle, die die philosophische Auseinandersetzung und die Freundschaft mit Fred Neuhouser für mein Arbeiten bedeutet hat. Dieses Buch verdankt ihm an Anregung mehr, als vielleicht auf den ersten Blick kenntlich wird.

Dem Druck in den zeitlich sehr gedrängten Monaten vor der Fertigstellung der Habilitation hätte ich nicht standhalten können, wenn nicht ein ganzes Team von Freunden und Kollegen das Projekt fortlaufend mit mir diskutiert und den im Entstehen begriffenen Text engmaschig kommentiert hätte. Für diese Kooperation im allerbesten Sinne möchte ich Robin Celikates, Gustav Falke, Martin Saar und Titus Stahl herzlich danken. Sie alle wissen, wie folgenreich und wichtig die Unterstützung in dieser für mich entscheidenden Phase war und wie sehr mich die langjährige Zusammenarbeit und Freundschaft, die vielfältigen Interessen, Erfahrungen und Projekte, die wir teilen, gelehrt haben, die Philosophie auch als gemeinsame Lebensform begreifen zu können. Rainer Forst und Stefan Gosepath möchte ich für die langjährige Kollegialität, Freundschaft und philosophische Inspiration – »bei 16aller vernünftigen Nichtübereinstimmung« – danken; Martin Seel und Karl-Heinz Kohl für die Bereitschaft, als Gutachter am Habilitationsverfahren teilzunehmen. Regina Kreide danke ich für die stetige Ermutigung und die wöchentlichen spätnächtlichen Diskussionen in Frankfurt. Daniel Loick, der wie kein anderer den politischen und lebensweltlichen Subtext der hier verhandelten Themen versteht, hat die Arbeit auf hilfreiche Weise kommentiert und mich auf jede erdenkliche Weise angespornt, das Projekt voranzutreiben.

Wie so häufig liegt zwischen der Abgabefassung der akademischen Qualifikationsarbeit und dem fertigen Buchmanuskript auch in diesem Fall ein weiter Weg. Den wichtigsten Einfluss auf das Endprodukt hat sicherlich Lukas Kübler genommen. Mit großem hermeneutischem Gespür hat er mein Projekt manchmal besser verstanden als ich selbst, den Text mit erstaunlichem Problembewusstsein und großer Unbestechlichkeit redigiert und ihn mit unzähligen Anregungen bereichert. In entscheidenden Momenten hat Eva von Redecker nicht nur einen letzten »sanity check«, sondern auch die nötige Bekräftigung beigesteuert. Am Endlektorat waren zudem zu verschiedenen Zeiten Georg Brunner, Margarete Stokowski und Dana Sindermann – und, ganz zum Schluss und sehr entscheidend, Frank Lachmann, Lea Prix und Selana Tzschiesche beteiligt. Ihnen allen schulde ich großen Dank. Eva Gilmer hat mir mit ihren engagierten und umsichtigen Bemerkungen erst klargemacht, was wissenschaftliches Lektorat eigentlich sein kann. Dafür und für die nicht enden wollende Nachsicht mit einer säumigen Autorin sei ihr herzlich gedankt.

Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz. Wie bereits bei (eigentlich allen) vorangegangenen Publikationen war dies der Ort, der mir ungestörtes Arbeiten in einem anregenden öffentlichen Raum ermöglicht hat.

Die gesamte Zeit der Arbeit an diesem Projekt fällt zusammen mit den ersten Lebensjahren meines Sohnes Jakob, meines kleinen größten Glücks. Dass der erste Satz dieser Untersuchung am ersten Tag des Erziehungsurlaubes meines Mannes, Andreas Fischer, geschrieben wurde, ist kein Zufall. Ohne seine unendliche Geduld, sein Vertrauen und seine Unterstützung wäre die Realisierung dieses nicht enden wollenden Projekts nicht möglich gewesen. Ihnen 17beiden möchte ich das Buch widmen – auch wenn es »gar kein richtiges Buch« ist!

18Einleitung: Wider die »ethische Enthaltsamkeit«

We cannot escape value judgements […]

nor do we treat them as a matter of taste.

Hilary Putnam

Was ist und wozu betreiben wir die Kritik von Lebensformen? Ich möchte die Fragestellung dieses Buches in der folgenden Einleitung in drei Hinsichten ausformulieren: Was bedeutet es, Lebensformen als Lebensformen zu kritisieren? Was steht mit der Möglichkeit einer Kritik von Lebensformen auf dem Spiel und warum sollte sich die Philosophie in einem solchen Projekt engagieren?

Um mich diesen Fragen zu nähern, soll zunächst der spezifische Charakter einer kritischen Thematisierung von Lebensformen herausgearbeitet werden (1). Anschließend verteidige ich meine Fragestellung gegen Positionen, die aus verschiedenen Gründen eine »Enthaltsamkeit« in Bezug auf die Bewertung von Lebensformen empfehlen (2). Schließlich werde ich meinen Ansatz in Grundzügen skizzieren (3) und einen Überblick über den weiteren Verlauf der Argumentation geben (4).

1. Was bedeutet es, Lebensformen als Lebensformen zu kritisieren?

Über jemanden, der sich ernsthaft darüber empört, dass sein Gegenüber Bananen isst oder rote Cowboystiefel trägt, wird man lachen. Selbst wenn man bei der Vorstellung von Bananen Abscheu empfindet oder angesichts roter Cowboystiefel von spöttischer Belustigung gepackt wird: Man kann sich schwerlich eine sinnvolle Debatte darüber vorstellen, ob es richtig oder falsch ist, Bananen zu essen oder rote Cowboystiefel zu tragen. Das ist, so sagt man, jedermanns eigene Angelegenheit und, ganz buchstäblich, eine Geschmacksfrage. Anders steht die Sache, wenn wir jemanden dabei beobachten, wie er sein Kind schlägt. Hier empören wir uns, wie wir glauben, mit guten Gründen. Das ist, davon sind wir überzeugt, weder eine Geschmacksfrage noch eine »persönliche Angelegenheit«, hier einzugreifen ist unsere moralische Pflicht.

19Wie aber liegen die Dinge, wenn es darum geht, ob jemand in einer Mehrfachbeziehung oder in einer Kleinfamilie lebt, ob Intimbeziehungen im chatroom stattfinden oder in Tantraworkshops gepflegt werden? Wie beurteilen wir die Sitte, mit der neugegründeten Familie bei den Eltern eines der beiden Ehepartner zu leben – oder umgekehrt den (schon in Hegels Darstellung der bürgerlichen Familie hervorgehobenen) Umstand, dass die für die moderne bürgerliche Gesellschaft entscheidende Kernfamilie sich typischerweise in räumlicher und ökonomischer Ablösung von der Herkunftsfamilie konstituiert? Und wie verhalten wir uns, wenn es nicht um das Verprügeln von Kindern geht, sondern um die verbreitete Praxis, den Fernseher als Babysitter einzusetzen? Auf welcher Grundlage nehmen wir zur Ausbreitung von shopping malls im öffentlichen Raum, zur Verkehrsplanung oder zur Förderung des Eigenheimbaus Stellung? Warum verbringen wir unsere Freizeit lieber im Theater, im Kino oder in der Kneipe statt vor dem Fernseher, und warum bevorzugen wir das Leben in der Stadt gegenüber dem auf dem Land (oder umgekehrt)? Wie schließlich unterscheiden wir zwischen guter oder sinnvoller und stumpfsinnig-entfremdeter Arbeit – und nach welchen Kriterien bewerten wir das in unseren Gesellschaften verbreitete Arbeitsethos?

Auch zu solchen Fragen beziehen wir häufig – manchmal sogar ganz entschieden – Position. Wir kritisieren die Passivität und Zurückgezogenheit des Fernsehkonsumenten. Wir fühlen uns von der Biederkeit der ehelichen Lebensgemeinschaft abgestoßen oder halten Mehrfachbeziehungen für illusorisch. Wir finden das Leben in einer Kleinfamilie zu isoliert oder betrachten umgekehrt ein Leben im größeren Familienverband als unzumutbare Einschränkung. Wir schwärmen für das pulsierende städtische Leben oder für die Behaglichkeit der Provinz. Wir treten für das »Recht auf Faulheit« ein oder sehen in der Arbeit den primären Lebenssinn. Und wo der Kapitalismus allzu aufdringlich wird, etwa wenn »kulturelle Werte« dem Kommerz untergeordnet werden, mögen wir die Verflachung, Verarmung oder sogar Entwirklichung unseres Lebens befürchten.

Die hier angedeuteten Positionen betreffen das, was ich in meiner Untersuchung mit dem Stichwort »Lebensformen« thematisieren werde. Unterschiede in Bezug auf Lebensformen können sowohl in Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen oder Gesellschaften virulent werden als auch innerhalb einer Gesellschaft. 20So ist die Debatte um die juristische Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen in den USA und in Westeuropa mit einem intrakulturellen Wertekonflikt unterfüttert; im Umgang mit arrangierten Ehen dagegen kommen interkulturelle Differenzen ins Spiel – auch wenn diese Grenze nicht immer so leicht zu ziehen ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

So entschieden allerdings in manchen Fällen unsere Ansichten sind und so erbittert der öffentliche Streit,[1] so unklar bleibt, welchen argumentativen Status diese Positionen eigentlich haben. Machen wir uns, ähnlich wie bei der Frage der roten Cowboystiefel, lächerlich, wenn wir hier Gründe suchen, jemanden von unserer Meinung überzeugen zu wollen, oder uns dabei gar ereifern? Muss hier nicht jede und jeder für sich entscheiden, wie sie oder er sich verhält? Gibt es in solchen Fällen überhaupt bessere oder schlechtere Optionen und Positionen, die sich intersubjektiv vermitteln und begründen lassen, also Anspruch auf übergreifende Gültigkeit erheben können? Lassen sich also unsere Lebensformen (rational) begründen – jenseits davon, dass es eben unsere Lebensformen sind? Und lässt sich über das Gelingen oder Scheitern von Lebensformen mehr sagen, als dass dies eben manchmal passiert (das Gelingen und das Scheitern)? Um diese Fragen soll es in meinem Buch gehen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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