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Fortschritt ist sozialer Wandel hin zu einer Situation, in der die Verhältnisse nicht nur anders, sondern besser werden – etwa dadurch, dass die Sklaverei abgeschafft wird und die Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen gilt. Viele würden dem zustimmen und doch hat die Vorstellung eines generellen gesellschaftlichen Fortschritts ihren Glanz verloren. Sie ruft sogar Skepsis hervor. Hingegen wächst die Neigung, etwa die Zunahme autoritärer Ressentiments und rechtspopulistischer Bewegungen als eine Art von Regression zu bewerten.
Rahel Jaeggi verteidigt in ihrem Buch das Begriffspaar Fortschritt und Regression als unverzichtbares sozialphilosophisches Werkzeug für die Diagnose und Kritik unserer Zeit. Als fortschrittlich oder regressiv versteht sie nicht nur das Resultat, sondern auch die Gestalt der gesellschaftlichen Transformationsprozesse selbst. Indem sie nach den Dynamiken sozialen Wandels fragt sowie nach den Erfahrungsblockaden, die regressiven Tendenzen Vorschub leisten, entwickelt sie einen Begriff des Fortschritts, der strikt materialistisch und radikal plural, also durch und durch zeitgemäß ist.
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Seitenzahl: 352
3Rahel Jaeggi
Fortschritt und Regression
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2023.
Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-75734-5
www.suhrkamp.de
6Für Andreas und Jakob
… und für UUU
1931-2021
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1 Fortschritt(e)
2 Vier Dimensionen der Fortschrittserzählung
3 Das Unbehagen am Fortschritt
4 Was fehlt?
5 Zurück zum Fortschritt?
6 Überblick
1 Was ist Fortschritt?
1.1 Was ist moralischer Fortschritt?
Fortschritt als Wandel zum Besseren?
Fortschritt als evaluativer Begriff
Nichtderivativer Charakter des Fortschritts
1.2 Der Vorrang des Fortschritts vor dem Guten
Fortschritt ohne Ziel
Der Vorrang des Fortschritts
1.3 Fortschritt als Lern- und Erfahrungsprozess
Lernen
Die Form des Wandels
Genesis und Geltung
2 Reform oder Revolution: Kontinuität und Diskontinuität des Fortschritts
2.1 Die Erweiterung des Einzugsbereichs
Plausibilität der Erweiterungsthese
Grenzen der Erweiterungsthese
2.2 Die Vertiefung von Idealen
Grenzen des Vertiefungsmodells
2.3 Kontinuität in der Diskontinuität, Diskontinuität in der Kontinuität
Krise als Vermittlung zwischen Alt und Neu
3 Im Kontext: Moralischer Fortschritt und sozialer Wandel
3.1 Eine bloße Geschmacksverirrung? Der Gestaltwandel moralischen Fortschritts
Die Normalität moralischer Übel
Transformation als Gestaltwandel?
Tiefendynamik und Reaktion
Moral als Ideologie
3.2 Passungsverhältnisse: Die sittliche Einbettung moralischer Überzeugungen
Mismatches
und gestörte Passungsverhältnisse
Nichtintentionale Verkettungen
3.3 Der Zeitkern der Moral
Einbettungsverhältnisse und Verflechtungen
Moral als Reflexion von Lebensverhältnissen
3.4 Begriffliches Zwischenspiel: Lebensformen als träge Ensembles von Praktiken
3.5 »Schritt halten«: Ein Geflecht wechselseitiger Beziehungen
Überdeterminierte Relationen
Mismatches
und Historischer Materialismus
Der normative Richtungsmesser
4 Krise und Konflikt: Die Dynamik sozialen Wandels
4.1 Das aktive und das passive Element
Nicht aus dem Nichts
4.2 Lebensformen als Problemlösungsinstanzen zweiter Ordnung
Probleme als Aufgabe und Schwierigkeit
Problemlösungen
Probleme zweiter Ordnung
Fortschritt als reflexive Problemlösung
Problem, Krise, Widerspruch
Krise und Konflikt
4.3 Stabilität und Instabilität sozialer Formationen
Veränderung
Schwerfälligkeit von Gewohnheiten und Stabilität sozialer Strukturen
4.4 Von der Krise zum Konflikt
Das weltgeschichtliche Individuum und das Proletariat
4.5
Roads not taken:
Entwicklungslogiken und Erfahrungsprozesse
Eine schwache, mehrdimensionale Logik der Geschichte
5 Wandel zum Besseren? Fortschritt als sich anreichernder Erfahrungsprozess
5.1 Teil des Problems: Bestimmter und übergreifender Sinn des Fortschritts
Die Ambivalenz des Fortschritts
Fortschritt in einem bestimmten Sinn
Fortschritt im Ganzen
5.2 Teil der Lösung: Fortschritt als Vollzugsform
Das Aufräumen mit dem alten Sinn
5.3 Fortschritt als Anreicherungsprozess
Eine prozessuale Deflationierung des Fortschritts
Erfahrungsblockaden und Problemlösungen
Fortschritt als Abwesenheit von Regression
5.4 Exkurs: Dialektik des Fortschritts
Fortschritt als qualitative Erweiterung von Möglichkeiten
Emanzipation der Frauen
Ambivalenz oder Kehrseite?
6 Verrat am Möglichen: Zur Anatomie der Regression
6.1 Regression in der Psychoanalyse
6.2 Nostalgie, Regression, Rückschritt
Nostalgie und Regression
Nicht jeder Rückschritt ist regressiv
6.3 Faschismus und Nationalismus als Regression
Die Regression aufs Völkische
Regression als abwehrende Renaturalisierung
6.4 Probleme des Regressionsbegriffs
Entwicklungslogik
Paternalismus
6.5 Regression als unangemessene Krisenreaktion und fortschreitende Erfahrungsunfähigkeit
Dank
Fußnoten
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Ich weiß, dass ich ungefähr Mitte der sechziger Jahre, vielleicht sogar vierundsechzig schon, vielleicht fünfundsechzig, und ganz sicher aber sechsundsechzig, dass ich in diesen Jahren gemerkt habe, dass die Sommer von Jahr zu Jahr länger, und nicht nur länger, sondern auch besser werden. Und dass ich eigentlich den Eindruck hatte, die Welt wird von Jahr zu Jahr besser – und dass man das im Sommer aber am deutlichsten merkt […].
Peter Kurzeck[1]
Hat der Fortschritt Jahreszeiten?
Dietmar Dath[2]
Dieses Buch beschäftigt sich mit einem Thema, das die zeitgenössische Diskussion philosophisch wie politisch umtreibt, auch wenn das nicht immer offen zutage liegt: mit dem sozialen Fortschritt und seinem Gegenpol, der Regression. Dabei ist die Situation, so viel lässt sich sagen, unübersichtlich.
Auch wenn Fortschritte hier und dort zu verzeichnen sind: Von der Einschätzung, dass die Menschheit sich »im Wechsel von Ruhe und Bewegung, von Gutem und Bösem, zwar langsam, aber stetig auf eine größere Vollkommenheit«[3] zubewege, wie es Jacques Turgot in einem der Gründungstexte der modernen Fortschrittsidee formuliert hat, sind die meisten Menschen heutzutage weit entfernt. 8Das gilt nicht etwa nur für diejenigen Orte der Weltgeschichte, die in Krieg, Gewalt und Chaos, in offener Ausbeutung und Unterdrückung versinken und die von den Segnungen des Fortschritts immer schon nur die dunkle Seite erfahren haben. Der Ukraine-Krieg und die anhaltenden Kriege in Libyen, Syrien und an vielen anderen Orten der Welt, die Lage der Frauen in Afghanistan und im Iran, aber auch das weltweite Wiedererstarken nationalistischer und autoritärer Bewegungen lassen die Befürchtung aufkommen, dass bereits erreichte Fortschritte zunichtegemacht werden könnten. Und die in den letzten Jahren im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten sind zum Sinnbild dafür geworden, dass an den Grenzen Europas – ebendesjenigen Europas, das andernorts im Namen von Freiheit und Demokratie mit militärischem Einsatz verteidigt werden soll – selbst Mindeststandards der Humanität unterlaufen werden.[4] Wenn gleichzeitig brennende Wälder und schmelzende Gletscher die Klimakatastrophe auch in den privilegierten Teilen der Welt immer fassbarer werden lassen, sät das Zweifel an den Errungenschaften der sich als »fortschrittlich« verstehenden Lebens- und Wirtschaftsweise der westlichen Welt. Selbst im »Herzen der Bestie« scheint so die Fortschrittshoffnung aufgebraucht. Dass eine deutsche Regierung unter dem Titel »Fortschrittskoalition« antritt, klingt angesichts der Vielzahl der sich miteinander verflechtenden ungelösten Krisen wie das Pfeifen im Walde, mehr nach einer Beschwörungsformel als nach einem Programm.
Umstritten ist aber nicht nur die Sache, also die Frage, ob es so etwas wie Fortschritt historisch gegeben hat oder in Zukunft geben wird; umstritten ist schon der Begriff des Fortschritts selbst. Während manche Theoretiker:innen unverblümt einen stetigen kumulativen Fortschrittsprozess in vielen Bereichen des menschlichen Le9bens konstatieren,[5] halten andere schon den Begriff des Fortschritts für überholt und gefährlich oder sogar, wie Ashis Nandy es drastisch fasst, für »eine[n] der schmutzigsten Begriffe unseres Wortschatzes«.[6] Und während einige ihrer Hoffnung auf Emanzipation mindestens implizit eine Fortschrittsgeschichte unterlegen, konstatieren andere, dass wir uns von solchen »antiquierten Entwicklungsbegriffen«[7] gerade unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung sozialer und kolonialer Herrschaft frei machen müssen. James Tully bringt es auf den Punkt: »Die Sprache von Fortschritt und Entwicklung ist für zwei Drittel der Weltbevölkerung die Sprache von Unterdrückung und Herrschaft.«[8]
Während der Fortschritt heute also notorisch umstritten ist, hat der Begriff der Regression an historischem Momentum gewonnen. Regression, so scheint es, ist überall.[9] Als Regression und Rückfall hinter erreichte Errungenschaften der liberalen Demokratie gelten Regierungsstile, wie sie Donald Trump, Jair Bolsonaro, Viktor Orbán oder Recep Tayyip Erdoğan pflegen. Als Regression kann man das hasserfüllt rechtspopulistische Ressentiment gegen die Plurali10sierung und Diversifizierung von Identitäten und Lebensweisen auffassen.[10] Dass in den USA Bücher aus Schulbibliotheken aussortiert werden, weil sie gender- und race-bezogene Themen ansprechen,[11] zeigt, wie fragil die Erfolge der antirassistischen und antisexistischen Bewegungen sind. Und auch der Abbau des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates und die damit verbundene Prekarisierung der Lebensverhältnisse können als Symptom einer »regressiven Moderne« verstanden werden.[12]
Wenn aber Fortschritt die Kehrseite der Regression, Regression die Kehrseite des Fortschrittes ist, dann betritt der Fortschrittsbegriff damit sozusagen durch die Hintertür wieder die Szene. Wenn wir die um sich greifenden Angriffe auf als fremd markierte Existenzen und Lebensweisen aller Art als Regression verstehen, so legt das nahe, die Ausweitung von Menschen- und Bürgerrechten auf Gruppen, die zuvor durch eine dominante »Leitkultur« exkludiert waren, als sozialen Fortschritt zu verstehen; wenn der Abbau des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates als Regression aufgefasst wird, dann wohl deshalb, weil der in der europäischen Nachkriegsgeschichte ermöglichte Ausbau des Sozialstaats bei allen mit ihm verbundenen Problemen sozialen Fortschritt versprochen hat; und wenn autoritär-populistische Regierungsstile als Regression interpretiert werden, 11so trauert man, bei aller Kritik an deren real existierender Gestalt, damit wohl oder übel den welthistorischen Fortschritten hinsichtlich der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und liberaler Demokratie nach.
Die allzu einvernehmliche Fortschrittskritik könnte also von dem gezeichnet sein, was Sartre »mauvaise foi«[13] genannt hat: Unaufrichtigkeit. Man leistet sich radikale Fortschrittsskepsis, verlässt sich aber insgeheim und uneingestanden auf den Fortschritt. Erkennbar wird das in dem Moment, in dem die Gewissheit zerbricht. Das Resultat ist nicht selten eine fragwürdige Kombination aus theoretischem Relativismus und politischem Moralismus.
Wir sollten also über Fortschritt reden. Und über Regression. Inwiefern ist es angemessen, die hier skizzierten Zeiterscheinungen als eine politisch und sozial regressive Tendenz zu bezeichnen – und nicht nur als Zusammenbruch unserer Hoffnungen? Welchen Nutzen haben die Kategorien »Fortschritt« und »Regression« für das kritische Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen – und gehen mit ihrer Verwendung nicht auch Risiken einher?
Fortschritt ist, so sagt man oft, ein Wandel zum Besseren; entsprechend wäre Regression ein Wandel zum Schlechteren. Das stimmt zwar irgendwie, aber irgendwie auch nicht. Entscheidend ist, und für diese These werde ich in diesem Buch argumentieren, dass es sich beim Fortschritt um eine Form des Wandels handelt, genauer: um eine bestimmte Weise, auf Krisen zu reagieren und Probleme zu bewältigen. Fortschritt ist, auf eine kurze Formel gebracht, ein sich anreichernder, Regression ein systematisch blockierter Problemlösungs- und Erfahrungsprozess.
Fortschritt, so wie ich ihn im Laufe dieser Untersuchung fassen werde, ist dann gerade nicht eine Chiffre für die sich auf die Schulter klopfende, »an sich selbst triumphierende«[14] whig history westlich-12imperialistischer Gesellschaften,[15] und Regression nicht das paternalistische Verdikt über die vermeintlich hinter der westlichen Moderne Zurückgebliebenen. Vielmehr ist das Begriffspaar »Fortschritt und Regression« vor allem auch das begriffliche Medium der Kritik und Selbstkritik ebendieser sich fortschrittlich wähnenden Gesellschaften.
Der Verweis auf die als Fortschritt zu verstehenden Errungenschaften verabsolutiert dann auch nicht den Status quo, der Verweis auf soziale Regressionsprozesse sehnt sich nicht nach der guten alten Zeit. Im Gegenteil: Wäre alles gut gewesen, gäbe es keine Regression. Im dialektischen Geist ausgedrückt: In den Einseitigkeiten, Ausschlüssen, Widersprüchlichkeiten und Verwerfungen des Fortschritts selbst ist die Regression bereits angelegt. Regression ist dann nicht das Zurück hinter etwas bereits Erreichtes, sondern, im Sinne Adornos, die Verhinderung des Möglichen;[16] Fortschritt umgekehrt nicht der Vorlauf zu einem bekannten Ziel, sondern der nie abgeschlossene Prozess der Emanzipation. Kritische Theorie verteidigt unter der Flagge des Fortschritts also nicht das Erreichte, sondern die Möglichkeit einer anderen Welt.
Meine Untersuchung ist sozialphilosophisch und grundbegrifflich angelegt. Ich werde in diesem Buch »Fortschritt« und »Regression« als sinnvolle oder sogar unverzichtbare Kriterien für die Analyse und Kritik gesellschaftlicher Entwicklungen verteidigen und damit begriffliche Werkzeuge für eine kritische Theorie (wieder) zugänglich machen, die in vielen aktuellen Diskussionen in einer diffusen Pau13schalkritik unkenntlich zu werden drohen. Konfrontiert mit gesellschaftlichen Krisen, Konflikten und Veränderungsprozessen aller Art müssen wir emanzipatorische Veränderungsprozesse und deren Blockaden als solche identifizieren können. Für die Einschätzung sozialer Bewegungen und Kämpfe ist die Möglichkeit, fortschrittlichen sozialen Wandel von regressiven Entwicklungen und Tendenzen kategorial zu unterscheiden, zentral, wenn auch kompliziert. Das ist wohlgemerkt keine Frage bloßer Definition. Begriffe haben einen Erfahrungsgehalt, in ihnen lagern sich (historische) Erfahrungen und Problemstellungen an, die es zu entziffern und zu bergen gilt. Begriffe begreifen etwas. Und sie haben, sofern sie der Selbstverständigung sozialer Akteure dienen, praktische Wirkungen, sie sind so etwas wie ein Katalysator für kollektive Selbstverständigung und Handlungsfähigkeit. Es geht mir also um die Klärung konzeptueller Fragen zum Zweck der praktischen Orientierung.
Die Frage, der ich nachgehen möchte, lautet daher nicht, ob so etwas wie Fortschritt heute empirisch zu verzeichnen ist und, falls ja, wo. Auf empirischer Grundlage zu beurteilen, ob sich die Menschheit entgegen allem Anschein zum Besseren, nämlich in Richtung einer immer friedlicheren, gerechteren und prosperierenden Existenzweise entwickelt oder vielmehr in einem immer unübersichtlicher werdenden Strudel von Unrecht und Gewalt versinkt, gehört nicht zu den Ambitionen meiner Untersuchung. Auch die Alternative zwischen Fortschrittsoptimismus und pessimistischer Verfallsdiagnose – ob ich an den Fortschritt »glaube« oder nicht, so etwas wird man ja gelegentlich gefragt – ist deshalb für mein Projekt nicht relevant. Zwei Dinge nämlich sollte man nicht miteinander verwechseln: einerseits den Glauben daran, dass die menschliche Geschichte faktisch im Fortschreiten begriffen ist, dass wir also eine Geschichte des Fortschritts rekonstruieren und weiterem Fortschritt entgegenblicken können; andererseits die Frage, ob sich Fortschritt (wenn es ihn gäbe) überhaupt identifizieren ließe, ob es also Kriterien dafür gibt, dass soziale und historische Veränderungen als Fortschritt aufgefasst werden können – es sich also um einen Wandel zum Besseren und nicht nur um Wandel überhaupt handelt. Ob man am Konzept 14des Fortschritts festhalten kann, entscheidet sich einerseits nicht an den bloßen Fakten des Weltgeschehens. Die Idee des Fortschritts steht nicht infrage, bloß weil es weltgeschichtlich Rückschritte gibt, genauso wenig wie die Idee des Glücks angesichts des überwältigenden Unglücks in der Welt obsolet werden könnte. Andererseits aber ist Fortschritt auch nicht nur eine unverbundene Idee oder ein normatives Ideal.[17] Ohne die wirkliche Möglichkeit einer Veränderung, wie verschlossen auch immer sie sein mag, ohne die Vorstellung eines in der Geschichte vorhandenen Potenzials zur Entstehung anderer oder neuer sozialer Ordnungen wäre es sinnlos, am Deutungsmuster des Fortschritts festzuhalten. Fortschritt ist, um es mit einer ihrerseits erläuterungsbedürftigen Marx'schen Formel zu sagen, weder Fakt noch Ideal, und eben keine bloße (wie auch immer begründete) Norm, sondern die »wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«.[18] »Wirklichkeit« allerdings, versteht man den Begriff im Hegel'schen Sinne, ist dann eben gerade nicht nur all das, was empirisch »da«, was bloß vorhanden ist, sondern das, was in seiner Widersprüchlichkeit und Krisenhaftigkeit das Potenzial hat, das, was ist, zu überwinden. Das Kriterium des Fortschritts leistet in diesem Sinne immer beides: begreifendes Durchdringen des Bestehenden und über dieses hinausweisende Kritik. Mit Adorno:
»Philosophisch ist der Begriff des Fortschritts darin, daß er, während er die gesellschaftliche Bewegung artikuliert, dieser zugleich widerspricht. Gesellschaftlich entsprungen erheischt er kritische Konfrontation mit der realen Gesellschaft.«[19]
15Beim Schreiben dieses Buches sind ganz verschiedene Motive zusammengekommen: Das eine ist eher zeitdiagnostisch auf die vielfältigen Bedrohungen unserer Lebensform, den sozialen und politischen Rückschritten, die wir bereits jetzt erleben und die uns noch bevorstehen könnten, bezogen; die anderen sind eher philosophisch und methodisch, auch wenn sich beides nicht vollständig voneinander trennen lässt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in jüngster Zeit merklich an Aktualität gewonnen haben – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise.
Philosophisch ist der Begriff des Fortschritts in den letzten Jahren vor allem im angelsächsischen Raum und im Kontext von Überlegungen zum moralischen Fortschritt wieder aufgegriffen worden.[20] Nicht zuletzt im Zuge einer zunehmenden Unzufriedenheit mit »idealen« Formen der Theoriebildung[21] hat die Frage, wie diejenigen Instanzen des moralischen Fortschritts, auf die sich normativ alle mehr oder weniger problemlos einigen können, eigentlich entstanden sind, das Interesse an der Beschaffenheit und den Bedingungen solcher Wandlungsprozesse geweckt. Dieses Interesse führt allerdings nicht weit genug – häufig verbleibt es im sozialtheoretisch individualistischen und idealistischen Rahmen. Entscheidend ist aber, 16dass mit diesen Überlegungen die Frage nach dem Charakter sozialer Transformationsprozesse überhaupt wieder einen Ort innerhalb der moralphilosophischen Diskussion erhalten hat.
Damit berührt – und das ist ein drittes Motiv dieses Buches – die Diskussion über Fortschritt das, was einmal ein Grundanliegen der Kritischen Theorie war: die Erforschung der Ursachen, Triebkräfte, des Charakters und der Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Transformationsprozesse oder auch: sozialer Revolutionen.[22] Ob in diesem Zusammenhang Begriffe wie »Fortschritt« und »Regression« weiterhin zum Werkzeugkasten einer kritischen Theorie gehören sollten, ist Teil einer kontroversen Auseinandersetzung im Diskussionszusammenhang der Kritischen Theorie.[23] Das ist nicht eine Frage beliebiger theoretischer oder begriffspolitischer Vorlieben, es betrifft die Grundlagen, das Vorgehen und den Begründungsanspruch der Kritischen Theorie als solcher. Auch wenn dieser metatheoretische Aspekt nicht jeden interessieren muss, verstehe ich meine Überlegungen zum Fortschritt also zugleich als eine Intervention in die Debatte um das Vorgehen und den spezifischen Charakter einer kritischen Theorie – sei es der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule oder der breiter gefassten kritischen Theorien im Plural.
Mein Vorhaben schließt an eine theoretische Weichenstellung an, die sich aus meinem Buch Kritik von Lebensformen ergeben hat.[24] Dort hatte ich danach gefragt, wie man Lebensformen kontextübergreifend kritisieren kann. Meine Antwort, in a nutshell, lautete: Lebensformen gelingen, wenn sie als Ergebnis eines sich anreichernden Lern- und Erfahrungsprozesses verstanden werden können und weiteres Lernen ermöglichen. Es wäre nicht falsch, dieses Ergebnis 17in die etwas einfachere Formel zu übersetzen: Lebensformen sind gut, rational, angemessen, wenn sie nicht regressiv, sondern progressiv sind – sowohl Ergebnis als auch Ausgangspunkt progressiven gesellschaftlichen Wandels. Das verweist, wenn auch sehr vorsichtig, schon auf einen Begriff von Fortschritt. Dieser vage gebliebenen Anschlussstelle will ich mich hier auf eine Weise widmen, die die Resultate der vorangegangenen Untersuchung mit den Herausforderungen der aktuellen Situation verbindet.
Keine Kritik am Fortschritt ist legitim, es wäre denn die, welche sein reaktionäres Moment unter der herrschenden Unfreiheit benennt und damit jeden Mißbrauch im Dienst des Bestehenden unerbittlich ausschließt.
Theodor W. Adorno[25]
Das Konzept des Fortschritts lässt sich nur verteidigen, wenn es sich im Lichte der Kritik an ihm rekonstruieren und (neu) verstehen lässt. Eine solche rettende Kritik muss sich zunächst mit den Implikationen und der politisch-philosophischen Semantik des Fortschrittsbegriffs auseinandersetzen, um dann diejenigen Elemente des Begriffs zu sondieren, die zur Neubestimmung anstehen. Genau das will ich in dieser Einleitung anhand einer Auseinandersetzung mit zentralen Dimensionen der Fortschrittserzählung tun. Anschließend gebe ich einen Überblick über die einzelnen Kapitel und Argumentationsschritte des Buches und lege dar, wo meine Rekonstruktion ansetzen wird.
Die Existenz von Fortschritt ist in mancher Hinsicht schwer zu bestreiten. Bis zur Entdeckung des Penicillins im Jahr 1928 (und der industriellen Produktion des Wirkstoffs ab 1942) konnten Menschen an für heutige Verhältnisse harmlosen Infektionen sterben. Im Mittelalter wurden Schriften zeitaufwändig von Hand kopiert; durch die Erfindung des Buchdrucks hat sich die Reichweite von 20Schriftgut immens vergrößert. Mein Kleincomputer besitzt heute eine Rechenleistung, an die zu Beginn des Computerzeitalters ein ganzer Keller voller Lochkarten nicht annähernd herangereicht hätte. Noch vor ein paar Jahrzehnten musste man Kleingeld parat haben und an Telefonzellen anstehen, um von unterwegs zu kommunizieren; heute sind wir jederzeit mit der ganzen Welt in Kontakt und mein Sohn kann sich ein soziales Leben ohne Smartphones nur schwer vorstellen. Ebenso wenig kann er sich vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der Frauen nicht wählen durften, Kinder in der Schule und im Elternhaus rechtlich legitimiert verprügelt wurden und Homosexualität in Deutschland unter Strafe stand.[26]
Dass es Fortschritt(e) an diesem und jenem Ort und in Bezug auf dieses oder jenes Gebiet gibt, selbst wenn der Fortschritt, mit Nestroy gesprochen, manchmal »größer ausschaut, als er eigentlich ist«,[27] ist also eine Trivialität. Nicht trivial dagegen ist die Frage, warum und in welcher Hinsicht diese Entwicklungen nicht nur Veränderungen, sondern Veränderungen zum Besseren sein sollen, was (und wer) diese bewirkt und ob (und wie) die verschiedenen Entwicklungen miteinander zusammenhängen. Gibt es Fortschritt? In gewisser Weise ist das eine falsch gestellte Frage. Ohne Zweifel gibt es Fortschritte im Plural, Fortschritte da und dort. Ob es aber umfassenden 21Fortschritt gibt, einen, der dem »starken Begriff des Fortschritts«[28] entspricht, und ob etwas die vielen kleinen oder lokalen Fortschritte zu Fortschritt in einem umfassenden Sinne macht, das steht zur Debatte.
Fortschritt ist ein normativ aufgeladenes Deutungsmuster, eine Interpretationsfigur,[29] mit der eine bestimmte Auffassung sozialer und historischer Vorgänge etabliert wird. Es geht, wenn wir von Fortschritt sprechen, nicht nur um das nackte Geschehen, also die empirische Wirklichkeit oder die Ereignisse selbst, sondern um unser Verständnis dieser Wirklichkeit, um unsere Bewertung des Geschehens und um die Erwartungen, die wir an dieses richten. Fortschritt ist nicht einfach da. Wir fassen etwas als Fortschritt auf und setzen damit historische und soziale Ereignisse in eine Beziehung zueinander, die wir zu bewerten und zu verstehen beanspruchen. Fortschritt ist ein Prozessbegriff.[30] Und er ist als Interpretations- und Reflexionsbegriff einer der Begriffe, mittels deren sich eine Gesellschaft selbst versteht und – manchmal durchaus konflikthaft – über sich selbst verständigt. Und so mag es zwar sein, dass es welthistorisch keinen Zustand gibt, in dem sich nicht faktisch etwas zum Besseren oder Schlechteren verändert. Diese Veränderungen aber werden nicht immer als Fortschritt (oder als Regression) aufgefasst.
22Was steckt nun hinter der Auffassung gesellschaftlichen Wandels als Fortschrittsgeschehen – oder als Geschehen der Regression? Wie verstehen wir mithilfe des Fortschrittsbegriffs, »woher wir kommen und wohin wir gehen«,[31] wenn dies ein Weg zur Emanzipation oder jedenfalls ein Weg heraus aus dem komplexen Krisengeschehen der Gegenwart sein soll? Ich werde mich, angelehnt an Reinhart Kosellecks wegweisende begriffsgeschichtliche Studie,[32] in einer groben Skizze auf vier charakteristische Merkmale der Fortschrittserzählung konzentrieren, in denen sich ihre Probleme und Potenziale verdichten und anhand derer sich entsprechend mein Ansatz zu dessen Rekonstruktion umreißen lässt: Die unzerbrechliche Kette des Fortschritts (1), seine Unwiderstehlichkeit (2), Fortschritt als Entwicklungsprozess (3) und als verlustfreie Anreicherung oder Akkumulation (4).
(1) Das erste dieser Merkmale betrifft den Zusammenhang verschiedener Dimensionen des Fortschritts. Wie schon meine kleine Beispielsammlung oben zeigen sollte, sind es sehr verschiedene Entwicklungen, die man als Fortschritt reklamieren kann: medizinische und wissenschaftliche Errungenschaften, technische Erfindungen, soziale Neuerungen, die Veränderung moralischer Überzeugungen oder politische Reformen und Revolutionen. Um nun die Wucht des Begriffs und die Euphorie, die er auszulösen vermochte, zu verstehen und um die politisch-historische Semantik von »Fortschritt«, der im europäischen 18. Jahrhundert zum Leitbegriff einer Epoche wurde, nachvollziehen zu können, muss man sich klarmachen, dass in ihm all diese unterschiedlichen Veränderungen in einer umfassenden Bewegung zusammengedacht wurden. Mit der Rede vom Fortschritt war nicht nur der Zuwachs einzelner Fertigkeiten, und auch nicht moralische Läuterung allein, sondern umfassend die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen im Ganzen angesprochen. Die offenbar unwiderstehliche Anziehungskraft des Fortschritts, die 23Idee einer Veränderungsbewegung, die als geradezu unbezwingbare Macht alle Lebensbereiche auf einmal ergreift, war dabei nicht zuletzt gespeist von der unbestreitbaren Zugkraft der technologisch-wissenschaftlichen Entwicklung, der Fortschritte in der Naturbeherrschung. Reinhart Koselleck beschreibt diese Tendenz anschaulich:
Die Erfindung des Buchdrucks, die Ausbreitung der Lektüre, die Erfindung des Kompasses, des Fernrohrs und des Mikroskops, die Entfaltung der Experimentalwissenschaften, die Entdeckung des Globus und die Landnahme in Übersee, der Vergleich mit den Wilden, der Streit der modernen Kunst mit der alten, der Aufstieg des Bürgertums, die Entwicklung von Kapitalismus und Industrie, die Entfesselung der Naturgewalten in der Technik, das alles gehört zu den immer wieder beschworenen Erfahrungen oder Tatbeständen, die mit dem Begriff des Fortschreitens, und zwar des Fortschreitens zum Besseren hin, verbunden wurden.[33]
Auch Steven Lukes betont das Zusammenwirken verschiedenster Entwicklungen, die für das Fortschrittsdenken prägend sind:
Das Wachstum der Wirtschaft, des theoretischen ebenso wie praktischen wissenschaftlichen Wissens und ein Mehr an Gerechtigkeit, Tugend und Glück – all dies hing wie durch eine unzerbrechliche Kette verbunden zusammen.[34]
Nicht zuletzt Marx zeigt sich dann insofern als Erbe des Fortschrittsdenkens der Aufklärung, als er an dieser »unzerbrechlichen Kette«, dem Zusammenhang zwischen der technisch-wissenschaftlichen und moralischen Verbesserung des Menschengeschlechts und seiner Le24bensbedingungen, zwischen Naturbeherrschung und sozialer Herrschaft in mancher Hinsicht festhält.[35]
(2) Das zweite Charakteristikum besagt, dass Fortschritt ein Geschehen ist, das sich, wie auch Koselleck es beschreibt, mit scheinbar überindividueller und unwiderstehlicher Kraft vollzieht, sich durchsetzt und mit geradezu fatalistischer Haltung akzeptiert wird.[36] Fortschritt erscheint dann nicht im einfachen oder direkten Sinne »von Menschen gemacht«, sondern als Vollstreckung dessen, was, mit Hegel gesagt, »an der Zeit […] ist«.[37] »Seinesgleichen geschieht«, wie Robert Musil es ausdrückt.[38] Als gleichzeitig anonyme und geschichtliche Macht kommt der Fortschritt den von ihm ergriffenen Subjekten wie ein »transpersonales Handlungssubjekt«[39] entgegen. Die normative Selbstsicherheit der Protagonist:innen des Fortschritts, der Umstand, dass die Bewertung dieser Entwicklungen als Veränderung zum Besseren sich für sie fast von selbst versteht, hängt auch mit dieser unwiderstehlichen Dynamik zusammen.[40]
25(3) Diese Annahme der Unwiderstehlichkeit führt zu einem dritten Merkmal, das mit der Fortschrittsidee in ihrer klassischen Gestalt fast untrennbar verbunden ist: der Idee einer Entwicklungslogik. Fortschritt ist, dieser Vorstellung nach, ein weltgeschichtlicher Lernprozess, der einem einzigen und evolutionär verstandenen Schema folgt und als solcher normativ verbindlich ist. Egal ob hier mit dem Muster der Entfaltung oder der Reifung gearbeitet wird: Stets handelt es sich um eine Vorstellung von Fortschritt als einem Typus sozialen Wandels, der einer vorgefertigten und verbindlichen Entwicklungslinie oder einem Stufenmodell von notwendig zu durchlaufenden Entwicklungsschritten folgt. Auf enthüllende Weise deutet das bereits Turgot an:
Und wenn man die menschliche Gattung von ihren Ursprüngen an betrachtet, so erscheint sie in den Augen eines Philosophen wie ein großes Ganzes, das selbst auch, wie jedes Individuum, seine Kindheit hat und Fortschritte macht.[41]
Diese Idee einer Menschheitsentwicklung von der Kindheit zur Reife impliziert dabei nicht nur einen großen Zusammenhang, in dem »alle Zeitalter […] durch eine Folge von Ursachen und Wirkungen miteinander verbunden [sind], die den gegenwärtigen Zustand der Welt mit all jenen Zuständen verbinden, die ihm vorausgegangen sind«.[42] Sie geht auch – in befremdlich paternalistischer Einstellung – von einer Hierarchie der hier ausgemachten Entwicklungsstufen aus.
(4) Eine weitere Konsequenz der Idee eines Lern- oder Entwick26lungsprozesses ist schließlich die Vorstellung, dass Fortschritt sich gewissermaßen linear, »ohne Verluste« und kumulativ vollzieht. Fortschritt überwindet demnach das Herkömmliche und ersetzt es durch Besseres. Bei einem so verstandenen Prozess der Anreicherung treten keine Ambivalenzen auf, und es gibt auch keinen Preis, der für den Fortschritt zu zahlen wäre.
Diese vier Dimensionen nun der Fortschrittserzählung sind allesamt auf dezidierte Kritik gestoßen, mit der sich jede systematische Theorie fortschrittlichen sozialen Wandels auseinandersetzen muss.
(1) So hat die euphorische Annahme eines soliden Zusammenhangs – der unzerbrechlichen Kette – zwischen technischem, sozialem, moralischem, rechtlichem und politischem Fortschritt, der so lange die Fortschrittshoffnungen beflügelt hat, heute erheblich an Plausibilität eingebüßt. Nur wenige glauben noch daran, dass die Digitalisierung oder die Gentechnologie direkt und von selbst zu Verbesserungen im sozialen oder moralischen Sinne führen, also hinsichtlich der Art und Weise, wie wir unser Zusammenleben organisieren. Auch ist der für die Denker der Aufklärung so selbstverständliche Zusammenhang zwischen Wissen und Emanzipation zerborsten. Während man in fortschrittsgläubigen Zeiten jeden noch so kleinen Schritt nach vorn bereitwillig in einen fortschrittlichen Gesamtzusammenhang einfügte, schreckt man heute gerade vor einer solchen Totalitätsperspektive zurück. Im Zweifelsfall hofft man noch auf den moralischen Fortschritt, wohingegen man den technischen zwar nutzt, aber gleichzeitig fürchtet. Und tatsächlich gibt es gute Gründe für die Ansicht, dass etwa die Entdeckung des Penicillins, die Erfindung der Waschmaschine oder des Buchdrucks nicht, jedenfalls nicht per se, zu einer Verbesserung der sozialen oder moralischen Verhältnisse geführt haben. Schließlich folgte aus der bloßen Entdeckung des Penicillins nicht, dass es auch allen zugutekommt. Bereits Walter Benjamin mahnte, über »die Fortschritte der Natur27beherrschung […] die Rückschritte der Gesellschaft«[43] nicht aus den Augen zu verlieren und über den Fortschritten der Arbeitsproduktivität nicht zu vergessen, wie sie »[denen] anschlägt, [die] nicht darüber verfügen«.[44]
Die einstmals unzerbrechliche Kette des Fortschritts, von der Lukes spricht, wird entsprechend aufgelöst in – lokale oder sektoriale – Einzelglieder. So wird in einer gängigen Unterscheidung Fortschritt unterteilt in einerseits Fortschritte in der Naturbeherrschung, also technisch-wissenschaftliche Fortschritte und Verbesserungen der materiellen Lebensbedingungen, und in andererseits moralische oder politische Fortschritte, also Fortschritte, die das Zusammenleben der Menschen betreffen. Wenn man sich an die eingangs erwähnten Beispiele hält, dann wären also auf der einen Seite die Erfindung der Waschmaschine, des Penicillins und des Handys zu verzeichnen, auf der anderen Seite der Abbau von Diskriminierungen oder sozialen Herrschaftsverhältnissen, die Ächtung von Gewalt in Erziehung und Ehe, Demokratisierungsprozesse und die Erweiterung sozialer Rechte.
Vor allem die aktuellen philosophischen Diskussionen widmen sich entsprechend vorzugsweise der Dimension des enger geführten moralisch-politischen Fortschritts. Und es wäre nicht verkehrt, die entscheidende Weichenstellung für Jürgen Habermas' Projekt einer Kritischen Theorie in der Abtrennung der sozialen und ökonomischen von der normativen Reproduktion einer Gesellschaft zu sehen.
(2) Aber auch die sich aus dem Zusammenhang von technischem und sozialem Fortschritt nährende Idee einer Unwiderstehlichkeit und Zwangsläufigkeit der Fortschrittsentwicklung hat ihre Überzeugungskraft verloren. Gerade Unwiderstehlichkeit scheint als unaufhaltsamer Wachstumszwang vielen mittlerweile eher Verhängnis 28denn Versprechen zu sein. Die Vorstellung vom Fortschritt als einer quasi automatischen geschichtlichen Bewegung, einem von Willen und Wollen der Akteur:innen unabhängigen evolutionären Schicksal, wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. »Wenn wir die ganze Zeit in einem Wolkenkuckucksheim gelebt haben«, so schreibt John Dewey bereits 1916, »in einem Traum von automatischem, ununterbrochenem Fortschritt, dann ist es gut, aufgeweckt zu werden«.[45] Und Benjamin macht in seinen geschichtsphilosophischen Thesen die Gewissheit, »mit dem Strom [zu schwimmen]«,[46] also Teil eines unausweichlich sich vollziehenden Prozesses zu sein, als Grund für die Korrumpierung der Sozialdemokratie und ihr historisches Versagen aus.[47] Fortschritte, so denken wir Heutigen, sind Resultat des Handelns von Akteur:innen. Sie müssen erkämpft werden, sie passieren nicht von allein. Sie sind gerade nicht unwiderstehlich, sondern, im Gegenteil, von Widerständen bedrängt und in jeder historischen Konstellation eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich.
(3) An der Vorstellung einer Entwicklungslogik à la Turgot schließlich (die landläufig auch der Hegel'schen Geschichtsphilosophie zugeschrieben wird) scheint sich zu entscheiden, ob das Motiv des Fortschritts für heutige kritische Unternehmen überhaupt noch tragbar ist. Ein Reifungsmodell, in dem die verschiedenen, lokal je unterschiedlichen Entwicklungen vereinheitlicht, subsumiert und als Instanzen einer übergreifenden weltgeschichtlichen Bewegung auf ein einziges evolutionäres und normativ verstandenes Schema reduziert werden, führt offenbar zu einer unerträglichen Hierarchisierung von Entwicklungsstufen. Wo Fortschritt nach festgelegtem Plan und verbindlichem Muster verläuft, werden diejenigen, die diesem nicht entsprechen, zu Rückständigen gemacht. Sie sind, das ist der Kern 29einer solchen Theorie der universalen Entwicklung, nicht anders, sondern noch nicht da, wo man sein sollte. In der Weltgeschichte gibt es dann fast zwangsläufig »Pioniere und Nachzügler, Zeitunterschiede, Rückständigkeit«,[48] Hauptspielorte und Nebenschauplätze, ja sogar Orte »ohne Geschichte«.[49] »The west and the rest«.[50] Diejenigen, die nicht dem Entwicklungsmuster der sogenannten »westlichen« Gesellschaften folgen, verbleiben dann, mit Dipesh Chakrabartys treffender Metapher gesagt, im »Wartesaal der Geschichte«.[51] Koloniale Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse werden auf diese Weise paternalistisch gerechtfertigt, die »noch zu Entwickelnden« mittels Herrschaft und Unterdrückung zu ihrem vermeintlichen Glück geführt. Weil im Namen des Fortschritts angeblich unzivilisierte oder rückschrittliche Völker nicht nur auf unangemessene Weise belehrt, sondern auch unterdrückt, ausgebeutet, ja ausgerottet wurden,[52] ist Fortschritt eine der »zweischneidigsten und gefährlichsten Ideen unserer Zeit«,[53] eine Idee, der, wie Thomas McCarthy feststellt, die ideologische Funktion zukommt, »die kognitive Dissonanz zwischen liberalem Universalismus und liberalem Imperialismus« zu reduzieren.[54] Mit dem Fortschrittsbegriff wäre dann die Gewaltgeschichte unserer Gesellschaftsordnungen unzertrenn30lich verknüpft, sofern er sich als zweifelhafte Vorlage für verschiedene Formen des Ethnozentrismus und Imperialismus darstellt,[55] als Instrument westlicher Herrschaft, das bis in die Gegenwart dazu benutzt wird, hegemoniale Machtansprüche sowie ausbeuterische und unterdrückende Praktiken zu legitimieren.
Die im Motiv der Kindheit und der Reife der Menschheit anklingenden paternalistischen Momente sowie der Versuch, als Fortschritt einen Generalstandard der Entwicklung zu etablieren – und damit »ein Set von Merkmalen, die in der Summe die moderne Gesellschaft ausmachen« –,[56] sind aber mehr als nur ein starker Grund, dem Deutungsmuster des Fortschritts in normativer Hinsicht skeptisch gegenüberzustehen. Darüber hinaus ist das Entwicklungsmodell auch sozialtheoretisch, das heißt als Theorie des sozialen Wandels, fragwürdig. Nicht zuletzt haben Entwicklungsmodelle – und in dieser Hinsicht kritisiert bereits Adorno die Geschichtsphilosophie[57] – die Tendenz, eine Sinngebung des Sinnlosen zu betreiben, eine Haltung, die eingedenk der Katastrophen der Geschichte und derjenigen, die ihnen zum Opfer gefallen sind, in Zynismus mündet. Das Entwicklungsnarrativ kann damit zum epistemischen Hindernis werden. Die Ungleichzeitigkeiten und komplexen Temporalitäten der tatsächlichen Geschichte werden dadurch – so die Kritik – überlagert. Nimmt man zum Beispiel die Abschaffung der Sklaverei umstandslos als Fortschrittsgeschehen wahr, besteht die Gefahr, damit deren tatsächliches Weiterbestehen unkenntlich zu machen und die bleibende Ungleichheit, die strukturelle Aus31grenzung und den existierenden strukturellen und institutionellen Rassismus als bloßes Überbleibsel zu verstehen.[58]
(4) Auch die Idee ungebrochener und linearer Akkumulation erweist sich als schlechter Kompass für das Verständnis sozialen Wandels. Nicht gesehen wird hier nämlich, dass mit jeder Errungenschaft auch Momente des Vergessens und Verlernens einhergehen. Problemlösungen erzeugen neue Probleme, und manchmal haben sie einen Preis. Der Gewinn an Kompetenzen kann mit dem Verlust anderer Kompetenzen einhergehen, und man kann vor Problemen stehen, die schon einmal gelöst waren, deren Lösungen aber nicht mehr zugänglich sind. Die Fortschritte der industriellen Landwirtschaft beispielsweise mögen viele Probleme beseitigt haben, sie haben aber auch Nebenfolgen, von der Übernutzung des Bodens bis zur Entstehung resistenter Krankheitserreger durch Antibiotika im Tierfutter. Der durch bildgebende Verfahren ermöglichte Fortschritt in der medizinischen Diagnostik hat fraglos vielen Menschen das Leben gerettet; er leistet aber auch einer Verkümmerung des »klinischen Blicks« Vorschub, ganz abgesehen von der monetären Belastung der Gesundheitssysteme durch ihren inflationären Einsatz. Und digitale Routenplaner ermöglichen zwar die schnelle Orientierung in allen Teilen der Welt, führen aber zum Verlernen der Kompetenz des Kartenlesens.
Lässt sich also Fortschritt – ein Wandel zum Besseren – im Weltgeschehen gar nicht so leicht ausmachen? Wird es nur immer wieder anders, aber nicht besser? Lassen sich angesichts der Mängel, die das Fortschrittsnarrativ aufweist, progressive von regressiven Formen sozialen Wandels eben doch nicht so leicht unterscheiden? Dann müsste man sich die von Michel Foucault vorbereitete Haltung der »methodische[n] Vorsicht« gegenüber der Vorstellung, »es sei besser, oder es sei mehr«, zu eigen machen, seinen »radikale[n], aber nicht aggressi32ve[n] Skeptizismus«, der es verbietet, unsere Gegenwart »für den Endpunkt eines Fortschritts zu halten«, sie also »mit einer Positivität, einer Bewertung zu versehen«.[59] Die Frage ist allerdings, ob wir uns diese Haltung leisten können.
Die Kritik am Fortschritt ist nämlich so alt wie der Fortschritt selbst und hat ihrerseits Folgen gezeitigt, die alles andere als erfreulich sind. So dunkel und gewaltsam die Realgeschichte des Fortschritts und die Ideologiegeschichte der Fortschrittstheorie sind: Man darf nicht vergessen, dass auch die Fortschrittskritik, vornehmlich im Europa des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, eine trübe Geschichte hat. Nicht nur ist die vielfach dokumentierte fortschrittskritische Romantisierung des »Wilden«[60] und des »Natürlichen« selbst eine kolonialistische Strategie des Othering. Darüber hinaus gehört das Cluster von Fortschrittskritik, Antimodernismus, Antiurbanismus und Antisemitismus zum Standardrepertoire einer Zivilisationskritik, die dem europäischen Faschismus den Weg bereitet hat und sich auf die eine oder andere Weise in aktuellen neoautoritären beziehungsweise neofaschistischen Bewegungen – zum Beispiel in Gestalt des Antigenderismus, aber auch in neurechten völkischen Ideologien, die einmal mehr die Dekadenz des Westens brandmarken – wiederfindet. So leicht wird man das Problem des Fortschritts also nicht los. Und so lässt sich anhand der von mir skizzierten Dimensionen des 33Fortschrittsnarrativs nicht nur sehen, was an diesem problematisch ist, sondern auch, was fehlt, wenn wir uns die Bezugnahme auf Fortschritt und Regression, auf fortschrittlichen oder regressiven sozialen Wandel verbieten.
Erstens: So unplausibel die Annahme einer »unzerbrechlichen Kette« geworden ist: Bedenkt man die offenkundigen Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Veränderungen unserer Lebensweise nicht mit, wenn man über soziale Transformationsprozesse nachdenkt, dann verkennt man, was ich die Materialität von Lebensformen nennen möchte, und bestimmt entsprechend die Bedingungen sozialen Wandels allzu ›idealistisch‹. Veränderte Lebensumstände bringen veränderte soziale Praktiken mit sich, in deren Folge auch neue Formen des Zusammenlebens und der normativen Organisation dieses Zusammenlebens entstehen. Die durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt verringerte Kindersterblichkeit ist klarerweise ein Faktor in der Intimisierung der Familienbeziehungen im bürgerlichen Zeitalter gewesen;[61] der Buchdruck hat die Art von bürgerlicher Öffentlichkeit ermöglicht, die zu den Vorbedingungen moderner Demokratien zählt.[62] Und dass es keinen Einfluss auf die soziale, moralische und politische Ordnung haben sollte, wenn die Revolution der Informationstechnologie nicht nur die Kommunikationsverhältnisse, sondern mit ihnen auch unsere praktischen Lebens- und Arbeitsverhältnisse massiv umgestaltet, ist wenig wahrscheinlich. Auch wenn das eine – der politisch-moralische Fortschritt – nicht direkt und mit kausaler Notwendigkeit aus dem anderen – etwa dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt – folgt: Die umgekehrte Vorstellung, dass beides voneinander vollständig unabhängig wäre, leuchtet ebenso wenig ein. Es gehört also zu den Pointen meines Projekts, gegenüber idealistischen, voluntaristischen und nor34mativistischen Verengungen ein ›materialistisches Moment‹ des Fortschrittsmotivs zurückgewinnen zu wollen.[63]
Zweitens nun droht das Aufgeben des Fortschrittsgedankens zu einem sozialtheoretischen Defizit zu führen, das vor allem für den spezifischen Einsatz einer Kritischen Theorie bedenklich ist. Lebt eine solche von Analysekriterien, mit denen wir uns historische und soziale Veränderungen, also die Erosionen und Transformationen von Institutionen, Praktiken und Lebensformen, verständlich machen, sie aber auch bewerten können, so kann die pauschale Ablehnung von allem, was mit Lern- und Entwicklungsprozessen zu tun hat, leicht zu einer Entdifferenzierung der Diskussion führen, in der das Kind – die eminent wichtige Frage der Logik sozialen Wandels – mit dem Bade ausgeschüttet wird.
So ist heute das Vertrauen in den Automatismus des Fortschritts, das John Dewey vorfand und an dem Walter Benjamins Thesen sich abarbeiten, ohnehin fast nur noch als Strohmann präsent, und das Vertrauen auf die überpersonale Logik der Geschichte längst vom Schlagwort der Kontingenz und von einem voluntaristischen Vertrauen in Willen und Wollen der Akteure abgelöst worden. Aber so leicht sich die Vorstellung eines Automatismus oder eines transpersonalen Handlungssubjekts diskreditieren lässt, so schwierig ist es, eine angemessene Deutung des Geschehens im Wechselspiel von Ereignis und Struktur, von strukturellen Vorbedingungen des Handelns und dem Handeln selbst zu finden.
35Die Herausforderung für eine Rekonstruktion des Fortschrittsmotivs besteht dann darin, die Grundlagen zu einer Theorie fortschrittlichen sozialen Wandels zu legen, die gesellschaftliche Veränderung »weder als Erfüllung eines vorgegebenen Weltenschicksals noch als dezisionistischen Willkürakt«[64] versteht.
Drittens: Natürlich ist eine am Entwicklungsgedanken ausgerichtete Geschichtsphilosophie, die andere in den Wartesaal der Geschichte verbannt, nicht nur problematisch, sondern auch irreführend. Aber wie eigentlich soll man über (die eigenen) Gesellschaften in kritisch-analytischer Absicht nachdenken, ohne ein irgendwie geartetes Narrativ zu entwickeln, das die Transformation von Gesellschaften als Geschichte von Krisen, Erosionen und den darauf folgenden Revolutionen und Wandlungsprozessen und mit Bezug auf die aus diesen erwachsenden Handlungsmöglichkeiten erzählt? Bereits Adorno hat, bei aller Ambivalenz gegenüber Fortschritt und Geschichtsphilosophie, deren Unabdingbarkeit auch im Blick. Will man die Welt nicht nur so auffassen, »wie sie ist«, braucht man eine Narration, die die Widersprüche und Krisen dieses Wirklichen zusammen mit den Potenzialen seiner Veränderung begreifbar macht und damit aus dem Bann des Faktischen herauszuführen vermag. Keine Geschichtsphilosophie ist also auch keine Lösung.
Und schließlich: So richtig es ist, die unterschiedlichen Temporalitäten und Differenzen nicht in der universalistischen Perspektive einer Weltgeschichte als Universalgeschichte einzuebnen: Den bloßen Lokalismus und Kontextualismus können wir uns eigentlich auch nicht leisten, wenn wir andererseits davon ausgehen, dass, mit Marx gedacht, »der Weltmarkt der Weltgeist« ist,[65] also angesichts der realen welthistorischen Verflechtungen und Interdependenzen. Gerade weil 36die Entwicklung Europas nicht das Resultat einer endogenen Entwicklung ist, wie Gurminder K. Bhambra anmahnt,[66] und gerade weil, wie Stuart Hall betont, die Geschichte Europas viel zu oft so erzählt wird, »als hätte Europa kein Außen«,[67] gilt es, den wechselseitigen Verflechtungen in globalhistorischer Perspektive nachzuspüren.
Spreche ich hier über das, was fehlt, wenn uns die Fortschrittsidee verloren geht, so sollte ich vielleicht kurz darauf eingehen, was aus meiner Sicht nicht (oder nicht unbedingt so sehr) fehlt. Während ich hier über das materialistische und das sozialtheoretische Defizit einer kritischen Theorie ohne Theorie fortschrittlichen und regressiven sozialen Wandels spreche, habe ich das drohende normative Defizit