Das Ende der Flucht - Hartmut Fleischmann - E-Book

Das Ende der Flucht E-Book

Hartmut Fleischmann

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Beschreibung

Im Zentrum der Erzählung steht das Schicksal von zwei jungen Männern, Karim und Samad, die 2015 aus Afghanistan nach Deutschland in eine oberfränkische Gemeinde kamen. Die Ereignisse in den Jahren 2015 bis 2021 werden aus der Perspektive eines Ehepaares erzählt, das als Flüchtlingshelfer tätig war. Karim wurde von den Taliban auf grausamste Weise gefoltert und verlor dadurch beide Arme. Der Versuch, ihn zu integrieren und ihm durch elektrische Prothesen ein selbstbestimmtes Leben als Behinderter in Deutschland zu ermöglichen, scheitert nach jahrelangen Bemühungen an den Traumatisierungen und an der Unfähigkeit der deutschen Bürokratie. Samad scheint sich problemlos und erfolgreich in die deutsche Gesellschaft einzufügen. Doch dann wird sein Asylantrag abgelehnt. Erst später stellt sich heraus, unter welchen Verfolgungen auch er in Afghanistan gelitten hat und dass er von den Taliban zum Tod verurteilt wurde. Ist es zu spät? Während die drohende Abschiebung immer näher rückt und auch bei Samad die traumatischen Erfahrungen alle Integrationsleistungen zu zerstören drohen, tritt eine junge Polin in sein Leben. Kann sie ihn retten? Es beginnt ein dramatischer Wettlauf.

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Vorwort

Die vorliegende Erzählung beruht auf den persönlichen Erfahrungen und Empfindungen aus sechs Jahren, in denen meine Frau Anne und ich versucht haben, Flüchtlingen Hilfestellungen bei ihrem schwierigen Integrationsweg in die deutsche Gesellschaft zu geben. Sie enthält Hoffnungen und Enttäuschungen, Glück und Verzweiflung, Erfolge und Scheitern.

Es kamen und kommen weiterhin Menschen zu uns. Menschen mit ihren großartigen Anlagen und Möglichkeiten und ihren vielen Fehlern und Schwächen. Integrationsarbeit kann nicht ohne Empathie und ohne persönliche Bindungen erfolgen. Integrationsarbeit wird immer mit der natürlichen menschlichen Zurückhaltung gegenüber allem Fremdem und Neuem zu rechnen haben. Dies betrifft sowohl die, die schon da sind, wie auch die, die erst durch die Türen dieser Gesellschaft treten wollen. Integrationsarbeit wird immer unterscheiden müssen zwischen dieser natürlichen Zurückhaltung, die bis zu einem gewissen Grade sicher auch zu tolerieren und zu verstehen ist, und offenem oder verdecktem und strukturellem Rassismus, der konsequent und überall bekämpft werden muss.

Es kamen und kommen Menschen aus weit entfernt liegenden Kulturen zu uns. Natürlich erschwert diese Ferne, die ja auch notgedrungen für uns entfernte Denk- und Handlungsweisen beinhaltet, die schnelle Integration. Viel mehr wird die Integration aber oft dadurch erschwert, dass Flüchtlinge fast immer mehr oder minder schwer traumatisiert sind. In ihrer Heimat und auf der Flucht haben sie Gewalt, unmenschliche Brutalität, Verfolgung und Kriege erlebt, von denen wir keine Ahnung haben, von denen wir uns keinen Begriff machen können. Über Traumata kann man nur schwer oder gar nicht sprechen, sonst wären es keine Traumata. Zusätzlich erschweren die großen Sprachbarrieren einen Einblick unsererseits in die Gedankenwelt der Schutzsuchenden. Wir stehen Menschen gegenüber, deren tiefgehende psychische Probleme wir meist nicht verstehen können. Ihre Handlungsweisen erscheinen uns dann natürlich ebenso fremd. Dies erklärt das Scheitern mancher Integrationsbemühungen, es zeichnet aber umso mehr die vielen geglückten Integrationsschicksale aus. Unsere Behörden und unser Rechtssystem wirken in dieser Hinsicht komplett überfordert. Dass ein Flüchtling über seine Beweggründe zur Flucht nicht sprechen will oder kann, ist in Gesetzen und Verordnungen nicht vorgesehen. Unser Rechtssystem, die ständige Drohung mit Abschiebung, führt in vielen Fällen zu einer Vertiefung, zu einer Verschlimmerung bestehender Traumata oder führt sogar zur Entstehung neuer Traumata.

Die Erzählung beruht auf tatsächlichen Begebenheiten bzw. auf authentischen Berichten über diese. Zum Schutze der psychischen Gesundheit der Betroffenen mussten manche Schilderungen verkürzt werden. Aus Gründen des Datenschutzes wurden einige Personennamen und Ortsangaben verändert.

Inhalt:

Prolog

Vorhof der Hölle

Das Notaufnahmelager

Das übergeworfene Jackett

Die andere „Weihnachtsfeier“

Was mutet Gott dem Menschen zu?

Start in ein neues Leben

Zeit der Hoffnung

Zeit der Zweifel

Was bahnt sich an?

Flucht in den Wahnsinn

Ein Todesurteil als Rettung?

Rückkehr des Traumas

Der Wettlauf mit der Zeit

Epilog

Prolog

Einschusslöcher in Häusern, von Granaten gerissene Lücken. Gebäude, die aus lauter Wunden bestehen. Wunden, die sich tief in das Land, in die Gesellschaft gegraben haben. Alte Menschen mit leeren Augen, mit Hoffnungslosigkeit im Blick. Trostlosigkeit soweit das Auge reicht.

Wir befanden uns im kroatisch-bosnischen Grenzgebiet, mitten in Europa, mitten im ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien. September 2015 – der Krieg zwischen den Völkern des Westbalkans lag zwanzig Jahre zurück, zwanzig Jahre nach Srebrenica, nach diesem größten Trauma Europas seit dem zweiten Weltkrieg. Während an der Mittelmeerküste der Tourismus boomte schien in diesen Dörfern nahe der bosnischen Grenze die Zeit stehen geblieben zu sein.

Ich erinnerte mich an eine Nacht vor 42 Jahren, als ich mich mit einem Studienfreund auf einer Skandinavienreise befand. Wir waren gerade in einer norwegischen Jugendherberge in Mo i Rana nahe dem Polarkreis. Stundenlang diskutierten wir dort mit einer jungen Ärztin aus Belgrad und einem italienischen Studenten. Er war Mitglied der italienischen kommunistischen Partei, der damaligen KPI. Sie war Mitglied des Bundes der Kommunisten in Jugoslawien und eine glühende Anhängerin Titos. Er träumte von einem demokratischen menschlichen Kommunismus für ganz Europa. Tito war für ihn ein Abweichler von der wahren marxistischen Lehre, der ebenso zu bekämpfen war, wie der sowjetische oder der maoistische kommunistische Machtbereich. Die Serbin sah in Tito den Mann, der 1945 nach einem großartigen Sieg über den Faschismus die Völker des Westbalkans befreit und einen hoffnungsvollen Bundesstaat aufgebaut hatte. Vielleicht könnte dieser Bundesstaat ein Vorbild für ganz Europa sein. Sie erzählte uns aber auch, dass diese Völker sich eigentlich hassen würden. Diese Frau war überzeugt, dass dieses Land sofort im Chaos eines Bürgerkrieges versinken würde, wenn Tito es nicht mit eiserner Hand zusammenhalten würde. Wir hielten dies damals für reichlich übertrieben. Ein Bürgerkrieg inmitten Europas am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts - ein Ding der Unmöglichkeit! Wie hatten wir uns getäuscht! Die Grausamkeit der knapp 20 Jahre später auftretenden Jugoslawienkriege übertraf wohl die schlimmsten Befürchtungen der Belgrader Ärztin bei weitem. Können Völker auch zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht friedlich zusammenleben? Kann es sein, dass dieses Europa, für das sich unsere Generation nach dem zweiten Weltkrieg so stark gemacht hat, auf dem soviel Hoffnung lag, nur eine Illusion ist? Dass der Gedanke nicht nur vom friedlichen Nebeneinander-Leben sondern vom Miteinanderleben und vom Aufbau eines gemeinsamen Hauses Europas wieder zerbricht? Dass Ethnien und Religionen immer noch die Menschen so entzweien, dass ein vernünftiges Miteinander nicht möglich ist, erschien uns Angehörigen der 68er-Generation, die - zumindest in Europa - nicht nur die Geschichte sondern auch das Denken des „dritten Reiches“, das Denken in Rassen-, Völker- und Religionsschubladen für endgültig überwunden glaubten, unfassbar.

Wir fuhren wenige Kilometer weiter. Am Straßenrand plötzlich wütendes Hundegebell: mehrere offensichtlich scharfe Schäferhunde. Ihre Hundeführer waren uniformiert und mit Maschinenpistolen bewaffnet. Daneben ein Dutzend weiterer kroatischer Grenzpolizisten oder Milizionäre. Wir ahnten, auf wen hier Jagd gemacht wurde.

Auch im Urlaub verfolgten wir natürlich die Nachrichten im Internet: Während wir uns langsam auf den Heimweg von einem wunderschönen Urlaub machten, befanden sich in Kroatien und besonders in den Nachbarländern Ungarn, Serbien und Slowenien über eine Million Menschen, hauptsächlich aus den Kriegsgebieten Syrien und Afghanistan, auf der Flucht nach Mitteleuropa. Sie zogen teilweise durch Gebiete, aus denen die Menschen wegen der Balkankriege und der hoffnungslosen Lage in den Jahren danach selbst geflohen waren. Kroaten und Serben, Kosovaren oder Sinti und Roma aus dem Westbalkan hatten in den Vorjahren selbst in Mitteleuropa Asyl gesucht.

Als ehemaliger Rektor einer Grundschule hatte ich in den letzten Jahren immer wieder mit den Integrationsproblemen der Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien zu tun. An unserer kleinen Schule, die mangels Schülern in ihrem Fortbestand bedroht war, wurden sie mit offenen Armen aufgenommen. Ihre Anzahl war überschaubar und sie sicherten der einheimischen Bevölkerung ihre kleine Grundschule. Unsere pädagogischen Integrationsbemühungen waren auch größtenteils erfolgreich. Kinder lernen schnell. Die deutschen Kinder spielten mit ihnen wie Kinder mit anderen Kindern eben spielen, wenn sie nicht von Erwachsenen aufgehetzt werden: unbekümmert, offenherzig, freundlich und ohne jede Scheu. Allerdings erschien dann manchmal ein Kind von heute auf morgen nicht mehr im Unterricht. Erst auf unsere Nachforschungen hin erfuhren wir, dass die Familie in der Nacht abgeschoben worden war oder nach Androhung der Abschiebung selbst fluchtartig in ein anderes europäisches Land weiter geflohen war. Die von Deutschen gespendeten Schultaschen, neuen Hefte und Schreibmaterialien, die sich teilweise noch in der Schule befanden, wurden dann einfach an das nächste Flüchtlingskind weitergereicht.

Geschichte wiederholt sich angeblich nicht. Menschliches Leid offensichtlich schon. Neue Kriege erzeugen neue Flüchtlingsströme. Manchmal ziehen diese Ströme durch Gebiete, deren Wunden durch den letzten Krieg noch lange nicht verheilt sind. Mit scharfen Hunden und Maschinenpistolen wurden sie hier empfangen. Wir hörten, dass sich besonders in Ungarn Hunderttausende von Flüchtlingen stauten. Auf dem Budapester Bahnhof mussten untragbare Zustände herrschen. Im Internet wurde berichtet, dass Deutschland die Grenzen geöffnet hatte und dass zur Zeit Hunderttausende von Flüchtlingen auf der Balkanroute in Richtung Deutschland zogen. Besonders am Münchner Hauptbahnhof bereiteten viele Freiwillige den Flüchtlingen einen freundlichen Empfang.

Die slowenisch-österreichische Grenze überquerten wir an einem ganz kleinen Übergang. Kein einziger Flüchtling war zu sehen, aber auffallend viele österreichische Grenzpolizisten schienen sich auf etwas „Größeres“ gefasst zu machen. Eine sympathische junge Beamtin überprüfte unsere Pässe und bemerkte schmunzelnd: „In eurer Wohnmobil-Toilette habt´s jetzt aber net an klaanen Flüchtling sitzen - oder?“ Als ich „natürlich nicht“ antwortete, beschlich mich gleichzeitig ein Gefühl der Unsicherheit: Was wäre denn gewesen, wenn wir nun doch einen Flüchtling am Straßenrand mitgenommen hätten? Wäre ich dann ein Schleuser? Hätten wir uns mit einer Hilfeleistung sofort strafbar gemacht? Warum sagte ich „natürlich“? Wie oft bin ich selbst in meiner Jugendzeit getrampt! Mit Pappdeckeln, auf denen irgendein Ziel stand, an Autobahnraststellen zu stehen und dann durch ganz Europa zu reisen - etwas Selbstverständliches in unserer Generation! Seit Schengen benötigte man kaum mehr einen Pass dazu, Grenzen waren allenfalls noch durch ein paar Schilder am Straßenrand wahrnehmbar. Wieder dieses Gefühl, dass sich gerade in Europa etwas Grundlegendes änderte, dass sich etwas zurück entwickelte.

Die österreichisch-deutsche Grenze passierten wir bei Schärding, also an einem größeren Autobahnübergang. Was hatte sich hier innerhalb der wenigen Urlaubswochen verändert! Auf der Hinfahrt fuhr man unkontrolliert ohne irgendeinen Stopp, ohne irgendeinen Stau über eine Innbrücke. Jetzt lagerten hier Tausende von Menschen am Straßenrand: Unzählige Familien mit vielen kleinen Kindern, sehr viele Heranwachsende, die allein zu sein schienen. Meistens trugen sie irgendwelche Bündel auf dem Rücken, Wasserflaschen in den Händen. Die deutschen Fahrzeuge wurden von den Grenzbeamten weitgehend durchgewunken. Wir fragten uns, wie lange die Flüchtlinge hier warten mussten, wie es nach der Grenze mit ihnen wohl weiterging. Aus den Nachrichten hatten wir erfahren, dass sie meistens ohne Ausweispapiere kamen. Die Behörden mussten natürlich versuchen, irgendeine Identität heraus zu bekommen, sie irgendwie zu erfassen. Wohin werden sie dann gebracht oder lässt man sie einfach am Straßenrand weiterziehen? Wir erahnten immer mehr, welche Probleme sich auftaten. War Deutschland in der Lage diese Probleme zu lösen? War die deutsche Bevölkerung im Jahre 2015 bereit dazu? Wie weit würde sich unser eigenes Leben dadurch verändern?

Vorhof der Hölle

Sie kamen nachts - wie immer. Wie oft schon hatte er in Albträumen diesen Moment erwartet, wie oft hatte er schon den Anfang der Schläge, der Folter im Traum erlebt und war dann von seinen eigenen Schreien aufgewacht?

Sarwar, sein Vater, war wieder einmal nicht da. Auch diesmal hatte er niemandem in der Familie gesagt, wohin er ginge. Ob er wieder einen Job bei den Amerikanern hatte, wieder mit seiner alten Kalaschnikow einen Konvoi von Tankfahrzeugen nach Kandahar begleiten würde oder ob er wieder eine Warnung von irgendjemandem erhalten hatte, dass sie hinter ihm her wären und er sich verbergen müsste. Es machte auch keinen Unterschied. Seine Kalaschnikow hatte er sowieso immer umhängen. Immer ließ er sich von Mutter die gleiche Verpflegung, einige Brotfladen und etwas Gemüse und Obst, einpacken. Ob er aus Sorge um seine Familie so wenig sprach, so wenig von seiner Arbeit offenbarte, ob es die Angst war, sie könnten ihn verraten oder ob es die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber seiner Familie war, erschien jetzt bedeutungslos. In den Nächten davor hatte Karim oft wach gelegen und darüber nachgedacht, warum sein Vater immer schweigsamer und immer abweisender gegenüber seinen Kindern und seiner Frau wurde. Sein Vater musste jetzt wohl etwa 60 Jahre alt sein. Genau wusste es niemand. Der Krieg hatte vor 30 Jahren begonnen und ihn wohl von Jahr zu Jahr mehr geprägt. Karim hatte das Gefühl, dass sein Vater in jedem Jahr mehr verhärtete. Ganz dunkel konnte er sich noch daran erinnern, wie sein Vater manchmal mit ihm spielte, als er ein kleines Kind war. Nur ganz schemenhaft konnte er sich daran erinnern, dass sein Vater damals noch manchmal lachte oder wenigstens lächelte. Nun war er selbst im 18. Lebensjahr. Er war nun verantwortlich für seine beiden jüngeren Schwestern und seine Mutter, wenn Vater wieder tage- oder wochenlang aus dem Haus war.

Der ältere Bruder war schon über die nahe Grenze gegangen. Im Iran lebte er zwar illegal, aber trotzdem war das Leben für ihn sicherer. Er war 19 Jahre alt und konnte dort weder von den afghanischen Sicherheitskräften noch von den Taliban für den Militärdienst rekrutiert werden. Er arbeitete auf dem Hof eines iranischen Bauern und hatte genug zu essen. Als er im letzten Sommer einige Tage zu Besuch kam, hatte er sogar für die ganze Familie viel Mehl und Gemüse mitgebracht.

Seit einigen Jahren ging sein Vater nun immer öfter zu den Amerikanern und bot sich als Hilfskraft an. Wenn er heimkam, brachte er immer einige Dollar mit. Zweifellos konnten sie sich auf dem Markt von Islam Qala seitdem mehr kaufen. Sein Vater kam aber immer seltener heim. Nach jedem „Einsatz“ verbarg er sich oft wochenlang irgendwo. Über seine Verstecke machte er seiner Familie gegenüber nie eine Andeutung. Bei seinen kurzen Aufenthalten in Islam Qala besuchte er auch immer seine erste Frau um nach ihr und seinen ersten vier Kindern zu sehen. Obwohl sie ganz in der Nähe wohnten, kannte sie Karim kaum. Er war nun der einzige Mann im Haus. Tagsüber arbeitete er in der Schreinerei seines Cousins. Das machte ihm großen Spaß. Abends arbeitete er für ihre eigene kleine Landwirtschaft. Mutter kümmerte sich tagsüber um die Schafe, Ziegen und Hühner und wenn sie kein Essen kochen musste, ging sie auch auf die Felder. Den uralten kleinen Traktor seines Vaters steuerte aber nun Karim. Einerseits war er stolz darauf. Wenn aber sein Vater auf ihn einredete, dass er nun jeden Tag aufpassen müsse und dass er nichts verraten dürfe, wenn die Taliban kämen und nach seinem Aufenthaltsort fragen sollten, dass er seine Mutter und die zwei kleinen Schwestern beschützen müsse, dann fühlte er die Verantwortung wie einen riesigen Felsbrocken über seinem Kopf, dann wachte er nachts schweißgebadet oder sogar schreiend auf. Er konnte nichts verraten, weil er nichts wusste, aber würden die Taliban sich damit zufrieden geben? Wie sollte er seine Mutter und seine Schwestern schützen? Er hatte keine Waffe. Er wusste nicht, wo sie sich verbergen sollten.

Schon lange hatte er sich angewöhnt angezogen zu schlafen, in Hose und Hemd, um jeden Moment aufspringen zu können. Was er aber dann tun sollte, blieb ihm ein Rätsel. Wenn sie kämen, würden sie sicherlich sofort auch den Hintereingang bewachen. Ein Entkommen schien unmöglich. Was sollte er sagen, wenn sie ihn nach dem Aufenthaltsort des Vaters fragten? Aus den Erzählungen seiner Freunde wusste er, dass sie jedes Verhör mit massiven Schlägen beginnen würden, dass es oft zu Entführungen käme und die Betroffenen dann niemals zurückkehrten oder später höchstens ihre Leichen gefunden würden.

Er fuhr sofort hoch als er Stimmen vor der Tür hörte. Sie machten sich gar nicht mehr die Mühe abzuwarten bis auf ihr einmaliges lautes Klopfen jemand öffnete. Sofort wurde die Tür mit irgendwelchen Stemmeisen oder Äxten aufgebrochen. Mutter drückte die Mädchen an sich, die schon zu weinen begonnen hatten. Nach wenigen Sekunden schritten vier Taliban durch die aufgebrochene Tür. Zwei hatten Maschinenpistolen im Anschlag, die beiden anderen trugen Stöcke, Äxte, Stricke. Er konnte es in den Schrecksekunden und in dem dämmrigen Licht gar nicht richtig wahrnehmen. Die Angst ließ sein Herz so pochen, dass er meinte, es würde wohl gleich zerspringen. Einige Male schrien sie ihn an, fragten danach, wo sich Vater verbergen würde. Er spürte die ersten Schläge auf seinem Kopf, sah wie auch Mutter geschlagen wurde, hörte die Schreie der Mutter und das Weinen der Schwestern. Die Angst und der Schock begannen jedoch bereits sein Gehirn und seine Gliedmaßen zu lähmen. Es war ihm, als ob er schon neben sich stünde, als ob er nun seinem nahen Tod, seinem Sterben nur zusehe. Auf die wiederholten Fragen und Schläge antwortete er nur immer wieder mit gequältem „Wir wissen es nicht!“. Dann wurden sehr schnell seine Augen verbunden und irgendein Sack über ihn gestülpt. Er dachte noch, dass er nun wohl ersticken würde, spürte, wie seine Hände mit einem groben Strick gebunden wurden. Man schubste ihn nach draußen und stieß ihn wohl auf die Ladefläche irgendeines alten Pick-ups wie es sie so häufig in Afghanistan gab. Er hörte noch die Schreie und das Wehklagen seiner Mutter, bevor er in die Hölle zu fahren schien.

Das Auto fuhr mit hoher Geschwindigkeit über die zahlreichen Schlaglöcher der afghanischen Straßen. Wegen der Fesseln konnte er sich nirgendwo abstützen. Er hatte das Gefühl, dass ihm schon jetzt bei jedem Schlagloch eine Rippe oder ein Hüftknochen brechen würde. Unendliche Finsternis umgab ihn. Von seinen Entführern hörte er nur noch wenige unverständliche Laute. Da er öfters wie auf einer schiefen Ebene auf der Ladefläche des Pick-ups nach unten zu rutschen schien, vermutete er, dass sie ihn in die Berge fuhren. Die Fahrt musste schon einige Stunden andauern. Er war aber bereits nicht mehr in der Lage, Zeiträume richtig zu schätzen. Die furchtbare Angst davor, was wohl nach dieser Fahrt geschehen würde, hatte bereits jegliches Denken und Überlegen blockiert.

Die Straße wurde immer steiler und holpriger. Irgendwann stoppte der Motor. Sie nahmen ihm die Fußfesseln ab. Er wurde von der Ladefläche gerissen, einige Meter mehr geschleift als geführt und dann irgendwo auf seine Knie gedrückt. Sie brauchten keine Gewalt mehr auszuüben. Er war bereits zu einem willenlosen Stück Fleisch geworden. Endlich nahm man ihm die Augenbinde ab. Die Morgendämmerung war bereits hereingebrochen. Vor ihm saßen oder standen einige Taliban. Dahinter war in einer Felswand ein großes schwarzes Loch, ein größerer Höhleneingang zu erkennen. Vor dem Eingang waren über dünne Hölzer einige Planen gespannt. Über die Planen hatten sie Tarnnetze gelegt, wie sie von allen Truppen, besonders auch von den NATO-Alliierten verwendet wurden. Das Ganze bildete eine Art von Vorhof vor einem dunklem Loch. Neben ihm standen einige Taliban mit Knüppeln und hielten ihn im Genick fest. Es war völlig unnötig, zu einem Fluchtversuch war er längst nicht mehr imstande. Einige Taliban - wahrscheinlich die Anführer der Gruppe - saßen vor ihm auf Teppichen, er kniete natürlich im Staub. Vermutlich befanden sich noch viele in der Höhle oder in der näheren Umgebung. In seinem Rücken würde wohl bald am Horizont eine strahlende Sonne aufgehen. Er sollte sie für Wochen oder Monate nicht mehr sehen.

Immer wieder stellten sie ihm dieselben Fragen: „Wo ist dein Vater Sarwar? Wo hat er sich versteckt?“ Immer wieder beteuerte er, es nicht zu wissen. Er heulte, er schluchzte. Nach jeder seiner Antworten bekam er neue Schläge und Tritte. Immer mehr Blut tropfte vor ihm in den Dreck. Eine seiner letzten Erinnerungen war, dass man ihm plötzlich die Handfesseln löste und einer seiner Peiniger mit einer großen Zange nach seinen Fingern griff, während ein anderer ihn in einem Würgegriff hielt. Sie begannen damit, ihm nacheinander die Fingernägel auszureißen. Er meinte noch die Schreie seiner Mutter bei seiner Entführung zu hören, aber es waren seine eigenen Schreie. Bei welchem Finger er zum ersten Mal das Bewusstsein verlor, daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Später wusste er auch nicht mehr richtig, ob er das Folgende wirklich so erlebt hatte oder ob es einer der vielen späteren Fieberträume war. Es waren Bildfetzen und Schmerzerinnerungen: das Gefühl eiskalten Wassers, das über seinen Kopf geschüttet wurde, das nach ein paar Augenblicken wieder von dem unendlichem Schmerz in seinen Händen verdrängt wurde. Gesichter und Schreie über ihm, die er später nicht mehr näher identifizieren konnte. Er spürte, wie seine Arme auseinander gezogen und mit Drähten gebunden wurden. Er sah, wie diese Drähte mit einem grauen Kasten verbunden wurden. Er wusste die Bedeutung nicht, der Schmerz aus seinen Händen hatte schon jetzt sein Gehirn völlig blockiert. Dann fuhr ein Blitz in seinen Körper…

Das war der Moment, in dem sein erstes Leben beendet wurde - brutal und unwiderruflich. Das war der Moment, der später - in seinem zweiten Leben - in jeder Nacht wieder kam, ein grauenvoller Tod, den er immer und immer wieder durchleben sollte. Was war schlimmer? Diese Nah-Tod-Erfahrung oder das anschließende Erwachen, die immer wiederkehrende Erkenntnis, dass der Tod vielleicht gnädig gewesen wäre, dass die Wirklichkeit, dass die Zukunft, dass das Leben viel grausamer waren?

Das Notaufnahmelager

Zurück in der fränkischen Heimat wurden wir im Freundeskreis gleich mit der letzten Neuigkeit von Marktrodach empfangen. Ein großes Werk für Elektroartikel war vor Jahren noch der größte Arbeitgeber im Ort gewesen. Inzwischen hatte die Fabrik längst zugemacht, die leeren Fabrikhallen standen aber noch. Außer einigen wenigen kleinen Räumen an der Straßenseite war alles ungenutzt, der Zugang zu der ehemaligen größten Fabrikhalle befand sich an der Rückseite des weitläufigen Geländes am Waldrand, abgeschieden vom Ort. Das Gelände war hoch umzäunt, der rückwärtige Eingang am Waldrand kaum einsehbar. Hier war die Errichtung eines Notaufnahmelagers für Hunderte von Flüchtlingen geplant. Landkreis und Gemeindeverwaltung waren sich angeblich einig. Die Vorbereitungen liefen bereits. Erst später erfuhren wir, dass es in den Vortagen natürlich doch erhebliche Meinungsverschiedenheiten und Unruhe unter den politischen Entscheidungsträgern des Ortes und des Landkreises gegeben hatte.

Wir kannten die Menschen unserer Region. Die Gegend war ländlich - industriell geprägt, gemischt konfessionell, überwiegend protestantisch. Die Wahlergebnisse unterschieden sich nicht allzu sehr vom deutschen Durchschnitt. Radikale Parteien hatten aber bisher kaum eine Chance. Die Menschen waren allen Fremden gegenüber freundlich - zurückhaltend. Wobei das „Zurückhaltende“ eher auf der sparsamen Kommunikation des fränkischen Menschenschlags beruhte. Man „plauderte nicht viel daher“, aber abweisend war man nicht. Norddeutsche empfanden uns wohl etwas „maulfaul“. Aus den Gesprächen unserer Bekannten und Nachbarn war aber eine durchaus verständliche Neugier und Unruhe zu spüren. Wer würde da wohl kommen? Was würde dies für unseren Ort bedeuten? Was würde sich verändern? Noch hörten wir keinerlei negative Äußerungen oder Befürchtungen. Würde dies aber so bleiben?

Die Gesprächsthemen des Landes, des Ortes wurden nun zunehmend auch Gesprächsthema unserer Familie. Ich befand mich mit 63 Jahren seit zwei bis drei Monaten in der „Freistellungsphase“ der Altersteilzeit, im Vorruhestand. Anne war bereits seit ca. drei Jahren pensioniert. Die Kinder waren seit vielen Jahren aus dem Haus. Die Enkelkinder waren nicht auf Betreuung durch Oma und Opa angewiesen. Der Kroatien-Urlaub sollte der Auftakt zu einem beschaulichen und lebenslustigen Rentnerdasein werden. Zwar war ich auch noch Vorstand eines großen Sportvereins am Ort, verfügbare Zeit war aber durchaus vorhanden. Besonders an den Abenden stellten wir uns nun zunehmend eine Reihe von Fragen: Konnte die deutsche Gesellschaft mit dieser Herausforderung (man sprach mittlerweile von über einer Million Flüchtlingen aus dem Nahen Osten allein im Jahre 2015) fertig werden? Konnte die Integration dieser Menschen gelingen? Waren nicht die Integration der Gastarbeiter und ihrer Familien aus den 60er und 70er-Jahren, die Integration der „Russlanddeutschen“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Integration der Balkanflüchtlinge nach dem Jugoslawienkrieg noch längst nicht abgeschlossen? War nicht 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch ein großer Gegensatz selbst innerhalb der deutschen Bevölkerung zwischen Ost und West zu spüren? Wer sollte diese Integrationsaufgaben meistern? Wer, wenn nicht Leute wie wir? Lag hier nicht gerade für Rentner ein riesiges Betätigungsfeld, eine große Herausforderung? Nach wenigen Tagen meldeten wir uns in der Gemeindeverwaltung. Es war bereits ein Unterstützerkreis von Freiwilligen im Aufbau. Etwa ein bis zwei Dutzend Leute trafen sich zu ersten Vorbereitungstreffen. Der Organisator war ein ehemaliger Wissenschaftler, bezeichnenderweise selbst mit Migrationshintergrund aus Sri Lanka, der einmal im Ort beschäftigt war, dann jahrelang mit seiner Familie in Kanada lebte und nun im Ruhestand hierher zurückgekehrt war. Überwiegend waren es Frauen, meistens ältere, aber auch einige ganz junge Schülerinnen und Studentinnen. Natürlich waren die Jahrgänge der „Erwerbstätigen“ weniger vertreten. Die soziale Zusammensetzung war bunt zusammengewürfelt. Allgemein waren Empathie für die Lage der Flüchtlinge, Wille zum Engagement und Hilfsbereitschaft zu spüren. Natürlich befand sich darunter auch der eine oder andere, dem es vielleicht mehr um die eigene Profilierung in der Heimatkommune ging. Doch dies trifft ja z.B. fast auf jeden Politiker zu. Die Verknüpfung politischer Ziele mit der eigenen Karriere oder zumindest dem eigenen öffentlichen Status ist für sich genommen nichts Negatives. So verhielt es sich natürlich auch im kleinen kommunalpolitischen Rahmen, in Vereinen, Arbeits- oder Helferkreisen.

Bei unseren ersten Besuchen im Lager war dieses erst von wenigen Dutzend Asylbewerbern belegt. Man versuchte innerhalb der großen Fabrikhalle durch Abtrennung einzelner Parzellen mit Stahlgitterzäunen, Decken und Planen ein Minimum von Privat- und Intimsphäre herzustellen. Die Sanitärräume waren durch den Einbau von Toiletten- und Dusch-Containern hergestellt worden. Alles war sehr einfach, aber durchaus sauber und hygienisch. Die Verpflegung erfolgte durch einen Catering-Service von außen. Eingenommen wurden die Speisen in einer großen Nebenhalle an Biertischgarnituren. Daneben war ein Lagerraum mit gespendeten Kleidern vorhanden, allerdings in einem heillosen Durcheinander. Alle Kleiderspenden mussten natürlich erst geordnet und sortiert werden, wozu noch niemand die Zeit gefunden hatte.

Sofort bemerkten wir, wer hier das „Sagen“ hatte: Die Männer des Sicherheitsdienstes. Besonders der Leiter dieser Security (selbst mit Migrationshintergrund aus dem Westbalkan) versuchte durch entschiedenes aber auch ziemlich autoritäres Auftreten von vornherein klar zu machen, wo „der Hammer hing“. Strenge Ein- und Ausgangskontrollen, Ruhe, Abschirmung gegenüber der Außenwelt schienen hier die wichtigsten Aufgaben und Ziele zu sein. Wir unterwarfen uns schnell diesen Regeln, deren Sinn und Zweck natürlich zumindest teilweise durchaus verständlich waren. So war es naheliegend, dass keine unberechtigten fremden Personen das Lager betreten durften. Also fertigten wir uns selbst in Absprache mit der Security Lichtbildausweise zur Vereinfachung der Einlasskontrolle an. Wir verteilten unsere Aufgaben und „spezialisierten“ uns. Anne und ich waren anfangs täglich schichtweise zur Beaufsichtigung der Waschmaschinen eingesetzt. Vier Maschinen, teilweise neu, teilweise gebraucht waren in einem Nebenraum untergebracht. Wir sollten die Maschinen selbst bedienen, um so technische Schäden zu verhindern, die Aufsicht in diesem Nebenraum führen, auf geordnete Reihenfolge achten usw. Daneben unternahm ich immer häufiger Fahrten mit Flüchtlingen in meinem privaten PKW zu Ärzten in der Kreisstadt Kronach und ins Krankenhaus.

Schnell füllte sich das Lager immer mehr. Die Flüchtlinge kamen mit Bussen, wurden dann von Angehörigen der Landkreisverwaltung und der Security registriert und ins Lager verteilt. In den ersten ein bis zwei Tagen schienen sie alle nur zu schlafen, völlig erschöpft von den Strapazen der Flucht. Danach nutzten sie ausgiebig die Duschen, was genauso verständlich war. In den nächsten Tagen kamen sie dann zu uns in den Nebenraum um ihre Wäsche zu waschen. Die alleinstehenden Männer hatten meist nur kleine Kleiderbündel, die Frauen mit zahlreichen Kindern brachten schon größere Wäscheberge in den Waschraum. Die jungen Männer ließen ihre Bündel bei uns auf dem Boden zurück. Wir zeigten ihnen auf der Uhr, wie lange sie etwa warten mussten bis sie ihre Sachen abholen konnten. Dann verschwanden sie gleich wieder und kamen erst nach den vereinbarten Stunden zurück. Die Frauen blieben gerne im Waschraum und nutzten die Gelegenheit für einen kleinen Plausch. Ihre Kinder spielten meist zwischen den Maschinen am Boden.

Bei diesen „Waschraumgesprächen“ machten wir unsere ersten Bekanntschaften. Zunächst drehte sich der „Small Talk“ natürlich um das Woher und um ihre Fluchtumstände. Die meisten Flüchtlinge kamen aus Syrien, etwa ein Drittel war aus Afghanistan, einige wenige kamen aus dem Irak oder Iran, ein alleinstehender Ukrainer war auch darunter. Afrikaner, die in späteren Jahren so häufig in Deutschland eintrafen, befanden sich noch nicht unter ihnen. Die Syrer sprachen meist Englisch, also konnten wir uns mit ihnen am leichtesten verständigen. Es waren Ärztinnen und Lehrerinnen darunter, teilweise auch alleinstehende hochgebildete Frauen. Sie fragten uns schnell aus, um sich zu orientieren: In welchem Gebiet Deutschlands sie überhaupt seien, wo der nächste Supermarkt sei, wo sie ihr Handy aufladen könnten usw. Niemand zeigte ein Interesse daran hier zu bleiben. Sie befanden sich auf der Durchreise in die großen Städte. Dort hatten sie wohl schon ihre Connections. Dort hatten sie am Handy schon Ansprechpartner oder gar Familienmitglieder.

Afghanische Flüchtlinge kamen uns meist etwas zurückhaltender vor. Ganz klar - wenn sie kein Englisch konnten, waren die Sprachbarrieren für sie und uns am Anfang fast unüberwindlich. Das war natürlich auch ihnen bewusst.

Nach wenigen Tagen sprach uns aber eine Frau an, die gar nicht in das Anfangsschema passte. Sie war schätzungsweise Ende 20, eine gepflegte Erscheinung. Das schmale hübsche Gesicht kam durch das geschickt mehr wie einen Schal getragene Kopftuch besonders zur Geltung. Sie hatte sich bereits eine lange Liste englischer Wörter aufgeschrieben und wollte dazu von uns die deutsche Übersetzung erfahren. Offensichtlich wollte sie einkaufen gehen, die Dinge des nötigsten Bedarfs für eine Familie besorgen und gedachte sich für diesen Einkauf bereits mit deutschen Wörtern zu wappnen. Zu unserer Verwunderung stellten wir fest, dass es sich um eine Afghanin handelte, die besser Englisch als wir selbst sprach. Bald erfuhren wir mehr über sie. Nach und nach stellte sie uns dann auch ihre ganze Familie vor. Zuerst holte sie ihren Ehemann: Etwa 30 Jahre alt, gut rasiert und ebenfalls eine gepflegte Erscheinung. Er machte einen sehr höflichen und zuvorkommenden Eindruck. Von Beruf war er Ingenieur. Allerdings sprach er kein Wort Englisch. Alle Konversation wurde von seiner Frau betrieben und man merkte auch schnell, dass sie ihm zumindest in der jetzigen Situation überlegen war. Kinder hatten sie noch nicht, bei einem afghanischen Ehepaar in diesem Alter eher ungewöhnlich. Dann stellte uns Mina nach und nach ihre restliche Familie vor: Ihre Mutter, um die 60 Jahre, ebenfalls eine sehr gepflegte Erscheinung, fast „vornehm“ – offensichtlich jetzt das Oberhaupt der Familie, ihr Bruder mit Frau und vier Kindern und ihre beiden jüngeren Schwestern. Der Bruder machte einen unscheinbaren bescheidenen Eindruck und sprach kein Wort. Erst Tage später sollten wir den Grund hierfür erfahren. Bald lernten wir auch seine Kinder kennen: Sonja, ein aufgeschlossenes und hübsches Mädchen mit neun Jahren. Ihre großen dunklen Augen leuchteten uns förmlich an. In den nächsten Tagen war sie die ständige Begleiterin von Anne. Sie sog alle Eindrücke über die neue Umgebung in sich hinein, ungeheuer wissbegierig hing sie an den Lippen von Anne. Natürlich liebte Sonja es, wenn wir Ball mit ihr spielten oder ihr etwas zu erklären versuchten. Meist hatte sie aber keine Zeit. Sie musste sich um ihre etwa zwei Jahr jüngere Schwester Samira kümmern, die schwerst körperbehindert war. Sie saß in einem primitiven Rollstuhlersatz, einem einfachen alten Buggy, so dass sie geschoben werden konnte. Samira hatte ebenfalls ein hübsches Gesicht mit großen dunklen Augen, aber ab Schulterhöhe war sie völlig entstellt: Im Wachstum war der ganze Körper zurückgeblieben. Durch spastische Lähmungen waren ihre verkrüppelten dünnen Beine wohl niemals in der Lage, ihren kleinen Körper auch nur einen Schritt zu tragen. Der Oberkörper war ebenfalls zu kurz und trug auf dem Rücken einen Buckel. Die inneren Organe konnten in dieser Hülle unmöglich normal entwickelt sein. Arme und Hände waren ebenfalls durch Lähmungserscheinungen beeinträchtigt. Doch konnte sie diese wenigstens eingeschränkt bewegen. Einen kleinen Ball, der ihr mehr in die Hand gelegt als zugeworfen werden musste, konnte sie zumindest festhalten, was ihr ungeheure Freude bereitete. Geistig machte sie wie ihre Schwester einen überaus aufgeweckten und intelligenten Eindruck. Mir kamen manchmal fast selbst die Tränen, wenn ich beobachtete mit welchem Blick unendlicher Traurigkeit sie ihre Geschwister oder andere Kinder beim Spielen und Herumtollen verfolgte. Sie war ungeheuer dankbar für jede Ansprache. Ein Wort von uns, ein „hallo“und ein Strahlen ging über ihr Gesicht. Innerhalb weniger Tage erlernte sie schnell ein paar deutsche Brocken. Ihr fünfjähriger Bruder hatte ebenfalls eine hübsche Gesichtshälfte, die ab und zu eine Andeutung von kindlichem Lachen zeigte. Die andere Gesichtshälfte, der Hals und wohl auch weitere verhüllte Teile des Körpers waren aber von Brandnarben total entstellt. In seiner Nähe war eine Bombe explodiert! Natürlich war er auch traumatisiert, viel schweigsamer und verschlossener als seine beiden Schwestern. Seine Mutter, die Schwiegertochter in der Großfamilie, war ständig mit einem Neugeborenen beschäftigt, das offensichtlich auf der Flucht zur Welt gekommen war. Ihre älteste Tochter war mit ihren neun Jahren ganz für die Betreuung des körperbehinderten Mädchens zuständig. Von einer eigenen Kindheit für sie konnte keine Rede sein. Der kleine von Brandwunden entstellte Junge blieb weitgehend sich selbst überlassen. Warum trat der Vater der Familie so wenig in Erscheinung? Er organisierte die Essensrationen für die Familie, sprach aber nie ein Wort.

Die beiden jüngeren Schwestern von Mina suchten in den nächsten Tagen auch oft unsere Nähe. Die mittlere war 18 Jahre alt und sprach neben Dari, der afghanischen Sprache ihrer Heimat, fließend Englisch und offensichtlich auch schon ziemlich gut Spanisch. Sie hatte bereits in Kabul vor der Flucht für kurze Zeit die Hochschule besucht und hatte nun große Pläne. Sie wollte auf jeden Fall schnell Deutsch lernen. Schon nach wenigen Tagen konnte sie sich ohne einen Unterricht genossen zu haben etwas verständigen. Sobald ihre Familie einen festen Wohnsitz hatte, wollte sie dann in Deutschland Englisch und Spanisch weiter studieren. Auch die dritte Schwester, etwa 15 Jahre alt, konnte bereits fließend Englisch. Bald erfuhren wir den Hauptgrund ihrer Flucht: Sie waren auf dem Land aufgewachsen, besuchten aber teilweise Schulen und Hochschulen in Kabul. Die Taliban, die überall auf dem Lande zumindest zeitweise in den Nächten oder auch manchmal tagsüber die Macht ausübten, hatten von ihrem Vater verlangt, dass er seine Töchter von der Schule nimmt. Als er sich weigerte hatten sie ihn erschossen. Wir fragten Mina und ihre Schwestern natürlich auch nach dem Bruder, ob er auch Fremdsprachen spreche usw. Schnell war klar, warum er so zurückhaltend war, warum er so selten zu sehen war und wir noch kein Wort von ihm gehört hatten: Er war taubstumm!

Diese Familie barg bereits eine solche Fülle von Schicksalen, von Schicksalsschlägen in sich, dass es für uns Mitteleuropäer, für die es seit 70 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hatte, kaum fassbar war. Sicherlich war der Vater in seiner Heimat eine einflussreiche Person gewesen, ein Vater, der sich bis zum Schluss für das Schicksal und die Bildung seiner Töchter eingesetzt hatte und dafür mit dem Tode bezahlen musste. Die Mutter versuchte nun mit starkem Willen ihn in seiner Rolle zu ersetzen und die ganze Familie zu führen. Auf der Flucht mussten sie im Iran durchs Hochgebirge. Dabei war sie gestürzt und hatte sich den Fuß gebrochen. Ihr taubstummer Sohn und der Schwiegersohn trugen sie danach bis nach Deutschland. Alleine wurde sie dann in die Berliner Charité gebracht und dort operiert. Sie schwärmte von diesem wunderbaren Krankenhaus. Nun, wieder genesen, versuchte sie ihrer ganzen Großfamilie eine neue Lebensperspektive zu geben. Ständig fragte sie uns, übersetzt von ihren Töchtern, wohin sie wohl kämen, wie lange es wohl dauern würde, welche Möglichkeiten sie hätten, wie sicher sie in Deutschland seien usw. Die drei Schwestern und der Schwiegersohn wissbegierig, gebildet und voller Energie auf ein neues Leben sehnten den Tag herbei, an dem das Warten im Lager ein Ende hatte und sie eine neue Wohnung beziehen, ihre eigene Zukunft wieder in die Hand nehmen konnten. Aber was war mit dem taubstummen behinderten Bruder und mit seiner Familie, mit dem neunjährigen Mädchen, dass jetzt dringend Schule und Zuwendung bräuchte, mit dem schwerst körperbehinderten Mädchen, mit dem für sein Leben entstellten und traumatisierten fünfjährigen Jungen, mit dem Neugeborenen, mit der Frau, die nicht so gebildet war, die im Schatten ihrer drei Schwägerinnen stand und momentan nur mit dem Neugeborenen beschäftigt war? Solange sie im Lager waren, blieben wir in engem Kontakt. Nach ca. zwei Monaten erzählten sie uns eines morgens freudestrahlend, dass man ihnen eine Wohnung zugeteilt hätte. Morgen sollten sie nach Tettau. „Aber, wo ist denn dieses Tettau? Was ist denn das für ein Ort?“ waren natürlich ihre ersten Fragen. Sie kannten inzwischen die etwa sechs Kilometer entfernte Kreisstadt schon ganz gut. Sie wussten bereits, wo man dort günstig einkaufen konnte, wo es was gab. Einige Bekannte aus Afghanistan, die sie auf der Flucht kennen gelernt hatten und die bis vor wenigen Wochen auch im Lager waren, wohnten schon dort. Der restliche Landkreis war für sie noch unbekannt. Ich erzählte ihnen in diesem Moment lieber nicht, dass dieses Tettau einstmals direkt an der innerdeutschen Grenze lag. Dass es damals fast auf drei Seiten von Stacheldraht und Minen umgeben war und dass demzufolge schon seit dem Weltkrieg natürlich kaum ein Deutscher nach Tettau ziehen wollte. Trotzdem hatte dieser Ort doch einige Industrie, die durch Grenzlandhilfen am Leben gehalten wurde. Mangels deutscher Arbeitskräfte waren seit den 70er Jahren viele türkische Gastarbeiter nach Tettau gezogen. Mittlerweile machten sie wahrscheinlich bald die Hälfte der Bevölkerung aus. Nach der Wiedervereinigung rückte zwar Tettau geografisch in die Mitte Deutschlands, Stacheldraht und Minen gab es nicht mehr, Grenzlandhilfen aber auch bald nicht mehr. Die Industrie wurde teilweise weiter nach Osten verlagert. Nun - 25 Jahre später - war der Ort noch kleiner geworden. Die Türken waren wohl zum größten Teil noch da, die Infrastruktur war aber eher noch mäßiger. Der Ort war bekannt als kälteste Ecke des Landkreises mit viel Wald drumherum. Die alte Dame fragte, ob Tettau bei Berlin wäre. Sie schwärmte immer noch von ihrer Zeit in der Charité. „Nein, Berlin ist weit weg“, entgegnete ich. Den Rest ließ ich lieber unerwähnt. Sollten sie selbst erst mal alles selber entdecken.

Der Transport der Flüchtlinge in neue Unterkünfte im Landkreis bzw. zum Bahnhof, wenn sie weiter weg ziehen sollten, gehörte zu den Aufgaben unseres Helferkreises. Ein weiterer Helfer mit seinem PKW und unser Kia bildeten den kleinen Konvoi, der die elfköpfige Familie mit ihren wenigen Habseligkeiten in ihr neues Zuhause brachte. Es war ein grauer wolkenverhangener Tag Anfang Dezember. Die Gegend war dünn besiedelt, die Häuser wurden immer weniger, der Wald immer dichter. Schließlich begann es auch noch stärker zu regnen, der Wind frischte auf. Im Auto wurde es sehr still. Nur die alte Dame sagte etwas. Mina übersetzte: „Sie sagt, in Berlin wäre es schöner gewesen.“ Die grauen mit Schiefer verkleideten Häuser von Tettau, teilweise schon unbewohnt, waren das I-Tüpfelchen auf diesem ersten Eindruck. „Sie sind am Ziel“ sagte das Navi, als wir vor einem kleinen alten grauen Haus am Ortsrand hielten. Gott sei Dank kannte ich Franz, einen etwa 75jährigen ortsansässigen pensionierten Lehrer und guten Bekannten aus früheren Tagen. Ich hatte ihn am Vortag angerufen. Er war auch als Flüchtlingshelfer tätig, hatte sich für den Einzug einen patenten, ebenfalls ortsansässigen jungen Türken geschnappt und bereitete uns zumindest menschlich einen warmen Empfang. Er und der Türke halfen beim Ausladen, teilten gleich die Räume der Wohnung ein und erklärten, wo die nächsten Geschäfte waren. So war nicht sofort offensichtlich, dass sie eine Immobilie bewohnen sollten, in die nie mehr deutsche Mieter eingezogen wären, die entweder in wenigen Monaten oder zumindest Jahren abgebrochen worden wäre oder - was in dieser Gegend wahrscheinlicher war - in Kürze nur noch als verlassene Ruine am Straßenrand stehen würde. Der Besitzer dieses Hauses gehörte auf jeden Fall zu den Gewinnern der sogenannten Flüchtlingskrise. Seine Miete war durch das Jobcenter garantiert. Dazu kam nach wenigen Minuten ein weiteres Auto. Eine andere afghanische Familie mit kleinen Kindern wurde noch ins gleiche Haus verfrachtet. Schon äußerlich war die andere Ethnie zu erkennen. Es waren Turkmenen. Man spürte vom ersten Moment ein gewisses Misstrauen zwischen den Familien. Das andere Volk, die andere Ethnie, eine andere Sprache, wahrscheinlich im 40jährigen Bürgerkrieg oft auf der anderen Seite der Front. Wieder konnte man erahnen, in welchem Strudel von Gewalt und Hass sich dieses Land seit 40 Jahren befand.

Wie mir Franz mitteilte, wurde das Haus früher von zwei alten Leuten bewohnt, die vor etwa zwei Jahren gestorben waren. Nach dem jahrelangen Leerstand wurden nun 15 Afghanen einquartiert. Hoffnung machte mir, dass die Tettauer Bevölkerung eher nicht als hinterwäldlerisch bekannt war, dass sie mit den Türken in den letzten Jahrzehnten eigentlich gut zurecht kam. Warum sollte es dann nicht auch mit den Afghanen klappen? Franz schmiedete gleich Pläne für die Kinder. Das neunjährige Mädchen wollte er gleich am nächsten Tag in die Schule und den fünfjährigen Buben in den Kindergarten bringen. Für die siebenjährige Samira sollte ein richtiger Rollstuhl beschafft werden. Danach konnten erst Gespräche über eine Einschulung des Mädchens geführt werden. Franz sprühte förmlich vor Aktivität und Ideen für die Zukunft. Ich wusste die Familie in guten Händen. Das Zusammenleben mit den Turkmenen würde wohl zu Spannungen führen, die Abgelegenheit des Ortes würde vielleicht manche Integration erschweren, aber ich konnte nicht mehr viel tun. Wir wohnten viel zu weit entfernt um laufenden Kontakt zu halten, um echt helfen zu können.

Es gab noch kurze Telefonkontakte. Etwa vier Wochen später, im Januar 2016, lud die Familie Anne und mich zum Essen ein. Wir freuten uns sehr darüber und überlegten genau, welche passenden Geschenke wir den Kindern mitbringen könnten. Ihre Wohnung hatten sie bereits recht gemütlich mit gebrauchten Gegenständen eingerichtet. Sie hatten ein einfaches aber sehr schmackhaftes Essen zubereitet. Man spürte die Freude in ihnen durch Gastfreundschaft eine Kleinigkeit zurückgeben zu dürfen.

Sonja ging inzwischen probeweise in die zweite Klasse der Grundschule. Sie schien sehr glücklich. Der Umgang mit anderen Kindern und wenigstens die halbtägige Befreiung von den Betreuungspflichten für Samira wirkten sich natürlich sehr positiv aus. Samira selbst war bereits einem Arzt vorgestellt worden, der Antrag auf einen richtigen Rollstuhl war wohl auf den Weg gebracht worden. Ihr Bruder Nuri besuchte den Kindergarten. Mina, ihr Mann und ihre beiden Schwestern mussten wohl noch viel Geduld aufbringen bis sich berufsmäßig oder schulisch etwas für sie eröffnen würde. Sie klagten zwar nicht, aber wir hatten den Eindruck, dass sie jetzt schon eine Ahnung von der Isolation hatten, in die sie geraten waren. Mit der turkmenischen Familie war es offensichtlich zu den ersten Spannungen und Auseinandersetzungen gekommen. Wir unterließen natürlich jede Äußerung diesbezüglich. Ein Flüchtlingshelfer muss nicht alles verstehen, muss sich nicht überall einmischen.

Nach diesem Besuch brach der Kontakt leider ab. Jahre später erfuhren wir, dass sie in die Kreisstadt gezogen seien. Mina sah ich etwa sechs Jahre später vor dem dortigen Sozialladen wieder. Ich sprach sie an und wechselte einige Worte mit ihr, war mir danach aber nicht mehr sicher, ob sie mich überhaupt noch erkannt hatte. So wurde die Familie eingereiht in die Vielzahl ungeklärter Schicksale, die man als Flüchtlingshelfer irgendwann für sich selber einfach so „abhaken“ musste. Man begleitet sie ein Stück ihres Lebensweges, man stellt eine große emotionale Nähe fest und darf doch nicht alles zu nah an sich selbst heran kommen lassen…

Das übergeworfene Jackett

Schon in den ersten Tagen fiel mir im Notaufnahmelager ein etwa 20 bis 25 Jahre alter Mann auf. Er hatte sich immer ein viel zu großes altes und dunkelgraues Anzugjackett übergeworfen, war aber nie mit den Armen in die Ärmel geschlüpft. Die Ärmel baumelten anscheinend herrenlos an ihm herab, die Hände waren nie zu sehen. Offensichtlich liebte er es, sie in den Taschen der ebenfalls einige Nummern zu großen schlabbrigen alten Hose zu verbergen. Was mir ebenfalls vom ersten Moment an auffiel, war seine Körperhaltung: immer nach unten blickend, immer den Blickkontakt mit seiner unmittelbaren Umgebung vermeidend. Die übergroße Jacke war im Schulterbereich mit Polstern auswattiert, wie es vor Jahrzehnten Mode war. Seine Schultern schienen darunter zu verschwinden. Er war groß und schlank, hatte schmale Gesichtszüge und einen Drei-Tage-Bart; eigentlich ein gut aussehender junger Mann, wenn man von seiner altmodischen Bekleidung absah. Meist in Begleitung anderer junger Männer durchquerte er die Fabrikhalle oder den Außenbereich mit ruhelosen schnellen Schritten, als ob er weiterhin auf der Flucht wäre. Vor was, vor wem er immer noch floh, konnte ich damals noch nicht erahnen. Dass seine Flucht jedoch kein konkretes Ziel hatte, erschien mir offensichtlich. Im ersten Moment unterschied er sich nur wenig von den anderen jungen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten. Die Tatsache, dass er aber auch bei der zweiten und dritten flüchtigen Begegnung immer die Jacke nur übergeworfen hatte, machte mich im Unterbewusstsein stutzig. Als ich eines Morgens wieder auf den Eingang zu ging, wurde mir mit einem Schlag alles klar: Neben dem Eingang saßen oder kauerten einige junge Flüchtlinge am Boden, darunter der mit dem übergeworfenen Jackett. Ein anderer neben ihm rauchte eine Zigarette an und steckte sie ihm dann in den Mund. Nachdem er ihm einen Zug nehmen ließ, zog er ihm den selbstgedrehten Glimmstängel wieder aus dem Mund. Der mit dem übergeworfenen Jackett beugte sich dabei weit vor, um mit dem Mund die Zigarette zu erreichen. Man sah jetzt deutlich, dass er seine Arme und Hände nicht in seiner Hosentasche verbarg, sondern dass sie gänzlich fehlten! Die Jacke rutschte ihm dabei fast vom Rücken herunter und es wurde sichtbar, dass auch keine Armstümpfe oder Schultergelenke mehr vorhanden waren. „Was für ein grauenvoller Unfall musste da dahinter stecken!“, war der erste Gedanke, der mich erschauern ließ. Oder war er so geboren? Verkrüppelte Gliedmaßen, Hände, die direkt aus der Schulter zu kommen schienen, kannte man ja von den „Contergankindern“. Aber gänzlich fehlende Arme und Schultergelenke?

Wir erfuhren in den nächsten Wochen durch andere Lagerbewohner, dass er zu einer afghanischen Familie gehörte und von einem alten Vater und einem anderen jungen Mann versorgt wurde. Er musste ja schließlich gefüttert werden. Die Körperhygiene, die Toilettengänge, alles musste ein riesiges Problem darstellen. Der „Armlose“ – so bezeichnete ich ihn in meinen Gedanken und in den Gesprächen mit Anne – hatte sich in unserem Bewusstsein festgesetzt. Sein erschütterndes Schicksal sollte uns in den nächsten drei Jahren begleiten.

Die andere „Weihnachtsfeier“

Das Notaufnahmelager befand sich am Rand unserer Gemeinde und genau in dieser Position befanden sich auch die Flüchtlinge selbst. Besuche im Lager waren nur den Angehörigen des örtlichen Helferkreises gestattet. Wir hatten uns ja eigene Ausweise gebastelt und mussten uns damit bei der Security täglich ausweisen. Daneben durften höchstens die Angestellten der Gemeinde, z.B. die Mitglieder des Bauhofes, und natürlich notwendige Handwerker oder der Catering-Service zur Verpflegung das Gelände betreten. Die Flüchtlinge konnten zwar das Lager tagsüber verlassen, mussten sich aber beim Sicherheitsdienst abmelden. Diese Möglichkeit wurde jedoch nur von wenigen genutzt. Das kleine Taschengeld, das ihnen vom Landratsamt ausbezahlt wurde, gaben sie meist für neue Handykarten aus. Zu diesem Zweck bildeten sich kleine Grüppchen, die sich entweder in den nahen Supermarkt oder gar auf den Weg in die sieben Kilometer entfernte Kreisstadt machten. Außer mit den Verkäufern kamen sie dabei mit niemandem in Kontakt. Ein Erlernen der Sprache, der Erwerb von Kenntnissen über unsere Gesellschaft und unsere Kultur konnte so natürlich nicht stattfinden. Wo Flüchtlinge auftauchten wurden sie mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen beobachtet.

Unter den gut 300 Bewohnern des Lagers gab es einen kleinen Kreis, vielleicht ein halbes Dutzend junger Männer, die erste Bekanntschaft mit Alkohol gemacht hatten. Natürlich ging schnell im Ort das Gerücht um, dass die Flüchtlinge in einem nahen Wäldchen „saufen“ würden. Ich nahm davon persönlich nie etwas wahr, bezweifelte es aber im Kern nicht. War es verwunderlich, dass einige junge Männer nach einer Flasche Bier griffen? Die Möglichkeiten, ihren Tag zu „füllen“ waren äußerst beschränkt: Einen großen Fernseher gab es im Lager, aber wie sollten ihn die vielen Bewohner aus vielen Nationen sinnvoll nutzen? Mit einigen alten Bällen konnte auf dem Hof gespielt werden. Für ein richtiges Fußballspiel fehlte aber der Platz, man überließ die Bälle deshalb meist den Kindern. Es blieb dann eigentlich nur noch das Handy. Wie groß wäre wohl bei jungen deutschen Männern der Anteil derjenigen, die unter diesen Bedingungen und der andauernden seelischen Belastung und Unsicherheit das „Saufen“ anfangen würden? Von weiten Teilen der Bevölkerung wurde dies natürlich anders wahrgenommen, anders gesehen. Die Gerüchte von „Saufgelagen“ und von Umweltverschmutzungen, zurückgelassenen Flaschen usw., gingen im Dorf herum, gerade bei denen, die selbst gerne dem Alkohol zusprachen bzw. in ihrer Jugend sicherlich nach ihren eigenen Erzählungen wer weiß was angestellt hatten. Die Art und Weise wie diese Lappalie herumerzählt und überbewertet wurde, zeigte auf, wie mit zweierlei Maß gemessen wurde, welche Vorurteile und Ressentiments in der Bevölkerung steckten und womit in Zukunft zunehmend zu rechnen war.

Neben meinem Job im Notaufnahmelager war ich als Pensionär auch noch erster Vorsitzender eines relativ großen Sportvereins. Mit fast 850 Mitgliedern war dieser der drittgrößte Verein des Landkreises. Eine seiner bedeutendsten Abteilungen war die Turnabteilung und unser jährliches „Weihnachtsturnen“ stellte als öffentliche Veranstaltung einen Höhepunkt im gemeindlichen Geschehen dar. Der Verein existierte schon 115 Jahre und das Weihnachtsturnen, bei dem insbesondere die Kinder und Jugendlichen aller Turnstunden ihr Können und ihre im Jahresverlauf gemachten sportlichen Fortschritte darbieten wollten, gab es