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Die große Welt des Tees, die bewegende Geschichte einer Frau, die ihren Weg geht und das Schicksal einer Kaufmannsfamilie – eine bewegende Saga von Bestseller-Autorin Susanne Popp Frankfurt, 1889: Friederike Ronnefeldt ist stolz, dass der Teehandel, den einst ihr Mann Tobias gegründet hat, auch in der dritten Generation fortgeführt werden soll. Sie ist ein Vorbild für ihren Enkel Rolf, der die Geschäfte übernehmen möchte. Um Erfahrungen rund um den Teeanbau und -handel zu sammeln, geht er auf eine Weltreise, die ihn unter anderem nach Indien, Ceylon und China führt. Und Rolf ist sich sicher: Er möchte seine innovativen Ideen wieder mit nach Frankfurt nehmen. Zu Hause wartet nicht nur das Familienunternehmen auf ihn, sondern auch die Unternehmerstochter Anna Reither, die ihm seit ihrer ersten Begegnung mit ihrer klugen und engagierten Art nicht mehr aus dem Kopf gehen will. »Eine sinnliche Zeitreise ins 19. Jahrhundert. Toll recherchiert und liebevoll erzählt. Zum Eintauchen und Wegschmökern.« Miriam Georg Die Ronnefeldt-Saga von Susanne Popp: Band 1: »Die Teehändlerin« Band 2: »Der Weg der Teehändlerin« Band 3: »Das Erbe der Teehändlerin«
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Seitenzahl: 571
Susanne Popp
Die Ronnefeldt-Saga Band 3
Der dritte Band der Ronnefeldt-Saga
1889 befindet sich der Laden der Ronnefeldts in bester Lage auf der Frankfurter Zeil, geführt von Carl, der den Teehandel von seiner Mutter Friederike übernommen hat. Seit der Gründung im Jahr 1823 hat sich das Geschäft stark gewandelt. Tee, einst ein exotisches Produkt für wenige, ist mittlerweile, im Deutschen Reich, ein weit verbreitetes Getränk. Die belebenden Blätter werden nicht mehr nur aus China importiert, sondern auch aus Indien und Ceylon, wo Thomas Lipton im Begriff ist, den Grundstein für seinen Markentee zu legen. Während Rolf auf einer Weltreise die Bekanntschaft des britischen Geschäftsmanns macht, wird Carl in Frankfurt mit einem früheren Konkurrenten konfrontiert: Otto Messmer hat sein Geschäft aus Baden-Baden nach Frankfurt verlegt. Und so ist Friederike auch mit über achtzig Jahren noch als Ratgeberin gefragt. Doch sie hat großes Vertrauen in ihren Enkel Rolf, in dessen Händen Tobias‘ und ihr eigenes Erbe liegt.
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Susanne Popp, geboren 1967, ist die Tochter von Jugendherbergseltern – Hagebuttentee, serviert in großen Metallkannen, gehört daher zu ihren Kindheitserinnerungen. Heute bevorzugt sie jedoch eine Tasse Darjeeling oder Oolong, und sie liebt es, in die Teeregionen der Welt zu reisen. Mit der Schriftstellerei begann sie als Verfasserin von Privatbiographien. Die Geschichte der Familie Ronnefeldt zu erzählen, war ihr daher ein ganz persönliches Anliegen, denn in diesem Traditionsunternehmen verbindet sich die Sehnsucht nach fernen Ländern mit dem Schicksal einer Familie im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Mit den ersten beiden Bänden der Ronnefeldt-Saga gelang ihr direkt der Sprung auf die SPIEGEL-Online Bestsellerliste. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter am Zürichsee in der Schweiz.
Für A.
FRIEDERIKE RONNEFELDT, *1807, Witwe des Kaufmanns TOBIAS RONNEFELDT
CARL RONNEFELDT, *1833, ihr Sohn und Geschäftsführer der Firma
EMILIE RONNEFELDT, *1840, Carls Frau
ROLF (RUDOLF) RONNEFELDT, *1865, Carls und Emilies Sohn, künftiger Firmenchef
FRIEDRICH, *1864, WILLY, *1869, und JOOST, *1874, die Brüder von Rolf
WILHELMINE (MINA) KLUGE, *1815, Schwester von Friederike
ELISE FRITSCH, GEB. RONNEFELDT, *1832, Tochter von Friederike
HANNES FRITSCH, *1860, Elises Sohn
CHARLES KRUG, *1825, Weingutbesitzer in St. Helena
CHARLOTTE (LOLLIE) KRUG, *1871, Charles’ Tochter
PAUL BIRKHOLZ, *1807, ein alter Freund der Familie, lebt in New York
GEORG REITHER, *1845, Direktor der Scheideanstalt
HENRIETTE REITHER, *1849, seine Frau
ANNA, *1871, PHILIPP, *1867 und JOSEFINE, *1879, die Kinder des Ehepaars
LUISE MÜLLER, *1866, Dienstmädchen
AUGUST ADLER, *1864, Untermieter
ISABELLA GARCÍA DI SÁNCHEZ, *1864, Tänzerin
THOMAS LIPTON, *1850, Geschäftsmann
EDUARD MESSMER, *1824, Kaufmann mit eigenem Feinkostgeschäft in Baden-Baden
OTTO MESSMER, *1858, sein Sohn, Teehändler
BERNHARD MÖBIUS, *1851, Chemiker
FRANZ MÜLLER, *1860, Arbeiter
LUDWIG OPIFICIUS, *1849, Werksleiter in der Scheideanstalt
MARGARETE OPIFICIUS, *1852, seine Frau
WESTPHAL, *1863, Kaufmann aus Hamburg und Rolfs Freund
Die Namen und Lebensdaten der Familie Ronnefeldt und vieler weiterer Personen sind an reale Biographien angelehnt.
Er sah zu, wie der kleine Sarg Stück für Stück in dem dunklen Loch verschwand. Ein knappes Dutzend Menschen war gekommen. Dumpf polterte feuchte Erde auf den Deckel. Ihm kam das Würgen, beinahe hätte er sich hier und jetzt übergeben. Als nun auch noch der fette, rotgesichtige Pfarrer zu sprechen anfing, drehte er sich auf dem Absatz um und kehrte der Szene den Rücken. Im letzten Moment fing er den flehenden Blick seiner Frau auf. Der gequälte Ausdruck ihres Gesichts ließ ihn auch in den folgenden Tagen nicht los. Doch er konnte ihr nicht verzeihen. Sie hatte ihn und den Kleinen im Stich gelassen, hatte fremden Menschen die Tür geöffnet, und das mit dem Pfarrer, das war auch sie gewesen, die letzte Ölung und all dieser katholische Mist. Dabei hatte er dem faulen Zauber schon seit seiner Jugend abgeschworen.
Als er sich am Tor noch einmal umdrehte, sah er jemanden im Schatten einer Eibe dicht an der Friedhofsmauer stehen. Es war der feine Herr, der sich für so mächtig gehalten hatte. Der Mann sah in seine Richtung, und dann lupfte er seinen Hut – und plötzlich sah er, wie zwei Hörner aus seiner Stirn herauswuchsen. Er sah es ganz deutlich. Es durchfuhr ihn wie ein kalter Blitz.
Wieder schnürte das widerlich würgende Gefühl seine Kehle zu. Er blinzelte und schaute noch einmal genauer hin, doch der Hut saß wieder auf dem Kopf. Das Licht der tiefstehenden Sonne spielte in den Ästen eines Ahorns und warf tanzende Schatten.
Er bohrte die Fäuste in seine Taschen. Ein paar Atemzüge lang betrachtete er die Gestalt durch halb geschlossene Lider. Der Kerl sollte nur kommen, er würde sich zu wehren wissen. Dann drehte er sich um und hastete zum Tor hinaus.
Frankfurt, Mitte Oktober 1889
Carl hatte sich nie für einen Nostalgiker gehalten, aber an diesem Sonntagvormittag wurde er dann doch sentimental. Er war auf der Suche nach einem bestimmten Dokument auf den Dachboden seines Hauses in der Friedberger Landstraße gestiegen. Als sie vor vier Jahren mit dem Geschäft auf die Zeil gezogen waren, hatten sie hier oben ein paar Schachteln und Kisten zwischengelagert, an die er dann kaum noch gedacht hatte; alte Akten, die aus den Schränken des ehemaligen Kontors stammten. Und da er die von ihm so dringend gesuchte Urkunde sonst nirgendwo hatte finden können, waren sie jetzt seine letzte Hoffnung.
Schon seit einer Stunde wühlte er sich nun durch die Geschäftskorrespondenz aus der Frühzeit von J.T. Ronnefeldt, Tee- und ostindische Manufakturwaren, durchstöberte dreißig oder vierzig Jahre alte Rechnungsbücher und Bilanzen. Dann stieß er auf ein ganzes Bündel privater Korrespondenz und blieb daran hängen. Sein Vater Tobias hatte sie verfasst, und zwar noch vor seiner großen Chinareise. Er nahm einzelne Kuverts in die Hand, betrachtete die schwungvolle Handschrift seines Vaters und legte sie dann alle beiseite, um sie mit hinunterzunehmen. Seine Mutter würde sich bestimmt freuen, die alten Briefe wiederzusehen. Sie war nun schon seit über vierzig Jahren Witwe. Carl hatte mit seinen sechsundfünfzig seinen Vater an Lebensjahren längst überholt.
»Papa?« Die ungeduldige Stimme seines Sohnes Rolf holte ihn aus seinen Gedanken in die Gegenwart zurück. »Wo steckst du denn?«
»Hier oben. Auf dem Dachboden«, rief Carl.
Er hörte Rolfs Schritte ein Stockwerk tiefer.
»Wo bist du?«, rief Rolf noch einmal.
»Eine Etage höher. Die Leiter in der Ecke.«
Kurz darauf tauchten Rolfs Kopf und seine breiten Schultern in der Luke zum Spitzboden auf. »Mama sucht dich. In einer halben Stunde wollen wir los«, sagte er, während er über den Rand kletterte und sich zu ihm gesellte.
»Ist es schon so spät?«, fragte Carl, stöberte jedoch weiter durch die Unterlagen.
Rolf sah sich um und schüttelte den Kopf, als er das Durcheinander sah. »Was tust du denn da? Sind das alte Briefe?«
»Uralte Briefe.« Im selben Moment fiel sein Blick auf eine braune Mappe, die ihm bekannt vorkam. Er zog sie zwischen anderen Unterlagen hervor und las das Etikett. »Hamburg, Paris«, stand darauf. Er schlug sie auf. »Die habe ich gesucht«, sagte er erleichtert.
»Das ist doch deine Schrift.« Rolf schaute ihm über die Schulter. Obenauf, in der Mappe, lagen Briefumschläge.
Carl nickte. »Die habe ich damals während meiner Lehrzeit nach Hause geschickt«, erklärte er. »Und ich glaube, hier müsste auch …« Er murmelte in sich hinein und blätterte durch die darunterliegenden Seiten. »Gott sei Dank. Hier ist es ja.« Er zog ein offiziell aussehendes Dokument hervor und hielt es triumphierend in die Höhe. Sein Sohn nahm es an sich, während Carl die Mappe wieder in der Kiste verstaute, sich erhob und die Beine streckte. Er hatte die ganze Zeit über auf einem niedrigen Hocker gesessen und fühlte sich ganz steif.
»Das ist eine Besitzurkunde über ein Grundstück in Amerika«, stellte Rolf fest, nachdem er das Blatt studiert hatte, und sah überrascht auf. »Dir gehört ein Grundstück in den USA?«
»Allerdings«, sagte Carl mit einem nachdenklichen Lächeln. »Es liegt irgendwo an der Ostküste in der Nähe von New York. Aber ich habe es nie gesehen. Es ist nicht viel wert, denn es besteht hauptsächlich aus Schlamm und Sand. Als Bauland ungeeignet.«
»Und was ist das für eine Unterschrift?« Rolf wies auf die unleserlichen Kringel unter dem Dokument.
»Die ist von Richard von Mahlstedt. Er hat mir das Grundstück damals überschrieben.«
»Mahlstedt? Das ist doch dein stinkreicher Freund aus Bremen, der Partner von deinem Vetter Ambrosius. Aber wieso …«
Carl unterbrach ihn. »Das ist eine lange Geschichte. Die erzähle ich dir ein anderes Mal.«
Rolf wollte ihm die Urkunde zurückreichen, aber er hob abwehrend die Hand. »Behalte sie. Die habe ich für dich herausgesucht.«
»Und was soll ich damit?«, fragte Rolf stirnrunzelnd.
»Das Grundstück verkaufen. Du bist doch nächstes Jahr in Amerika.«
Sein Sohn schüttelte den Kopf. »Nein, Papa. Dafür habe ich keine Zeit. Ich hatte vor, Tante Elise in Kalifornien zu besuchen.«
»Du reist doch ohnehin über New York zurück nach Europa.«
»Aber Papa! So ein Verkauf geht doch unmöglich in ein oder zwei Tagen über die Bühne. Das Grundstück gehört dir seit …«, Rolf warf einen Blick aufs Datum der Urkunde, »… seit über dreißig Jahren. Warum kommst du jetzt damit?«
»Ich habe vor zwanzig Jahren schon einmal daran gedacht, es zu verkaufen, und drüben ein Notariat kontaktiert. Daraus wurde nichts, doch jetzt, wo du ohnehin dort bist, sollten wir das Grundstück endlich loswerden. Ich werde dem Notariat schreiben. Sie sollen alles für den Verkauf vorbereiten. Du müsstest dann nur noch eine Unterschrift leisten, das nimmt höchstens einen Tag deiner kostbaren Zeit in Anspruch. Und das Geld aus dem Verkauf kannst du behalten. Bestimmt ist es genug, um dir ein schönes Hotel in New York zu leisten.«
Rolf verdrehte die Augen, doch dann gab er nach. »Also gut. Wenn ich nur noch unterschreiben muss, soll es mir recht sein.«
Eine halbe Stunde später saßen Carl und seine Frau Emilie und, ihnen gegenüber auf der Rückbank dicht nebeneinander gedrängt, seine Söhne, Rolf und Friedrich sowie der fünfzehnjährige Joost, in einer Droschke, die sie zum Zoologischen Garten brachte. Der zwanzigjährige Willy absolvierte gerade seinen Militärdienst und war deshalb nicht dabei.
»Heute früh habe ich eine kleine Zeitreise gemacht«, sagte Carl und griff nach der Hand seiner Frau. Emilie sah jünger aus, als sie war. Ihr braunes Haar war immer noch voll und zeigte keine Anzeichen von Grau, anders als sein eigenes, das längst von weißen Strähnen durchzogen war. Doch sie wirkte abgespannt, und er wusste, dass sie eigentlich am liebsten zu Hause geblieben wäre. Carl drückte ihre Hand und suchte ihren Blick. Sie lächelte verhalten zurück und nickte leicht, als wolle sie sagen: »Mir geht es gut, mein Lieber, mach dir keine Sorgen um mich.«
Carl griff in die Innentasche seiner Weste und holte etwas daraus hervor. »Schau nur, was ich gefunden habe«, sagte er und reichte Emilie ein paar schmale, bereits etwas vergilbte Kartonstreifen. Sie waren bemalt und beschriftet.
Joost beugte sich zu ihnen vor. »Das sind Tischkärtchen«, stellte er fest.
»Sehr schlau, unser Kleiner.« Friedrich gab ihm eine spielerische Kopfnuss.
»Das muss irgendein Weihnachtsessen gewesen sein«, fuhr Joost ungerührt fort, die Motive betrachtend.
»Die sind besonders hübsch gezeichnet. Die hat bestimmt Onkel Wilhelm gemacht«, sagte Rolf, der ebenfalls in Augenschein nahm, was seine Mutter in der Hand hielt.
»Wo hast du die nur her?« Emilie blickte gerührt zu Carl. Es handelte sich tatsächlich um Tischkärtchen, auf denen inmitten von weihnachtlichen Motiven in schwungvollen Buchstaben die Namen der Familie geschrieben standen, Carl und Emilie, Wilhelm und Friedrich – nur dass es sich um eine andere Generation handelte. Seine Brüder, nach denen er seine Söhne benannt hatte, lebten schon seit Jahren nicht mehr. Es waren schmerzliche Verluste, die ihm die Vergänglichkeit des eigenen Lebens vor Augen führten. Wilhelm war nur fünfundvierzig Jahre alt geworden und Friedrich gerade einmal vierzig.
»Hast du die auch auf dem Speicher gefunden, Papa?«, sagte Rolf und streckte die Hand aus. »Zeig mal, Mama. Onkel Wilhelm war wirklich ein Künstler.« Sie reichte ihm die Kärtchen, und er fächerte sie auf und betrachtete die Namen. »Wie alt die wohl sind?«
»Ich weiß es zufällig genau. Die stammen von 1854, sind also 35 Jahre alt. Damals kam ich zu Besuch aus Hamburg, wo ich gerade ein Volontariat machte – und ich habe bei genau diesem Weihnachtsessen eure Mutter kennengelernt.« Er drückte noch einmal Emilies Hand. »Du warst fünfzehn und Klassenbeste. Und das war schon beinahe alles, was ich von dir wusste.«
»Nein, mein Lieber, du täuschst dich. Ich war vierzehn«, sagte Emilie lächelnd. »Meine Mutter ist in dem Jahr gestorben. Oh, wie gut ich mich daran erinnere. Du hast großen Eindruck auf mich gemacht, genau wie Wilhelm im Übrigen.«
»Onkel Wilhelm?«, fragte Friedrich amüsiert. »Soll das heißen, du hättest auch ihn nehmen können?«
»Ich habe keinen von beiden ›genommen‹. Wie redest du nur?«, sagte sie tadelnd, lächelte aber dabei. »Das hätte ich auch gar nicht gekonnt. Ich war unglaublich schüchtern.«
»O ja, das warst du. Du hast kaum den Mund aufbekommen«, bestätigte Carl lachend. »Es dauerte noch ein paar Jahre, bis wir zusammengekommen sind.«
»Die Kärtchen könntet ihr doch fürs diesjährige Weihnachtsessen verwenden«, sagte Rolf und seufzte. »Wie schade, dass ich dann schon unterwegs sein werde.«
»Da haben wir aber alle sehr großes Mitleid mit dir, dass du noch vor Weihnachten auf Weltreise gehen musst«, frotzelte Friedrich. Er war fünfundzwanzig, also ein Jahr älter als sein Bruder, und längst nicht so weit herumgekommen wie dieser. Er hatte in Berlin Architektur studiert, was ihm nicht viel Gelegenheit zum Reisen gegeben hatte. Wer Kaufmann wurde, das hatte schon zu den Zeiten von Carls Vater und für die Generationen davor gegolten, für den gehörten Reisen zum Beruf. Eine Weltreise, wie Rolf sie nun plante, war allerdings dennoch etwas Besonderes.
»Aber eigentlich ist es gut, dass du fort bist. Der Name Rolf fehlt nämlich eh«, spöttelte Friedrich weiter.
Die Kutsche stoppte. Carl blickte am Rücken des Kutschers vorbei auf die große Kreuzung, wo sich Sandweg, Zeil, Friedberger Straße und Obermainanlage begegneten. Hier verkehrten nicht nur Droschken, sondern auch die Wagen der Pferdetram, die immer Vorfahrt hatten. Geschickt manövrierte der Kutscher das Gefährt zwischen den kreuzenden Fahrzeugen hindurch, und dann rollten sie auf den Eingang des Zoos zu.
Sie trafen fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit am Gesellschaftshaus ein, von seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Tante – den beiden Wilhelmines – war weit und breit noch nichts zu sehen.
Dann entdeckte Carl drei ihm gut bekannte Herren am Brunnen vor dem Gesellschaftshaus, die rauchend und redend beieinanderstanden. Sie sahen zu ihnen herüber und hoben grüßend die Hand. Carl warf Rolf einen fragenden Blick zu, und der nickte. »Entschuldigt uns für einen Moment«, sagte Carl zu seiner Frau und zu Friedrich, der Zigarrenqualm verabscheute. Rolf und er gesellten sich zu der Herrenrunde.
»Ronnefeldt senior und junior! Guten Tag! Gerade haben wir über Sie gesprochen«, wurden sie begrüßt. Der dicke Kunkel, seines Zeichens Kolonialwarenhändler, ein guter Freund, mit dem Carl sich regelmäßig auf ein Glas Wein traf, klopfte Carl auf die Schulter.
»Ach wirklich?« Carl setzte in aller Ruhe seine Zigarre in Brand. In Kaufmannskreisen wurde viel geredet, und dabei hörte man auch viel nebensächliches Geschwätz. Wenn es etwas Wichtiges gab, würde er es erfahren.
»Allerdings«, erwiderte Born, der ein Transportunternehmen sein Eigen nannte. Die Art, wie er die Augenbrauen hochzog, machte Carl nun doch neugierig.
»Worum ging’s denn?«, fragte er beiläufig.
»Um Otto Messmer.« Born, der genau wusste, wie wenig Carl den Teehändler aus Baden-Baden leiden konnte, antwortete wie aus der Pistole geschossen. Er hatte sich offenbar schon auf den Moment gefreut, das Funkeln in seinen Augen verriet ihn. Doch Carl blieb ruhig und tat ihm nicht den Gefallen, sofort auf den Namen anzuspringen.
»Also haben Sie es noch nicht gehört?«, sagte Heimann, der dritte der drei Herren. Er war ein Angestellter der Vereinsbank.
»Was soll ich denn gehört haben?«
»Die Sache mit Münch.«
»Benjamin Münch, der Teehändler?«, fragte Rolf. Die drei Männer nickten. Eine kleine Pause entstand. »Du warst doch im Begriff, sein Lager und sein Haus am Holzgraben zu kaufen«, sagte Rolf.
Carl zuckte leicht zusammen. Er hatte gehofft, sein Sohn würde es nicht erwähnen. »Münch hat es mir angeboten, aber wir sind bis jetzt nicht zusammengekommen. Der Preis war mir zu hoch dafür, dass alles renoviert werden muss und der Laden nichts Rechtes taugt.«
Der dicke Kunkel nickte. »Dann ist es ja gut. Ich dachte schon, das Haus sei interessant für dich. Wo es ja nur drei Häuser weiter liegt als euer Laden auf der Zeil …« Er ließ den Satz im Ungewissen enden.
Carl sog an seiner Zigarre und musterte seinen Freund. »Also hat Messmer das Haus gekauft?«
Kunkel nickte. »Messmer hat offenbar ein Angebot gemacht, dem der alte Münch nicht widerstehen konnte. Er hat es mir gestern Abend erzählt.«
»Messmer kommt in den Holzgraben? Will er dort einen Laden aufmachen?« Rolf lachte leise. »Was für ein Fuchs. Dabei dachte ich, er handelt nur en gros.«
Carl warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Keine Ahnung, was das soll.« Seine Laune sank immer tiefer. Er hatte nicht geglaubt, dass ihm von dieser Seite Ungemach drohte. Die Verhandlungen mit Münch waren durchaus nicht abgeschlossen gewesen. Er hatte eigentlich damit gerechnet, früher oder später den Zuschlag zu bekommen. Ausgerechnet an Messmer verkaufte er? Der Alte konnte ihn doch genauso wenig leiden wie er – und wie im Übrigen alle anderen Teehändler der Stadt. Er hatte sich bei verschiedenen Gelegenheiten versichert, dass niemand ihn in Frankfurt willkommen geheißen hatte. Aber womöglich wendete sich ja nun das Blatt.
Carl schluckte trocken, hüllte sich in den Qualm seiner Zigarre und versuchte, sich keine Blöße zu geben. Seitdem der Sohn des Baden-Badener Händlers in Frankfurt aufgekreuzt war, gab es mit ihm nichts als Ärger. Messmer schimpfte sich »Kaiserlicher Hoflieferant«, und das allein war schon eine Unverschämtheit.
»Messmer soll übrigens auch das Rathaus anlässlich des Kaiserbesuchs beliefern«, sagte Heimann in dem Moment. »Das hat mir Herr Direktor Kiesewetter erzählt. Er ist Kunde bei uns. Und er wusste es von – hab ich vergessen.«
»Messmer. Dieser verdammte Emporkömmling«, sagte Carl. Nun ärgerte er sich wirklich sehr, denn er war überhaupt nicht gefragt worden. Carl erinnerte sich noch zu gut daran, wie er vor vielen Jahren, damals war er noch Volontär bei Overweg in Hamburg gewesen, russische Teesorten für Eduard Messmer, den Vater von Otto Messmer, aufgespürt hatte. Der hatte damals um die Hand seiner Schwester Elise angehalten – und sie hatte ihn abgewiesen. War es etwa diese alte Geschichte, die sich nun, eine Generation später, rächte?
»Vater, hörst du?«
»Wie bitte?« Carl räusperte sich.
»Großmutter ist da. Kommst du?«
»Natürlich. Natürlich.«
Seine Mutter Friederike erwartete sie vor dem Eingang zum Gesellschaftshaus auf ihren Stock gestützt und dennoch aufrecht. Sie war in diesem Jahr 82 geworden und hatte anlässlich des Heißluftballonaufstiegs von Hermann Lattemann zu einem verspäteten Geburtstagsessen ins Gesellschaftshaus des Zoos eingeladen. Sie befand sich in Begleitung von seiner Tante Mina und seiner Schwester Wilhelmine, genannt Minchen. Seine Patin, Tante Käthchen, lebte nicht mehr, aber auch sie war immerhin neunundsiebzig Jahre alt geworden. Tante Käthchens Sohn, sein Cousin Ambrosius, hatte das Gut seines Großvaters väterlicherseits in der Nähe von Düren geerbt, wo er Hannoveraner züchtete. Es war eine große Überraschung gewesen, als das Testament des Alten verlesen worden war. Für Carl war dies ein kleiner persönlicher Triumph gewesen, hatte er doch einst dazu beigetragen, eine Annäherung zwischen Tante Käthchen und dem Großvater ihres Sohnes zu ermöglichen – wenn es sich auch damals nicht so angefühlt hatte.
Seine Schwester Minchen war auch schon Witwe. Carls Schwager, ein Spitzen- und Dessouswarenhändler und der Pate seines Zweitältesten, war vor ein paar Jahren in der Schwimmanstalt am Main einem Herzinfarkt erlegen. Carl fühlte sich plötzlich unwohl. Er hüstelte und klopfte sich verstohlen auf den Brustkorb. Manchmal schmerzten ihn seine Lungen, doch der Arzt konnte keine organischen Gründe für sein Leiden finden.
»Mama, da seid ihr ja. Wie geht es dir? Wir sind pünktlich, wie du siehst«, begrüßte er seine Mutter.
»Da danke ich auch schön«, sagte seine Mutter in ihrer trockenen Art. »Den Tisch habe ich vor vier Wochen reserviert. Nicht auszudenken, wenn ich allein dastünde. Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.« Sie zwinkerte ihm zu und hängte sich bei ihm ein. »Gut, dass ihr da seid«, fuhr sie leiser fort, so dass nur er ihre Worte hören konnte. »Deine Tante ist schrecklich unleidlich, weil sie es wegen unseres Ausflugs nicht in die Kirche geschafft hat. Und deine Schwester hadert damit, dass die Lautzens ihren Aufenthalt in Italien noch einmal verlängert haben. Du merkst, ich kann ein freundliches Gesicht gut gebrauchen.«
»Fein«, sagte er, rang sich ein erfreutes Lächeln ab und versuchte, die unschönen Gedanken in Zusammenhang mit dem Gespräch von eben möglichst weit von sich zu schieben. Er mochte auch nicht zugeben, dass er nicht nur seine Frau, sondern auch seine Söhne dazu hatte überreden müssen, heute herzukommen. Ein Fesselballon war längst keine große Sensation mehr.
»Deiner Frau tut es gut, mal rauszukommen. Und Lattemanns Fallschirmabsprung wird auch den Jungs gefallen«, erwiderte seine Mutter.
Erstaunt sah Carl sie von der Seite an. Die Fähigkeit seiner Mutter, seine Gedanken zu lesen, überraschte ihn immer wieder.
Im Gesellschaftshaus füllten sich die Tische rasch mit Gästen. Durch die großen Fenster sah man in einiger Entfernung den Startplatz des Ballons. Der »Rotateur-Miniateur-Ballon«, als solcher war er in der Zeitung angekündigt worden, war zu etwa zwei Dritteln aufgeblasen. Die rot-weiß gestreifte Ballonhaut lag wie ein überdimensionaler wabernder Haufen Vanillepudding mit Beerensoße in der Sonne. Auf einer Bühne am Rand machten sich ein paar Musiker bereit, das Vorprogramm zu bestreiten. Am Ende des Konzerts sollte der Ballon bereit sein zum Aufstieg.
Carl schob seiner Frau und seiner Schwester die Stühle zurecht, während Rolf dafür sorgte, dass seine Großmutter den Platz mit der besten Sicht und ein extra Kissen bekam. Draußen strömten gutgelaunte Menschen vorbei, das herrliche Wetter lockte ins Freie, doch es blieb keine Zeit, zu bedauern, dass sie hier beim bestellten Mittagsmenü festsaßen, denn die Kellner hatten es offenbar sehr eilig. Bereits nach fünf Minuten wurde vor Carl und den anderen ein Teller Suppe hingestellt, dann folgten in rascher Abfolge ein Salat, ein Soufflé, denn das Thema des Menüs war passend zum Anlass »Luft«, und der Hauptgang – natürlich Geflügel. Erst danach entstand eine Pause. Im großen Saal war mittlerweile auch der letzte Stuhl besetzt. Stetiges Stimmengewirr und das Klappern von Geschirr und Besteck erfüllten den Raum, und die vornehm gekleideten Kellner schwirrten umher wie eifrige schwarz-weiße Bienen.
Draußen hatte der Ballon eine erkennbare Form angenommen. Der »Rotateur« war walzenförmig und nicht rund. Das konnte man inzwischen deutlich sehen. Die Klänge des Konzerts drangen zu ihnen herein.
»Nun geht schon«, sagte Friederike an ihre drei Enkel gewandt und wedelte mit der Hand. »Wir Alten kommen bestens ohne euch zurecht, nicht wahr? Wir heben das Dessert für euch auf.«
Rolf ließ sich das nicht zweimal sagen. Er stand auf, und auch Friedrich folgte der Aufforderung. Joost blieb allerdings sitzen. Carls jüngster Sohn war immer hungrig und würde sich gewiss nicht der Gefahr aussetzen, etwas Essbares zu verpassen.
Rolf trat mit seinem Bruder Friedrich auf die Terrasse des Gesellschaftshauses, wo der gleich auf einen Bekannten traf, einen Architekten, so wie er. Rolf schlenderte allein in Richtung des rot-weiß wabernden Ballons davon.
Er war ganz froh darüber, einen Moment für sich zu sein. Die Spurensuche seines Vaters auf dem Dachboden und das Gespräch über Herrn Messmer hatten ihn in eine nachdenkliche Stimmung versetzt. Immerhin war er nun kurz davor, in die Firma mit einzusteigen und Verantwortung zu übernehmen. Nur noch seine Weltreise, die ihn über Afrika und den Nahen Osten nach Indien, China und Japan führen würde und von dort in die USA, der Höhepunkt seines bisherigen Lebens und gleichzeitig ein Wendepunkt, trennte ihn noch von der Aufgabe, die ihn erwartete. An seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag im übernächsten Jahr im August, so wollte es die Tradition, würde er fünfzig Prozent der Firmenanteile übertragen bekommen.
Sein Vater war einst in der gleichen Lage gewesen wie er. Auch er hatte ein Geschäft übernommen, das dessen Vater gegründet hatte. Sein Bruder Friedrich hingegen, der Architekt, war fein raus, und das, obwohl er der Ältere war. Von ihm erwartete niemand etwas Bestimmtes. Er konnte in Frankfurt bleiben oder auch woanders hingehen, es war gleich, und wenn er scheiterte, betraf es nur ihn selbst. Er zog niemand anderen mit sich ins Unglück. Doch wenn er, Rolf, Fehler machte, dann würde er eine mittlerweile über fünfundsechzigjährige Firma ruinieren. Aber konnte er es schaffen? Würde er erfolgreich weiterführen können, was sein Vater und sein Großvater aufgebaut hatten?
Wieder dachte er an Otto Messmer. Er wusste, dass sein Vater nicht gut auf ihn zu sprechen war. Er hingegen bewunderte den jungen Kaufmann, der Anfang dreißig war, also deutlich näher an seiner Generation als an der seines Vaters, insgeheim für seine neuartigen Ideen. Im Moment war Ronnefeldt in Frankfurt die unangefochtene Nummer eins. Der repräsentative Laden auf der Zeil, mit dem sein Vater sich vor fünf Jahren einen großen Traum erfüllt hatte, war eine wichtige Einnahmequelle, aber bei weitem nicht die einzige. Das gesamte Rhein-Main-Gebiet, der Süden Deutschlands, die Schweiz und sogar Italien wurden von Ronnefeldt beliefert. Aber Messmer ging ziemlich geschickt vor, geschickter als alle anderen. Irgendwie schaffte er es, sich überall bekannt zu machen.
Abgesehen von diesen Sorgen gab es noch ein Problem mit einem Handelsvertreter unten im Süden, das womöglich noch drängender war als alles andere. Märkle. Rolf hatte neulich eine Beobachtung gemacht, die ihn nun nicht mehr losließ. Zunächst hatte er ihr keine so große Bedeutung beimessen wollen, doch mittlerweile war er sich sicher, dass da irgendwas richtig faul war. Er musste seinen Vater am besten noch vor seiner Abreise darauf ansprechen, wenn es auch schwierig werden würde, bei ihm auf ein offenes Ohr zu stoßen, denn sein alter Herr hielt leider große Stücke auf diesen Mann.
Rolf trat mit der Fußspitze gegen einen Stein, der am Wegrand lag. Für einen Moment hatte er den Trubel um sich herum vollkommen ausgeblendet, war jedoch weitergelaufen, und nun näherte er sich dem Bereich, wo die Gehilfen des Luftakrobaten dabei waren, den Ballon mit Gas zu befüllen. Der Startplatz war mit einem Zaun gesichert, um näher heranzukommen, musste ein separater Eintritt bezahlt werden. Das Eintrittsgeld hätte Rolf nicht gestört, die vielen Menschen, die sich dort drängten, schreckten ihn allerdings ab. Je näher er dem Spektakel kam, desto unwohler fühlte er sich. Schließlich blieb er stehen. Seitdem er vor einigen Jahren aus allernächster Nähe auf einem anderen Festplatz ein schweres Unglück miterlebt hatte, mied er Menschenansammlungen dieser Art. Es war beim Turnfest im Jahr 1880 gewesen. Ein paar Feuerwerkskörper, die für das Abschlussfeuerwerk am Abend gedacht gewesen waren, hatten sich entzündet und waren unkontrolliert explodiert. Rolf hatte den Anblick der brennenden Menschen, die an ihm vorbeigelaufen und in seiner Nähe zu Boden gegangen waren, ihre Schreie und den fürchterlichen Geruch nie vergessen und träumte nachts noch immer davon. Sein Vater hatte beherzt eingegriffen und mitgeholfen, die Flammen zu löschen und so viele Menschen wie möglich zu retten, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. Er selbst, obschon immerhin ein junger Mann von fünfzehn Jahren, war wie erstarrt gewesen und hatte sich nicht rühren können, weswegen er sich stets mit einer Mischung aus Scham und Angst daran erinnerte.
Er war jetzt in einigem Abstand von der Absperrung stehen geblieben, als ihn plötzlich jemand von der Seite ansprach:
»Das würde ich nicht tun.«
Rolf sah sich überrascht um. Neben ihm stand ein Mädchen, nein, eher eine junge Frau. Sie hatte dunkelbraunes Haar mit einem leichten Stich ins Rötliche und einen sehr hellen Teint. Fragend blickte er ihr in die Augen.
»Das würde ich nicht tun«, wiederholte sie und wies auf etwas, das er in der Hand hielt – und jetzt erst merkte er, dass er die Zigarre aus seiner Westentasche hervorgeholt hatte. »Rauchen ist hier verboten.«
»Natürlich. Verzeihung. Ich war in Gedanken«, erwiderte Rolf und merkte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Rasch steckte er die Zigarre weg. »Ich hätte sie nicht angezündet, wie gesagt, ich war in Gedanken, ich …« Er stockte. Er konnte der jungen Dame ja schlecht erklären, dass er an Feuer und Explosionen gedacht hatte. Damit würde er es nicht besser machen.
Sie lächelte ihn freundlich an. »Gewiss. Ich glaube Ihnen«, sagte sie und sah in Richtung des Ballons, der gerade dabei war, vom Boden abzuheben. »Wasserstoff wäre weniger gefährlich, aber der Ballon wird mit Leuchtgas befüllt.«
»Ich bin mir dessen durchaus bewusst«, sagte Rolf, nun doch leicht verstimmt über den belehrenden Tonfall. Trotzdem faszinierte ihn die junge Frau, die sich offenbar für physikalische Phänomene interessierte. Er versuchte, ihr Alter zu schätzen, sie mochte vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein, und blickte sich verstohlen nach ihrer Begleitung um. War sie etwa ganz allein hier? Ihre Kleidung war nicht billig. Sie trug einen leichten Mantel aus feinem Wollstoff, der ein wenig an einen Herrenrock erinnerte. Das Auffälligste war der modische Hut, ein kleiner, mit einer einzelnen Stoffblume dekorierter, schief aufgesetzter Zylinder. Trotz der ausgesuchten Garderobe kam sie ihm nicht eitel vor. Einen Schirm hatte sie nicht dabei. Sie wirkte – unkonventionell, dachte er.
Fieberhaft überlegte er, was er sagen könnte, aber sie nahm ihm die Wahl des Gesprächsthemas ab. »Wasserstoffgas wäre viel leichter und sorgt im Vergleich zu Leuchtgas für einen anderthalbfachen bis doppelten Auftrieb. Damit wäre der Ballon schon seit einer Stunde in der Luft.«
»Und warum nimmt man dann keinen Wasserstoff?«, hörte er sich fragen.
»Für die Herstellung braucht man viel Energie. Die Kosten bekäme Herr Lattemann mit seinen Eintrittsgeldern vermutlich nicht so schnell wieder herein.«
»Verstehe. Das klingt logisch.«
»Und darum ist ein so kleiner Ballon auch viel rentabler als ein großer. Für einen einzelnen Menschen und ohne Korb ist der Auftrieb ausreichend. Das Halteseil hat allerdings auch noch ein gewisses Gewicht, das einberechnet werden muss.«
»Ohne Korb, wirklich?«, fragte Rolf und warf wieder einen Blick auf den Ballon, der inzwischen – von vier Seilen gehalten, die am Boden befestigt waren – ein klein wenig über dem Platz schwebte. »Aber wie kann das gehen, ohne Korb? Dieser Herr Lattemann steigt doch mit auf.«
»Er steht auf einem Steigbügel.«
»Puh, das wäre nichts für mich«, gab Rolf lachend zu und musterte sie mit wachsender Neugierde. »Wie kommt es, dass Sie so viel darüber wissen?«
»Mein Bruder Philipp ist ein begeisterter Anhänger der Luftfahrt. Seit Tagen geht es bei uns daheim um nichts anderes mehr. Er ist da drin«, sie nickte mit dem Kopf in Richtung der Absperrung, wo sich die Menschen umeinanderdrängten, »aber mir war es zu voll.«
»Geht mir genauso. Abgesehen davon ist es hier bei Ihnen viel interessanter.« Er fühlte, dass er wieder rot wurde, und auch sie schien plötzlich verlegen.
Sie senkte den Blick. »Verzeihen Sie. Es war sehr unhöflich von mir, mit meinem Wissen zu prahlen.«
»Nein, nein, ich meinte es ehrlich. Es ist wirklich sehr spannend, was Sie über Ballons und Steigbügel und über das Gewicht von Gasen zu sagen haben«, versicherte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Mein Vater ist Chemiker, und mein Bruder studiert Chemie. Solche Themen kommen bei uns ständig zur Sprache. Und sie interessieren mich.«
»Der Auftrieb von Gasen wird bei Ihnen am Frühstückstisch diskutiert?«
»Nicht nur. Manchmal geht es auch um die Abluftprobleme bei der Schwefelsäurescheidung. Oder darum, wie man einen Ofen dazu bringt, heißer zu brennen«, erwiderte sie vollkommen nüchtern, doch dann lachte sie, und er stimmte mit ein.
»Ihr Vater ist also ein Fabrikant?«, fragte er.
Sie nickte. »Mein Vater ist Georg Reither. Direktor der Edelmetall-Scheideanstalt.«
»Der Name ist mir natürlich ein Begriff. Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Rolf Ronnefeldt. Sehr erfreut.« Er reichte ihr die Hand.
»Anna Reither«, sagte sie. Ihre kleine behandschuhte Hand ruhte kurz in seiner. »Haben Sie etwas mit dem Teegeschäft auf der Zeil zu tun, Herr Ronnefeldt?«
Er nickte und fand es bezaubernd, dass sie sofort gewusst hatte, wer er war. »Es gehört meinem Vater. Und davor meiner Großmutter und meinem Großvater. Er hat den Teehandel gegründet.« Er räusperte sich und wusste plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte. »Mögen Sie Tee?«, fragte er und hätte sich im nächsten Augenblick am liebsten dafür geohrfeigt, dass ihm nichts Besseres einfiel. Doch falls sie ihn langweilig fand, ließ sie es ihn jedenfalls nicht spüren.
»Ich liebe Tee«, antwortete sie mit einem herzerwärmenden Lächeln. »Aber leider bin ich die Einzige in meiner Familie, die ausschließlich Tee und keinen Kaffee trinkt. Zu meinem Leidwesen haben wir darum immer nur ein und dieselbe Sorte im Haus. Was trinkt man denn heutzutage, wenn man etwas davon versteht? Ich könnte einen guten Rat gebrauchen.«
Wieder räusperte er sich, doch bevor er sich weiter mit ihr unterhalten konnte, trat ein junger Mann zu ihnen, bei dem es sich um den verschollenen Bruder handeln musste. Die beiden sahen sich ähnlich, besaßen dieselbe sommersprossige Nase, nur dass sein Haar deutlich heller war. »Sie sind fertig. Es ist vollkommen windstill, beste Bedingungen. Gleich geht’s los«, sagte er zu seiner Schwester, wies auf den Ballon und rieb sich voller Vorfreude die Hände. Dann nickte er Rolf zu. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Anna Reither übernahm es, sie einander vorzustellen. »Das ist mein Bruder Philipp Reither. Philipp, das ist Herr Ronnefeldt«, sagte sie. Ihr Bruder schien kein Problem damit zu haben, dass er seine Pflichten als Begleiter sträflich vernachlässigt hatte. Er verwickelte ihn in ein Gespräch über Heißluftballone und Luftschiffe. Rolf bedauerte es zwar, dass das nette Fräulein Reither neben ihrem Bruder verstummte und ihm nur noch gelegentlich ein kleines Lächeln zuwarf, fand die Konversation aber dennoch sehr interessant. Bisher hatte er Vorführungen dieser Art eher als eine Art Spektakel betrachtet, doch der wissenschaftliche Blick des jungen Philipp Reither auf diese Technologie eröffnete ihm eine neue Sichtweise. Reithers Prophezeiung, dass steuerbare Luftschiffe schon in wenigen Jahren den Himmel bevölkern würden, schien ihm dann aber doch ein wenig sehr weit hergeholt, und er hätte nur zu gerne auch die Ansicht des Fräulein Reither zu dieser kuriosen Annahme erfahren. Doch bevor er das Wort an sie richten konnte, wurden sie durch die Ankunft von Hermann Lattemann abgelenkt. Man merkte zuerst am aufbrandenden Beifall, dass er eingetroffen war. Kurz darauf sahen sie ihn, als er sich wie an einer Reckstange zum Ballon hinaufzog und sich auf dem Trittbrett in Position stellte. Er trug ein Jockey-Kostüm. Die eine Hand des Luftakrobaten umfasste die Streben seiner Schaukel, denn darum handelte es sich letztlich, um nichts weiter als eine Schaukel, die unter dem Ballon hing, und mit den Fingern der anderen nestelte er ein paar dünne Seile hervor, die an seinem Gürtel befestigt waren. Er sicherte sich am Ballon und nahm dann ein Paket in Empfang, das die Gehilfen zu ihm hinaufreichten.
»Das muss der Fallschirm sein«, sagte Philipp Reither atemlos.
Nach einer Weile hob Lattemann die Hand zum Zeichen, dass die Vorbereitungen abgeschlossen waren. Ein Raunen ging durchs Publikum und steigerte sich zu Beifall, als die vier Gehilfen gleichzeitig die vier Seile lösten, die den Ballon am Boden festgehalten hatten, und dieser rasch seinen Aufstieg begann. Rolf warf einen Blick zu Fräulein Reither, die mit in den Nacken gelegtem Kopf dastand, Begeisterung im Gesicht.
»Haben Sie gar keine Angst, dass er abstürzt?«, fragte er leise.
»Das wird er. Aber er hat ja den Fallschirm«, sagte sie, ohne die Augen von dem Luftakrobaten zu lösen.
Rolf folgte ihrem Blick, von einer inneren Erregung erfasst, die nicht nur mit den Kunststücken des Luftakrobaten zusammenhing. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf, seine bevorstehende Reise, Messmer, Märkle, die Zukunft der Firma … Wo war eigentlich sein Fallschirm, falls er abstürzen sollte, fragte er sich plötzlich. Und während er überlegte, ob er Lattemann, dessen winzige Gestalt unter dem rot-weißen Ballon kaum noch zu erkennen war, mutig oder leichtsinnig fand, dachte er gleichzeitig darüber nach, wie er es schaffen konnte, Anna Reither wiederzusehen.
Der Ballon setzte seinen Aufstieg fort, schließlich war das Seil zu Ende und spannte sich über einem mächtigen Anker, der es am Boden festhielt. Eine Weile geschah gar nichts, bis wieder ein Raunen durch die Menge ging. Irgendwo ertönte ein Schrei.
»Er fällt«, rief jemand. »Er stürzt ab!«
Alle Blicke waren nach oben gerichtet. Die Gestalt Lattemanns, zunächst nur ein Punkt am Himmel, wurde größer – und dann sah man, dass sich der Fallschirm geöffnet hatte. Darunter hing der Luftakrobat mit gereckten Armen. Seine Hände umklammerten einen Ring, der mit Seilen am Fallschirm befestigt war. Wie ein Blatt, das vom Baum fällt, dachte Rolf. Als Lattemann seinem Publikum näher kam, konnte man sehen, dass er dort oben Übungen machte, mal die eine, mal die andere Hand vom Ring löste. Er drehte sich um die eigene Achse, winkte. Beifall brandete auf, die Menge wogte, als immer klarer wurde, wo er landen würde, nämlich ganz in der Nähe des Startplatzes. Es war eine perfekte Vorführung. Rolfs Blick wanderte über die Menge und blieb wieder an dem vor Aufregung leuchtenden Gesicht von Anna Reither hängen. Sie schwieg, doch ihre Lippen bewegten sich tonlos vor Staunen. Als sie bemerkte, dass er sie betrachtete, lächelte sie ihm kurz zu. »Ist es nicht wunderbar?«, sagte sie, legte den Kopf erneut weit in den Nacken, beschattete die Augen mit der Hand, entblößte ihren zarten weißen Hals, um den sich der gekräuselte Kragen ihrer Bluse schloss. Ihr Mund stand leicht offen, die Zungenspitze stahl sich hervor.
Unmöglich, nicht zu ihr hinzusehen.
»Ja, das ist es. Wunderbar.«
Frankfurt, Ende November 1889
Philipp Reither kontrollierte zum wiederholten Male seinen Versuchsaufbau. Es war der dritte Durchlauf seines Experiments, und er wollte sich unter dem kritischen Blick seines Vaters keinen noch so kleinen Fehler erlauben. Durch ein Fenster konnte er ihn nebenan an seinem Schreibtisch sitzen sehen. Das Büro seines Vaters grenzte direkt ans Labor und war vergleichsweise klein, alles andere wäre ihm, wie er immer sagte, wie ein verschwenderischer Umgang mit Ressourcen erschienen. Die kaufmännischen Geschäftsführer der Firma Edelmetall-Scheideanstalt, vormals Reither hatten ihre großzügigen Büros im Verwaltungstrakt des Gebäudes. Seinem alten Herrn wurde es als Schrulligkeit ausgelegt, dass er es nicht vorzog, ebenfalls dort zu arbeiten, aber verwunderlich war es nicht. Das Labor war schon immer der bevorzugte Arbeitsplatz seines Vaters gewesen.
Philipp rieb noch einmal seine Hände aneinander und drehte dann vorsichtig den Gashahn auf. Die Temperatur durfte nur schrittweise erhöht werden, dabei musste er alles, was er tat, ganz genau protokollieren. Er war natürlich kein Anfänger. Sechs Semester Chemiestudium in Berlin lagen bereits hinter ihm, und es ärgerte ihn, dass er überhaupt nervös war. Er dachte an Lattemann und seinen Sprung. Der fürchtete sich vor nichts und ging dabei sogar größere Risiken ein.
In den folgenden zehn Minuten hatte er nichts weiter zu tun, als die Gaszufuhr zu kontrollieren, und während er in die Flamme starrte, kamen ihm Doktor Bernhard Möbius und dessen Patent in den Sinn. Die von seinem Vater entwickelte Scheidemethode war gut, aber sie war nicht optimal, und sein eigentliches Ziel war die Umstellung der gesamten Produktion auf die Elektrolyse. Das patentierte Möbius-Verfahren sollte nun den Durchbruch bringen. Sein Vater hegte sogar die Hoffnung, Doktor Möbius in Frankfurt halten zu können. Heute Abend wurde der Chemiker zusammen mit anderen Gästen bei ihnen zu Hause zu einem Dinner erwartet. Seine Mutter war schon seit Tagen mit den Vorbereitungen beschäftigt.
Philipp kontrollierte abwechselnd seine Kolben, in denen es mittlerweile zischte und brodelte, und die Uhr. Die Sekunden verrannen. Eine Minute noch, danach musste er die Substanz eine Stunde lang abkühlen lassen. Geschafft. Philipp drehte den Gashahn zu und sah durch das kleine Fenster zu seinem Vater hinüber. Der Werksleiter stand nun bei ihm. Papa hob die Hand und winkte ihn zu sich. Philipp hob ebenfalls die Hand und hielt fünf Finger in die Luft. Fünf Minuten noch, hieß das. Dann widmete er sich wieder seinen Kolben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Werksleiter das Büro verließ. Sein Vater saß am Schreibtisch und wirkte sehr nachdenklich oder gar sorgenvoll.
Gab es womöglich Ärger mit dem Personal? Sein Vater war als technischer Leiter der Firma unter anderem für die aus rund einhundertvierzig Werksmitarbeitern bestehende Belegschaft der Scheideanstalt zuständig. Es war ihm nach der Forschung das Zweitliebste, wie er immer zu sagen pflegte. Philipp hingegen fand es schwierig, den richtigen Ton im Umgang mit den Arbeitern zu finden. Er meinte ihre Blicke in seinem Rücken zu fühlen, wenn er durch die Fabrik ging. Jeder wusste, wer er war. »Der Sohn vom Patron.« Auch die Belegschaft hatte Erwartungen an ihn, und sie würde Philipp Reither immer mit Georg Reither vergleichen.
Die Tätigkeit »in der Münze«, wie die Scheideanstalt von vielen Frankfurtern noch immer genannt wurde, weil hier früher die Prägeanstalt gewesen war, bot den Arbeitern einige Privilegien wie den Achtstundentag, das Essen in der Werkskantine und Versicherungsleistungen, die über die staatlich verordnete Absicherung hinausgingen. Sein Vater begründete das damit, dass er Personalfragen, wie alles andere auch, logisch angehe. Nach eingehender Analyse der speziellen Anforderungen, die die gefährliche Beschäftigung mit Hitze und Säuren mit sich brachte, war er zu dem Schluss gekommen, dass ausgeschlafene und zufriedene Arbeiter von Vorteil im Hinblick auf Motivation, Zuverlässigkeit, Sicherheit und somit auch auf die Produktivität waren. Aus diesem Grund hatte er vor sieben Jahren in seinem Betrieb den Achtstundentag eingeführt.
Aus dem Munde seines Vaters hörte sich diese Argumentation tatsächlich schlüssig an. Auch die Arbeiter waren Bestandteil einer Gleichung. Sie gehörten zu jener Formel, die die Scheideanstalt in ein gewinnbringendes Unternehmen verwandelte. Und so hatte sich sein Vater auch gegenüber den Teilhabern an der Scheideanstalt und den Kaufleuten gerechtfertigt und durchgesetzt. Den häufig geäußerten Vorwurf, sich dadurch mit den Sozialdemokraten gemeinzumachen, überhörte er einfach.
Philipp beförderte den Kolben zurück in die Halterung. Hinsichtlich seines Experiments war zumindest alles nach Plan verlaufen. Er zog den Laborkittel aus und ging nach nebenan.
Sein Vater saß immer noch bewegungslos am Schreibtisch.
»Was gibt’s?«, fragte Philipp.
»Müller ist wieder betrunken.«
Unwillkürlich wanderten Philipps Augen zur Wanduhr. Es war gerade einmal elf Uhr am Morgen.
»Er ist im Lager eingeschlafen. Jeder hätte kommen und sich nach Herzenslust bedienen können«, fuhr sein Vater fort.
»Wo ist er jetzt?«
»Noch unten im Lager. Wir müssen mit ihm reden. Hast du einen Moment?«
Philipp zögerte nur ganz kurz. Dann nickte er.
»Eine knappe Stunde habe ich«, sagte er. Er freute sich nicht, denn das versprach unangenehm zu werden. Aber sein Vater hatte ihm zuvor schon klargemacht, dass Personalfragen ein Bestandteil seiner Ausbildung waren. Er konnte sich also nicht verweigern.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg durch die Werkshallen und Flure hinunter ins Lager. Unterwegs wurden sie von den Mitarbeitern freundlich gegrüßt. Respektvoll, aber nicht ehrerbietig. Seinem Vater war dieser Unterschied ausgesprochen wichtig. Der vertraute Geruch von heißem Metall, Kohlenfeuer und Säure stieg Philipp in die Nase, und als sie über die Treppe nach unten gingen, ertönte, immer lauter werdend, das rhythmische Hämmern aus der fabrikeigenen Schmiede. Im ganzen Gebäude herrschte eine fühl- und hörbare Geschäftigkeit.
»Was hast du mit Müller vor?«, fragte Philipp.
Sein Vater blieb kurz stehen und sah ihn an. »Was würdest du tun? Du kennst ja die ganze Geschichte.«
Die kannte Philipp allerdings. Franz Müller war ein gutes Beispiel dafür, dass die Arbeiter zwar, wie sein Vater immer betonte, ein Bestandteil einer Gleichung sein mochten, jedoch von allen Variablen die unzuverlässigste waren. Der Arbeiter hatte einst als Hoffnungsträger bei der Scheideanstalt angefangen. Er war intelligent und ehrgeizig und hatte sich trotz geringer Schulbildung rasch hochgearbeitet. Doch dann war etwas geschehen, das ihn aus der Bahn geworfen hatte. Philipp verspürte zwar durchaus Mitleid, wenn er daran dachte, fand seinen Vater dem renitenten Arbeiter gegenüber aber dennoch zu nachgiebig. Müller hatte zu trinken angefangen. Am Ende hatte Philipps Vater ihm die leitende Position in der potenziell gefährlichen Produktion entziehen müssen. Und nun hatte Müller sogar in der degradierten Funktion als Lagerleiter noch versagt.
Sie waren am Fuß der Treppe angekommen und gingen über den Innenhof der Fabrik auf die Tür des Lagers zu.
Die Frage lag immer noch in der Luft. Was würde er tun?
»Du wirst Müller entlassen müssen«, sagte Philipp.
Sein Vater nickte. »Ich fürchte, das muss ich wohl.«
Frankfurt, am selben Tag
Anna staubte mit dem Wedel die Draperien und Vasen, Dekorschalen und Bronzefiguren im Salon und im Speisezimmer ab und dachte an den jungen Mann, den sie im Zoo kennengelernt hatte. Rolf Ronnefeldt. Er wollte ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sie polierte das Silber, das für das Dinner zu Ehren des prominenten Chemikers Doktor Bernhard Möbius am Abend gebraucht wurde, und hatte noch immer keine Idee, wie sie es schaffen sollte, ihn wiederzusehen. Und während sie das Besteck noch ein letztes Mal mit einem Tuch abrieb, machte sie sich klar, dass die Initiative von ihm ausgehen musste. Alles andere wäre viel zu ungehörig.
Sie seufzte und räumte die Putzsachen beiseite. Die groben Arbeiten waren geschafft, nun ging es ans Eindecken. Anna breitete die gemangelte Damast-Tischdecke aus, legte sie an den Ecken in gleichmäßige Falten, stellte den Tafelaufsatz in die Mitte, arrangierte das Obst, kehrte die Tischdecke mit einem Bürstchen ab und platzierte die auf Hochglanz polierten Teller und Gläser. Heute Abend wurden sieben Gäste zum Dinner erwartet. Insgesamt würden sie elf Personen sein, sieben Männer und vier Frauen, ein Ungleichgewicht, das ihrer Mutter Sorgen bereitete. Es war zu befürchten, dass die Männer das Gespräch an sich reißen würden. Anna fand diese Aussicht allerdings nicht so schlimm. Wenn die Männer damit zufrieden waren, musste sie auch keine Konversation mit Doktor Möbius machen.
Fast fertig. Anna umrundete noch einmal prüfend den Tisch. Für das Polieren des Silbers und fürs Abstauben wäre sie normalerweise natürlich nicht zuständig gewesen, doch ganz unerwartet war Anfang der Woche eines ihrer beiden Dienstmädchen, Alberta, nicht zur Arbeit erschienen. Das zweite Mädchen, Ellie, hatte einen von ungelenker Hand geschriebenen Brief mit nach unten gebracht, in dem stand, dass Alberta Frankfurt verlassen habe, um zurück zu ihrer Familie in den Hunsrück zu gehen. Das Heimweh musste sehr groß gewesen sein, weil nicht einmal der ausstehende Lohn das Mädchen von diesem Schritt abgehalten hatte. Doch Dienstmädchen waren rar, und so schnell hatten sie natürlich keinen Ersatz für die abtrünnige Alberta bekommen können, weshalb Anna, ihre Mutter und in Teilen auch die zehnjährige Josefine die Lücke schließen mussten.
Ellie, die sich dank Albertas Weggang in einem neuen Gefühl der Unentbehrlichkeit sonnte, trug die Nase seitdem noch höher als ohnehin schon. Sie konnte kochen, und Köchinnen waren gefragt. Zwar hatte sie alles von Mama gelernt, doch das würde sie im Zweifelsfall nicht davon abhalten, ihr Glück woanders zu versuchen. Die Stimmung im Haus war darum spürbar angespannt. Seit Tagen waren Mama und Ellie nun schon in der Küche mit den Vorbereitungen für das Menü beschäftigt, während Anna sich um den Rest kümmerte.
Sie ging nach nebenan in den Salon, um die Menükarten zu holen, die ihre Mutter und sie am Abend zuvor geschrieben hatten. Die Sitzordnung sah vor, dass Herr Architekt Lorenz zu ihrer Linken sitzen würde. Er war der Mieter der sogenannten »Gartenwohnung«, die sich auf demselben Grundstück wie das Haus der Reithers befand, jedoch einen separaten Eingang hatte. Mama hätte die Wohnung am liebsten unbewohnt gelassen. Sie käme sich dadurch vor wie eine x-beliebige Zimmerwirtin, beklagte sie sich immer. Doch Papa fand es unsinnig, die schöne Wohnung leer stehen zu lassen, also wurde sie vermietet.
Den Ehrengast des Abends, Herrn Doktor Bernhard Möbius, hatte Mama leider, wie von Anna befürchtet, zu ihrer Rechten platziert. Während sie die Tischkärtchen auf die Teller legte, rief sie sich das Bild des hünenhaften Chemikers aus den USA ins Gedächtnis, der seit einigen Wochen in Frankfurt zu Besuch war, wo er ein neues Verfahren zur elektrolytischen Scheidung von Metallen entwickelt hatte. Elektrizität galt als die Technologie der Zukunft, und so unmittelbar von Herrn Möbius’ Wissen und Erfahrung profitieren zu können, war für Papa ein großes Glück. Schon mehrfach hatte er ihnen beim Abendessen von den Fähigkeiten des gebürtigen Sachsen erzählt und von dessen Erfindergeist geschwärmt.
Anna, die den Enthusiasmus ihres Vaters für die Segnungen der Elektrizität sehr gut nachvollziehen konnte, teilte seine Begeisterung für Bernhard Möbius hingegen überhaupt nicht. Herr Möbius war ganz bestimmt klug und erfolgreich, aber sie fand seine Erscheinung und überhaupt seine ganze Art abstoßend. Er hatte eine hohe Stirn, dünnes Haar und einen flusigen Backenbart, der aussah, als würde er aus seinen Ohrläppchen herauswachsen. Seine Augenbrauen waren zackig, wie mit dem Lineal gezeichnet, und er besaß einen großen Mund mit einer ebenso zackigen Oberlippe und eine dröhnende Stimme, die sächsisch mit amerikanischem Akzent sprach. Doch Anna musste hoffentlich nur noch diesen einen Abend in Herrn Möbius’ Gesellschaft hinter sich bringen, denn noch vor Weihnachten würde der Chemiker in die USA zurückreisen.
Sie hatte gerade damit begonnen, die Servietten nach den Vorgaben ihrer Mutter zu falten, als die Tür aufgestoßen wurde und ihre kleine Schwester Josefine hereinkam.
»Hier, das ist für dich.«
Sie drückte der überraschten Anna ein Päckchen in die Hand. Es war sehr leicht, und im nächsten Moment sah Anna, dass ein gestempelter Schriftzug die Vorderseite zierte: J.T. Ronnefeldt, Teehandlung, Zeil 33 und Holzmarkt 6.
Ein freudiger Schrecken durchfuhr sie. »Woher hast du das?«
»Ein Bote hat es abgegeben. Weil sonst niemand da war, hab ich aufgemacht«, sagte Josefine schulterzuckend, wohl wissend, dass es ihr eigentlich nicht erlaubt war, Fremden die Tür zu öffnen. »Was ist da drin?«
»Das ist Tee – nehme ich jedenfalls an«, sagte Anna leichthin, während ihr Herz immer schneller schlug.
»Seit wann bestellst du Tee?«, fragte Josefine stirnrunzelnd.
»Das habe ich gar nicht.«
»Versteh ich nicht. Mach doch mal auf.«
Anna hätte das Päckchen lieber allein geöffnet, sah jedoch ein, dass sie Josefine so schnell nicht wieder loswerden würde, und begann, an der Verpackung herumzunesteln, löste schließlich die Schnur und entfernte zwei Lagen Packpapier.
»Das ist ja wirklich nur Tee«, sagte Josefine enttäuscht, als sie das Päckchen sah, das Anna entgegenfiel.
Anna las, was in schwungvollen Buchstaben auf dem Etikett geschrieben stand: Darjeeling. First Flush 1889. Ein kleiner Briefumschlag hatte ebenfalls in dem Päckchen gelegen, »Für Anna Reither« stand darauf. Es war dieselbe elegante Handschrift wie auf dem Etikett.
Der Umschlag weckte sofort Josefines Interesse. »Von wem ist das?«, fragte sie.
Anna antwortete nicht, sondern nahm eines der Messer vom Tisch, die sie eben noch so sorgfältig poliert hatte. Mit einem leisen Ritsch fuhr die Schneide an der Kante des Umschlags entlang. Drinnen steckte ein kurzer Brief.
Verehrtes Fräulein Reither,
bitte erlauben Sie mir, Ihnen diese kleine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Ich denke immer noch gerne an unsere Begegnung bei Herrn Lattemanns Fallschirmsprung zurück und wage es nun endlich, Ihnen zu schreiben.
Dieser Tee wurde im Frühjahr geerntet und ist ganz neu in unserem Sortiment. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen. Es hat mich außerordentlich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, und es würde mich freuen, Sie eines Tages wiederzusehen.
Ergebenst
Ihr Rolf Ronnefeldt
Anna drückte das Papier an die Brust. Für einen kurzen Moment hatte sie Josefines Gegenwart ganz vergessen, aber ihrer Schwester entging natürlich nicht, dass der Brief sie wesentlich mehr bewegte als der aus ihrer Sicht völlig langweilige Tee.
»Zeig her, ich will sehen«, verlangte sie.
»Das geht dich nichts an.«
»Zeig doch mal. Ich sag’s auch keinem.«
Anna seufzte, doch dann gab sie nach. Wenn sie sich jetzt stur stellte, war die Wahrscheinlichkeit, dass die kleine Schwester bei der nächsten Gelegenheit alles herausposaunte, wesentlich größer. Sie wollte ihre neue Bekanntschaft erst einmal für sich behalten.
Josefine hatte in der Zwischenzeit das Briefchen gelesen.
»Wo hast du ihn denn kennengelernt?«, fragte sie mit leuchtenden Augen.
»Im Zoo. Wir haben uns unterhalten.«
»Ist er in dich verliebt?«
»Josefine!« Anna schüttelte energisch den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf? Wir haben nur ganz kurz miteinander geredet.«
»Na und? Du bist ihm aufgefallen, oder nicht? Es hat ihn außerordentlich gefreut, dich kennenzulernen. Und er hat dir ein Geschenk gemacht. Ist er hübsch?«
»Josefine, hör endlich auf damit!«, sagte Anna im strengen Ton, musste aber nun doch schmunzeln. Ihre kleine Schwester musterte sie neugierig. »Er sieht ganz gut aus«, gab sie schließlich zu. Dann kniete sie sich vor Josefine hin, so dass sie ihr direkt in die Augen schauen konnte. »Behalt es bitte für dich, ja? Mama und Papa müssen erst einmal nichts davon wissen.«
»Sie werden aber wissen wollen, wo der Tee herkommt.«
»Ich werde sagen, das sei das Geschenk einer Freundin. Ich weiß nämlich noch nicht, ob ich ihm antworten will.« Mit diesen Worten nahm sie ihrer Schwester den Brief wieder ab.
»Ich verrat keinem was, das hab ich doch gesagt«, Josefine griff gedankenverloren nach einem ihrer Zöpfe und steckte sich das Ende in den Mund.
Anna drückte ihrer Schwester einen Kuss auf die warme, weiche Wange. So bedrückt sie die Aussicht, den Abend an der Seite von Bernhard Möbius zu verbringen, eben noch gestimmt hatte, war ihr nun mit einem Mal fröhlich zumute. »Gewöhn dir bloß ab, auf deinen Haaren herumzukauen, sonst will dich nie einer.«
Josefine spuckte augenblicklich das Zopfende aus. »Ich mag die Zöpfe sowieso nicht mehr. Die sind albern. Steckst du mir die Haare hoch?«
Anna lachte. »Wozu denn das? Du bist doch sowieso heute Abend nicht dabei.«
»Und das ist sooo ungerecht.«
»Sei lieber froh«, seufzte Anna. »Also gut. Sobald ich hier fertig bin, steck ich dir die Haare hoch. Du musst mir dann aber auch beim Anziehen helfen.«
»Abgemacht.« Josefine hüpfte fröhlich zur Tür hinaus.
Nachdem ihre Schwester fort war, strich Anna den Brief glatt, den sie immer noch in der Hand hielt, las ihn noch einmal und verstaute ihn dann sorgfältig in ihrer Schürzentasche.
Nun hatte sie wieder Hoffnung im Herzen.
Frankfurt, am selben Tag
Philipp betrat das Lager vor seinem Vater. Sein erster Blick fiel auf Opificius. Der Werksleiter stand am Fenster, die Hände auf den Rücken gelegt. Dann wanderte Philipps Blick zu einem Stuhl, der mitten im Gang zwischen den Regalen stand und auf dem Müller saß, das Kinn auf die Brust gesenkt. Die Arme hingen wie bei einer Marionette links und rechts herab.
Philipp und sein Vater traten näher. Selbst aus der Entfernung konnte man den Alkoholdunst riechen, der von Müller ausging. Philipp hatte den Eindruck gehabt, der Arbeiter schlafe, doch nun hob dieser den Kopf und stierte seinen Vorgesetzten aus geröteten Augen unter einem Schopf ungewaschener Haare hervor an. Philipp hielt sich im Hintergrund.
»Und ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung«, sagte sein Vater leise.
Müller schwieg, doch man konnte sehen, wie Spannung in seinen Körper zurückkehrte und er die Fäuste ballte. Er machte Anstalten aufzustehen, doch Opificius war schneller. Er trat von hinten an Müller heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück.
»Es tut mir wirklich leid, was geschehen ist«, fuhr Philipps Vater leise fort.
Müller spuckte aus, und Philipp konnte sehen, wie der Arbeiter dabei ihn ins Visier nahm. Den Sohn des Direktors. Das Gefühl der Beklemmung in seiner Brust verstärkte sich.
»Es muss furchtbar sein, mit das Schlimmste, was einem Mann passieren kann. Doch damit …«, sein Vater schüttelte betrübt den Kopf und machte eine Geste mit dem Arm, die Müller und das Lager umfasste, »… damit machen Sie sich selbst die Zukunft kaputt.«
»So? Ich mache mir meine Zukunft kaputt?«, zischte Müller zwischen zusammengepressten Lippen hervor und hob den Kopf, so dass man das Weiße seiner Augen sehen konnte.
»Der Alkohol macht Ihnen die Zukunft kaputt.«
»O nein, Herr Direktor. Nicht der Alkohol ist schuld.«
»Sondern?«
»Sie sind schuld. Sie haben sich eingemischt.«
Philipp stand etwas seitlich und sah, wie die Anspannung im Gesicht seines Vaters zunahm, aber er blieb ruhig.
»Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind. Aber Sie müssen einsehen, dass ich nichts für das kann, was geschehen ist.«
Am liebsten wäre Philipp dazwischengegangen. Sein Vater versuchte immer noch zu argumentieren, dabei war das, ganz offensichtlich, vergebene Liebesmüh.
»Niemand auf der Welt hätte daran etwas ändern können«, fuhr sein Vater fort.
»Sie machen es sich ja schön einfach. Als Nächstes kommen Sie mir noch mit Gott«, stieß Müller hervor.
»Nein, das würde ich niemals.«
Franz Müllers Oberkörper schwankte leicht hin und her, als er wieder den Kopf senkte. »Es ist egal. Mein Leben ist ohnehin vorbei.«
»Nur dann, wenn Sie es zulassen. Sie und Ihre Frau …«
»Meine Frau ist mir weggelaufen«, fauchte Müller erregt dazwischen und wäre aufgesprungen, doch Opificius hielt ihn fest und drückte ihn auf den Stuhl zurück.
»Das tut mir leid«, sagte sein Vater und wechselte über Müllers Kopf hinweg einen Blick mit dem Werksleiter.
»Tut mir leid, tut mir leid«, äffte Müller ihn nach.
Opificius stieß ihn von hinten an. »Jetzt seien Sie schon still! Der Herr Direktor hat alles getan, um Ihnen zu helfen.«
»Was für ein guter Mensch«, sagte Franz Müller, jede einzelne Silbe betonend. Es hörte sich an wie ein Fluch.
Philipp trat an seinen Vater heran. Es ärgerte ihn, was dieser Müller sich herausnahm. »Es hat keinen Zweck, Vater. Sieh es ein. Er hat keine Nachsicht verdient.« Er sprach in normaler Lautstärke, so dass Müller ihn problemlos verstehen konnte. Doch das war Philipp in diesem Moment egal.
Sein Vater ergriff wieder das Wort. Mit leiser Stimme, ruhig und sehr bestimmt: »Ich kann Sie nicht mehr beschäftigen, Müller. Nicht unter diesen Umständen. Ich muss mich auf meine Leute verlassen können, und in diesem Zustand gefährden Sie sich selbst und andere. Sie sind hiermit fristlos entlassen.«
Müller versuchte erneut aufzuspringen, und Opificius hatte nun doch Mühe, ihn zu bändigen. Philipp eilte dem Werksleiter zu Hilfe und packte Müller am Arm. Gemeinsam hielten sie den Arbeiter fest.
»Was machen wir mit ihm? Sollen wir nicht doch lieber die Polizei rufen?«, rief Philipp über Müllers Protest hinweg. Er hatte Bedenken, Müller in diesem Zustand auf die Straße zu setzen. Der würde eine Riesenszene machen und die ganze Nachbarschaft zusammenschreien.
»Nicht wenn es sich vermeiden lässt«, sagte sein Vater.
»Du verdammter Schweinehund«, brüllte Müller.
»Vielleicht gehen Sie jetzt besser, Herr Reither«, sagte Opificius.
Nach kurzem Zögern nickte Philipps Vater. »Gut. Ich hole Unterstützung«, sagte er und verließ den Raum.
»Jetzt seien Sie endlich still! Verdammt nochmal, Müller«, bellte Opificius.
Erstaunlicherweise hörte der Arbeiter tatsächlich auf, sich zu wehren, aber Philipp traute dem Frieden nicht und packte Müller noch ein bisschen fester am Arm.
»He, was soll das? Du tust mir weh«, beschwerte der sich.
»Für dich bin ich immer noch Herr Reither«, gab Philipp barsch zurück.
»Der feine Herr Sohn. Da kommst du dir wohl sehr wichtig vor.«
»Wag es nur …« Philipp packte Müller am Kragen, riss ihn zu sich herum und blickte in seine hasserfüllte Miene.
Opificius ging dazwischen, indem er den Arbeiter seinerseits am Oberarm packte und Philipp fortschob. »Sie kommen jetzt mit in mein Büro, Müller. Da steht eine Pritsche, und da schlafen Sie Ihren Rausch aus. Danach können Sie sich beim Herrn Direktor entschuldigen.«
Philipp ballte die Fäuste und atmete ein paar Mal tief durch.
»Ich denke ja nicht daran«, fuhr Müller auf.
»Wie Sie wollen. Ich gebe Ihnen aber den Rat, sich von nun an mit Äußerungen gegen Herrn Direktor Reither zurückzuhalten. Sonst wird er Sie anzeigen. Haben Sie das verstanden?«
Einer der Vorarbeiter trat ein, ein kräftiger Kerl, und Opificius gab Philipp mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er nun auch gehen solle.
Der Weg hinauf, zurück zum Labor, erschien Philipp endlos. Menschen kamen an ihm vorbei und grüßten, aber er nahm sie kaum wahr. Immer wieder ging er die Szene mit Müller im Kopf durch. Er konnte einfach nicht begreifen, woher dieser Hass kam. Vor allem fragte er sich, ob sein Vater nicht viel zu nachsichtig gewesen war. Natürlich hätte er die Polizei holen müssen. Die Vorstellung, dass Müller da draußen frei herumlief, war beängstigend.
Philipp zog seine Taschenuhr hervor. Nur noch eine Viertelstunde, bis er mit seinem Experiment fortfahren musste.
Sein Vater saß bereits wieder an seinem Schreibtisch.
»Opificius hat ihn bei sich eingesperrt«, sagte Philipp beim Eintreten.
»Schlimme Sache.« Sein Vater lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah nachdenklich vor sich auf die Tischplatte.
»Warum lässt du dir das gefallen?«
»Was geschehen ist, hat ihn tödlich verletzt, und nun sucht er einen Schuldigen. Ich habe Mitleid mit ihm.«
»Mitleid? Aber … wieso?« Philipp schüttelte fassungslos den Kopf.
»Vielleicht wirst du es eines Tages verstehen«, sagte Papa mit einem kleinen Lächeln.