Loreley - Fluss der Zeit - Susanne Popp - E-Book

Loreley - Fluss der Zeit E-Book

Susanne Popp

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Beschreibung

Ein schicksalhaftes Geheimnis und eine romantische Liebe im Schatten des Loreley-Felsens 1842 in Bacharach: Die Schiffertochter Lisette und der Gastwirtsohn Manuel glauben, dass sie füreinander bestimmt sind, ​stoßen jedoch auf Widerstände. Als Manuel wegen seiner Lehre bei der Kölner Dampfschiffahrtsgesellschaft nach London geht, beginnt Lissi nach der Geschichte ihrer Mutter Julie zu forschen, die angeblich einst von der Loreley stürzte. Genau dort ereignet sich nun ein schweres Schiffsunglück. Lissi wird beschuldigt, es verursacht zu haben. Nur knapp kann sie der Wut der Menge entkommen. Sie flüchtet nach Berlin zu Bettine von Arnim, einer Freundin ihrer Patentante.​ Ist sie gezwungen, Manuel und ihren geliebten Rhein zu vergessen? Das Geheimnis von Lissis Herkunft bringt eine Wendung, die alles verändert. Die Fortsetzung des Erfolgsromans »Loreley - Die Frau am Fluss«

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Seitenzahl: 464

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Susanne Popp

Loreley

Fluss der Zeit

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Lissi ist frisch verliebt in Manuel, den Sohn vom Ankerwirt Gregor Kühn in Bacharach. Alles könnte so schön sein, aber Manuels Mutter Walburga findet heraus, dass Lissi und Manuel sich lieben. Wütend befiehlt sie Lissi, die Finger von ihrem Sohn zu lassen – über Lissi liegt immer noch der Schatten des mysteriösen Todes ihrer Mutter Julie vor vielen Jahren. Lissi kann kein privates Wort mehr mit Manuel wechseln, denn er muss abreisen, um seine Ausbildung als Kaufmann anzutreten – bei der Kölner Dampfschifffahrtsgesellschaft. Beide wissen nicht, wann sie sich wiedersehen werden. Und keiner bemerkt, wie begehrend die Blicke sind, die Manuels junger Kollege Ferdinand Fiedler auf Lissi wirft.

Fiedler freundet sich mit Manuel an und ermuntert ihn, alles von Lissi zu erzählen. Als die beiden für ihre Firma nach London geschickt werden, ist Manuel froh, dass er seine Briefe an Lissi über Fiedler nach Deutschland schicken kann.  

In Bacharach denkt Lissi ständig an Manuel. Aber sie hat seit Monaten nichts von ihm gehört, dabei wollte er ihr doch schreiben. Um sich abzulenken, plant Lissi eine Darbietung für die vielen Touristen, die jetzt auf den Rheinschiffen zum Loreley-Felsen fahren. Sie ahnt nicht, dass sie mitten in eine Katastrophe hineingerät…

Die spannende Fortsetzung von Susanne Popps Erfolgsromans »Loreley - Die Frau am Fluss«

 

Weitere Titel der Autorin:

Die Ronnefeldt-Saga 

Band 1: »Die Teehändlerin«

Band 2: »Der Weg der Teehändlerin«

Band 3: »Das Erbe der Teehändlerin«

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Die Bestseller-Autorin Susanne Popp wurde in Speyer am Rhein geboren und ist im Südwesten Deutschlands aufgewachsen. Der Rhein als Fluss der Mythen und Legenden, als Sehnsuchtsort der Romantik und als Transportweg von den Alpen bis zum Meer hat sie seit jeher fasziniert. Ihr erfolgreicher Roman in zwei Bänden »Loreley« verbindet überraschende historische Fakten mit romantischer Atmosphäre. Susanne Popp hat mit »Die Teehändlerin«, einer Trilogie über das Familienunternehmen Ronnefeldt, eine große Leserschaft begeistert. Sie lebt heute mit ihrem Mann am Zürichsee in der Schweiz.

Inhalt

1842

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

1799

6. Kapitel

1842

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

1800

11. Kapitel

1842

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

1800

17. Kapitel

1842

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

1800

26. Kapitel

1842

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

1843

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

1800

37. Kapitel

1843

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

1800

42. Kapitel

1843

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

1801

52. Kapitel

1843

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

1846

Epilog

Nachwort

Dank

1842

1

Lissi huschte die Treppe hinunter. Es war Anfang Juni und noch sehr früh am Morgen, draußen schimmerte das erste Tageslicht am Himmel. An der Zimmertür der Zwillinge hielt sie inne und spitzte angestrengt die Ohren. Sie hatte die ganze Nacht hindurch kaum ein Auge zugetan, hatte sich im Bett herumgewälzt und Hildchens Atemzügen zugehört, während sie sich fragte, was sie tun sollte. Sie durfte ihn doch so nicht abreisen lassen.

Sie lauschte und legte die Hand an die Klinke. Manuel hatte am Abend zuvor mit Arthur und ihrer beider Freunde aus Kindertagen im Ort seinen Abschied gefeiert. Bestimmt war er spät zu Bett gegangen, und Lissi überlegte noch, ob sie es wagen sollte, ihn zu wecken, als die Tür plötzlich von innen geöffnet wurde. Er war es – Manuel. Sein Haar war verstrubbelt, seine Augen blickten verschlafen, und seine Wange zeigte den Abdruck einer Falte seines Kopfkissens. Er lächelte, zog leise die Tür hinter sich zu, und als wären sie verabredet gewesen, verließen sie zusammen das Haus.

Am steinernen Bogen in der Wehrmauer, unter dem hindurch der Weg zum Rheinufer führte, nahm er ihre Hand. Schweigend liefen sie durch den anbrechenden Morgen und überquerten die Bleichwiese, wo sie sich gestern Nachmittag begegnet waren – und wo sich wie zufällig ihre Hände berührt hatten.

Hunderte Male hatten sie sich zuvor schon berührt, schließlich hatten sie oft miteinander gebalgt, Lissi nicht minder wild als die Zwillinge, doch erst seit einiger Zeit fühlte Lissi für Manuel das, was sie jetzt fühlte. Und dann war ihr Manuel inmitten der in der Sonne ausgebreiteten blendend weißen Leintücher plötzlich nahegekommen. Er hatte sich vorgebeugt, und sie hatte seine Lippen an ihrer Wange gespürt – und ohne es zu wollen, rein aus Überraschung, war sie ihm ausgewichen.

»Entschuldige«, hatte er gesagt, und bevor sie ihm hatte antworten und es richtigstellen können, war seine Mutter auf der Suche nach ihm am anderen Ende der Bleichwiese aufgetaucht. Die Hände in die Seiten gestemmt, hatte sie seinen Namen gerufen, und er war ihrem Ruf gefolgt.

»Woher wusstest du, dass ich vor deiner Tür stehe?«, fragte Lissi jetzt.

»Wusste ich nicht. Ich wollte dich wecken.« Er drückte ihre Hand.

»Ich dachte, du willst bestimmt lieber ausschlafen.« Sie stupste ihn in die Seite. Manuel war ein Langschläfer. So oft hatten sie schon Witze darüber gemacht, wie schwer er morgens aus den Federn kam.

»Ich konnte ohnehin nicht schlafen«, gab Manuel zu, und sein zärtliches Lächeln machte Lissi weiche Knie. Wie hübsch er aussah mit seinem braunen Schopf und der Haartolle, die ihm immer ein wenig verwegen in die Stirn fiel.

Sie blieben stehen, und Lissi sah sich beglückt um. Der Mai war warm gewesen, auch an diesem Junitag war die Luft lau. Sie liebte diese milden Frühsommermorgen, wenn der Dunst über dem Wasser aufstieg und allmählich von der Sonne aufgelöst wurde.

»Wunderschön«, sagte Manuel.

»Sag ich doch«, gab Lissi lächelnd zur Antwort. Sie kam oft in aller Frühe hierher und hoffte darauf, die Sommersalme dabei beobachten zu können, wie sie über die Stromschnellen flogen. Gerne würde sie Manuel diesen Anblick heute zum Geschenk machen.

Sie zogen einen Nachen vom Ufer ins Wasser und stiegen hinein, um über den Hahnen hinüber zum Bacharacher Werth zu rudern, als sie plötzlich das Tuten eines Horns vernahmen. Lissi zählte mit. Dreimal kurz und einmal lang.

»Ein Holländerfloß.«

Manuel nickte und ruderte schneller. »Hoffentlich kommen wir rechtzeitig.«

Die Flößer nutzten mit Vorliebe die ganz frühen Morgenstunden, um das enge Mittelrheintal zu passieren, bevor die Dampfer den Strom für sich beanspruchten. In ihrer Kindheit waren die riesigen Flöße, mit denen die Holzfäller aus dem Schwarzwald ihre Tannen-, Eichen- und Fichtenstämme in Richtung Holland transportierten, für sie eine Sensation gewesen. Manuel, Arthur und sie hatten sich kaum satt an ihnen sehen können und waren, sobald das Horn ertönte, zum Ufer gerannt. Sie hatten sich irgendwann selbst ein Floß gebaut und waren, sehr zum Leidwesen von Frieda, die das zu gefährlich fand, damit auf dem Hahnen herumgefahren. Doch inzwischen hatte die Zahl der Linienschiffe auf dem Rhein zu- und die Zahl der Flöße abgenommen, und sie fuhren meistens so früh oder so spät, dass man sie leicht verpasste.

Sie legten drüben an, zogen den Nachen ans Ufer und durchquerten über Wurzeln und Steine springend das Werth. Ein wenig außer Atem erreichten sie die andere Seite und sahen flussaufwärts. Hinter der Biegung kamen schwankende Lichter in Sicht, und nun hörten sie auch die Rufe der Männer, unverständliche Befehle, mit deren Hilfe die Flößer das unhandliche Gefährt dirigierten. Die Besatzung der vorausfahrenden Ankernachen hatte die Anker bereits am gegenüberliegenden Ufer platziert und ruderte nun zurück, um die Taue am Floß zu befestigen, mit denen es um die Flussbiegung gezogen werden sollte. Anschließend mussten die Anker rasch wieder eingeholt werden. Eine anstrengende Arbeit, die viel Geschick verlangte und nur von jungen, kräftigen Männern ausgeübt wurde.

Angetrieben von der Strömung, kam das Floß schnell näher, es war schmal, aber gewiss achthundert Fuß lang. Gebannt sahen Lissi und Manuel zu den Männern hinüber, die in geringem Abstand an ihnen vorüberglitten. Breitbeinig standen sie da, Stangen, Haken oder Ruder in den Händen und großkrempige Hüte auf den Köpfen. Es war inzwischen hell genug, dass Lissi und Manuel die Anspannung in ihren Gesichtern sehen konnten. Eine Fahrt durchs Gebirge, wie das Teilstück des Rheins zwischen Bingen und Koblenz genannt wurde, war anspruchsvoll, da durfte man sich keinen Fehler erlauben, erst recht nicht hier im »Wilden Gefähr« zwischen dem Bacharacher und dem Kauber Werth. Die Männer konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Minutenlang stakten und ruderten sie an den beiden vorüber, ohne auf sie zu achten. Nur ein einziger entdeckte Manuel und Lissi unter den Bäumen. Seine Haut war vom Wetter gegerbt, und unter seinem Hut quoll langes graues Haar hervor. Einige Herzschläge lang blickte er Lissi unverwandt an, ein Staunen im Gesicht. Vielleicht glaubte er, einen Geist zu sehen. Er vergaß sein Ruder, drehte sogar den Kopf nach ihr um, so dass er aus dem Gleichgewicht geriet und beinahe ins Wasser gefallen wäre. Erst im allerletzten Moment fing er sich ab. Gespenstisch klangen die Stimmen der Männer übers Wasser, mahnend und auch ein bisschen spöttisch. »Bist eben doch alt geworden, Andreas«, rief einer nach vorne. Dann verschwand auch der letzte der Flößer im Dunst.

Lissi sah den Gestalten nach. Ihr wurde wehmütig ums Herz. Der Sommer war immer ihre liebste Jahreszeit gewesen, doch in diesem Jahr war alles anders. Sie waren keine Kinder mehr, die sich die Zeit mit Spielen vertrieben, sich ein Floß bauten und am Wasser herumtollten. Sie waren nun erwachsen. Eine neue Phase ihres Lebens begann – und sie mussten für lange Zeit Abschied voneinander nehmen.

Manuel stand hinter ihr. »Lissi?«, sagte er leise.

Sie drehte sich zu ihm um. Das Morgenlicht glänzte in seinen Pupillen. Er streckte die Hand aus und streichelte zärtlich ihre Wange.

»Kannst du mir verzeihen?«, fragte er mit rauer Stimme.

»Was soll ich dir verzeihen?«

Manuel war einen halben Kopf größer als Lissi, so dass sie ein wenig zu ihm aufsehen musste, doch statt einer Antwort zog er sie an sich. Lissi sank in seine Arme, ihr Körper schmiegte sich an seinen, und die feinen Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf. Verlangen durchströmte Lissi, als Manuels Lippen nun zart die ihren berührten, über sie strichen, sie umspielten und ein Prickeln in ihrem gesamten Körper auslösten. So fühlt sich das an, dachte sie, denn sie hatte schon davon geträumt, es sich vorgestellt – und dann dachte sie gar nichts mehr und vergaß alles um sich herum. Erst Minuten später lösten sich ihre Lippen voneinander, doch Manuel hielt sie weiter fest umschlungen und betrachtete sie mit einem traurigen Lächeln.

»Was soll ich dir verzeihen?«, fragte Lissi noch einmal und genoss seine Nähe und die Kraft seiner Arme, die Wärme seines Körpers, den Duft seiner Haut, wollte diesen flüchtigen Moment festhalten, hoffte, der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können.

»Du sollst mir verzeihen, dass ich ein solcher Idiot gewesen bin. Schon so lange wollte ich dich … wollte ich mit dir … Ach, Lissi, und ich wusste einfach nicht, wie.«

Er sah jetzt so komisch verzweifelt aus, dass sie lachen musste.

»Mir ging es genauso, Manuel. Mach dir keine Vorwürfe.«

»Und gestern auf der Bleichwiese, da …«

»Ich hatte solche Angst, du könntest mich missverstanden haben«, sagte Lissi. »Ich wollte es doch auch. Schon so lange habe ich mir das hier gewünscht. Ich war in dem Moment nur so – überrascht.«

»Und dann kam ausgerechnet meine Mutter. Und abends«, er schüttelte den Kopf, »Arthur und die Jungs haben mich zuerst nicht gehen lassen. Und später stand ich vor deiner Tür und habe nicht gewagt, dich zu wecken.«

»Du warst da?«, frage Lissi verwundert, denn ihrem Gefühl nach hatte sie stundenlang wach gelegen und trotzdem nichts bemerkt.

Er nickte. »Ich habe sogar die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Du hast fest geschlafen.«

»Du hast mir beim Schlafen zugesehen?«, fragte sie mit gespielter Empörung.

Er nickte. »Du sahst reizend aus.«

Lissi trommelte mit beiden Fäusten gegen seine Brust.

»Warum hast du mich nicht geweckt? Ich konnte nicht schlafen und …«

»Das sah aber nicht so aus.«

»Wahrscheinlich sind mir in dem Moment nur kurz die Augen zugefallen«, verteidigte sie sich. »Ich habe immerzu an dich denken müssen und daran, dass ich dich auf keinen Fall so wegfahren lassen darf.«

»So ist es brav«, sagte er neckend. Sie sahen sich wieder in die Augen. Selbst miteinander zu scherzen fühlte sich nun anders an, und doch konnten sie es noch – so wie bisher. Manuel war noch immer ihr bester Freund.

Vielleicht gingen ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf, doch dann veränderte sich sein Blick, ein dunkles Feuer loderte darin auf, und wieder näherten sich seine Lippen, drängender diesmal, begieriger, und sie öffnete die ihren und nahm ihn auf, seine fordernde Zunge, die Wellen der Erregung durch ihren Körper schickte. Zum Geräusch des Flusses gesellte sich jetzt das anschwellende Morgenkonzert der Vögel, immer lauter klangen die zwitschernden Stimmen, und der vertraute Geruch von feuchtem Sand stieg Lissi in die Nase.

Langsam, widerstrebend lösten sie sich voneinander. Manuel streichelte ihre Wange, folgte mit den Fingerspitzen dem Schwung ihrer Augenbrauen und ihrer Lippen.

»Eigentlich hast du recht. Eigentlich haben wir es beide vermasselt«, sagte er mit todernster Miene und brachte sie damit erneut zum Lachen. Sie tat, als wehrte sie sich gegen seine Umarmung, und er hielt sie fest, zog sie noch enger an sich und küsste sie wieder. Es fühlte sich schon etwas vertrauter an und war gleichzeitig noch erregender. Lissi kannte Manuel, solange sie denken konnte, doch das, was sie jetzt in seinen Armen empfand, stellte alles auf den Kopf. Dieser Kuss war wie ein Versprechen. Ein Versprechen auf die Zukunft.

»Ich will nicht fortgehen«, sagte er, als sie sich beide ein wenig atemlos voneinander lösten.

»Und ich will dich nicht gehen lassen.«

Von einem plötzlichen heftigen Abschiedsschmerz übermannt, legte sie den Kopf an seine Brust, und er streichelte ihren Rücken. Warum hatten sie so lange gewartet? Manuel würde heute abreisen, um seine kaufmännische Ausbildung bei Merkens anzutreten – und als Erstes würde er ausgerechnet nach England geschickt werden. Sechs bis acht Monate sollte er dortbleiben, ein halbes Jahr oder länger, in dem sie keine Chance hatten, einander zu sehen, miteinander zu reden – und einander zu küssen. Auch auf Lissi wartete etwas Neues, denn sie würde den Sommer ebenfalls nicht in Bacharach verbringen, sondern auf dem Schiff ihres Vaters arbeiten, der Stadt Mainz.

Die Sonne stand jetzt schon so hoch, dass ihre Strahlen das Werth erreichten.

»Sie werden uns bald vermissen«, sagte Manuel mit rauer Stimme. Hand in Hand liefen sie zurück, ruderten rasch über den Hahnen, wie sie es in den vergangenen Jahren so oft getan hatten, und doch war jetzt alles anders. Die Uhr schlug schon sieben, als sie wieder im Roten Anker ankamen, beide verschwitzt und außer Atem. Oben auf der Treppe waren Schritte zu hören.

»Komm«, flüsterte Manuel. Er nahm Lissis Hand und zog sie hinter sich her. Lissi folgte ihm in einen Winkel unter der Treppe, der als Abstellecke genutzt wurde, wo sie sich hinter dem Vorhang neben einen Besen, einen Eimer und eine Leiter zwängten.

»Lissi! Lissi, wo steckst du?«, rief Frieda durchs Treppenhaus. »Gregor, hast du Lissi gesehen?«

Ihre Stimme klang jetzt ganz nah.

»Nein, heute noch nicht«, antwortete Gregor.

»Die Merkens’ kommen bald, und Lissi ist nicht in ihrem Zimmer. Sie muss sich etwas Vernünftiges anziehen.«

Lissi kniff die Augen zusammen. Beinahe hätte sie losgekichert und sich verraten, aber Manuel legte ihr warnend den Zeige- und Mittelfinger auf die Lippen. Sie lächelte und konnte nicht anders, als seine Fingerspitzen zu küssen.

»Walburga will wissen, ob Manuel seine Sachen gepackt hat«, hörten sie nun Gregor sagen. »Nicht, dass die Merkens’ auf ihn warten müssen. Sie kommen mit dem Zehn-Uhr-Boot und wollen für die Weiterfahrt das Vier-Uhr-Boot nehmen.«

»Selbstverständlich hat er das. Schon seit Tagen«, gab Frieda verschnupft zur Antwort. »Ach ja, und denk bitte daran, dass die Merkens’ einen Gast mitbringen. Wir brauchen heute Mittag ein Gedeck mehr.«

»Das weiß ich doch längst.«

»Gut. Und falls du Lissi siehst, sag ihr, sie soll sich beeilen.« Das war wieder Frieda.

Kurz darauf waren auf der Treppe über ihren Köpfen Friedas Schritte zu hören. Regungslos standen Lissi und Manuel im dämmrigen Licht. Die Eingangstür fiel ins Schloss. Gregor war hinausgegangen.

»Warum verstecken wir uns eigentlich?«, wisperte Lissi, nachdem Ruhe eingekehrt war.

»Wir sollten das mit uns lieber noch ein Weilchen geheim halten«, antwortete Manuel.

»Aber warum? Dein Vater kann mich gut leiden.«

»Ich weiß.« Er zögerte, bevor er weitersprach. »Aber meine Mutter nicht.«

Lissi schluckte. Manuel hatte recht, weshalb sie Walburga ja auch so gut wie möglich aus dem Weg ging. Nur, dass das früher deutlich einfacher gewesen war. Da hatte Walburga Frieda alles überlassen. Frieda war für sie vier – Hildchen und Lissi, Arthur und Manuel – wie eine Mutter gewesen. Inzwischen kam Walburga allerdings täglich aus ihrem Zimmer heraus und mischte sich ein. Nicht nur in die Dinge, die im Gasthaus Zum Roten Anker geschahen, sondern auch in alles, was ihre Söhne betraf.

»Hat das nicht dein Vater zu entscheiden?«, fragte Lissi. Vor Gregor hatte sie keine Angst. Der Vater der Zwillinge mochte sie. Er liebte sie wie eine eigene Tochter.

»Vater tut, was Mutter will«, sagte Manuel mit Bitterkeit in der Stimme. »Ich bin erst siebzehn. Aber in ein paar Jahren, sobald ich volljährig bin, kann mir keiner mehr etwas vorschreiben. Natürlich muss deine Familie auch einverstanden sein.«

Lissi lachte. »Meinst du Papa? Er wird sich für uns freuen.«

»Und was ist mit deiner Patentante?«

»Tante Elisabeth hat zwar zu allem eine Meinung, aber sie hat das nicht zu entscheiden.«

Manuel schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts. Verdiene kein eigenes Geld. So einfach wird es nicht werden, Lissi.«

Lissi zögerte kurz. So ungern sie es sich auch eingestehen mochte, Manuel hatte nicht ganz unrecht.

Er nahm ihre Hand und sah sie eindringlich an. »Lass mich zuerst meine Ausbildung zu Ende bringen. Glaubst du, dass du auf mich warten kannst?«

Nachdruck lag in seiner Stimme, und Lissi spürte, wie ernst es ihm war. Sie legte ihm die Hand an die Wange und küsste ihn zärtlich auf den Mund.

»Selbstverständlich werde ich warten«, sagte sie.

Er zog sie an sich. »Danke, Lissi«, murmelte er in ihr Haar. »Und was Arthur betrifft …«, er zögerte, »er weiß von nichts – und ich bringe es nicht fertig, es ihm zu sagen. Nicht heute und jetzt.«

Lissi nickte. So langsam begriff sie, dass das alles viel komplizierter war als gedacht. Da sie miteinander aufgewachsen waren – sie, ihre ältere Schwester Mathilda, die alle Hildchen nannten, und die Zwillinge Arthur und Manuel –, hatte sie die Jungen immer wie Brüder empfunden. Die beiden waren eine Einheit gewesen – gleich groß, gleich stark, der eine blond, der andere braunhaarig, wie die beiden Seiten einer Münze, Zwillinge eben. Sie alle vier waren miteinander durch dick und dünn gegangen. Es würde schwer werden, Arthur davon zu erzählen, ihm zu sagen, dass sie und Manuel nun ein Paar waren. Etwas geriet dadurch aus dem Gleichgewicht, auch wenn die Zeit der Kinderspiele vorbei war.

»Niemand muss es wissen«, sagte sie. »Es ist unser Geheimnis. Nur du und ich. Wir erzählen keinem davon.«

Erleichtert zog Manuel sie an sich. »Ich will nicht weg. Ich will hier bei dir bleiben.«

»Du musst aber. Damit was aus dir wird und ich dich heiraten kann«, gab sie ihm zur Antwort.

Und dann sagte sie lange gar nichts mehr, weil sie sich wieder küssten, und zwar, falls das überhaupt möglich war, noch inniger und leidenschaftlicher als zuvor. Irgendwann riss Manuel sich von ihr los und lächelte sie wehmütig an. Dann trat unter der Treppe hervor und sah sich um. »Die Luft ist rein«, flüsterte er – und genau in dem Moment waren über ihnen wieder Schritte zu hören.

»Manuel. Dich hab ich gesucht«, rief es von oben.

Walburga. Ausgerechnet!

»Bin schon auf dem Weg, Mutter«, antwortete Manuel und zog hastig den Vorhang vor Lissi wieder zu.

Nun stand sie allein im Dämmerlicht und lauschte.

»Was machst du da unten? Mit wem hast du gesprochen?«, fragte Walburga.

»Mit niemandem. Ich habe nur den Besen zurückgestellt«, antwortete Manuel.

»Was hast du mit dem Besen zu schaffen?«

»Nichts. Er stand einfach im Weg.«

»Oben sind zwei Paar Manschetten, die ich für dich geplättet habe. Frieda hat sie vergessen, aber du brauchst doch Manschetten.«

»Danke, Mutter. Nett von dir, daran zu denken. Ich werde sie gleich einpacken.«

Manuels Stimme entfernte sich, und über Lissi knarrte die Treppe. Walburga erschien selten vor acht Uhr auf der Bildfläche. So ein Pech, dass sie ausgerechnet heute beschlossen hatte, ihren Mutterpflichten nachzukommen. Lissi lauschte, und als alles still blieb, wagte sie, ihr Versteck zu verlassen. Sie huschte hinter dem Vorhang hervor und die Treppe hinauf – und lief Walburga direkt in die Arme. Der Blick aus den kleinen grünen Augen schien Lissi aufspießen zu wollen. Lissi schoss das Blut ins Gesicht. Hatte Walburga gesehen, woher sie gekommen war?

»Guten Morgen, Walburga«, sagte sie übertrieben fröhlich und schlängelte sich an ihr vorbei.

2

In ihrem gemeinsamen Zimmer war ihre Schwester dabei, sich die Schürze vorzubinden.

»Wo warst du?«, fragte Hildchen. »Frieda hat nach dir gesucht.«

Lissi war noch ganz durcheinander. Ich bin verliebt, hätte sie ausrufen mögen, Manuel hat mich geküsst. Hatte sie ihm gerade versprochen, niemandem etwas zu sagen? Sie musste sich auf die Zunge beißen, um sich nicht zu verraten.

»Ich war unten am Werth. Da war ein Holländerfloß«, sagte sie, und dann umarmte sie Hildchen und drehte sich einmal mit ihr um die eigene Achse.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Hildchen lachend.

Lissi strahlte ihre Schwester an. Wie hübsch sie heute wieder aussah mit ihrem herzförmigen Gesicht und den großen dunklen Augen.

»Ach, nichts. Ich bin einfach nur glücklich«, sagte sie und gab Hildchen einen dicken Kuss auf die Wange.

Hildchen wies auf das lavendelblaue Kleid, das ausgebreitet auf dem Bett lag. »Ich hab es für dich rausgelegt. Beeil dich lieber. Frieda war nicht glücklich, dass sie dich nicht finden konnte.«

»Danke, Hildchen.«

»Und vergiss nicht, deine Sachen zu packen.«

»Bei Papa auf dem Schiff brauche ich nicht viel. Willst du nicht vielleicht doch mitkommen? Wir zwei und Papa auf der Stadt Mainz – wäre das nicht wunderbar?«

Hildchen lächelte. »Ich habe hier meine Anstellung, Dummchen. Und außerdem …« Sie biss sich auf die Lippe und sah plötzlich verlegen aus.

»Was außerdem?«, hakte Lissi nach.

»Außerdem bin ich am Sonntag nach der Kirche mit Martin zum Spaziergang verabredet.«

»Martin? Meinst du etwa den Vetter von Arthur und Manuel? Der Geselle vom Schmied?«

Hildchen nickte. »Genau der. Wir mögen uns – und er ist auf dem besten Weg, Meister zu werden.«

Lissi machte große Augen. So war das also. Auch ihre Schwester war verliebt.

»Ach, Hildchen.« Strahlend fasste sie sie an den Händen. »Ich freue mich für dich. Werdet ihr euch verloben?«

»Wo denkst du hin?« Hildchen lief rot an. »So schnell geht das nicht.«

»Hoffentlich. Ich will schließlich dabei sein.«

Hildchen musste lachen. Dann hob sie mahnend den Zeigefinger: »Und jetzt zieh dich bitte an!«

»Keine Sorge«, sagte Lissi, immer noch über das ganze Gesicht strahlend.

Aber nachdem Hildchen gegangen war, fiel es ihr doch schwer, sich auf ihre Pflichten zu konzentrieren. So erfüllt war sie von Hildchens Neuigkeiten – und von Manuels Liebkosungen. Walburgas fiesen Blick hatte sie hingegen schon beinahe wieder vergessen. Sie begann zu singen, denn sie sang immer, wenn sie sich wohlfühlte – und wenn sie sich nicht wohlfühlte, dann sang sie auch. Sie konnte sich jede Melodie, die sie einmal gehört hatte, mühelos einprägen, sang alles mit, was sie auf der Straße oder in der Gaststube aufschnappte, und jetzt stimmte sie ein Abschiedslied an, das ihr Herz mit Wehmut erfüllte:

Morgen muss ich fort von hier und muss Abschied nehmen. Oh, du allerschönste Zier, scheiden, das bringt Grämen. Da ich Dich so treu geliebt über alle Maßen, soll ich Dich verlassen. Wenn zwei gute Freunde sind, die einander kennen, Sonn und Mond begegnen sich, ehe sie sich trennen. Noch viel größer ist der Schmerz, wenn ein treu verliebtes Herz in die Fremde ziehet.

Versonnen kämmte sie sich das Haar, zog summend Unterkleid und Mieder an und schloss die Haken, als plötzlich Walburga, ohne anzuklopfen, ins Zimmer trat.

»Wie lange geht das schon mit euch beiden?«, fragte sie.

Die Melodie erstarb auf Lissis Lippen. Sie starrte Walburga sprachlos an, bis diese ihre Frage barsch wiederholte:

»Wie lange?«

»Ich … ich weiß nicht, was du meinst.«

»O doch. Du weißt ganz genau, was ich meine.«

»Manuel und ich waren bloß unten am Werth«, brachte Lissi hervor.

»Es gibt kein ›Manuel und ich‹, merk dir das«, fuhr Walburga sie an und kam einen Schritt näher. »Du lässt gefälligst die Finger von meinen Söhnen. Damit das klar ist.«

»Aber …«

»Ich weiß genau, was du für eine bist.« Ihre Stimme war jetzt nur noch ein bösartiges Zischen. »Deine Mutter war ein liederliches Weib, und du bist keinen Deut besser als sie.«

Lissi spürte einen Spuckeregen auf ihr Gesicht niedergehen, doch sie war so geschockt, dass sie nicht einmal wagte, die Hand zu heben, um die Feuchtigkeit abzuwischen.

»Was soll das heißen? Warum war meine Mutter – liederlich?«

»Sie war ein liederliches Stück. Immer hinter den Männern her. Mein Manuel hat etwas Besseres verdient.«

»Du meinst, etwas Besseres als mich?«, fragte Lissi – im Grunde nur, weil ihr auf diese üblen Anschuldigungen keine passende Entgegnung einfiel, doch bei Walburga kamen ihre Worte nicht gut an.

»Du willst mich wohl für dumm verkaufen«, fauchte sie, noch wütender als zuvor. »Mein Sohn ist unschuldig. Er kann nicht das Geringste dafür, dass du es darauf angelegt hast, ihn zu verführen.«

Und dann schnellte Walburgas Arm vor. Sie griff nach Lissis Haaren, packte den Zopf, der ihr vorne über die Schulter hing, direkt am Kopfansatz und riss so fest daran, dass Lissi nicht anders konnte, als Walburga den Rücken zuzuwenden.

»Du hast wohl gedacht, ich wüsste nicht, was hier gespielt wird? Hast geglaubt, ich würde alles mit mir machen lassen? Aber so ist das nicht. Deine Tante habe ich gewähren lassen, weil sie mir nützlich war. Sie hat mir nach Gundels Tod zehn Jahre lang den Schwiegervater abgenommen, bis er endlich verreckt ist. Aber Gregor weiß, was er mir schuldig ist, und darum wird er auf meiner Seite sein, dafür sorge ich. Denn wenn es um meine Söhne geht, verstehe ich keinen Spaß. Ich warne dich, und ich sage es dir nur dieses eine Mal«, hörte Lissi Walburga dicht an ihrem Ohr zischeln, während sie ihren Zopf weiterhin fest umklammert hielt und ihren Kopf so weit nach hinten zog, dass ihr Nacken schmerzte. »Wenn du Manuel nicht in Ruhe lässt, dann werde ich dafür sorgen, dass Frieda vor die Tür gesetzt wird und dass deine feine Tante Ruth keine Unterstützung mehr bekommt. Ganz abgesehen davon, dass die ach so liebe und herzensgute Mathilda ihren Martin vergessen kann. Da guckst du, was? Hast wohl geglaubt, ich wüsste nicht, was in Bacharach vor sich geht. Aber ich weiß alles. Ich muss nur dafür sorgen, dass die Leute anfangen zu reden, genau wie sie früher über eure Mutter geredet haben. Ich werde nicht nur deinen Ruf zerstören, sondern Hildchens gleich mit. Wenn dir also etwas am Glück deiner Schwester liegt, dann schlag dir Manuel gefälligst aus dem Kopf. Falls ich dich noch einmal in seiner Nähe erwischen sollte, mache ich dir und allen Menschen, an denen dir etwas liegt, das Leben zur Hölle.«

Lissi bekam einen Stoß in den Rücken, stolperte und musste sich mit beiden Händen abfangen, um nicht zu stürzen.

»Von nun an kannst du bleiben, wo der Pfeffer wächst. Hier hast du nichts mehr zu suchen«, hörte sie Walburga noch keifen, dann wurde es still.

Lissi drehte sich um und starrte auf die Tür, die hinter Walburga ins Schloss gefallen war, versuchte zu begreifen, was geschehen war. Sie hatte zwar gewusst, dass Walburga sie nicht sonderlich mochte, doch mit so etwas hatte sie trotzdem nicht gerechnet. Verzweiflung überkam sie, als sie an Hildchen dachte. Woher wusste Walburga von ihr und Martin? Sie hatte ja selbst eben erst davon erfahren.

Manuel. Ich muss mit Manuel reden, dachte sie.

Lissi war immer noch nicht fertig angezogen. Sie griff nach ihrem Schultertuch, nahm die Schuhe in die Hand, öffnete leise die Tür und spähte hinaus. Niemand war zu sehen. Sie schlich sich die Treppe hinunter, ging auf Zehenspitzen den Flur entlang und lauschte, versuchte herauszufinden, ob Manuel in seinem Zimmer war – als plötzlich die Türe aufging und sie sich Walburga gegenübersah.

»Vielen Dank, Mama«, tönte Manuels Stimme von drinnen heraus.

»Wir sehen uns gleich«, sagte Walburga. »Und vergiss nicht, was ich dir geraten habe.«

Dann zog sie die Tür hinter sich zu und starrte Lissi aus schmalen Augen an.

»Wage es ja nicht«, sagte sie drohend, und Lissi rannte, barfuß, wie sie war, die Treppe hinunter aus dem Haus, den ganzen Weg bis zum Rheinufer, den sie am Morgen mit Manuel gegangen war.

Vergiss nicht, was ich dir geraten habe.

Was hatte Walburga gemeint? Hatte sie mit Manuel über sie gesprochen?

Manuels Mutter hasste sie, und Lissi hatte geglaubt, die Gründe dafür zu kennen. Es lag an ihrer engen Beziehung zu der wohlhabenden Familie Merkens, die sie ihr neidete, und daran, dass Gregor Lissi wie sein eigenes Kind liebte. Gregor war auch ihrer Tante Ruth innig verbunden, was kein Wunder war, wo sie sich doch jahrelang um seinen dementen Vater gekümmert hatte. Er war ihr eben dankbar – und das war der Grund dafür, warum Walburga auch Ruth abgrundtief hasste –, jedenfalls hatte Lissi das immer geglaubt. Und Frieda wurde von Walburga aus noch viel offensichtlicheren Gründen verabscheut, nämlich aus purer Eifersucht. Früher hatte Walburga ihr aus Bequemlichkeit einen großen Teil der Erziehungsarbeit überlassen, mit dem Ergebnis, dass ihre eigenen Söhne zu Frieda nun eine viel engere Bindung hatten als zu ihr, der leiblichen Mutter.

Lissi ging am Rheinufer auf und ab und dachte daran, einfach fortzulaufen, verwarf den Gedanken aber sogleich wieder. Übermorgen würde Johann sie abholen, natürlich musste sie hierbleiben und auf ihn warten. Doch dann kam Lissi etwas ganz anderes in den Sinn: Warum hatte Walburga ihre Mutter als liederlich bezeichnet? Lissi blieb stehen, die nackten Füße auf den kühlen Steinen, den Blick auf den Rhein gerichtet. Was war damals von den Leuten geredet worden? Worauf hatte Walburga angespielt?

Sie wusste wenig über ihre Mutter. Es gab niemanden, mit dem sie über sie hätte sprechen können, außer vielleicht Hildchen, doch die konnte sich kaum an sie erinnern. Ihr Vater sprach niemals von früher, genau wie Frieda oder Tante Ruth. Lissi hatte aber auch nie nachgefragt. Sie hatte ja im Alter von acht oder neun Jahren erst begriffen, dass Frieda nicht ihre wirkliche Mutter war, dass es da noch jemand anderen gegeben hatte. Doch weil sie sich gut aufgehoben und geborgen fühlte, war es ihr auch nie wichtig erschienen.

»Fräulein?«

Lissi fuhr herum. Hinter ihr stand in ein paar Fuß Entfernung ein blonder junger Mann.

»Gehört das Ihnen?«

Er hielt ihre Schuhe und ihr Schultertuch in den Händen, die sie weiter vorne am Rheinstrand hatte fallen lassen.

»Ja. Danke.«

Er trat näher, reichte ihr beides und musterte sie dabei mit fragender und mitfühlender Miene.

»Kann ich helfen?«

»Danke. Es geht schon.« Sie legte sich das Tuch um und wurde sich bewusst, was für einen eigenartigen Anblick sie bieten musste, barfuß, mit offenem Haar, tränenüberströmtem Gesicht und in dem feinen Kleid, eines von denen, die ihre Patentante ihr geschenkt hatte.

»Wohnen Sie in der Nähe? Ich könnte Sie nach Hause begleiten.«

»Nicht nötig. Es sind nur ein paar Schritte.«

Weiter hinten legte gerade der Dampfer wieder ab. Der junge Mann folgte Lissis Blick und lächelte.

»Mit dem bin ich eben angekommen. Ich kam hier ans Ufer, um rasch ein paar Skizzen zu machen. Das Licht am Morgen ist immer so besonders.« Er hob zur Erklärung einen Zeichenblock in die Höhe.

Lissi nickte ihm zu und wollte ihn zuerst einfach stehenlassen, doch dann zögerte sie. Der Mann war freundlich zu ihr gewesen, und er machte sie trotz allem neugierig. Er war vornehm gekleidet, trug einen teuer aussehenden Gehrock, ein Hemd mit hohem weißem Kragen und ebenso weißer Halsbinde.

»Sie sehen nicht wie ein Künstler aus«, sagte sie.

Er lachte. »Wie sehen Künstler denn aus?«

Sie hob die Schultern. »Anders eben. Die wenigsten können sich einen so feinen Rock leisten.«

Er lachte wieder. »Bin ich jetzt disqualifiziert?«

»Vielleicht. Ich habe ja noch nichts von Ihnen gesehen.«

»Verstehen Sie etwas von Kunst?«

»Nein. Aber mein Vater zeichnet sehr viel. Ich denke, ich kann zumindest eine gelungene Zeichnung von einer schlechten unterscheiden.«

»Wenn Sie erlauben, würde ich Sie gerne zeichnen und Ihnen beweisen, was ich kann.«

»Jetzt? Hier?«

»Jetzt und hier. Eine Skizze, um diesen wunderschönen Morgen festzuhalten.«

Lissi schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange. »Nein. Lieber nicht. Ich muss gehen.« Sie dankte ihm noch einmal und wollte sich von ihm abwenden, doch er hielt sie zurück.

»Warten Sie. Als ich Ihre Schuhe fand und Sie sah, musste ich an dieses Märchen denken, wie heißt es noch gleich … Aschenputtel.«

»Ich bin nicht auf der Suche nach einem Prinzen.«

»Nein, das wollte ich damit nicht sagen«, versicherte er ihr eilig. »Sie sind einfach ein wunderschönes Mädchen, das seine Schuhe verloren hat.«

»Ich muss jetzt wirklich gehen.«

»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, rief er ihr hinterher, doch sie gab ihm keine Antwort, sondern raffte ihren Rock und rannte davon.

3

»Wie schön, dich wiederzusehen, meine Liebe. Mein Gott, ich muss ja zu dir aufblicken.«

Tante Elisabeth lachte, breitete die Arme aus und drückte Lissi an sich, die sogleich in die vertraute Wolke aus Kölnischwasser und Puder eintauchte.

»Und ich freue mich sehr, dich zu sehen, liebe Patentante«, sagte Lissi.

Irgendwie hatte sie es geschafft, unbemerkt ins Haus zu gelangen. Sie hatte sich das Gesicht gewaschen, sich fertig angezogen, die Haare rasch zu einem Zopf geflochten und stand nun aufrecht mit durchgedrücktem Rücken da, obwohl sie sich in Wirklichkeit ein wenig wacklig fühlte. Lissi küsste ihre Patentante auf beide Wangen. Sie überragte sie mittlerweile um fast einen ganzen Kopf, was aber nicht unbedingt daran lag, dass Lissi ungewöhnlich groß, sondern dass Elisabeth so klein war. Eine winzige, elegant gekleidete Dame mit hochgestecktem braunem Haar, durch das sich ein paar dezente graue Strähnen zogen. Sie trug ein graublaues Kleid mit weißen Paspeln und einem Stehkragen, und vor ihrer Brust baumelte eine Lorgnette, von der sie reichlich Gebrauch machen musste, seitdem ihre Augen so schlecht geworden waren.

Doch nun musterte sie Lissi ohne ihre Sehhilfe, indem sie sie an den Schultern nahm und nah zu sich heranzog.

»Lass dich anschauen. Du bist ja womöglich noch hübscher geworden.« Elisabeths warmherzige braune Augen glänzten gerührt.

»Danke«, sagte Lissi und reichte Elisabeths Ehemann die Hand. Herr Merkens lächelte sie wohlwollend an, doch Lissis Blick wanderte schon wieder zur Tür. Manuel war noch nicht aufgetaucht. Walburga zum Glück auch nicht. Die Gedanken, die kreuz und quer durch ihr Gehirn schossen, verursachten ihr mittlerweile Kopf- und Magenschmerzen. Wahrscheinlich würde sie beim Mittagessen keinen Bissen hinunterbekommen.

»Schade, dass ihr so bald schon weitermüsst«, sagte sie mit einem bemühten Lächeln.

»Ich wäre gerne länger geblieben, aber Peter hat übermorgen eine wichtige Sitzung, die er nicht verpassen darf«, sagte ihre Tante, nahm Lissis Arm und winkte jetzt einen jungen Herrn herbei, der soeben den Raum betrat.

»Ich möchte dir jemanden vorstellen, Lisette. Das ist Ferdinand Fiedler, der Sohn eines alten Schulfreundes meines Mannes. Und das ist mein Patenkind. Lisette König.«

Erschrocken sah Lissi ihn an. Das war der junge Mann von eben, der Herr, der ihr Schultertuch und Schuhe hinterhergetragen hatte.

»Es ist mir eine große Ehre, Fräulein König«, sagte Herr Fiedler und machte vor ihr einen Bückling.

»Die Ehre ist ganz meinerseits, Herr Fiedler«, sagte Lissi. Als er wieder hochkam, zwinkerte er ihr kurz zu, was wohl heißen sollte, dass er sie nicht verraten würde.

»Ihre Tante hat mir viel von Ihnen erzählt.«

»Hoffentlich nur Gutes.«

»Nur das Beste – und sie hat nicht übertrieben. Nun bedauere ich es umso mehr, dass wir heute schon weiterreisen müssen. Sonst hätten Sie mir Bacharach zeigen können. Oder den Rhein?« Wieder dieses Zwinkern.

Lissi schluckte und überlegte, was sie antworten könnte, als Gregor und Walburga in den Salon traten. Bei Walburgas Anblick wurde es Lissi schlagartig übel. Hinter den beiden tauchten die Zwillinge auf, Arthur mit zerzaustem blondem Haar und Manuel mit seinem dunklen Schopf, den sie so sehr liebte. Seine Augen suchten die ihren, dann sah er gleich wieder weg. Im nächsten Moment fing Lissi Walburgas lauernden Blick auf, und die Übelkeit wurde schlimmer.

Während Höflichkeiten ausgetauscht wurden, trat Lissi einen Schritt zurück, und um nicht versehentlich Manuel anzusehen oder die ganze Zeit auf ihre Füße zu schauen, betrachtete sie Ferdinand Fiedler noch ein wenig genauer. Er war recht gutaussehend, wenn auch auf eigenwillige Art, was vor allem an seiner Nase lag. Sie saß etwas schief in dem ansonsten ebenmäßigen Gesicht – wahrscheinlich war sie einmal gebrochen gewesen und nicht wieder richtig zusammengewachsen. Die feine Kleidung bildete dazu einen Kontrast. Nein, wie ein armer Künstler sah er wirklich nicht aus.

Dann wurde nebenan im Speisezimmer das Essen aufgetragen. Am Kopfende nahm Elisabeth Platz, zu ihrer Linken saß Herr Merkens und zu ihrer Rechten Lissi selbst. Gleich neben Lissi hatte ihre Patentante, die in ihrer unnachahmlichen Art alle anderen im Raum sanft, aber bestimmt herumdirigierte, Herrn Fiedler platziert.

Lissi fing den mahnenden Blick ihrer Tante auf und war sich zudem bewusst, dass Walburga die ganze Zeit zu ihr hinsah, also schenkte sie ihrem Tischherrn ein Lächeln und bemühte sich, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Kommen Sie auch aus Köln, Herr Fiedler?«

»Ich stamme ursprünglich aus Koblenz, bin aber in Köln aufgewachsen.« Er tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Und ich strebe wirklich eine Karriere als Künstler an«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu. »Das war nicht gelogen. Ich muss nur noch meinen Vater überzeugen. Er ist mit der Planung der Eisenbahnstrecke zwischen Bonn und Köln betraut und erwartet, dass ich wie mein Bruder in seine Fußstapfen trete.«

Ein reicher Sohn, dachte Lissi. Dieses Rätsel war also gelöst. Sie schielte knapp an seiner Wange vorbei zu Manuel hinüber.

»Zurzeit studiere ich am Polytechnikum in Karlsruhe Ingenieurwesen, aber das ist nichts für mich. Es langweilt mich entsetzlich«, fuhr Ferdinand Fiedler fort zu erklären.

»Ich hatte leider noch nie das Vergnügen einer Eisenbahnfahrt.«

Manuel sah wie zufällig in ihre Richtung, aber weil Walburga sie nicht aus den Augen ließ, tat Lissi so, als gehörte ihre Aufmerksamkeit ganz dem Herrn neben ihr.

»Ich würde Sie zu gerne einmal zu einer einladen, wertes Fräulein König. Falls Sie es mir gestatten wollen.« Herr Fiedler sah Lissi über seine ausdrucksstarke Nase hinweg in die Augen.

»Wozu möchten Sie mich einladen?«, fragte sie.

»Zu einer Eisenbahnfahrt.«

»Ach so. Ja, warum nicht. Falls es sich ergibt. Ich muss Ihnen danken, dass Sie mich nicht verraten haben«, fügte sie leiser hinzu. »Das war … Also ich …«, sie suchte nach den passenden Worten. »Mir lag etwas auf der Seele, und in solchen Momenten suche ich häufig Trost am Rhein.«

»Nichts zu danken.« Er beugte sich näher zu ihr hin. »Aber ich bin immer noch ein wenig besorgt um Sie – und um Ihre Seele. Geht es Ihnen auch wirklich gut?«

Sie nickte stumm und hatte plötzlich Mühe, die Tränen zurückzuhalten, doch dann richtete zum Glück Herr Merkens das Wort an Herrn Fiedler, und sie konnte sich für einen Moment zurücklehnen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Walburga an einem Stück Braten herumsäbelte. Plötzlich hob sich ihr Magen erneut, und hastig sprang sie von ihrem Stuhl auf.

»Entschuldigt mich«, brachte sie noch heraus und rannte aus dem Speisezimmer.

4

Überrascht sah Elisabeth ihrer Patentochter nach, wie sie, die Hand vor den Mund gepresst, aus dem Raum lief. Normalerweise hatte Lisette eine robuste Gesundheit, auch wenn sie heute tatsächlich ein wenig blass um die Nase zu sein schien. Hildchen war bereits aufgestanden, um ihr nachzugehen, doch Elisabeth hielt sie zurück.

»Ich kann mich um Lisette kümmern.«

Hildchen und auch Frieda wollten widersprechen, aber Elisabeth bestand darauf. »Lasst mir die Freude. Sonst bekomme ich sie heute gar nicht zu Gesicht. Ich bin ohnehin nicht hungrig. Beendet ihr nur in Ruhe eure Mahlzeit.«

»Was hat sie denn?«, fragte Herr Fiedler, der aus Schreck oder aus Höflichkeit gleichzeitig mit Lisette aufgesprungen war.

»Sicherlich nur eine kleine Unpässlichkeit«, sagte Elisabeth, nickte ihm lächelnd zu und ging dann alleine die Treppe hinauf.

Lissi, Hildchen und Frieda teilten sich eine kleine Wohnung im zweiten Stock des Ankers, die aus einer winzigen Stube und, daran angrenzend, dem Schlafzimmer der Mädchen und einer schmalen Kammer bestand, in der Frieda ihr Bett hatte. Sie war behaglich, wenn auch einfach eingerichtet. Elisabeth durchquerte die Stube und sah ins Schlafzimmer der Mädchen. Lissi lief im Zimmer auf und ab, den Kopf geneigt und die Fäuste geballt und vor den Mund gepresst.

»Aber, aber, Kindchen. Was machst du denn für Sachen?«

Lissi sah erschrocken auf. »Tante Elisabeth.«

»Einfach so fortzulaufen.« Elisabeth schüttelte ungehalten den Kopf.

»Es … es geht mir nicht so gut.« Lissi legte sich eine Hand auf den Bauch und ließ sich aufs Bett sinken.

Elisabeth seufzte. Junge Mädchen neigten manchmal zu melodramatischen Szenen, das wusste sie noch zu gut von ihrer eigenen Tochter, als die in diesem Alter gewesen war. Unvermittelt blitzte Johannas Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Sie war im Kindbett gestorben. Die Erinnerung raubte ihr für einen Moment den Atem. Sie musste schlucken, bevor sie wieder sprechen konnte.

»Was ist denn los? Willst du es mir nicht erzählen?«, sagte sie nun in milderem Ton zu Lissi.

»Es ist nichts«, brachte Lissi mit erstickter Stimme hervor.

»Nach nichts sieht das aber nicht aus.«

Elisabeth schloss die Tür und setzte sich neben Lissi auf die Bettkante. »Also. Was ist passiert?« Sie nahm ihre Hand und befühlte ihre Stirn. Fieber schien sie nicht zu haben. Es musste irgendetwas geschehen sein, was Lissi so aus der Fassung gebracht hatte. Aber Lissi gab keine Antwort auf ihre Fragen, und nach kurzem Überlegen entschied Elisabeth, vorerst nicht weiter in sie zu dringen. Sie wollte lieber die Gelegenheit nutzen, um ein Thema anzusprechen, das sie schon seit einer ganzen Weile beschäftigte, nämlich Lissis Zukunft.

»Was würdest du davon halten, mich in diesem Sommer zur Kur nach Baden-Baden zu begleiten?«

»Nein, das geht nicht«, gab Lissi zur Antwort. »Papa erwartet mich auf dem Schiff. Er holt mich übermorgen ab.«

Elisabeth seufzte. »Willst du das wirklich tun? Auf einem Rheindampfer die Gäste zu bedienen, das ist doch keine Aufgabe für eine junge Dame. Das habe ich auch deinem Vater gesagt, mehrfach sogar.«

»Ich bin keine junge Dame. Ich habe im Anker gelernt – und ich will mich nützlich machen.«

Elisabeth seufzte wieder. Sie hatte schon oft versucht, auf Johann König einzuwirken, damit er ihr einen größeren Anteil an Lissis Erziehung überließ. Leider hatten sie beide recht unterschiedliche Vorstellungen davon, was gut für Lissi war.

»Ich will doch auch, dass du nützliche Dinge lernst«, sagte sie und drückte ihre Hand. »Du wirst bald siebzehn. Du musst langsam an deine Zukunft denken.«

»An meine Zukunft?«

»Du willst doch eines Tages heiraten, einen Mann und Kinder haben, eine Familie.«

»Hat das nicht Zeit?«, fragte Lissi mit schwacher Stimme.

»Ich mache mir eben so meine Gedanken.«

Gerührt strich Elisabeth eine Haarsträhne aus Lissis Stirn. Seitdem Herr Fiedler in Karlsruhe zu ihr und Peter gestoßen war, dachte sie darüber nach, welch hübsches Paar die beiden abgeben würden. Und wie von ihr vermutet, hatten sie bezaubernd nebeneinander ausgesehen.

»Herr Fiedler war ganz überrascht, als du so plötzlich aufgesprungen bist«, sagte sie nun im Plauderton.

»Ich wollte nicht unhöflich sein. Mir ist eben nicht gut.«

»Ich glaube, du hast trotzdem Eindruck auf ihn gemacht. Er ist ein feiner junger Herr. Findest du nicht auch?«

»Gewiss. Er ist nett.«

»Sein Vater ist wohlhabend. Ein Eisenbahnunternehmer.«

Lissi nickte stumm.

»Hättest du Lust, ihn wiederzusehen? Ich könnte ihn einladen, wenn du mich das nächste Mal in Köln besuchst.«

»Ich weiß nicht recht.« Lissi putzte sich mit einem Batisttaschentuch, das Elisabeth ihr reichte, die Nase.

»Ach, das sehen wir dann«, sagte Elisabeth leichthin. Vermutlich wäre es ein Fehler, weiter in sie zu dringen. Lissi musste sich überhaupt erst an den Gedanken gewöhnen zu heiraten. »Du könntest im Herbst ein paar Wochen bei mir bleiben und zum Beispiel Gesangsunterricht nehmen. Du singst doch gerne. Oder du verfeinerst deine Zeichenkünste.«

Sanft strich sie mit der Rückseite ihrer Finger über Lissis Wange. Was für eine Schönheit aus ihrem Patenkind geworden war! Selbst mit verweintem Gesicht wirkte Lissi betörend. Im Grunde stand ihr das Verletzliche sogar ausnehmend gut, kein Wunder, dass Herr Fiedler die Augen kaum von ihr hatte lassen können. Genau so war es ihr einst bei Lissis Mutter Juliane gegangen.

»Darf ich etwas fragen?«, sagte Lissi plötzlich.

»Was denn, Liebes?«

»Ich weiß so wenig über meine Mutter. Was war sie für ein Mensch?«

Elisabeth ließ die Hand sinken. Sie fühlte sich ertappt. Sie konnte Lissi ja schlecht erzählen, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war und was Juliane einst in ihr ausgelöst hatte. Sie hatte es sich zunächst nicht eingestehen wollen, aber sie hatte sich in ihrer Nähe wie verwandelt gefühlt, verjüngt, ganz beschwingt und – verliebt.

Elisabeth strich mit den Händen eine unsichtbare Falte aus ihrem Rock. »Du weißt alles, was ich weiß, Kind.«

»Papa spricht nie über sie.«

»Manchmal ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.«

»Papa geht nie an ihr Grab. Das tun nur Hildchen und ich – und ab und zu Frieda. Aber die eigentlich auch nicht.«

»Ich gehe an ihr Grab. Wir könnten zusammen hingehen.«

Lissi blieb hartnäckig. »Wie ist sie gewesen?« Sie blickte Elisabeth abwartend an.

»Sie war dir ähnlich«, sagte Elisabeth in heiterem Ton. »Sie war genauso hübsch wie du.«

Sie flüchtete sich in oberflächliches Gerede, dessen war sie sich bewusst, aber es diente ihr, die eigene Verlegenheit zu überspielen. Sie tat so, als hätte es all diese Gefühle gar nicht gegeben, die sie damals aus der Fassung gebracht hatten, und wollte damit weitere Nachfragen im Keim ersticken. Doch Lissi schien sie zu durchschauen. Unwillig zog sie die Augenbrauen zusammen und setzte ihr Verhör fort:

»Waren meine Eltern glücklich miteinander?«

»Ich bin mir sicher, dass sie glücklich waren.«

»Hatte sie viele …«, Lissi zögerte, bevor sie weitersprach. »Hatte meine Mutter viele Verehrer?«

»Wie kommst du denn darauf?« Elisabeth lachte ungläubig auf. Dieses Gespräch entwickelte sich in eine Richtung, die ihr immer weniger behagte.

»Ich meine, hat sie anderen Männern gefallen?«

»Na, na, Liebes«, sagte Elisabeth in mahnendem Ton und befühlte wieder Lissis Stirn. »Vielleicht hast du ja doch Fieber.«

»Nein. Ich habe kein Fieber.« Unwillig verschränkte Lissi die Arme vor der Brust.

»Jetzt mach ich mir ja doch Sorgen um dich«, murmelte Elisabeth.

Lissis Fragen lösten etwas in ihr aus. Es gab so viel Rätselhaftes rund um Julianes Leben und um ihren Tod, so viele offene Fragen. Elisabeth war außerstande, diese zu beantworten, und sie fühlte sich deswegen auf eine eigentümliche Art schuldig. Es stimmte, dass sie alle miteinander Lissi vieles vorenthalten hatten. Nicht aus böser Absicht – es hatte nur nie die Notwendigkeit bestanden, an der Geschichte zu rühren. Warum hätten sie darüber reden und alte Wunden aufreißen sollen?

»Ich werde deine Schwester bitten, dir einen Tee zu bringen. Und etwas Suppe.«

»Ich brauche nichts.« Lissis Stimme klang fest. »Es tut mir leid, wenn ich dir Kummer bereitet habe, liebe Tante. Ich fürchte, ich bin doch ein bisschen krank. Ich werde mich besser hinlegen.«

»Also gut. Dann … Soll ich dir vielleicht beim Auskleiden helfen?«

»Nein, danke. Ich komme zurecht. Ich wünsche euch eine gute Reise.«

»Wie du meinst.« Elisabeth erhob sich. Ihre Beine fühlten sich plötzlich schwach an.

Langsam ging sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Das Gespräch mit Lissi hatte sie in eine eigenartige Gemütslage versetzt, hatte Dinge, von denen sie geglaubt hatte, sie längst hinter sich gelassen zu haben, wieder aufgewühlt. Unten angekommen, hielt sie inne. Zu ihrer Linken befand sich die Tür zur Gaststube, Stimmengemurmel drang dahinter hervor. Doch die Vorstellung, zu den anderen an den Tisch zurückzukehren, widerstrebte ihr in diesem Moment zutiefst. Also trat sie stattdessen ins Freie hinaus, atmete tief durch und ging den Wehrgang entlang. Über die Baumwipfel hinweg konnte sie auf den Rhein blicken. Vögel zwitscherten. Die Bewegung und die Luft taten ihr gut – und dass es sie in Richtung Friedhof zog, wurde ihr erst klar, nachdem sie schon ein paar Schritte gegangen war.

5

»Johann? Johann, wach endlich auf!«

Johann hörte Julies Stimme und ihr Lachen.

»He, du Schlafmütze. Du musst mir helfen. Soll ich das ganze Obst allein nach Hause tragen?«

Johann schlug die Augen auf. Er lag auf dem Rücken im Gras und sah in Julies Gesicht. Sie trug ein blaues Kopftuch über dem offenen blonden Haar, und hinter ihr zeichnete sich vor der leuchtenden Kuppel des Septemberhimmels das sommersatte Grün der Bäume ab.

»Julie. Komm her.« Er streckte die Hand aus, um sie an sich zu ziehen.

»Steh schon auf, du Faulpelz«, sagte sie, immer noch lachend.

»Warum so eilig? Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben? Das war genau hier.«

»Das war da drüben unter dem Birnbaum, du Binnes«, widersprach Julie und knuffte ihn in den Arm, doch ihre Stimme klang zärtlich.

»Binnes«, murmelte er schlaftrunken. »Ich liebe es, wenn du mich so nennst.«

Sie beugte sich über ihn, ihr Atem streifte sein Gesicht, und dann küsste sie ihn auf den Mund. Ihre langen Haare fielen über ihn und hüllten ihn ein.

»Lissi wird gleich aufwachen, Hildchen wartet auf uns, und die Birnen müssen eingekocht werden«, sagte sie.

»Einen kleinen Moment nur«, murmelte er, »ich helfe auch beim Einkochen.«

Er umfasste Julies Taille, zog sie enger an sich, und ihre Arme und Beine verschlangen sich ineinander. Der süße Duft der Früchte vermischte sich mit dem frühlingshaften Geruch des Leimkrauts, das oberhalb der geschichteten Mauer aus Schieferplatten ein dickes Polster bildete. Eine Hummel kreiste träge über ihnen und brummte mal näher und mal weiter entfernt. Johann und Julie lösten sich erst wieder voneinander, als ein immer lauter werdendes Brabbeln und Glucksen zu hören war.

»Jetzt ist sie wach.« Julie legte ihr Kinn auf Johanns Brust ab und sah zu ihrer Tochter hinüber, die in ihrer Nähe auf einer Decke unter einem Apfelbaum lag und mit den kleinen Händen versuchte, Sonnenstrahlen einzufangen, die durch das Blätterdach fielen. Dann hatte Lissi von dem Spiel genug. Sie drehte sich brabbelnd auf die Seite und strahlte übers ganze Gesicht, als sie ihre Eltern erblickte. Zwei Zähnchen oben und zwei Zähnchen unten wurden sichtbar, der goldene Flaum auf ihrem Kopf schimmerte in der Sonne.

»Komm her, du Hummel«, sagte Johann verliebt und streckte den Arm nach seiner Tochter aus, die sich auf alle viere hochgestemmt hatte und nun zu ihnen herüberkrabbelte.

»Meine süße kleine Hummel«, murmelte Johann – und dann erwachte er.

Benommen blickte er gegen die niedrige Decke seiner Koje. Der Traum hatte sich so real angefühlt. Er schloss die Augen, döste, versuchte, wieder einzuschlafen, um noch ein Weilchen mit seiner schönen Frau und der einjährigen Lissi zu verbringen – bis die Geräusche von draußen in sein Bewusstsein drangen. Stimmengewirr und der Lärm von Holzrädern auf Pflastersteinen weckten ihn endgültig auf. Dann hörte er Alfred, den Chefheizer, irgendetwas brüllen. Ein unangenehmer Mensch.

Johann setzte sich auf. Ein neuer Tag. Sie lagen in Koblenz vor Anker und würden heute nach Mainz fahren. Und übermorgen – auf dem Rückweg – würde Lissi zu ihm an Bord kommen und einen Sommer lang bleiben.

Während er sein Kinn einseifte und sich am Fenster stehend rasierte, musste er wieder an seinen Traum denken – und an seine beiden nun fast erwachsenen Töchter. Wie sie sich wohl entwickelt hätten, wenn Julie bis heute für sie eine Mutter hätte sein können?

Johann vermied es, mit den beiden über Julie zu sprechen. Ihr unerklärliches Verschwinden und die Möglichkeit, dass sie einer Gewalttat zum Opfer gefallen war, warfen so viele unbeantwortete Fragen auf, dass er mit Frieda, Ruth und Gregor übereingekommen war, niemals die Sprache darauf zu bringen. Auch Elisabeth Merkens, Lissis Patin, hatte ihn stets darin bestärkt. So manches Mal hatte er voller Bitterkeit gedacht, dass es für alle leichter gewesen wäre, wenn eine Krankheit Julie dahingerafft hätte. Vielleicht hätte er dann besser einen Schlussstrich unter ihre gemeinsame Zeit ziehen oder sogar einen Neuanfang wagen können. So aber hielt ihn die Vergangenheit nach wie vor gefangen, und zwar bei Tag und bei Nacht, und nur selten waren seine Träume so freundlich wie der letzte. Am häufigsten träumte er, dass Julie vor seinen Augen einen Felsen hinabstürzte, dass er die Hand nach ihr ausstreckte, sie aber nicht zu fassen bekam …

Doch das war seine Geschichte und sein Problem, und er und Frieda hatten in den letzten Jahren alles dafür getan, dass Hildchen und Lissi nicht darunter leiden mussten. Falls die beiden ihre leibliche Mutter vermissten, merkte man es ihnen jedenfalls nicht an. Hildchen, seine zwanzigjährige Adoptivtochter, war so liebenswürdig, wie man es sich nur wünschen konnte. Sie schien im Reinen mit sich und der Welt zu sein. Und auch Lissi, obwohl die Unstetere der beiden, wirkte glücklich und zufrieden. Sie wurde dieses Jahr siebzehn und sah seiner geliebten Julie auffallend ähnlich, besaß das gleiche goldblonde Haar, die gleichen madonnenhaften Gesichtszüge und diese tiefblauen Augen von der Farbe des Abendhimmels. Mit ihrer Liebe zum Rhein und ihrem Dickkopf glich sie auch vom Wesen her ihrer Mutter viel mehr als Hildchen. Frieda war jahrelang beinahe verzweifelt, weil sie Lissi nicht davon hatte abbringen können, im Rhein zu schwimmen, und irgendwann hatten sie alle einsehen müssen, dass es besser war, sie gewähren zu lassen.

Johann musste lächeln, als er daran dachte, und seine Stimmung hob sich. Er freute sich darauf, Lissi um sich zu haben, wenn er auch ein wenig nervös war, weil sie noch nie so viel Zeit miteinander verbracht hatten. Sie würden wohl ein bisschen brauchen, um sich aneinander zu gewöhnen. Diesmal, so hatten sie vereinbart, würde Lissi mithelfen, die Gäste zu bedienen, die immer anspruchsvoller wurden. Mit ihrer Patentante hatte er deswegen erst neulich wieder eine Auseinandersetzung gehabt. Bürgerlichen Frauen stünde es nicht gut zu Gesicht, einer solchen Tätigkeit nachzugehen, fand Elisabeth Merkens. Sie wollte verhindern, dass Lissi das Leben einer Magd führte, wie sie es nannte, und lag Johann ständig damit in den Ohren, sie bei sich wohnen zu lassen. Doch Lissi wollte nicht. Sie lehnte es ab, anders behandelt zu werden als Hildchen, die keine wohlhabende Patin hatte. Er hatte Lissis Drängen nachgegeben, sich aber als eine Art Kompromiss vorgenommen, im Laufe der kommenden Wochen ein ernstes Gespräch mit ihr über ihre Zukunft zu führen.

Johann spritzte sich einen Schwall Wasser ins Gesicht, trocknete sich ab und sah sich in seiner Kabine um. Sie war klein, aber wohnlich. Er war der Einzige, der an Bord der Stadt Mainz überhaupt eine eigene Unterkunft hatte. Der Rest der Besatzung drängte sich im beengten Raum fürs Personal, übernachtete dort, wo eben Platz war, oder an Land. Er würde Lissi seine Koje überlassen und für sich selbst die Sitzbank zum Bett umfunktionieren, überlegte er. Dann trat er in den taufeuchten Morgen hinaus an Deck.

Es war noch früh. Die Mannschaft hatte soeben damit begonnen, die letzten Kisten an Bord zu bringen und im Laderaum zu verstauen. Schwerere Fracht wurde mit Hilfe des Lastenbaums an Deck gehievt. Nicht selten transportierten sie ganze Kutschen den Rhein hinunter oder hinauf. Gäste waren noch keine da. Passagiere, die von Köln nach Mainz fuhren, hatten sich für die Nacht in Koblenz einquartiert, andere stiegen hier erst zu. Die regelmäßigen Fahrpläne ermöglichten es den Menschen, auch kurzentschlossen zu verreisen.