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Die große Welt des Tees, die bewegende Geschichte einer Frau, die ihren Weg geht und das Schicksal einer Kaufmannsfamilie – eine bewegende Saga von Bestseller-Autorin Susanne Popp Frankfurt 1838: Als Kaufmannstochter und Ehefrau des Teehändlers Tobias Ronnefeldt genießt Friederike es sehr, ab und an hinter der Theke ihres Geschäfts zu stehen – sie liebt den blumigen, leicht erdigen Duft der dunklen Teeblätter. Doch tiefere Einblicke in den Handel bleiben ihr verwehrt. Das ändert sich, als Tobias 1838 zu einer monatelangen Reise nach China, dem Land des Tees, aufbricht. Ausgerechnet jetzt, wo sie schwanger ist. Bald merkt sie, dass sie dem neuen Prokuristen, den Tobias eingestellt hat, nicht trauen kann. Das ganze Unternehmen ist in Gefahr. So bleibt Friederike nichts anderes übrig, als die Geschicke des Hauses selbst in die Hand zu nehmen. Um diese Herausforderung zu bestehen, muss sie neue Kräfte entwickeln – und den Mut, sich zu behaupten. »Eine sinnliche Zeitreise ins 19. Jahrhundert. Toll recherchiert und liebevoll erzählt. Zum Eintauchen und Wegschmökern.« Miriam Georg Die Ronnefeldt-Saga von Susanne Popp Band 1: »Die Teehändlerin« Band 2: »Der Weg der Teehändlerin« Band 3: »Das Erbe der Teehändlerin«
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Seitenzahl: 719
SUSANNE POPP
Die Teehändlerin
Die Ronnefeldt-Saga
FISCHER E-Books
Für meine Eltern
FRIEDERIKE RONNEFELDT, *1807, Ehefrau des Kaufmanns Tobias Ronnefeldt
TOBIAS RONNEFELDT, *1794, Besitzer eines Import- und Ladengeschäfts für Tee und ostindische Manufakturwaren in der Neuen Kräme in Frankfurt
ELISE, *1832, CARLCHEN, *1833, WILHELM, *1835, MINCHEN, *1836 und FRIEDRICH (FRITZ), *1838 – Kinder von Tobias und Friederike
NICOLAUS RONNEFELDT, *1790, Bruder von Tobias, Möbelschreiner, Werkstatt und Wohnung in der Fahrgasse
CHRISTOPH KLUGE, *1763, Kaufmann und Senator der Freien Stadt Frankfurt, WILHELMINE KLUGE, *1780, die Eltern von Friederike, wohnhaft Schnurgasse
KÄTHCHEN KLUGE, *1803, und MINA KLUGE, *1815, die unverheirateten Schwestern von Friederike, wohnen bei ihren Eltern in der Schnurgasse
SOPHIE AUMÜLLER, *1823, Dienstmädchen, stammt aus Oberrad, wohnt bei Familie Ronnefeldt **
PAUL BIRKHOLZ, *1807, Doktor der Medizin und Musiker, wohnhaft Gerbermühle, später Fahrgasse **
FENG, genaues Geburtsjahr unbekannt, Führer von Tobias in China **
KARL GÜTZLAFF, *1803, Missionar, Führer von Tobias in China
CLOTILDE KOCH-GONTARD, *1813, Ehefrau des Weinhändlers Robert Koch, Mutter von drei Kindern, wohnhaft Haus zur Goldenen Kette am Roßmarkt
AMBROSIUS KÖRNER, *1805, ältester Sohn des Dürener Gutsbesitzers Hieronymus Körner, Gast bei Meyers in Bonn, wohnhaft auf dem Gut seines Vaters **
JULIUS MERTENS, *1794, ehemaliger Schulkamerad von Tobias mit undurchsichtiger Vergangenheit, wohnt zunächst im Holländischen Hof, später an der Schönen Aussicht **
CAROLINE MEYER, *1804, Freundin von Käthchen Kluge, verheiratet mit Theodor Meyer, Theologiedozent, Bonn **
AMALIE STEIN, *1800, Besitzerin einer Buchdruckerwerkstatt, Freundin von Nicolaus Ronnefeldt, Werkstatt und Wohnung in Offenbach **
WILHELM WEINSCHENK, *1801, Prokurist in Tobias’ Firma, wohnhaft Ankergasse (heutige Karmelitergasse) **
MARIANNE VON WILLEMER, *1783, ehemalige Schauspielerin und Muse von Goethe, verheiratet mit dem Bankier Johann Jakob von Willemer, *1760, wohnhaft Gerbermühle
Fiktive Personen sind mit ** gekennzeichnet
Frankfurt, 16. April 1838
Friederike stand vor ihrem Laden in der Neuen Kräme und betrachtete die Schaufensterauslage. Auf einem blauen Seidenstoff waren einige hübsche Lackdosen, auf denen chinesische Schriftzeichen zu sehen waren, zu einer Pyramide aufgestapelt. Daneben standen eine zierliche Teekanne, zwei Löwenfiguren aus Porzellan sowie einige Schälchen und Bastkörbe mit den unterschiedlichsten Teesorten. Es gab Behältnisse mit krümeligem schwarzem Pulver und andere mit wesentlich größeren gerollten Teeblättern, denen man noch deutlich ihren pflanzlichen Ursprung ansah. Auf Papierschildchen waren die dazugehörigen Namen zu lesen: Boui-Tee, Camphu-Tee, Hansan-Tee, Tee von dreifachem Geschmack und in Klammern darunter die chinesischen Bezeichnungen: Muni-tscha, Congfou-tscha, Phi-tscha und Sanout-tscha. Ein kolorierter Stich zeigte eine Pflanze. Chinesischer Tee in der Blüte, lautete die Beschriftung. Die ehemals schwarze Tinte war nun allerdings braun und verblichen. Ein großer geöffneter Fächer diente als weiterer Blickfang. Die ihn zierende hübsche Malerei, eine chinesische Landschaft mit Felsen und Pflanzen, in der zwei Männer saßen und Tee tranken, hatte ebenfalls unter dem Tageslicht gelitten. Die gesamte Auslage wirkte blass und verstaubt.
Ganz so, als wäre sie eine neugierige Passantin und nicht die Ehefrau des Ladeninhabers, spähte Friederike nun durch die Schaufensterscheibe, auf der halbkreisförmig in goldenen Buchstaben der Schriftzug Johann Tobias Ronnefeldt – Ostindische Tee- und Manufakturwaren geschrieben stand, hinein in den Laden. In den letzten Jahren hatte Tobias nichts mehr unternommen, um mit der Zeit zu gehen. Die Ausstattung war schlicht, die Theke schmucklos, ohne jede Zier. Auffällig waren nur die hübschen Porzellantässchen und Dosen mit Lackmalereien, die in der darin eingelassenen Vitrine standen. Hinter der Theke ragten raumhohe offene Schränke auf, in denen große braune Gläser mit weißen Etiketten standen. Tobias kaufte sie bei einer Glasbläserei in Böhmen, die dafür garantierte, dass der darin aufbewahrte Inhalt seinen vollen Geschmack behielt. Ob dies so war oder nicht, die Gläser waren jedenfalls teuer und schwer.
Im unteren Teil des Schranks, etwa bis zur Höhe des oberen Rands der Theke, befanden sich reihenweise kleinere und größere Schubladen mit abgenutzten Metallgriffen. Darin wurden, neben Zigarren und Tabak, ein paar Zigarrenspitzen, Holz- und Porzellanpfeifen, Sanduhren, Korkenzieher und ein gutes Dutzend silberne Zuckerzangen aufbewahrt – kurzum allerlei Kleinkram, der aus den unterschiedlichsten Gründen im Sortiment gelandet war und über den niemand so recht einen Überblick hatte. Vier Schränke mit kassettierten Türen, die zu beiden Seiten der Theke standen, boten Platz für die zum Teil sehr exklusiven Seiden-, Kaschmir-, Leinen-, Woll- und Batiststoffe. Es gab Foulards und Schals, seidene Taschentücher und karierte Halstücher, die über England aus Ostindien importiert wurden, oder direkt aus England kamen.
Friederike musste an die Parisreise denken, die sie und Tobias vor vier Jahren gemacht hatten. Paris! Wie außergewöhnlich war ihr die französische Hauptstadt erschienen. Insbesondere hatten sie die breiten Boulevards beeindruckt mit ihren gravitätischen Bäumen, den herrschaftlichen Stadtpalästen und – vor allem – den eleganten Läden. Einer vornehmer als der andere! Kein Vergleich mit der Innenstadt von Frankfurt, wo sich die alten Fachwerkhäuser schief und krumm aneinanderschmiegten und die Geschäfte oftmals eng und dunkel waren. Sie hatte ihre geliebte Geburtsstadt mit den ungepflasterten Gassen und den buckligen Plätzen danach mit anderen Augen gesehen. Ein paar Tage nach ihrer Rückkehr aus Paris war sie auf den Turm des Bartholomäus-Doms gestiegen und hatte ihren Blick über die schiefergrauen Frankfurter Dächer wandern lassen, in Richtung Westen, wo der Römer lag mit dem aus rohen Giebelhäusern zusammengeschmiedeten Rathaus, und in Richtung Osten, wo man die Judengasse sehen konnte, eine schwarze Gräte zwischen weißen Häusern.
Aber es war ungerecht, Frankfurt mit Paris zu vergleichen. Ihre Heimat besaß vielleicht nicht die Eleganz der französischen Hauptstadt, doch sie hatte immerhin eine Vergangenheit als Krönungsstadt. Und sie war ebenfalls sehr lebendig, nicht nur während der beiden Messen im Frühjahr und im Herbst. Im Hafen, wo die schwerbeladenen Lastkähne ankamen, oder im Posthof des Roten Hauses, wo im Stundentakt die Kutschen aus allen Himmelsrichtungen eintrafen, konnte man das ganze Jahr über den Duft der weiten Welt riechen. Unten am Mainufer an der Schönen Aussicht und im angrenzenden Fischerfeldviertel waren nach der Jahrhundertwende wunderschöne neue Bürgervillen entstanden. Direkt dahinter lag die alte Brücke mit den beiden Mühlen und Sachsenhausen am anderen Ufer. Sie hatte das silberne Band des Mains gesehen, in dem das Kielwasser der Schiffe im Licht der tiefstehenden Sonne golden funkelte, hatte bis nach Offenbach geblickt und sogar bis Hanau hinüber und auf der gegenüberliegenden Seite bis nach Mainz. Sie hatte erkennen können, wo mittelalterliche Festungsmauern breiten Alleen und Parks gewichen waren, und sie hatte einen dichten Gürtel von Bäumen und auf den ansteigenden Hängen ein paar Weinberge, braune Äcker und schließlich die blaugrauen Hügel des Taunus gesehen.
Friederike stand immer noch vor dem Schaufenster, den Kopf voller Bilder und Erinnerungen, während sich die Neue Kräme mit Menschen füllte. Die Mittagspause war vorüber, und das nervöse Bimmeln der Türglocke des benachbarten Tabakladens holte sie in die Gegenwart zurück. Sie hörte die Stimmen der Mägde, die vor dem Laden der Witwe Adler standen und tratschten, einen Losverkäufer der Stadtlotterie, der lautstark mit dem immer näher rückenden Annahmeschluss drohte, das Rattern von Kutschenrädern und das Poltern eines mit Leder beladenen zweirädrigen Handkarrens. Die braun, schwarz und grün gefärbten Häute waren vermutlich für das Geschäft von Herrn Funk in der Schnurgasse gedacht, ein Nachbar ihrer Eltern, der wunderschöne Taschen und exklusives Schuhwerk fertigte. Der Gehilfe von Herrn Amstutz, der im Laden schräg gegenüber Daunenfedern, Rosshaar und andere Füllmaterialien verkaufte, trat mit einem riesigen, in braunes Packpapier gewickelten Paket im Arm aus der Tür und wäre beinahe über einen kleinen Hund gestürzt, der mit fliegenden Ohren um die Ecke geschossen kam. Ein Strang Würstchen, den der Frechdachs vermutlich bei den Fleischschirnen auf dem Markt stibitzt hatte, baumelte ihm aus dem Maul. Dann sah Friederike Frau Storch mit ihren typischen Trippelschritten und ihrer heute besonders spitzen Nase die Straße entlangkommen. Wenn sie sich jetzt nichts einfallen ließe, würde die frommeifrige Pfarrersfrau sie in eines ihrer nervtötenden Gespräche über ihren Mildtätigkeitsverein verwickeln. Rasch beugte sie sich über Minchens Kinderwagen und hoffte, dass die kurzsichtige Wohltäterin sie nicht erkannte.
Minchen war just im richtigen Moment aufgewacht und gluckste und strahlte ihr entgegen. Mit ihren beinahe anderthalb Jahren passte die Kleine gerade noch so in den Wagen, der, wie sie vorhin festgestellt hatte, bedenklich quietschte und knarrte. Erstaunlich war das nicht, denn er hatte schon viel aushalten müssen. Minchen war nach ihrer Ältesten, der sechsjährigen Elise, dem fünfjährigen Carlchen und dem dreijährigen Wilhelm nun schon das vierte Kind, das Friederike darin übers holprige Frankfurter Pflaster schob. Sie brauchte den Wagen noch, sie musste unbedingt ihren Schwager Nicolaus bitten, nach der Federung zu sehen, bevor sie brach. Friederike hob Minchen heraus und sah in diesem Moment die Gattin des preußischen Gesandten aus der anderen Richtung näher kommen. Sie steuerte unverkennbar direkt auf sie und die Ladentür zu.
»Guten Tag, Frau Doktor«, begrüßte Friederike die elegant, wenn auch unordentlich gekleidete Dame.
»Frau Ronnefeldt. Sehe ich Sie auch mal wieder, wie schön«, sagte Frau von Mahlsdorf. Ihr Ich klang wie Ick. Sie war eine Bürgerliche und versuchte gar nicht erst, das zu verbergen. Ungehemmt sprach sie den Dialekt, den sie von zu Hause mitgebracht hatte. Sie war durch die Heirat mit Herrn von Mahlsdorf, einem studierten Juristen – wie überhaupt die meisten Gesandten Adlige und Juristen waren –, an das Von gekommen. Man sah Frau von Mahlsdorf oft beim Einkaufen, obwohl sie wahrscheinlich zwei oder drei Dienstmädchen und ganz gewiss eine Köchin hatte. Eingebildet war sie jedenfalls nicht und auch nicht eitel. Heute beispielsweise hing ihr Kragen schief, und von ihrem etwas unförmigen grünen Hut hatte sich eine Stoffblume gelöst und baumelte an einem einzelnen Fädchen herunter.
»Die süße Kleine, was für ein Herzelchen. Gesund und munter und der Frau Mama wie aus dem Gesicht geschnitten.« Frau von Mahlsdorf tätschelte Minchen den nackten Arm und drückte dann schwungvoll die Ladentür auf.
Dingdong.
Die neue glänzende Türglocke, ein Geschenk ihres Schwagers, mit dem er sie zu Ostern überrascht hatte, läutete in einem runden, satten Ton. Friederike registrierte es zufrieden. Der Klang gefiel ihr wesentlich besser als das hektische Gebimmel drüben im Tabakgeschäft. Aus dem hinteren Teil des Ladens kam mit langen Schritten der Lehrling Peter Krebs herbeigeeilt, der bei ihrem Anblick vom Hals aufwärts rot anlief, so dass sein Kopf über dem weißen Kragen leuchtete wie eine Tomate. Das passierte ihm ständig, dabei war er schon achtzehn und bereits seit zwei Jahren bei ihnen angestellt. Friederike hatte noch nicht herausfinden können, ob es an ihr lag oder ob er womöglich auf alle Frauen so reagierte? Tobias hatte keine Idee dazu. Im Gegenteil. Er hatte diese merkwürdige Eigenheit seines Lehrlings nicht einmal bemerkt, bis sie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Glücklicherweise waren seine Neigung, feuerrot zu werden, und das etwas unbeholfene Auftreten, das auf seine Körpergröße zurückzuführen war – der Lehrling maß mehr als sechs Fuß und überragte, dürre wie er war, die meisten um sich herum um eine Kopflänge –, die einzigen Mängel des jungen Herrn Krebs. Als Lehrling machte er sich ausgezeichnet. Er war pünktlich, verrechnete sich nie, hatte ein hervorragendes Gedächtnis für Namen und Gesichter und vergaß auch nicht, sich nach dem Wohlergehen der Kundschaft zu erkundigen. Vor allem jedoch hatte er ein ausgezeichnetes Gespür für Tee. Friederike konnte ihn guten Gewissens mit Frau von Mahlsdorf alleine lassen.
Sie verabschiedete sich und ging mit dem genügsam vor sich hin brabbelnden Minchen auf der Hüfte in den hinteren Raum des Ladens, wo sich das Kontor befand. Die Fenster des langen, schmalen Raums gingen auf den Innenhof hinaus und lagen direkt hinter der Außentreppe, weswegen es hier auch bei Tag immer ein bisschen dämmrig war. Tobias war allein. Er stand mit dem Rücken zu ihr, hatte einen großen Papierbogen auf dem Tisch vor sich liegen und schrieb etwas in sein Notizbuch. Sie kannte dieses Buch, in dem er ständig blätterte und in das er ständig etwas notierte. Ihr Mann war offensichtlich nicht mit seiner Buchhaltung oder der Korrespondenz beschäftigt, er war in seine Reisevorbereitungen vertieft. Und wie immer gab dieser Anblick Friederike einen Stich.
»Tobias?«, sagte sie zu seinem Rücken, denn er hatte ihr Kommen trotz des vernehmlichen Klackerns ihrer Absätze auf dem Steinfußboden nicht bemerkt. Er drehte sich zu ihr herum und lächelte sie zerstreut an. Er trug seinen braunen Arbeitsrock. Die weiße Halsbinde saß locker und er hatte etwas Tinte auf der Stirn, da er die Angewohnheit hatte, sich, ohne die Schreibfeder abzulegen, an der Schläfe zu kratzen.
Er sieht gut aus, dachte Friederike wie so oft. Sie wusste von ihren Freundinnen, dass es keineswegs der Regel entsprach, wenn ihr dies nach beinahe sieben Ehejahren überhaupt noch auffiel. Allerdings hatten auch die wenigsten von ihnen, anders als sie, aus Liebe geheiratet. Sie betrachtete sein schmales Gesicht mit der hohen klugen Stirn und dem ausgeprägten Grübchen über der Oberlippe. Als er von einer Reise einmal mit einem Schnauzer zurückgekehrt war, hatte Friederike ihn gebeten, den Bart wieder abzunehmen, so sehr hatte sie sein Grübchen vermisst.
»Friederike! Was für eine Überraschung.« Tobias gab ihr einen Kuss auf die Wange, nahm ihr Minchen ab, die sofort die kleinen Arme nach ihm ausgestreckt hatte, und liebkoste sie.
Friederike betrachtete den großen Papierbogen, der die gesamte Tischplatte bedeckte und bei dem es sich um einen feingezeichneten, kolorierten Kupferstich handelte. Es war eine Weltkarte. So etwas hatte sie zuvor noch nie gesehen.
»So detailliert! Die muss ja ein Vermögen wert sein«, sagte sie.
»Erstaunlich, nicht wahr? Das ist eine Mercatorkarte, wie sie auch für die Navigation verwendet wird. Ein Vereinskollege hat sie mir geliehen.«
»Aber du wirst doch hoffentlich nicht selbst navigieren müssen«, erwiderte Friederike bemüht scherzhaft, obwohl ihr ganz und gar nicht nach Scherzen zumute war.
»Natürlich nicht. Trotzdem ist es immer gut, vorbereitet zu sein, nicht wahr? Ich habe mir unsere Route noch einmal angesehen. Wir werden an der Westküste Brasiliens vorbeisegeln, siehst du, hier.« Er fuhr die Route mit dem Zeigefinger nach.
»Aber China liegt doch im Osten. Ist das nicht ein Umweg?«
»Nein, oder doch, oder sagen wir, es ist viel komplizierter. Die Strömungen und die Winde sind günstiger auf diesem Weg. Außerdem werden in Brasilien Nahrungsmittel und Wasser aufgenommen. Zuvor geht es über Lissabon und die Kapverden. Siehst du, hier. Auf dem Rückweg werden wir näher an der Küste Afrikas vorbeisegeln.« Tobias Zeigefinger strich über das Meer.
»Frankfurt muss wohl ungefähr hier sein?« Friederike wies auf einen Punkt mitten in Europa, das sich im Vergleich zu den anderen Kontinenten winzig ausnahm.
»Genau. Und das ist China.«
»Ich hätte Angst. Dieser Ozean ist so entsetzlich groß.«
»Aber Liebes. Das haben wir doch tausendfach besprochen.«
»Ich habe schreckliche Angst. Um dich.« Friederike nahm das Kind wieder an sich und barg ihre Nase in dem weichen Haarschopf. »Wenn ich das hier sehe«, sie deutete in Richtung Karte, »nur noch mehr.«
»Ich komme heil zurück, das habe ich dir doch versprochen. So, und jetzt lass uns von etwas anderem reden.« Er fing an, die Karte zusammenzurollen, und sprach dabei über die Schulter hinweg weiter: »Mir fällt nämlich ein, wir sind nächste Woche Mittwoch bei den Senftlebens zum Tee eingeladen.«
»Wir? Du meinst, ich soll mitkommen?«
»Aber ja. Es ist keine Herrenrunde. Herr von Senftleben betonte ausdrücklich mit Damen.«
»Am Mittwoch wollte ich ja eigentlich endlich mal wieder zum Lesezirkel gehen.«
»Ach stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Verzeih. Nun habe ich schon für uns beide zugesagt.«
»Aber sagtest du nicht erst neulich, dass du Herrn von Senftleben nicht sonderlich magst?«
»Sagte ich das? Nun, so arg ist es nicht. Eigentlich ist er sogar sehr nett und im Übrigen äußerst interessiert an meiner Reise. Die Weltkarte gehört ihm«, erwiderte Tobias, schob die Karte in ihre Metallhülse und legte sie beiseite. »Nun schau nicht so, mein Liebes.« Er machte einen Schritt auf sie zu und umfasste ihre Taille. Minchen in ihrer Mitte gluckste, erfreut darüber, beide Eltern so dicht bei sich zu haben. »Bitte, tu mir den Gefallen und komm mit.«
Friederike nickte. »Natürlich. Wenn es wirklich so wichtig für dich ist.«
»Das ist es. Du verstehst schon.«
Friederike verstand. Herr von Senftleben, dessen Gesellschaft Tobias üblicherweise mied, hatte gewiss versprochen, einen größeren Betrag für die Reise zu spenden. Tobias allein brachte höchstens ein Drittel der Reisekosten auf, er war auf seine Gönner und Geldgeber angewiesen. Im Gegenzug würde er mit dem Sammeln von Schmetterlingen und exotischen Pflanzen und mit anschließenden Vorträgen den Ruhm der Senckenbergischen naturforschenden Gesellschaft mehren. Die wenigsten ihrer Mitglieder waren schließlich so abenteuerlustig wie ihr Mann. Sie hörten lieber andere über ferne Länder reden, als dass sie selbst verreisten. Doch, auch wenn sie Tobias keinen Wunsch abschlagen mochte, glücklich war sie nicht über seine Pläne, weder über jene, die in der nahen Zukunft lagen, noch über die anderen, die seine Reise betrafen. Sie blickte in sein lächelndes Gesicht, befeuchtete ihren Daumen mit ein wenig Spucke und wischte ihm die Tinte von der Stirn. Dann wandte sie sich von ihm ab, trat zum Fenster und sah hinaus. »Ist Herr Weinschenk gar nicht da?«, fragte sie, als könnte der sich im Hof versteckt halten.
Wilhelm Weinschenk arbeitete seit einem halben Jahr als Prokurist bei Tobias. Sein Lohn stellte einen erheblichen Posten bei ihren monatlichen Ausgaben dar. Seitdem Tobias jeden Kreuzer für seine Chinareise auf die Seite legte, war es finanziell eng geworden im Hause Ronnefeldt. Doch Herr Weinschenk war unentbehrlich. Während der Zeit von Tobias’ Abwesenheit, also für die nächsten ein oder sogar anderthalb Jahre, würde er das Geschäft führen.
»Er musste nach Mainz, ein paar Dinge erledigen. Er wird morgen zurück sein.«
»Schön«, sagte Friederike. Während ihr Mann ein großes Journal hervorholte und auf dem Pult aufschlug, blieb sie, das friedlich am Daumen nuckelnde Baby auf dem Arm, unschlüssig ans Fensterbrett gelehnt stehen. Sie hatte über etwas Wichtiges mit Tobias reden wollen, doch wegen der unerwarteten Einladung hatte sie den richtigen Moment irgendwie verpasst. Es fiel ihr schwer, darüber zu sprechen. Sie wünschte sich so sehr, dass Tobias seine Pläne aufgeben würde, sobald sie ihm von ihrer nun schon beinahe zur Gewissheit gewordenen Ahnung erzählte, und hatte Angst, dass es nicht so sein könnte.
»Geht es dir eigentlich besser?«, unterbrach Tobias ihre Gedanken. »Du sagtest doch heute früh, dir sei nicht ganz wohl.«
»Doktor Gravius war bei mir.«
»Du hast den Arzt gerufen? Dann ist es etwas Ernstes!«
»Nein, ich bin nicht krank, das heißt …«
In diesem Moment kam Peter Krebs mit großen Schritten und rotem Kopf ins Kontor, um einen Quittungsblock zu holen und Tobias eine Frage zu stellen. Die beiden Männer sprachen eine Weile miteinander. Friederike sah zu, wie ein paar Sonnenstrahlen, die den Weg durch eine Lücke zwischen den Giebeldächern in den Hof gefunden hatten, sich bis zum Fensterbrett und langsam ins Zimmer vorarbeiteten.
»Entschuldige«, sagte Tobias, als sie endlich wieder allein waren. »Du bist wirklich blass. Was hat Doktor Gravius gesagt?«
»Er hat gesagt, dass ich …«, begann Friederike, unterbrach sich jedoch wieder. Sie brachte es nicht über die Lippen. »Nein, nicht jetzt. Wir wollen lieber heute Abend in Ruhe darüber reden.«
»Aber nein. Ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt. Was ist es denn, Liebes? Sag es mir doch einfach jetzt.« Er trat zu ihr.
Friederike sah in die liebevollen braunen Augen ihres Mannes und wusste, dass sie der Aussprache nicht mehr würde ausweichen können. Plötzlich war das Kind auf ihrem Arm doppelt so schwer und das Mieder zu eng geschnürt.
Und dann fasste sie sich endlich ein Herz.
Mainz, ebenfalls am 16. April 1838
Julius schlug den Kragen seines Gehrocks hoch. Obwohl tagsüber die Sonne geschienen hatte und es schon recht warm gewesen war, wurde es abends immer noch empfindlich kalt. Bedauernd dachte er an Marseille zurück. Dort begann der Sommer wesentlich früher. Doch diese schöne Zeit war erst einmal vorbei, seine Ersparnisse waren beinahe aufgebraucht. Es würde nur noch wenige Wochen dauern, bis er endgültig pleite war. Er musste dringend eine neue Möglichkeit finden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Er lief am Dom vorbei in Richtung Leichhof und bog auf der Suche nach einem Wirtshaus, in dem er ein oder auch zwei Gläser Wein trinken konnte, in die Augustinergasse ein. Der Gasthof in der Nähe des Holzturms, in dem er für die Nacht untergekommen war, hatte ihn enttäuscht. Der Eintopf war fade gewesen, und das Brot hatte schimmlig geschmeckt. Dunkel und verrußt, wie die Gaststube war, hatte er zudem nicht einmal sehen können, was er aß. Also wollte er den Abend wenigstens mit einem ordentlichen Riesling beschließen.
Vor einer Wirtsstube mit dem Namen Le Coq au Vin blieb er stehen. Er war seit zwanzig Jahren nicht mehr in Mainz gewesen und nicht wenig überrascht, wie viel sich aus der Franzosenzeit gehalten hatte. Das Französische hatte die Sprache und die Gewohnheiten durchdrungen, und man hatte es offenbar nicht eilig, es wieder loszuwerden. Ihm sollte es recht sein. Nach den langen Jahren, die er in Frankreich verbracht hatte, fühlte er sich ohnehin als halber Franzose. Die Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, war ihm nicht leichtgefallen. Trotzdem war seine Erleichterung groß gewesen, als er vor nicht einmal achtundvierzig Stunden die Grenze ohne Probleme überquert hatte. Und wie die Dinge standen, würde er wohl bis auf weiteres hierbleiben.
Zwei Gestalten näherten sich, die mit gedämpften Stimmen miteinander sprachen. Der Silhouette ihrer Kopfbedeckungen nach zu schließen, waren es Polizisten. Julius hatte keine Lust, ihnen zu begegnen, öffnete die Tür zur Wirtsstube und trat ein. Schwüle Wärme, Pfeifenqualm und der Lärm vieler Menschen schlugen ihm entgegen. Laternen und Kerzen an den Wänden und auf den Tischen verbreiteten ein schummriges Licht. Julius’ Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an die schwache Beleuchtung gewöhnt hatten. Nach der Leere, die draußen geherrscht hatte, erschien ihm das Lokal übervoll. Bestimmt ein Drittel der Anwesenden waren Soldaten, aber auch ein paar wenige Frauen befanden sich unter den Gästen, und ein rotwangiges hübsches Schankmädchen bahnte sich soeben den Weg zu einem der Tische. Die Stimmung war ausgelassen, einen freien Sitzplatz sah er nicht. Er bestellte beim Wirt einen Schoppen, blieb am Schanktisch stehen und ließ seinen Blick durch den Raum wandern.
Ein Mann fiel ihm auf, der zwar inmitten einer lärmenden Gruppe saß, jedoch nicht dazuzugehören schien. Er war ein wenig jünger als er selbst, vielleicht Mitte oder Ende dreißig, hatte rötliche kurze Locken, einen Backenbart und eine Weste mit Uhrkette, was auf einen Sekretär oder Kaufmann schließen ließ. Seinen Rock hatte er über die Stuhllehne gehängt. Der Mann bemerkte seinen Blick und nickte ihm freundlich zu, und als einige Minuten später der Platz neben ihm frei wurde, setzte Julius sich zu ihm.
»Gestatten, Julius Mertens mein Name«, stellte er sich vor und hob sein Glas zur Begrüßung.
»Wilhelm Weinschenk«, sagte der Mann und hob ebenfalls sein Glas. »Ich hab Sie reinkommen sehen. Sie sind wohl nicht von hier?«
»Wie man’s nimmt. Aus der Gegend, aber ich war lange im Ausland.«
Weinschenk rieb sich das Kinn und studierte das Aussehen seines Gegenübers, als betrachtete er ein wissenschaftliches Exponat. »Mal sehen. Natürlich, ich hab’s. Sie kommen aus Wiesbaden!«
»Knapp daneben. Frankfurt.«
»Ha! Hab ich doch gleich gewusst, dass Sie kein Mainzer sind!«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Ja, hört man das denn nicht?«, erwiderte Weinschenk. »Ich bin auch Frankfurter.«
»Ein Landsmann also, sehr erfreut. Beamter?«, tippte Julius.
»Kaufmann. Prokurist, um genau zu sein. Und Sie? In welchem Ausland waren Sie denn?«
»Frankreich. Reims, Paris, Marseille – in der Reihenfolge.«
»Bei den Franzosen also? Enchanté! Und was haben Sie dort gemacht?«
»So dies und das. Die meiste Zeit war ich im Champagnerhandel tätig.«
Weinschenk wiegte anerkennend seinen Kopf. »Champagner? Das ist was Reelles. Hier in Mainz gibt’s auch einen, der sich seit einigen Jahren in dem Fach versucht. Christian von Lauterer heißt er.«
Julius nickte. »Ja, ich habe von ihm gehört.«
»Sind Sie seinetwegen hier?«
Julius schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, keineswegs.«
»Ihr Glück. Es läuft nämlich nicht so gut, wie man sich erzählt«, ließ Weinschenk ihn wissen. »Aber die Leute erzählen ja auch viel, wenn der Tag lang ist. Und was haben Sie vor? Wollen Sie weiter Champagner verkaufen?«
»Nein, eher nicht. Damit habe ich abgeschlossen. Ich bin auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.«
»Herausforderungen sind gut!« Weinschenk leerte sein Glas, stand auf und winkte dem Schankmädchen. Er war sehr klein, stellte Julius fest, reichte ihm vermutlich kaum über die Schulter.
»Wie war noch gleich Ihr Name?«, fragte Weinschenk, nachdem er sich endlich bemerkbar gemacht und wieder hingesetzt hatte.
»Mertens.«
»Ich hab für Sie einen mitbestellt. Geht selbstverständlich auf meine Rechnung, Herr Mertens.«
»Da danke ich schön! Welche ist denn Ihre Herausforderung, Herr Weinschenk?«
»Ich mache in Tee.«
»Tee?« Julius war verblüfft.
Weinschenk nickte. »Dem Tee gehört die Zukunft!«, sagte er wichtig. »Er ist leicht zu transportieren und einfach zuzubereiten. Warten Sie noch zehn Jahre, dann redet kein Mensch mehr von Kaffee.«
Julius musterte ihn skeptisch. »Das glauben Sie wirklich?«
»Waren Sie mal in England? In London trinkt jeder Tee. Absolut jeder. Vom einfachen Arbeiter bis zur Queen.« Er spitzte beim Wort Queen übertrieben die Lippen.
»Schon. Aber die Geschmäcker sind doch überall ganz verschieden. In England trinkt ja auch jedermann Champagner. Hier hingegen …« Julius zuckte mit den Schultern und zeigte mit einer ausladenden Handbewegung auf die lärmenden Gäste im Schankraum. »Wie Sie sehen, sind die Leute mehr als zufrieden mit dem, was sie haben. Also, auf Ihr Wohl, Herr Weinschenk. Was führt Sie denn hierher? Geschäfte?«
»Welchen Grund gäbe es sonst? Normalerweise ziehe ich Wiesbaden bei weitem vor. Dort ist man weniger rustikal.«
»Sie führen also Ihren eigenen Teehandel?«
»Noch nicht.« Weinschenk kicherte. Er schien leicht betrunken zu sein. »Aber mein Chef geht demnächst auf große Fahrt.«
»Und Sie hoffen, dass er nicht mehr zurückkommt?«
»Das habe ich so nicht gesagt«, widersprach Weinschenk, sah aber leicht verunsichert aus.
»Aber gemeint?«
»O nein. Sie haben mich falsch verstanden.« Weinschenk schüttelte vehement den Kopf und blickte in sein Glas. »Ich trinke sonst nicht, müssen Sie wissen.«
»Nein, natürlich nicht. Wohin reist er denn?«
»Wer?«
»Na, Ihr Chef.«
»Ach ja. Nach China.«
»Oh!« Julius nickte anerkennend. »Das ist tatsächlich eine große Fahrt. Er scheint ja ein rechter Abenteurer zu sein.«
Weinschenk zuckte mit den Schultern. »Wer’s mag! Ich rede ihm da bestimmt nicht rein.« Er beugte sich so weit zu Julius herüber, dass er mit der Wange seine Schulter berührte. »Er hätte mich sonst nämlich nicht eingestellt. Er braucht mich«, sagte er dicht an seinem Ohr. Dann griff er nach Julius’ Arm und rieb anerkennend am Stoff seiner Jacke. »Champagner lohnt sich, wie ich sehe. Ist dieser Anzug französisch? Stoff und Schnitt sind wirklich exquisit.« Er brauchte einen Moment, bis er das letzte Wort über die Lippen gebracht hatte.
Julius zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Aus diesem Weinschenk wurde er nicht schlau. Er redete zwar eine Menge Blödsinn, hatte jedoch offenbar einen guten Geschmack. Rock, Weste, Hose und Mantel hätten ihn nämlich tatsächlich ein Vermögen gekostet – wenn er sie hätte bezahlen müssen. Doch an die Umstände, unter denen er an diese Kleidungsstücke gekommen war, wollte er jetzt nicht denken. Er nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, bestellte noch einen weiteren Riesling für seinen neuen Freund und ein Wasser für sich selbst und fuhr fort, Willi Weinschenk Fragen zu stellen, ohne dabei allzu viel von sich selbst preiszugeben. Aber er konnte seine Überraschung nicht verbergen, als er den Namen des unbekannten Abenteurers und Teehändlers erfuhr, der Weinschenks Chef war.
»Ronnefeldt. Johann Tobias Ronnefeldt.« Weinschenk strengte sich an, die einzelnen Silben korrekt auszusprechen. »Kennen Sie ihn etwa?«
»Hat er einen Bruder, der Nicolaus heißt und Schreiner ist?«
Weinschenk nickte. »Korrekt.«
»Dann kenne ich ihn tatsächlich. Tobias Ronnefeldt ist ein alter Schulkamerad von mir. Na, so was! Wer hätte das gedacht? Ich hatte keine Ahnung, dass er mit Tee handelt. Von fernen Ländern geträumt hat er allerdings schon immer.«
»So spricht der Herr, der sein halbes Leben in Frankreich zugebracht hat.«
»Ich bitte Sie. Im Vergleich zu China liegt Frankreich doch um die Ecke. Ich beneide ihn!«
»Wirklich?« Weinschenk sah Julius erstaunt an. »Wegen seiner Reiserei? Aber warum sollte jemand Frankfurt verlassen wollen? Zumal, wenn er ein so hübsches Weib daheim hat«, fügte er mit einem wehmütigen Lächeln hinzu.
»Soso, hat er sich gut verheiratet, der alte Schwerenöter?«
»Von Schwerenöter weiß ich nichts. Aber gut verheiratet hat er sich. Eine hübsche Madame, die Kleine, und einige Jahre jünger als er. Man sieht ihr nicht an, dass sie schon vier Kinder geboren hat. Würde mir auch gefallen.« Weinschenk sah mit glasigem Blick vor sich hin.
»Sie sind in Ihre Chefin verliebt? Mein lieber Herr Weinschenk, das wird ja immer schöner«, sagte Julius lachend.
»Wenn Sie sie kennenlernen, werden Sie mich verstehen!« Der Prokurist kam ins Schwärmen. »Dieses Haar, diese Figur, diese Haltung. Und erst das hübsche Gesichtchen! Sie sieht keinen Tag älter aus als achtzehn, ganz wie ein vollkommen unschuldiges, junges Ding. Und doch ist sie eine richtige Frau. Und erst dieses Lächeln! Die Vorstellung, dass so ein Wesen mir nach einem langen Arbeitstag eine Tasse Tee einschenkt … Wenn ich es Ihnen sage!«
Julius hielt sich die Seite vor Lachen. »Daher kommt also Ihr Interesse für Tee! Mein lieber Willi. Ich darf Sie doch so nennen? Sie sind mir vielleicht einer!«
»Wenn ich es Ihnen sage«, wiederholte Weinschenk ein wenig lallend und stimmte in das Lachen ein. »Wenn Sie sie erst kennengelernt haben, reden wir weiter, Mertens. Sie gehen doch gewiss nach Frankfurt? Hier werden Sie kaum bleiben wollen.«
Julius hatte sich wieder beruhigt. »Wie gesagt, ich weiß noch nicht, wo es mich hintreibt. Doch Frankfurt wäre gewiss eine Option. Ist man immer noch so restriktiv mit dem Bürgerrecht?«
»Ihr Vater war Bürger?«, fragte Weinschenk.
Julius nickte.
»Dann sollte es nicht allzu schwer werden. Wenn Sie ein Fremder wären, müssten Sie ein Vermögen von fünftausend Gulden nachweisen, hinzu kämen noch über tausend für die Einbürgerung an sich. Aber als Bürgerssohn brauchen Sie, soweit mir bekannt ist, nur einen ordentlichen Beruf. Eine Gebühr müssen Sie freilich schon zahlen. Die Höhe ist mir nicht gegenwärtig, aber das ist für Sie doch sicher ein Leichtes, wenn ich Sie so anschaue. Aha, das ist also Ihr Geschmack?«, fügte er hinzu, als er bemerkte, wie Julius das Schankmädchen musterte.
»Welchem Mann gefällt das nicht«, bestätigte Julius und studierte in aller Ruhe die drallen Rundungen, die sich unter dem Rock des Mädchens abzeichneten. »Trotzdem sollten Sie aus einem einzelnen Blick keine falschen Schlüsse ziehen, mein lieber Willi. Erzählen Sie mir doch mehr vom Tee.«
»Besser nicht. Am Ende machen Sie mir noch Konkurrenz.« Weinschenk erhob den Zeigefinger.
»Das trauen Sie mir zu? Sie vergessen, dass ich in Sachen Tee völlig ahnungslos bin.«
»Aber ich habe so eine Ahnung, dass Sie es faustdick hinter den Ohren haben.«
Julius musterte den Prokuristen von der Seite, der sich nun umsah, als wollte er sich vergewissern, dass ihnen auch niemand zuhörte, bevor er sich wieder zu ihm herüberlehnte.
»Außerdem habe ich etwas viel Besseres als Tee.« Weinschenk deutete vorsichtig nach unten auf die lederne Mappe, die zu seinen Füßen stand und die er wie seinen Augapfel zu hüten schien. Julius hatte schon bemerkt, dass er sich ständig vergewisserte, dass sie noch da war, und hatte vermutet, dass sich Geld darin befand.
»Ach, wirklich?«, sagte Julius betont abschätzig. Mehr an Ermutigung war nicht notwendig, Weinschenk besaß das übersteigerte Geltungsbedürfnis, das kleingewachsenen Männern oftmals eigen war. Wenn er wirklich ein Geheimnis hütete, würde er damit herausrücken.
»Sie mögen Frauen?«, fragte Weinschenk verschwörerisch. Julius konnte die Spucketröpfchen an seiner Ohrmuschel fühlen und rückte ein wenig ab.
»O nein, mein lieber Wilhelm. Das ist nicht meine Art. War es noch nie.« Er zog eine Münze hervor und legte sie auf den Tisch.
»Meine auch nicht!«, versicherte Weinschenk.
»Nichts für ungut. Ich verabschiede mich.«
»Aber Sie wissen doch gar nicht, was ich meine.«
»Ach nein?« Julius schüttelte den Kopf. »Ich für meinen Teil verführe Frauen lieber, als dass ich sie bezahle.«
»Das glaube ich Ihnen. Doch das hier werden Sie trotzdem sehen wollen. So etwas haben Sie garantiert noch nie zu Gesicht bekommen!«
Eine Dringlichkeit lag nun in Weinschenks Stimme, die Julius gegen seinen Willen neugierig machte. »Nun gut. Wenn Sie mir etwas zeigen wollen – nur zu!«
»Nein, nicht hier!«
»Dann begleiten Sie mich doch einfach auf meinem Weg in die Krone«, sagte Julius und stand auf.
Weinschenk erhob sich ebenfalls und sah ihn mit Hochachtung an. »Sie sind in der Krone abgestiegen?«
Julius lächelte zufrieden. Er hatte einfach den Namen des größten Hotels genannt, an dem er vorbeigekommen war. In die Spelunke, in die er sich eingemietet hatte, würde er jedenfalls nicht zurückkehren. Er hatte vernünftig sein wollen, doch wenn er es sich recht überlegte, passte das nicht zu ihm. Die ganze Stadt passte nicht zu ihm – und ausgerechnet dieser Herr Weinschenk hatte ihm die Augen geöffnet. In Wiesbaden gab es die Spielbank! Die würde sein nächstes Ziel sein.
Zwei Stunden später lag Julius unter einem frischgefüllten Federbett auf einer bequemen Matratze und blickte in die Dunkelheit. Die alten Balken knackten wohlig, während die Glut des kleinen Ofens die Luft angenehm temperierte. Eine einzige Nacht kostete hier so viel wie zwei Wochen in der Unterkunft, aus der er seine Sachen hatte holen lassen. Er musste sich halt mit dem Geldverdienen ein wenig beeilen.
Doch Wiesbaden und die Spielbank konnten warten. Er hatte inzwischen eine viel bessere Idee, wie er zu Geld kommen würde.
Wilhelm Weinschenk! Der hatte ja keine Ahnung, auf was für eine Goldmine er gestoßen war. Julius lachte leise und drehte sich auf die Seite. Dieser kleine Mann dachte nur an sein eigenes schmieriges Vergnügen. Trug einen wahren Schatz in einer Aktentasche mit sich herum und gab ihn dann auch noch einem Mann preis, den er gerade erst kennengelernt hatte. Wie überaus leichtsinnig von ihm!
Das hatte er ihm auch gesagt. »Nie wieder werde ich das tun!«, hatte er Weinschenk schwören lassen und ihm dann versichert, dass er sie beide reich machen würde mit seiner Idee. Er, Julius Mertens, wusste nämlich ganz genau, wie man so etwas anstellte.
Frankfurt, 23. April 1838
Nur noch wenige Wochen bis zu Tobias’ Abreise. Friederike saß am Fenster des Wohnzimmers, neben sich einen Korb mit Kleidungsstücken, die sie ausbessern musste. Die zum Teil winzigen Löcher in der in die Jahre gekommenen Weißwäsche störten Tobias zwar nicht, doch es reichte, dass sie darum wusste. Keinesfalls würde Friederike ihren Mann mit Löchern in der Kleidung fortlassen. Ihr gegenüber saß ihre Schwester Käthchen mit einem Stickrahmen in der Hand. Das Motiv, an dem sie arbeitete, zeigte ein Rosenbouquet inmitten eines Kranzes aus Blättern und Blüten. Das Bouquet war schon beinahe fertig, und Friederike konnte wie immer nur darüber staunen, wie naturgetreu die Blumen wirkten. Ihre Schwester entwarf ihre Stickmuster selbst und hatte sich in Frankfurt einen so guten Namen gemacht, dass sie sich mit dem Verkauf von Zierkissen und anderen Handarbeiten ein Zubrot verdienen konnte, was ihr wenigstens eine kleine finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern verschaffte.
Friederike nahm das nächste Stück zur Hand, ein überlanges leinenes Unterhemd, und griff nach ihrem Stopfei. In der Frühe war sie mit Rückenschmerzen aufgewacht. Deshalb war sie froh, dass sie sitzen konnte und Käthchen ihr mit den Kindern half, denn ein Kindermädchen hatten sie nicht. Nicht nur Tobias, sondern auch sie selbst hatte bisher die Mehrkosten dafür gescheut. Und im Moment war alles friedlich. Nicht nur das, es herrschte sogar eine behagliche Ruhe. Der dreijährige Wilhelm lag auf dem Teppich und spielte mit ein paar Holzklötzen. Carlchen saß am Tisch, den Kopf tief über eine Schiefertafel gebeugt, und malte, und Elise hockte auf einem Schemel zu Füßen ihrer Tante und versuchte sich im Stricken. Minchen war in ihrer Wiege eingeschlafen. In der Stube waren nur das Quietschen des Griffels und das Ticken der Wanduhr zu hören, und aus der Küche, wo Sophie das Abendessen vorbereitete, drang ab und zu Topfgeklapper herüber. Anders als in vielen anderen Häusern der Frankfurter Altstadt, war die Küche bei ihnen nämlich im ersten Stock untergebracht und nicht im Erdgeschoss, was allerdings auch bedeutete, dass ständig Eimer mit Wasser die Treppe hinaufgeschleppt werden mussten. Doch es war müßig, darüber nachzudenken, ob das nun praktisch war oder nicht, denn sie hatten sich diese Aufteilung der Räume ohnehin nicht selbst ausgesucht. Bereits die Vorbesitzer des Hauses hatten auf dieser Etage den modernen gemauerten Herd einbauen lassen und so im Erdgeschoss hinter dem Laden und dem Kontor zusätzlichen Lagerraum geschaffen, auf den sie nicht verzichten konnten.
Friederike ließ ihre Näharbeit sinken und nahm einen Schluck vom Jasmintee, der auf dem Fensterbrett stand. Tobias hatte die Mischung aus Grüntee und Jasmin erst seit kurzem im Sortiment, und für Friederike war das Getränk eine wohltuende Entdeckung. Sie liebte den feinen Duft, der an einen nächtlichen Sommergarten erinnerte. Alles hätte so schön sein können, müsste sie sich nicht mit Sorgen über die Zukunft herumplagen.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete nachdenklich ihren Sekretär mit der hübschen Maserung. Er war das Meisterstück ihres Schwagers. Der obere abschließbare Aufsatz ruhte auf zwei Elementen mit je drei Schubfächern, ein weiteres Schubfach befand sich unter der mit Rindsleder bezogenen Tischplatte, auf der ihr Schreibzeug bereitlag. Es hätte sie getröstet zu wissen, dass sie Tobias wenigstens Briefe schreiben könnte. Aber nicht einmal das würde bei dieser großen Entfernung möglich sein. Immerhin hatte Tobias versprochen, ihr zu schreiben, damit sie wenigstens erfuhr – wenn auch mit einer Verspätung von mehreren Monaten – ob er gut in China angekommen war.
Friederike ließ ihren Blick weiter durch den Raum wandern, der zu dieser Stunde am frühen Nachmittag von hellem Licht durchflutet war. Neben dem Sekretär stand auf sechs Beinen ein gepolstertes Sofa mit gerader Lehne und rotem Bezug, dann kam der Kachelofen, davor ein bequemer Lehnstuhl und auf der anderen Seite der Tür – an der den drei Fenstern gegenüberliegenden Wand – das Klavier, auf dem Friederike gelegentlich und Carlchen immer häufiger musizierten. In Ermangelung eigener Porträts blickten Friederikes und Tobias’ Großeltern aus ihren Bilderrahmen links und rechts der Uhr auf die Wohnstube herab. Dabei hätte Friederike nur zu gerne ein Bild von Tobias besessen, gerade jetzt, wo er im Begriff war, sich auf diese lange, ungewisse Reise zu begeben.
»Soll ich dir nicht doch beim Flicken helfen?«, unterbrach Käthchens Stimme ihre Gedanken. Ihre Schwester legte den Stickrahmen zur Seite und beugte sich hinunter zu Elise, um ihr zu zeigen, wie sie die Nadeln richtig halten musste.
»Lass nur, das schaff ich schon. Du tust doch sowieso schon so viel für uns«, erwiderte Friederike, während sie die Augen zusammenkniff, um einen neuen Faden einzufädeln.
»Willst du dir nicht vielleicht doch noch eine Hilfe leisten? Jetzt, wo Tobias sich zu seiner großen Reise aufmacht und dich alleine mit den Kindern zurücklässt. Was meint er denn überhaupt dazu, dass ihr nur eine Hilfe habt und nicht einmal eine Magd?«, fragte Käthchen.
Friederike seufzte und dachte wieder ans Wasserschleppen. Manchmal hatte sie schon ein schlechtes Gewissen, dass ihr einziges Dienstmädchen, Sophie, alles alleine stemmen musste. Ihre Kinder waren noch zu klein, um eine Hilfe zu sein, und sie selbst tat zwar, was sie konnte, doch die Wassereimer sollten wirklich nicht ihre Aufgabe sein.
»Nichts sagt er dazu. Aber ich habe ihn auch nicht um mehr Personal gebeten. Sicher, wenn ich darauf bestehen würde …« Sie seufzte und zuckte die Achseln. »Wir sparen nun einmal jeden Kreuzer für diese Sache, und ich habe das Gefühl, auch meinen Beitrag leisten zu müssen.«
Käthchen sah sie skeptisch an. »Diese Sache«, wiederholte sie kopfschüttelnd. »Wie du das einfach so dahinsagst! Dein Mann reist immerhin nach China! Also, mich wundert es, dass du das so leichtnimmst. Und im Übrigen ist dein Beitrag, meiner Meinung nach, schon groß genug.« Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Elise mit ihren Stricknadeln zurechtkam, widmete sie sich wieder ihrer Stickarbeit.
»Weißt du, wenn Tobias fort ist, wird der Haushalt ja auch kleiner. Und außerdem ist Sophie wirklich fleißig«, sagte Friederike, die das unangenehme Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. Für eine Weile arbeiteten sie schweigend weiter. Friederike war angespannt. Käthchens Worte hatten ihr ihre Situation wieder allzu deutlich vor Augen geführt. Natürlich nahm sie das alles gar nicht so leicht, wie Käthchen es ausdrückte. Nur dass sie ihre Ängste nicht gerne offen eingestehen wollte, damit auch ja nicht die Vermutung aufkäme, dass sie nicht voll und ganz hinter Tobias’ Plänen stand. Kurz überlegte sie, ob sie Käthchen von ihrer vagen Hoffnung erzählen sollte, dass Tobias es sich doch noch einmal anders überlegen könnte. Obwohl – so recht glaubte sie ohnehin nicht daran. Ihr Gespräch, das sie vor fünf Tagen im Kontor geführt hatten, war nicht ganz so verlaufen, wie sie es sich gewünscht hatte. Natürlich wollte sie nichts von ihm fordern oder verlangen. Ihr Mann musste selbst darauf kommen, aber darauf deutete bisher noch nichts hin. Außer, dass er sehr schweigsam und in sich gekehrt wirkte, seitdem …
»Es gibt da eine Sache, über die ich mit dir reden wollte«, sagte Käthchen nun.
»Was ist es denn?«
»Ich habe eine Einladung von einer Freundin bekommen.«
»Eine Einladung? Von wem?«, fragte Friederike überrascht. Käthchen verbrachte so viel Zeit mit den Eltern oder bei ihr und den Kindern in der Neuen Kräme, dass sie manchmal das Gefühl hatte, ihre Schwester hätte überhaupt keine Freunde.
»Ich weiß nicht, ob du dich an sie erinnerst, aber wir korrespondieren seit einiger Zeit wieder häufiger miteinander. Früher hieß sie Caroline von Wollhagen«, sagte Käthchen.
»Natürlich, die kleine Gräfin.« Friederike ließ ihre Handarbeit sinken. »Ich erinnere mich gut. Ich fand sie wunderhübsch mit ihren weißen luftigen Gewändern. Als ich zwölf war, habe ich sie unendlich bewundert und dich sehr um sie beneidet.«
»Und ich war unendlich traurig, als sie fortging. Ich bin fast krank geworden vor Kummer. Jedenfalls hat sie sich in einen Theologen verliebt und ihn gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet. Stell dir vor, sie heißt jetzt Caroline Meyer.«
»Eine Liebesheirat? Das wiederum hätte ich ihr nicht zugetraut.« Friederike schmunzelte. Es tat ihr gut, von ihren eigenen Sorgen abgelenkt zu werden.
Liebevoll betrachtete sie ihre Schwester, die unermüdlich weiter stickte. Käthchen war vier Jahre älter als sie selbst, also vierunddreißig, und es schien, als setzte sie alles daran, nicht aufzufallen mit ihrer schlichten Kleidung und der Haube, die sie tagein, tagaus trug. Dabei war sie sehr hübsch; als junges Mädchen war sie sogar eine regelrechte Schönheit gewesen. Sie hatte etliche Verehrer gehabt, doch sie hatte alle abgewiesen und sich aufopfernd um ihre beiden jüngeren Geschwister gekümmert, um Friederike, vor allem jedoch um die zwölf Jahre jüngere Wilhelmine, die als Kind oft monatelang krank gewesen war. Im Grunde hatte Käthchen die jüngste Schwester erzogen und auch unterrichtet, da die Kleine oft zu schwach gewesen war, um in die Schule zu gehen. Es hatte Mina nicht geschadet. Sie war zu einer selbstbewussten jungen Frau herangewachsen. Aber auch sie war immer noch ledig. Friederike war von den dreien die Einzige, die geheiratet hatte.
Käthchen und sie sahen einander ähnlich, besaßen dieselbe lange, schmale Nase, ein Grübchen am Kinn, dunkelbraune Augen und dieselbe glatte, weiße Stirn mit den klargeschwungenen Brauen und dem hohen Haaransatz. Und gerade heute schimmerten die Wangen ihrer Schwester mädchenhaft rosig und ließen sie besonders apart aussehen.
»Frau Meyer – was für ein Name, wenn man zuvor von Wollhagen geheißen hat.« Friederike musste lachen. »Also, Frau Meyer hat dich eingeladen? Wo wohnt sie denn?«
»In Bonn.«
»In Bonn!« Friederike war nun doch etwas beunruhigt. Das wäre allerdings eine weite Reise. In diesem Fall würde ihre Schwester vermutlich wochenlang wegbleiben. »Und wann willst du fahren?«
Endlich ließ Käthchen ihre Hände ruhen und sah sie an. »Ich habe noch nicht zugesagt. Ich wollte zuerst dich fragen.«
»Du musst mich doch nicht um Erlaubnis bitten.«
»Muss ich nicht? Aber wie willst du denn klarkommen? Tobias wird schon bald nicht mehr da sein.«
»Lass das mal meine Sorge sein. Ich verbiete dir, darüber auch nur eine Sekunde lang nachzudenken«, sagte Friederike mit gespielter Strenge. »Überleg dir lieber, wie du es anstellen willst. Du kannst eine solch weite Reise ja nicht alleine antreten.«
»Oh nein, da hast du natürlich recht. Aber ich hätte da schon eine Möglichkeit. Kürzlich habe ich Frau Bethmann zwei Kissen gebracht, die sie bei mir bestellt hatte, und ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen, aber sie sagte mir, dass ihre Gesellschafterin wegen einer Hochzeit Ende des Monats nach Bonn reist. Ich könnte sie begleiten.«
»Ach, das ist ja eine wunderbare Gelegenheit«, sagte Friederike. Glücklicherweise klang es aufrichtig, und Käthchen lächelte sie dankbar an.
Rasch griff Friederike wieder nach ihrer Stopfarbeit, damit ihre Miene sie nicht aus Versehen verriet. Sie hatte nämlich in Wahrheit ein flaues Gefühl im Magen. Käthchen wollte nach Bonn und hatte offenbar schon alles organisiert. Ihre Schwester war eine so beständige Größe in ihrem Leben, dass sie beinahe eifersüchtig auf die ferne Freundin war. Oder war es gar Neid? Weil sie hierbleiben musste mit den Kindern, während andere auf Reisen gingen, Tobias und nun sogar Käthchen …
»Ich habe auch schon mit Mina gesprochen. Sie hat mir versprochen, sich ganz viel Zeit für euch zu nehmen, falls ich mich wirklich dazu entschließen sollte«, sagte Käthchen nun in heiterem Ton. »Es würde ihr gut passen, weil die Armenschule ohnehin gerade Ferien macht und sie einige Wochen lang keinen Unterricht geben kann. Sie beziehen ein neues Gebäude – im alten ist der Wurm drin.«
»Natürlich fährst du«, unterbrach Friederike sie, bevor ihre Schwester weiter über die marode Bausubstanz der Armenschule reden konnte, »und Tante Mina ist uns jederzeit willkommen. Oder, was meinst du, Elise?« Friederikes Stimme klang wesentlich fröhlicher, als ihr zumute war.
»Muss ich dann nicht mehr stricken?« Elise warf hoffnungsvoll das Nadelspiel hin.
»Ein Mädchen muss hundert Strümpfe stricken, bevor es ans Heiraten denken kann«, sagte Käthchen.
»Pah. Dann heirate ich eben nicht. Du bist ja auch nicht verheiratet, Tante Käthe«, sagte Elise und verschränkte die Arme. »Wie lange noch, bis ich endlich in die Schule darf?«
Friederike seufzte. Sie war stolz auf ihre klugen Kinder. Manchmal konnte es allerdings auch anstrengend sein. »Vier Monate.«
»Wie viele Wochen sind das?«
»Ein Monat hat vier Wochen, mein Schatz«, sagte Friederike. »Das sind also viermal vier Wochen. Du kannst selbst nachzählen.«
Elise zog die kleine Nase kraus und nahm ihre Finger zu Hilfe. Als diese nicht ausreichten, nahm sie ihre eigene Schiefertafel, die auch auf dem Tisch lag, und malte für jede Woche einen Strich auf. Nach ein paar Minuten hatte sie es heraus. »Sechzehn«, verkündete sie stolz.
Käthchen schüttelte den Kopf. »Dieses Kind. Wo soll das noch hinführen?«
»Tu doch nicht so. Du warst doch selbst eine gute Schülerin«, erinnerte Friederike sie.
»Eben, darum sage ich es ja.« Lächelnd hielt Käthchen ihrer Nichte das Strickzeug hin. »Eine Reihe schaffst du noch.«
Missmutig nahm Elise die Nadeln wieder in die Hand. »Warum muss Carlchen eigentlich nicht stricken lernen?«
Carlchen, der, den Kopf in die Hand gestützt, gelangweilt die Schiefertafel betrachtete, wurde angesichts der Unverfrorenheit seiner Schwester lebhaft. »Knaben stricken nicht. Das tun nur Frauenzimmer.«
»Und wo steht das geschrieben?«, fragte Elise.
»Das weiß doch jeder«, sagte Carlchen und wirkte dabei sehr altklug und so komisch, dass Friederike lachen musste. Mit seinem dunkelblonden, leicht gewellten Haarschopf sah er aus wie ein kleiner Engel. Und er trug seinen Matrosenanzug mit ganz neuem Stolz, seitdem er wusste, dass sein Vater auf einem Segelschiff – einem echten Dreimaster! – nach China segeln würde.
Friederike wandte sich wieder Käthchen zu und legte ihr die Hand auf den Arm. »Also, du fährst, abgemacht? Und lass dir auch ja nicht von Mutter und Vater etwas anderes einreden. Wissen sie eigentlich schon davon?«
»Nein, noch nicht«, gab Käthchen zu. »Das habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Wenn Caroline freilich immer noch eine von Wollhagen wäre, dann wäre Mutter begeistert.«
»Aber sagtest du nicht, sie habe einen Theologen geheiratet? Damit kannst du bei Vater ganz sicher punkten. Ein Pastorenhaushalt, das gefällt ihm bestimmt.«
»Theodor Meyer ist Privatdozent, kein Pastor. Und er schreibt zu allem Unglück auch noch für die Zeitung.«
»Na ja, das musst du Papa ja nicht unbedingt auf die Nase binden«, sagte Friederike. »Wir haben schließlich alle unsere Geheimnisse.«
Frankfurt, 26. April 1838
Tobias war abends auf dem Weg ins Senckenbergianum am Eschenheimer Turm. Beide Hände in den Taschen seines Gehrocks vergraben, den Blick auf den Boden gerichtet, bog er von der Zeil kommend in die Eschenheimer Gasse ein und stieß beinahe mit einem Wachsoldaten zusammen. Breitbeinig, das Gewehr quer vor der Brust, versperrte er ihm den Weg.
»Wechseln Sie die Straßenseite«, befahl er.
»Wie bitte?«
»Wechseln Sie die Straßenseite«, wiederholte der Soldat. Er trug eine preußische Uniform.
Tobias rührte sich nicht vom Fleck. »Warum sollte ich? Diese Seite gefällt mir«, sagte er und stützte sich auf seinen Spazierstock.
»Wollen Sie Ärger machen?« Der Soldat hörte sich nicht bedrohlich an, sondern besorgt. Er war kaum zwanzig Jahre alt und hatte vermutlich mehr Angst vor seinem Vorgesetzten als vor sonst irgendetwas. Tobias blickte dem jungen Mann über die Schulter. Nicht weit hinter ihm stand eine vierspännige Equipage vor der Einfahrt des Palais der von Thurn und Taxis. Anscheinend war das Tor verschlossen, so dass sie nicht hineinfahren konnte.
»Hoher Besuch?«, fragte Tobias im Plauderton.
»Das darf ich Ihnen nicht sagen«, sagte der Soldat. Er hatte Flaum am Kinn, bemerkte Tobias amüsiert. In dem Moment setzte sich die Kutsche in Bewegung. Jemand hatte das Tor geöffnet. Kurz darauf war der Weg wieder frei.
»Na also«, sagte Tobias mit einem Lächeln, nickte dem jungen Soldaten zu und ließ seinen Stock mit einem eleganten Schwung durch die Luft kreisen. »Schönen Abend noch.«
Ohne abzuwarten, dass der Soldat zur Seite trat, ging Tobias um ihn herum und passierte ungehindert das auch Bundespalais genannte Gebäude. Seit über zwanzig Jahren diente der ehemalige Fürstenhof jetzt schon als Versammlungsort für den Bundestag des Deutschen Bundes. Zuvor hatte der Großherzog von Frankfurt, Karl Theodor von Dalberg, darin gewohnt. Und im vergangenen Jahrhundert war in dem Gebäudekomplex die Reichspost untergebracht gewesen, die sich inzwischen in der Zeil hinter dem Roten Haus befand. Die Fassade war schlicht. Einzig das symbolträchtige Ensemble über dem Portal, bestehend aus einem Adelsschild, das von einem Löwen bedrängt wurde, und einer wehrhaften Athene mit einem Medusenhaupt in den Händen, ließ etwas von der prächtigen Ausstattung der Räume erahnen. Tobias spazierte am Tor vorbei, während es geräuschvoll von innen verriegelt wurde. Laute Stimmen mischten sich in das Geklapper der Pferdehufe.
Ein solcher Aufruhr um diese Uhrzeit war ungewöhnlich. Die Räume des Palais waren hell erleuchtet, und normalerweise war es außerhalb der Sitzungszeiten nicht so streng bewacht, doch heute patrouillierten etliche Soldaten. Ein geheimes Treffen womöglich? Tobias grübelte nicht lange darüber nach. Anders als sein Bruder Nicolaus, der ein glühender Demokrat und Verteidiger der Pressefreiheit war, hatte er kein großes Interesse an der Bundespolitik. Ihm fehlte schlicht die Zeit dafür. Abgesehen davon, war er der Meinung, dass ohnehin jeder irrte, der zu wissen glaubte, was hinter diesen Mauern vor sich ging.
Im Vorraum der öffentlichen naturkundlichen Sammlung empfing Tobias sonores Stimmengewirr. Er war erleichtert. Der Vortrag hatte noch nicht begonnen. Etwa achtzig geladene Gäste, die Hälfte davon Mitglieder der Senckenbergischen Gesellschaft für Naturforschung, die andere Hälfte Gönner und Freunde des Vereins, warteten aufgrund des Platzmangels eng gedrängt darauf, dass sich die hohe doppelflügelige Tür zum Ausstellungsraum öffnete. Die Herren – Damen waren nicht zugelassen – trugen ihre besten Anzüge und dazu gestärkte Vatermörder. Tobias, der keine Zeit mehr gefunden hatte, sich umzuziehen, sah prüfend an sich herunter, entdeckte einen Fleck auf dem Revers und versuchte gerade, ihn mit dem Daumennagel zu entfernen, als sein Bruder Nicolaus sich aus der Menge löste und auf ihn zutrat.
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Wo warst du so lange?«
»Tut mir leid. Ich bin aufgehalten worden«, sagte Tobias und zog seinen Bruder zu sich heran. Verdeckt durch Nicolaus’ breiten Rücken, rieb er weiter an dem Fleck herum.
»Verstehe, Reisevorbereitungen.« Nicolaus klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Wann geht’s eigentlich genau los?«
»In vier Wochen.«
»Das ist nicht mehr lange hin! Was macht deine Friederike? Wie nimmt sie es auf?«
Von dieser Frage überrumpelt, gab Tobias vor, mit dem Reinigen seines Revers vollauf beschäftigt zu sein, und antwortete nicht sofort. Hatte Nicolaus mit Friederike gesprochen? Wusste er etwas? Sein Bruder war einer seiner engsten Vertrauten und auch jemand, mit dem sich Friederike sehr gut verstand. Hatte sie sich ihm mit ihren Sorgen anvertraut? Doch als er Nicolaus schließlich ins Gesicht blickte, sah dieser ihn offen und arglos an.
»Gut«, sagte Tobias und bemühte sich um ein Lächeln. »Es geht ihr gut. Ein wenig angespannt ist sie, wo der Abreisetermin näher rückt. Du kannst es dir denken.«
Nicolaus nickte. »Ja, es muss schwer für sie sein. Uns allen wird es schwerfallen, auf dich zu verzichten.«
Tobias stieß seinem Bruder den Ellenbogen in die Seite. »Mach dich nur lustig über mich.«
»Nein, ganz im Ernst. Willst du es dir nicht noch einmal anders überlegen?«
»Warum sollte ich?«
»Weil dir bedeutende Dinge entgehen werden. Darum.«
»Was entgeht mir denn?«, sagte Tobias ungeduldig. »Jetzt mach es nicht so spannend.«
Sein Bruder griff seinen Arm und zog ihn näher zu sich heran. »Hast du noch nichts davon gehört? Es brodelt, mein lieber Tobias, es brodelt ganz gewaltig. Wir planen anlässlich der Einrichtung der Mozartstiftung ein nationales Sängerfest. Der Vorstand vom Liederkranz hat schon zugesagt. Es wird im Juli stattfinden!«
»Im Juli, aha. Du sagst das so, als wäre es etwas Besonderes.«
»1830? Julirevolution? Klingelt es da bei dir?«
»Da klingelt eine ganze Menge. Trotzdem wird euer Sängerfest ganz gewiss nichts an meinen Plänen ändern. Wie kommst du nur darauf?«
Nicolaus schüttelte den Kopf und ließ Tobias’ Arm wieder los. »Wir sind eben doch sehr verschieden, Bruderherz.«
»Das ist wahr. Dich würde nicht einmal ein Weltwunder aus Frankfurt fortlocken.«
Nicolaus, vier Jahre älter als Tobias, war tatsächlich alles andere als ein Reisender oder Forscher. Er war auch kein Mitglied der Senckenbergischen Gesellschaft, jedoch dank seiner handwerklichen Fähigkeiten ein beliebter und gerngesehener Gast. Die repräsentative Ausstattung der Museumsräume war hauptsächlich seinem Geschick als Schreiner zuzuschreiben, und auch an der Vorbereitung des heutigen Abends hatte er seinen Anteil gehabt.
»Übrigens, ich wollte dich warnen«, sagte Nicolaus jetzt.
»Wieso? Was ist los?«
»Dein Schwiegervater ist hier.«
»Der alte Kluge? Was führt den denn hierher?« Tobias war sehr überrascht. Normalerweise lehnte der Senator Einladungen, die mit der naturkundlichen Gesellschaft verknüpft waren, immer ab. Er verbrachte seine spärliche Freizeit lieber in den eigenen vier Wänden, oder, je älter er wurde, umso häufiger in der Kirche.
»So verwunderlich ist das nun auch wieder nicht. Die neue Ausstellung soll doch auch Fremde und Reisende nach Frankfurt locken – und soweit ich weiß, ist dein Schwiegervater in der entsprechenden Kommission.«
»Natürlich, du hast recht.« Tobias machte gar nicht erst den Versuch, seine Erleichterung zu verbergen. »Ich dachte schon, er wäre meinetwegen hier.«
»Dann lag ich also richtig. Mit eurem Verhältnis steht es nach wie vor nicht zum Besten«, stellte sein Bruder fest.
»Ich gehe ihm einfach so gut wie möglich aus dem Weg. Wie sieht’s aus, hast du unseren weltberühmten Helden schon gesehen?« Damit spielte Tobias auf Eduard Rüppell an, dem sie die heutige Veranstaltung zu verdanken hatten. Neben einem Vortrag des Forschungsreisenden stand die feierliche Enthüllung seiner Kamelparden auf dem Programm. Das Paar, ein männliches und ein weibliches Tier, war schon vor sechs Wochen in Frankfurt angekommen. Doch man hatte gewartet, bis Rüppell selbst aus Afrika zurückgekehrt war, um es der Öffentlichkeit zu präsentieren.
»Rüppell steht da drüben mit Direktor Cretzschmar und dem Stadtarzt Varrentrapp …«
»…und mit meinem Schwiegervater«, ergänzte Tobias leise. Senator Christoph Kluge hatte ihn entdeckt, nickte ihm zu und hob grüßend die Hand. Tobias grüßte mit einem Kopfnicken zurück und ließ dann seinen Blick über die Menge schweifen. »Wo ist Hey? Ich kann ihn nirgends entdecken.«
»Der Präparator? Hat sich in seinen Schmollwinkel zurückgezogen«, erwiderte Nicolaus kichernd.
Michael Hey war mit Rüppell auf Forschungsreise gewesen, doch dann waren die beiden Männer, zur Überraschung aller, getrennt zurückgekehrt und seither nicht gemeinsam in der Öffentlichkeit gesehen worden. Von der einstigen Freundschaft, sollte es jemals eine gegeben haben, war offenbar nicht viel übrig geblieben. Jeder wusste davon. Sämtliche Zeitungen hatten darüber berichtet.
»Du amüsierst dich, aber ich kann Hey gut verstehen«, sagte Tobias. »Rüppell würde mich mit seiner überheblichen Art auch rasend machen.«
»Du bist doch nur eifersüchtig, weil er Geld hat und du nicht.«
»Hm«, machte Tobias. Der Einwand seines Bruders war nicht ganz von der Hand zu weisen. Rüppells Vater war ein wohlhabender Bankier gewesen, und sein Sohn hatte mit siebzehn Jahren sein Vermögen geerbt und kurz darauf beschlossen, alles in die Forschung zu stecken. Auch Tobias und Nicolaus hatten ihren Vater früh verloren. Geerbt hatten sie jedoch so gut wie nichts. Während Tobias also versuchte, genügend Kreuzer zusammenzukratzen, um seine Reisepläne zu verwirklichen, konnte Rüppell Ausrüstungsgegenstände, Assistenten oder eine Schiffspassage aus der Portokasse bezahlen. Doch weit schlimmer als das, war Rüppells arrogante Art, die Tobias in Kombination mit seinem Status als Halbgott unerträglich fand. Eduard Rüppell war nämlich reich und kompetent. Sein Wissen über astronomische Navigation hatte es ihm erlaubt, auf dem afrikanischen Kontinent Reisen zu unternehmen, die niemand anderes gewagt hätte. Unzählige Exponate aus Fauna, Flora und dem Reich der Mineralien hatte er von unterwegs nach Frankfurt geschickt. Die Hälfte aller Exponate gingen auf ihn zurück, und das Ansehen der Senckenbergischen Gesellschaft war dank Rüppell in den letzten Jahren enorm gestiegen.
»Du liegst vollkommen falsch, Nicolaus. Ich bin nicht eifersüchtig, weil er reich ist, sondern weil er blendend aussieht«, gab Tobias leise zurück.
Die Brüder blickten wieder zu der Gruppe von Männern hinüber, die sich um Rüppell geschart hatte und förmlich an seinen Lippen zu hängen schien. Eduard Rüppell war etwa im gleichen Alter wie Tobias, also Anfang vierzig, wirkte jedoch so athletisch und dynamisch wie ein zehn Jahre jüngerer Mann. Seine hohe breite Stirn wurde von unverschämt dichtem blondem Haar umrahmt und die Ebenmäßigkeit seiner Gesichtszüge durch die etwas zu lang geratene, kantige Nase noch unterstrichen.
»Sogar seine Zähne sind weiß und lückenlos«, sagte Nicolaus grimmig, der kürzlich einen Eckzahn verloren hatte.