Das Erwachen der Freiheit - Rahel Krönert - E-Book
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Das Erwachen der Freiheit E-Book

Rahel Krönert

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Beschreibung

England, 1811: Rosalyn Mandeville lebt das unbeschwerte Leben einer jungen Dame aus gutem Hause, als gleich zwei einschneidende Ereignisse ihr Leben erschüttern: Ihr Vater ist plötzlich wild entschlossen, sie noch im selben Sommer zu verheiraten, und ihre Gouvernante Maggie, seit jeher Rosalyns engste Vertraute, verschwindet von einem Tag auf den nächsten. Auf der Suche nach Antworten kommt Rosalyn mit der Erweckungsbewegung des Methodismus in Berührung und sucht heimlich Kontakt zu den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft. Sie muss sich entscheiden: Will sie weiterhin den Erwartungen der Adelswelt entsprechen oder tun, wozu sie sich von Jesu Worten berufen fühlt? Ein beeindruckender Debütroman über eine mutige junge Frau, die alles riskiert, um Jesus wahrhaftig nachzufolgen.

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Seitenzahl: 515

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über die Autorin

Rahel Krönert hat einige Jahre als Gymnasiallehrerin gearbeitet, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft aus Kindheitstagen widmete: dem Schreiben von Romanen. Das Erwachen der Freiheit ist ihr Debüt. Mit ihrem Mann lebt sie in Hamburg und ist Mitglied einer evangelisch-methodistischen Gemeinde.

RAHEL KRÖNERT

Das Erwachen der Freiheit

Roman

Gerth Medien

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidierte Fassung 1912, © 1986 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

In den Anmerkungen sind die zitierten Bibelverse geordnet nach dem Vorkommen im Roman aufgelistet.

© 2025 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH,

Berliner Ring 62, 35576 Wetzlar

Erschienen im Februar 2025

ISBN 978-3-96122-682-5

Umschlaggestaltung: Hanni Plato

Umschlagfoto: Gert Wagner unter Verwendung von bildgebenden Generatoren

Lektorat: Christina Bachmann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

www.gerth.de

Meiner lieben Oma Sigrid.Bei dir zu schreiben war immer am schönsten. Am liebsten auf der untersten Stufe der Treppe zum Dachzimmer.Ich freue mich so sehr auf unser Wiedersehen in unserem ewigen Zuhause!

Bedfordshire, England, im Sommer 1811

Kapitel 1

Wer es zuerst auf den Gipfel schafft!“

„Und das soll eine Herausforderung sein?“ Lachend stieß Rosalyn die Ferse in Grand Noirs Bauch. Der Galopp des pechschwarzen Hengstes wurde ausgreifender. Rosalyn beugte sich etwas weiter nach vorne, dabei kitzelte die flatternde Mähne des Pferdes ihr Kinn. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und grinste keck. „Adieu, Bruderherz, wir sehen uns oben!“

Der dumpfe Widerhall donnernder Hufe auf dem trockenen Erdboden klang in ihren Ohren nach, während Grand Noir mit atemberaubender Geschwindigkeit an Richard auf seinem Pferd Lancelot vorbeiflog. Der sanft ansteigende Hügel rückte näher und näher. Das Lächeln auf Rosalyns Gesicht vertiefte sich. Sie liebte diese Momente – Momente, in denen sie Freiheit schmeckte.

Sie zügelte den Hengst erst knapp vor dem Gipfel. Grand Noir schnaubte laut und ausgiebig. „Hoo, mein Junge, gut so! Du warst großartig!“ Liebevoll fuhr Rosalyn über den seidig schimmernden Hals des Pferdes.

Richard war nur noch wenige Galoppsprünge von ihr entfernt. Elegant lenkte er seinen Schimmel in einem kleinen Halbkreis um sie herum. „Chapeau, Verehrteste!“

Er verbeugte sich und verrenkte seinen Arm dabei so weit nach hinten, dass Rosalyn belustigt auflachte. „Danke sehr, Mr Mandeville! Sie sollten doch mittlerweile wissen, dass Sie keine Chance gegen mich haben!“

„Man hofft, solange man lebt“, meinte Richard trocken und tätschelte Lancelots Hals. „Außerdem bin ich immer noch der Meinung, dass Lancelot genauso gute Leistung bringen würde, wenn ein solch zartes Wesen wie du auf ihm sitzen würde.“

„Ach was! Grand Noir ist eben unschlagbar.“

„Wen wundert’s – bei solch einem Vorfahren!“ Richard grinste schief. „Umso größer sollte deine Freude sein, dass Vater sich auf deine wahnwitzige Idee eingelassen hat.“

Rosalyn hob stolz den Kopf. „Ich bin die beste Reiterin ganz Bedfordshires! Zweifelst du etwa daran?“

„Ah!“ Mit schmerzerfülltem Gesichtsausdruck schlug Richard eine Hand auf seine Brust. „Das saß tief, Schwesterherz! Du solltest deinen alten Bruder doch besser kennen.“ Er schüttelte pikiert den Kopf.

Rosalyn grinste. „Ich bitte um Verzeihung, Teuerster!“

„Gewährt!“

Zärtlich fuhr Rosalyn über Grand Noirs dichte Mähne. „Ob du es glaubst oder nicht, ich habe nicht damit gerechnet, je auf seinem Rücken zu sitzen.“

Richard gab ein belustigtes Schnauben von sich. „Das glaube ich dir tatsächlich nicht! Vater hat dich verwöhnt, seit ich denken kann. Du hast immer deinen Willen bekommen, oder?“

Rosalyn zuckte unbekümmert die Schultern. „Dafür kann ich ja nichts! Was Grand Noir anbelangt: Ich habe lange betteln müssen, bis Vater mir seinen Nachkommen des herausragenden Eclipse überlassen hat.“

Manchmal kam ihr das Ganze noch immer wie ein Traum vor. Die Abstammung Grand Noirs von einem der besten und bekanntesten Rennpferde Englands des 18. Jahrhunderts hatte das soziale Prestige und Ansehen ihres Vaters um ein Vielfaches gesteigert. Grand Noir war eigentlich kein Damenpferd. Die wenigsten Väter hätten ihrer Tochter erlaubt zu versuchen, den Hengst an den Damensattel und die entsprechenden Hilfen zu gewöhnen. Doch Rosalyn hatte sich durchgesetzt – und Sir Henry Mandeville davon überzeugen können, dass sie in der Lage war, aus dem äußerst sensiblen Hengst ein zuverlässiges Reitpferd zu machen.

„Na schön.“ Richard seufzte. „Du hattest schon immer den Hang zum Unkonventionellen.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf. Dann atmete er hörbar aus. „Ich wünschte, ich könnte häufiger nach Leighton Hall zurückkommen und mit dir durch die Felder streifen. Sieh dir doch nur diese herrliche Aussicht an!“

Zufrieden lächelnd tat Rosalyn es ihrem Bruder gleich und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Sanfte grüne Hügelketten zogen sich in schier unendlicher Weite bis zum Horizont hin. Von dem Wiesenteppich hoben sich in losen Abständen kleine Buchen- und Eichenwäldchen ab, deren Blätterdächer in den unterschiedlichsten Grüntönen im Sonnenlicht schimmerten. Dazwischen grasten kleine Gruppen von Schafen so dicht beieinander, dass sie aussahen wie Sahnehäubchen, die in regelmäßigen Abständen in der Landschaft platziert worden waren. Rechter Hand glitzerte in weiter Entfernung das Wasser des Lake Mandeville – von diesem Standpunkt aus hatte es den Anschein, als handle es sich lediglich um einen kleinen Teich. Doch tatsächlich war der See so groß, dass es eine gute Dreiviertelstunde dauerte, ihn zu umrunden, und dass sich darin eine Vielfalt von Fischen tummelte. Schräg hinter Lake Mandeville konnte man gerade noch einen Teil der Straße ausmachen, die zum herrschaftlichen Anwesen Leighton Hall Estate führte. Königlich thronte der imposante Landsitz aus graubraunem Sandstein über den weitläufigen Ländereien, die zum Herrenhaus gehörten.

„Ich hätte nichts gegen ein weiteres Rennen, aber wir müssen zurück, Rosie.“

Rosalyn schwieg – es war einfacher, als zu antworten. Die Wut, die sie begleitete, seit sie von dem Dinner erfahren hatte, loderte unvermittelt in ihr auf. Auch wenn niemand sie je in die Absichten für den heutigen Abend eingeweiht hatte, wusste sie nur zu gut, worum es ging. Es war das erste Mal, dass ihr Vater einen Gentleman nach Leighton Hall eingeladen hatte. Es konnte dafür nur einen Grund geben – und alles in Rosalyn sträubte sich dagegen.

Langsam wendeten sie die Pferde.

„Du bist ja auf einmal so still.“ Sie spürte Richards Seitenblick mehr, als dass sie ihn sah.

„Ach, Richard, tu nicht so! Du weißt doch genau, dass sich meine Freude für das Dinner in Grenzen hält!“ Rosalyn verzog grimmig das Gesicht.

„Na, na, na!“ Ihr Bruder schüttelte betont pikiert den Kopf, wobei seine kurz geschnittenen blonden Locken leicht auf und ab wippten. „Nun seien Sie mal nicht so voreilig, meine Liebe! Womöglich irren Sie sich ja in Ihrer derzeitigen Einschätzung der Situation.“

„Ach, hör doch auf, so mit mir zu reden! Es reicht, dass ich mich sonst schon immer an die Regeln höflicher Konversation halten muss. Also bitte nicht bei unseren Ausritten!“ Rosalyn stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Und überhaupt: Was könnte man an dieser Situation großartig falsch einschätzen? Vater und Mutter wollen mich möglichst sehr, ich betone, wirklich sehr wohlhabend vermählt sehen!“

„Ich habe gehört, es gibt Schlimmeres als eine einflussreiche Vermählung.“

Rosalyn bedachte ihren schmunzelnden Bruder mit einem vernichtenden Blick. „Du solltest mir diesbezüglich gar keine Vorträge halten! Immerhin genießt du bei diesem Thema eine gewisse Narrenfreiheit.“

Ihre Empörung schien an Richard wie an einer Felswand abzuprallen. Er lachte laut. „Ach, Rosie, wenn du dich gerade sehen könntest! Es muss ja wenigstens einen Bereich geben, in dem ich dir etwas voraushabe. Lach mal wieder, du kleiner schimpfender Rohrspatz! Das steht deinem hübschen Gesicht besser als diese Zornesfalte auf deiner Stirn.“

„Mir ist nicht nach Lachen zumute, Richard!“ Rosalyn biss sich auf die Lippen und atmete tief ein. „Du darfst mit deinen vierundzwanzig Jahren deinem Studium nachgehen und tun, was dein Herz begehrt. Mir hält man hingegen ständig vor, dass ich in meiner dritten Saison nun aber wirklich einen Ehemann finden muss.“

„Rosalyn, wie oft haben wir diese Unterhaltung schon geführt?“ Richard warf seiner Schwester einen genervten und gleichzeitig gutmütigen Blick zu. „Wir kommen doch immer zu demselben Ergebnis. Irgendwann muss man nun einmal erwachsen werden und seinen Platz in dieser Welt einnehmen. Das gilt auch für dich.“

Rosalyn schluckte die nächste streitsüchtige Antwort herunter. Sie wusste, dass sie sich stärker darum bemühen musste, auch in Gegenwart ihres Bruders ein vornehmes Verhalten an den Tag zu legen. Aber wenn sie mit Richard Zeit verbrachte, fühlte sie den Funken unbeschwerter Jugendjahre aufblitzen – in denen die Perspektive einer Heirat noch in weiter Ferne gelegen hatte.

„Ich bin doch eh schon eine gesellschaftliche Katastrophe, wenn man Mutters Worten Glauben schenken will. Fast zwanzig und noch nicht verheiratet – das kommt dem Weltuntergang gleich!“

Richards Prusten entlockte Rosalyn trotz ihrer Wut ein Grinsen.

„Das ist wohl etwas übertrieben, aber so ist sie eben, unsere Frau Mama“, meinte er dann. Er schnalzte leise mit der Zunge, und Lancelot nahm Tempo auf, sodass er und Grand Noir Kopf an Kopf nebeneinanderher trabten. „Im Moment weiß ich jedenfalls nur, dass wir uns wirklich beeilen sollten. Denn wenn wir uns jetzt zu viel Zeit lassen, wird nicht nur Mutter sehr verärgert sein.“

Rosalyn ließ den Blick schweifen und stimmte ihrem Bruder im Stillen zu. Die hohen Buchen und Stechginstersträucher am Wegesrand warfen bereits längere Schatten. Sie verstärkte den Druck ihrer Schenkel, und sofort verfiel Grand Noir in einen ruhigen Galopp.

„Miss Rosalyn! Miss Rosalyn Mandeville!“

Der Ruf drang an ihr Ohr, noch bevor Rosalyn und Richard überhaupt die Gelegenheit hatten, abzusteigen. Normalerweise redete die Frau, zu der diese Stimme gehörte, Rosalyn nicht in der Form an. Eigentlich war sie sonst gar nicht in den Stallungen zugegen – woraus zu schließen war, dass die Geschwister sich stärker in der Zeit geirrt haben mussten, als sie angenommen hatten.

„O nein, Herr im Himmel, steh uns bei!“ Richard parierte Lancelot wenige Meter vor dem großen Stallgebäude und warf Rosalyn ein verschmitztes Grinsen zu. „Tut mir leid, Schwesterherz, ich fürchte, es gibt Ärger.“

Rosalyn lächelte verstohlen. Dann schwang sie ihr Bein über das Horn des Damensattels und war schon im Begriff abzuspringen, als sie noch jemand anderen rufen hörte.

„Warten Sie, Miss!“ George Smith, der Stallmeister von Leighton Hall, lief mit schnellen, humpelnden Schritten auf sie zu.

Rosalyn unterdrückte den Impuls, ihm zu sagen, dass er sich nicht so zu beeilen brauche. Das Humpeln war ihr vor einigen Wochen zum ersten Mal aufgefallen, und nun fühlte sie immer, wenn der alte Stallmeister ihr dienstbeflissen zur Seite eilte, ein schlechtes Gewissen in sich aufkeimen. Aber sie wusste auch, dass George seinen Stolz hatte.

„Schon gut, George, ich komme schon –“

„Untersteh dich, einfach so vom Pferd zu springen!“

Mit einem leisen Seufzer blickte Rosalyn in die Richtung, aus der die erste Stimme kam. Auf dem sich über mehrere Hundert Meter erstreckenden gepflasterten Weg vom Herrenhaus zum Stall stapfte ihre Gouvernante Margaret Taylor energischen Schrittes auf sie zu.

„Es fehlt gerade noch, dass du dir jetzt den Knöchel verstauchst! Das wäre eine Katastrophe! Ausgerechnet heute!“

„Ich habe mir den Knöchel noch nicht verstaucht, liebe Maggie, und das werde ich auch nicht.“ Um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, rutschte Rosalyn betont langsam und mit einem siegessicheren Gesichtsausdruck von Grand Noirs Rücken. „Bitteschön! Siehst du? Nichts passiert.“

„Rosalyn Eleanor Mandeville!“ Margaret Taylors Gesicht war ein einziger Vorwurf. Erhitzt, mit zusammengekniffenen Augen und in die Hüften gestemmten Armen taxierte die Gouvernante ihren Schützling. „Heute ist kein Tag zum Spaßen! Die Nerven deiner Mutter liegen bereits seit heute Vormittag blank, mal ganz abgesehen davon, dass Mylady in großer Sorge ist, dass du nicht rechtzeitig fertig sein wirst.“ Die Gouvernante hielt inne und wandte sich Richard zu. Rosalyns Bruder widmete sich daraufhin akribisch dem Sattelgurt seines Pferdes. „Mr Mandeville!“

Nach kurzem Zögern drehte Richard sich schuldbewusst um. „Liebe Maggie, verzeih!“ Er probierte sich in einem unschuldigen Lächeln, doch seine schelmisch aufblitzenden graublauen Augen verrieten ihn. „Du kennst uns doch … Einmal auf dem Pferderücken, vergessen wir die Welt um uns herum.“

„O ja, und wie ich Sie kenne!“ Missbilligend schüttelte Margaret Taylor den Kopf. „Aber an einem Tag wie heute hätte ich doch erwartet, dass etwas mehr von Ihrem Verantwortungsgefühl durchschimmert, Mr Mandeville!“

Rosalyn fand es auch nach über sechs Jahren noch gewöhnungsbedürftig, dass Maggie ihren ehemaligen Schützling mit Nachnamen anreden musste. Dabei war Richard im Prinzip von ihr großgezogen worden. Doch so sah es die adlige Etikette vor. Eigentlich hätte Maggie auch Rosalyn inzwischen mit „Miss Rosalyn“ ansprechen müssen – als jüngere Schwester des Erben reichte ihr Vorname bei der Anrede durch die Dienstboten aus. Doch weder hatte Rosalyn das „Miss“ vor ihrem Namen jemals eingefordert, noch hatte Maggie es je lange durchgehalten, sie damit anzusprechen. Die Gouvernante bewahrte sich diese Möglichkeit für Situationen auf, in denen Rosalyn ihre Geduld über die Maßen strapaziert oder sie anderweitig enttäuscht hatte.

Maggie räusperte sich streng. „Nun gut. Es ist, wie es ist. Wir werden die Vorbereitungen für den Abend schon noch erfolgreich bewältigen. Allerdings …“ Sie stoppte erneut und kniff die Augen zusammen. „Wenn ich mir dich so ansehe, Fräulein … Du lieber Himmel, was hast du denn schon wieder mit deinem Haar angestellt? Du bist wieder mal wild galoppiert, richtig?“

„Nur die letzte Strecke“, beschwichtigte Rosalyn sie. „Ich verstehe nicht, wieso du dich so aufregst. Mein Haar hätte doch so oder so frisiert werden müssen.“

„In der Tat! Aber nun werde ich erstmal damit beschäftigt sein, die Knoten aus deinen Locken herauszubürsten. Ich hoffe nur, du hast deinen Hut die gesamte Zeit über getragen – bei deinem hellen Teint ist jeder Sonnenstrahl einer zu viel.“

Entnervt stöhnte Rosalyn auf. Ihr Teint – und insbesondere die vereinzelten Sommersprossen um ihre Nase – war, seit sie denken konnte, eine der größten Sorgen im Leben ihrer Mutter und damit auch von Maggie. Als sie Grand Noirs Zügel mit einem dankbaren Lächeln in Georges Hände drückte, zuckte es verräterisch um die Mundwinkel des alten Stallmeisters.

„Komm jetzt, wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Hart griff Maggie nach Rosalyns Hand und zog sie mit sich.

„Halt, Moment Maggie, ich will doch noch –“

„Nein, Schluss jetzt!“ Der Griff um Rosalyns Hand wurde noch fester. „Du kannst ein anderes Mal wieder mit diesem Pferd schmusen. Ich begreife wirklich nicht, wieso dein Herr Vater dir überhaupt erlaubt, so viel Zeit mit dem Tier zu verbringen, geschweige denn, es zu reiten!“ Grand Noir war bisher der einzige Punkt in ihrem langjährigem Dienst als Gouvernante gewesen, in dem Maggie gewagt hatte, ihrem Herrn zu widersprechen – erfolglos.

Während Rosalyn hinter Maggie herstolperte, versuchte sie, die neu aufflackernde Wut über das Dinner zu ignorieren. Sie würde es überleben – wie all die unzähligen nichtssagenden Ereignisse dieser Art zuvor auch.

Kapitel 2

Selbst als sie die Eingangshalle des Landsitzes betraten, ließ Maggies Griff um Rosalyns Handgelenk nicht nach. Schnellen Schrittes und mit steinerner Miene zerrte die Gouvernante sie hinter sich her, weiter durch die langen Flure, bis sie endlich vor Rosalyns Zimmer ankamen.

„Jetzt bin ich völlig außer Atem und ganz rot im Gesicht“, versuchte Rosalyn zu protestieren.

„Du wirst dich jetzt sowieso erst mal mit kaltem Wasser waschen. Und bis zum Dinner hast du dich wieder abgekühlt.“

Ergeben nickte Rosalyn. Maggies pragmatische Art war ihr nach all den Jahren, in denen diese Frau sie in allen erdenklichen Fähig- und Fertigkeiten unterrichtet hatte, die sich für eine junge Dame ziemten, nur allzu vertraut. Dennoch wirkte die Gouvernante heute sehr angespannt. Was ihr nicht zu verdenken war, denn die gesamte Dienerschaft von Leighton Hall befand sich seit drei Tagen im Ausnahmezustand – und das alles wegen eines Gentlemans!

Mit flinken Bewegungen entledigte Rosalyn sich ihres dunkelgrünen Reitkleides und tauchte Arme und Hände in das kühle Wasser in der Schüssel auf der Kommode. Unter Maggies strengem Blick wusch sie sich Gesicht und Hals.

„Vergiss nicht den Bereich unterhalb des Halses!“

Rosalyn verkniff sich eine spitze Bemerkung und tat, wie ihr geheißen.

„Deine Mutter hat bereits das Kleid herausgesucht, welches du anziehen wirst.“

„Wie bitte?“ Ruckartig fuhr Rosalyn herum. Ihre Augen weiteten sich panisch.

Das konnte nichts Gutes bedeuten! Es hatte einige Zeit gedauert, bis Lady Mandeville die Kleiderwahl Rosalyn selbst überlassen hatte. Neben Rosalyns Teint war die zweite und allgegenwärtige Sorge ihrer Mutter ein makelloses Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit. Bis ins kleinste Detail plante sie ihre eigene Garderobe sowie bis vor Kurzem auch die ihrer Tochter, um jedem Anlass gerecht zu werden und jeglichen Verdacht eines unwürdigen Auftretens in der Gesellschaft zu vermeiden.

Ein Blick auf ihr Bett bestätigte Rosalyns Ahnung. „O nein!“ Nun leuchtete ihr ein, warum Maggie beim Waschen Wert auf das Dekolleté gelegt hatte. Das ausgewählte Kleid hatte Lady Mandeville vor gerade einmal zwei Monaten anfertigen lassen mit den Worten, es sei für den winterlichen Saisonbeginn in London vorgesehen. Nun war es offensichtlich dazu auserkoren worden, schon am heutigen Abend einen ganz bestimmten Zweck erfüllen.

Das Kleid war zwar schön geschnitten und die hellblaue Seide himmlisch weich – es hatte jedoch einen gravierenden Mangel: Es gab viel zu viel vom Dekolleté seiner Trägerin preis.

„O Maggie, muss das sein? Ich will dieses Kleid nicht tragen!“

„Du wirst heute Abend nicht darum herumkommen. Komm, setz dich!“

Mit einem Stöhnen lief Rosalyn zum Frisiertisch und ließ sich auf den Stuhl plumpsen.

„Rosalyn!“ Maggie warf ihr einen strengen Blick zu, sodass Rosalyn sich gehorsam aufrichtete.

„Liebste Maggie, bitte, ich ziehe jedes andere Kleid an, aber nicht dieses! Was ist denn zum Beispiel –“

„Schluss jetzt, Rosalyn!“

Die Schärfe in Maggies Tonfall ließ Rosalyn innerlich zusammenzucken. Es kam höchst selten vor, dass ihre Gouvernante so mit ihr sprach. Ihre Betroffenheit musste sich in ihrem Gesicht widergespiegelt haben, denn mit einem wesentlich milderen Gesichtsausdruck fuhr Maggie nun versöhnlich fort: „Liebes, ich kann es nicht ändern, so gerne ich würde! Mylady hat mir wiederholt eingebläut, dich in dieses Kleid zu stecken. Wenn du dir nun ein anderes heraussuchst, bekommst nicht nur du eine Menge Ärger.“ Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da kniff sie auch schon die Lippen zusammen, als bereue sie den letzten Satz.

Rosalyn schluckte und starrte verärgert auf die Ablage des Frisiertischs. Nun würde auch das letzte Milchmädchen von Leighton Hall erkennen, zu welchem Zweck man sie in solch ein Kleid steckte! „Ich will nicht gegen meinen Willen verheiratet werden!“, platzte sie heraus.

„Wer redet denn davon, dass du gegen deinen Willen verheiratet werden sollst?“ Mit einem Kamm fuhr Maggie in sanften Bewegungen durch Rosalyns taillenlange Locken. „Soll ich dein Haar so frisieren wie letzte Woche? Beim Ball in Rose Manor? Das sah wirklich hübsch aus.“

„Mir egal.“ Schroff zuckte Rosalyn die Schultern.

Für einen Moment war es ruhig. Dann fühlte Rosalyn Maggies Hände auf ihren Schultern. „Liebes, ich weiß, dass du keinerlei Absichten hegst, dich möglichst bald vorteilhaft zu verheiraten. Aber gib Edward Nobley doch wenigstens eine Chance.“

Mit einer heftigen Bewegung drehte Rosalyn sich um und ergriff Maggies Hände. „Er ist schon achtundzwanzig!“

„Damit ist er immerhin um einige Jahre jünger als dieser Colonel in deinem Roman. Wie heißt er doch gleich?“

„Colonel Brandon!“ Rosalyn stieß ärgerlich die Luft aus. „Maggie, das ist nicht lustig! Edward Nobley hätte längst heiraten können! Stattdessen ist er auf der Suche nach den besten Pferden durch die halbe Welt gereist. Wieso geht er denn ausgerechnet jetzt auf Brautschau?“

Ähnlich wie bei ihrem Bruder überwältigte Rosalyn ein Gefühl von Ohnmacht, wenn sie die Möglichkeiten eines Edward Nobley mit ihren verglich. Er hatte die letzten Jahre seines Lebens frei gestalten können, während man sie so früh wie möglich in das Korsett einer Ehe pressen wollte. „Ich wette, er ist ein eingebildeter, von sich selbst überzeugter Wichtigtuer, mit dem man kein Gespräch führen kann, ohne dass er ins Schwärmen über die eigene Person gerät!“

„Rosalyn …“ Mit einer zärtlichen Berührung strich Maggie ihr über die Stirn. „Urteile nicht, ohne vorher selbst geprüft zu haben. Du bist ein kluges Mädchen. Ich meine natürlich: eine kluge Frau.“ Nun lächelte sie. „Und auf den Mund gefallen bist du nun wahrlich nicht. Lerne ihn kennen und mache dir selbst ein Bild. Ist das nicht eine Möglichkeit, mit der du dich für heute Abend anfreunden kannst?“

Rosalyn seufzte laut und drehte sich wieder um. „Wenn es denn sein muss …“

„Na also!“, sagte Maggie zufrieden und begann, mit routinierten Griffen einzelne Locken zusammenzubinden und sie mit Geschick auf Rosalyns Hinterkopf festzustecken. „Und falls du heute Abend erkennst, dass Edward Nobley anders ist, als du bisher angenommen hast – wäre das so schlimm? Immerhin wirst du im September zwanzig.“

Rosalyn unterdrückte einen Aufschrei. Sie wollte ihrer Gouvernante heute Abend nicht noch mehr Kummer bereiten, als sie es schon getan hatte. Ihre Gedanken wanderten zum Ausritt zurück. Richard hatte von ihnen beiden eindeutig das bessere Set an Karten erhalten. Als erstgeborener Sohn eines Baronets waren ihm der Titel „Sir“ sowie das gesamte Erbe seines Vaters sicher – egal, wann er sich dazu entscheiden würde, eine Frau von Rang und Namen zu heiraten. Rosalyns Blatt ermöglichte ihr jedoch eine verschwindend geringe Auswahl an Spielvarianten. Die Notwendigkeit einer vorteilhaften Heirat war, seit sie achtzehn war, in charmant kaschierten Phrasen ein beständiger Begleiter der Gespräche mit ihren Eltern gewesen. Dass es nicht allzu viele Kandidaten gab, die ihre Eltern zufriedenstellen konnten, war Rosalyns Glück gewesen. Doch nun war Edward Nobley auf der Bildfläche erschienen.

Erst vor wenigen Wochen hatte Baronet George Nobley das herrschaftliche Anwesen Kingston Abbey erworben, welches zur Gemeinde von Grafton Village gehörte. Der Name des Baronets war einer der höchstgeachteten in adligen Kreisen, da Sir Georges Kontakte bis in den engsten Zirkel des Prinzregenten reichten. Als einzigem Sohn war Edward Nobley ein ungeheures Vermögen sicher. Diese Aussicht hatte ihn schon in jungen Jahren zu einem heiß begehrten Junggesellen gemacht. Doch bisher hatte er sich nicht festgelegt – oder festlegen wollen. Zu groß war die Schar der bewundernden jungen Damen gewesen. Und seine Reiselust.

Der Druck in Rosalyns Magengegend verstärkte sich. Wenn Edward Nobley auch nur ansatzweise dem Bild entsprach, das sie sich bereits aus hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Gerüchten auf Londons Bällen gemacht hatte, würde sie ihn mit Ignoranz strafen. Angeblich verwettete er regelmäßig große Summen seines Erbes auf der Pferderennbahn in Ascot – bisher ohne nennbare Erfolge. Seine Faszination für edle Pferde ging so weit, dass es hieß, er plane eine eigene Zucht.

„So – das sollte reichen.“ Maggie trat einen Schritt zurück.

Rosalyn erhob sich und lief zum großen Standspiegel in ihrem Zimmer. Mit gerunzelter Stirn begutachtete sie ihr Spiegelbild. Ihre rotblonden Locken waren gekonnt hochgesteckt, sodass sie ihr schmales Gesicht und den langen Hals zur Geltung brachten. Die blassblaue Seide lag kühl auf ihrer Haut und umschmeichelte nicht nur ihre anmutige Figur, sondern harmonierte auch mit ihren blauen Augen. Die unzähligen kleinen Perlen an der Brustpartie des Kleides waren als kunstvolle, ineinander rankende Rosenblüten auf dem Stoff appliziert. Es war in der Tat ein bezauberndes Kleid – wenn es nur nicht so viel preisgegeben hätte! Immer wieder zupften Rosalyns Finger am Stoff des Dekolletés in dem verzweifelten Versuch, es etwas mehr zu bedecken.

„Du siehst wunderschön aus!“ Maggie lächelte ihr aufmunternd zu.

„Danke.“ In Rosalyns Lächeln schwang Müdigkeit mit. Sie hatte schon so viele Komplimente für ihr Aussehen erhalten, dass sie sich nicht nur daran gewöhnt hatte, sondern diese manchmal fast leid war. Seit ihrem Debüt zwei Jahre zuvor hatte sie sich schon oft gefragt, ob die vielen Gentlemen, mit denen sie auf Bällen und Empfängen getanzt hatte, überhaupt an ihr als Person in dieser hübschen Hülle interessiert waren. Oder nicht viel eher an dem, was ihre Herkunft an aussichtsreicher Mitgift versprach.

Nachdem Maggie das Zimmer verlassen hatte, wartete Rosalyn noch einen kurzen Moment ab und begab sich dann auf den Weg zur Bibliothek. Sie hatte geahnt, dass ihr Vater sie vor dem Eintreffen der Nobleys noch einmal würde sprechen wollen. Vor Nervosität krampfte sich ihr Magen zusammen.

Kurz vor der breiten Treppe ins Erdgeschoss passierte Rosalyn das Zimmer ihres Bruders, dessen Tür sich genau in diesem Moment öffnete.

„Oh, là, là!“ Richard stieß einen anzüglichen Pfiff aus.

„Richard!“ Zum wiederholten Mal an diesem Tag bedachte sie ihn mit einem wütenden Blick. „Wenn Mutter dich gehört hätte!“

„Dann hätte sie sich insgeheim selbst beglückwünscht, weil ihr Plan aufgegangen ist.“ Richard grinste frech. „Dein Kleid wird jeden Gentleman außer Gefecht setzen.“

Rosalyn räusperte sich und beschleunigte das Tempo. Hoch erhobenen Hauptes marschierte sie einen Schritt vor Richard die letzten Meter auf die Treppe zu. „Wenn du nichts Besseres zu tun hast, als mich ständig aufzuziehen, kann ich gut und gerne auf deine Gesellschaft verzichten.“

„Aah!“ Ihr Bruder seufzte theatralisch, und Rosalyn blieb stehen. Richard griff sich mit der Hand an die Brust. „Und schon wieder trifft sie erbarmungslos das Herz ihres Bruders!“ Schwungvoll ergriff er ihren Arm und schob ihn unter seinen. „Du sollst doch nicht so rennen. Erst recht nicht auf der Treppe.“

„Ich renne nicht! Und überhaupt: Hast du nun Maggies Aufgabe übernommen?“

„Nein, aber als dein großer Bruder muss ich doch auf dich aufpassen.“ Er warf ihr einen flüchtigen Seitenblick zu. „Ich will dir doch nur helfen, Rosie.“

Rosalyn blieb stehen, und weil sie eine Stufe unter ihm stand, musste sie den Kopf noch weiter als sonst nach hinten legen, um ihm ins Gesicht blicken zu können. „Du tust ja gerade so, als würde ich in einem Treibsand von unlösbaren Schwierigkeiten stecken“, empörte sie sich.

Richards Mund öffnete sich leicht, doch er sagte nichts. Stattdessen legte er die Hände auf Rosalyns Schultern und musterte sie eine Weile mit wachem Blick. „Du drückst dich mal wieder sehr dramatisch aus, Schwesterherz. Dir wird vielleicht nicht alles gefallen, was das Leben dir auftischt, aber …“ Er stockte kurz, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte schließlich: „Gib dem Ganzen eine Chance, ja?“

Rosalyn wand sich aus seinem Griff und lief die restlichen Stufen hinunter. Sie wusste nicht, was sie von seinen kryptischen Worten halten sollte – außer dass ihr nicht gefiel, mit welcher Ernsthaftigkeit er sie geäußert hatte.

„Ich werde mich schon zu behaupten wissen!“, rief sie über die Schulter. Dann hatte sie die Bibliothek erreicht. Sie lächelte Richard noch einmal zu. Doch er blieb ernst. Etwas verunsichert öffnete sie die Tür.

Sir Henry Mandeville stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen an einem der hohen Fenster mit Blick in den Garten. Er zeigte nicht die geringste Reaktion, als das sanfte Rascheln von Rosalyns Kleidersaum über den Boden ihr Näherkommen verriet.

„Guten Abend, Vater.“ Zögernd ging Rosalyn auf die Gestalt am Fenster zu, während ihre Finger nervös am Ausschnitt ihres Kleides nestelten – bis ihr wieder einfiel, dass sie dies im Laufe des Abends tunlichst unterlassen sollte. Sie schalt sich für ihre Unruhe. Trotz der etwas überstürzten Einladung der Nobleys – sie hatte nichts von ihrem Vater zu befürchten.

Die gemeinsame Liebe zu Pferden und langen Ausritten war der Nährboden ihrer Verbundenheit gewesen. Bei aller Unsicherheit in Bezug auf die jüngst eingeläutete Ära der Ehegatten-Suche – ihr Vater würde sie mit Sicherheit in weitere Überlegungen einbeziehen und die potenziellen Kandidaten mit ihr besprechen. So wie er sie in die Frage nach der besten Pflege für ihre Pferde oder Grand Noirs Ausbildung einbezogen hatte. Rosalyn atmete kaum hörbar ein. Ihre Nervosität war wirklich albern!

Endlich drehte sich Sir Henry zu ihr um. „Rosalyn, mein Täubchen!“ Das Flackern in seinen Augen war nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen. „Guten Abend!“ Verhalten lächelnd näherte er sich ihr, seine Arme blieben unbeweglich hinter dem Rücken verschränkt. Knapp vor ihr blieb er stehen, und seine Augen wanderten an ihr hinunter und wieder herauf. Dann eroberte ein stolzes Lächeln sein Gesicht. „Du bist mit Abstand die schönste junge Dame, die Bedfordshire je gesehen hat.“

„Danke, Vater.“ Schnell senkte Rosalyn den Blick. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Irgendetwas war anders als sonst.

Sir Henrys Ansprache über ihre Lebensaufgabe, die an sie gestellte Erwartung einer aussichtsreichen Heirat, hatte Rosalyn im vergangenen Jahr einige Male über sich ergehen lassen müssen. Doch jedes Mal hatte er sie dabei mit diesem milden, nachsichtigen Blick bedacht, der Rosalyn insgeheim hatte glauben lassen, dass ihr noch Zeit bliebe. Dass Vater ihr dieselbe Freiheit einräumen würde, wie ihr Bruder sie genoss. Dass sie dann heiraten dürfte, wenn sie wirklich bereit dazu war. Und zwar einen Mann, den sie liebte.

Doch nun fühlte es sich so an, als habe sich eine Glocke kalter Luft über die Bibliothek gestülpt.

„Rosalyn?“ Sein fordernder Tonfall zwang sie dazu, den Kopf wieder zu heben und seinen Blick zu erwidern. Sir Henrys blassgraue Augen blickten ihr wachsam entgegen. Die Nachsicht, die seinen Blick in den vergangenen Jahren begleitet hatte, war verschwunden. „Ich bin mir sicher, dass dir bewusst ist, welch glückliche Fügung die Aufwartung der Familie Nobley ist.“

Gehorsam nickte Rosalyn.

Sir Henry räusperte sich laut und wandte seiner Tochter erneut den Rücken zu. Er begann, vor den Fenstern auf und ab zu gehen, wobei sein grau meliertes, streng nach hinten gekämmtes Haar immer dann schimmerte, wenn einer der letzten Sonnenstrahlen es traf. „Ich darf dich an deine Kunstfertigkeiten als begabte und wohlsituierte Dame erinnern, meine liebe Rosalyn?“ Seine Frage glich eher einer Forderung, und als er sie stellte, blieb er stehen und drehte den Kopf in ihre Richtung. „Deine Einmischung in Grand Noirs Ausbildung, deine Leidenschaft für diese schriftstellerischen Ergüsse, die meines Erachtens nichts als reiner Zeitvertreib ohne erkennbaren Nutzen sind, deine temperamentvolle Art – dir ist hoffentlich bewusst, dass all diese Dinge heute nicht als Erstes präsentiert werden müssen? Ich kann auf deine Kooperation zählen, nicht wahr?“

Rosalyns Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Nein!, schrie eine Stimme in ihrem Inneren. Warum sollte sie plötzlich das verbergen, was sie als Person auszeichnete? Warum wirkte ihr Vater so ernst? Sie rang sich jedoch ein weiteres Lächeln ab, das ihn hoffentlich zufriedenstellen würde. Es war ehrlicher, als etwas zu sagen, was sie nicht so meinte.

Sir Henrys Augen verengten sich, als er Rosalyn nun taxierte. „Dieses Mal, mein Täubchen, erwarte ich, dass du dir mehr Mühe gibst. Und zwar ganz besonders viel Mühe. Ich erwarte, dass du dich von deiner besten Seite zeigst. Mr Nobley ist nicht irgendein dahergelaufener Gentleman, dessen Familiennamen keiner kennt!“

Er blieb wenige Zentimeter vor ihr stehen, und Rosalyn unterdrückte den Impuls zurückzuweichen. Sie hob den Kopf noch etwas weiter an, um dem Blick ihres Vaters standhalten zu können.

„Rosalyn, dieser Mann könnte dein Schicksal besiegeln!“

Sie öffnete den Mund, um zu einer Erwiderung anzusetzen, aber keine Sekunde später presste sie die Lippen wieder fest aufeinander. Was, wenn Edward Nobley mit all seinen Vorzügen trotzdem nicht der Mann war, den sie lieben konnte? Doch es hatte keinen Zweck, diese Frage laut auszusprechen. Ein einziges Mal hatte sie diesen Fehler gemacht – und von ihren Eltern neben einem tadelnden Blick den ersten langatmigen Vortrag darüber geerntet, dass die Frage von Liebe und Zuneigung bezüglich einer Vermählung in ihren Kreisen eine untergeordnete Rolle spielte – wenn überhaupt.

Sir Henry räusperte sich ein weiteres Mal. „Rosalyn, du kennst die Geschichte der Mandevilles, deiner Vorfahren, gut genug. Du weißt um die Ehre, die uns in dieser Welt zuteilgeworden ist. Seit Generationen haben wir den höchsten Rang des niederen Adels inne, führen den Titel eines Baronets mit Stolz! All den Frauen, die dir vorausgegangen sind, ist es gelungen, sich derart zu vermählen, dass sie sich mit dem Titel einer Lady schmücken durften. Es gibt für mich nichts Schöneres, als mir vorzustellen, dass meine einzige Tochter ihren Vorfahrinnen in dieser Hinsicht nacheifert. Lady Rosalyn Eleanor – ist das nicht Musik in deinen Ohren?“ Mit jedem Wort war seine Stimme lauter und leidenschaftlicher geworden. „Pardon – ich vergesse mich!“

Rosalyns Hals fühlte sich an, als hätte sie eine Staubwolke eingeatmet. Sie schluckte reflexartig, was das Gefühl der Trockenheit nur noch verstärkte. Eine wohlklingende Melodie waren seine Worte bei Weitem nicht – eher ein unheilvolles Grollen.

Sir Henrys Hände legten sich schwer auf ihre schmalen Schultern. Es kostete Rosalyn Kraft, seinem Blick weiter standzuhalten.

„Lass mich eine meiner Aussagen von gerade eben noch einmal revidieren, mein Täubchen: Mr Nobley könnte nicht nur dein Schicksal besiegeln. Er wird es auch!“ Der Griff um ihre Schultern wurde noch fester. „Er ist die beste Partie, die du dir wünschen kannst.“

„Aber ich –“

Die Art, wie ihr Vater das Kinn reckte, ließ sie augenblicklich verstummen. Der Druck seiner Finger auf ihren Schultern schmerzte sie. „Du wirst diesen Mann heiraten, Rosalyn! Ich dulde keine Widerworte.“ Sein Lächeln war verschwunden und mit ihm jegliche Freundlichkeit in seinem Blick. „Dieser Mann – oder keiner! Und so töricht wirst du wohl nicht sein!“

Rosalyn hörte seine Worte zwar, doch sie prallten mit einer solchen Wucht an ihrem Herzen ab, dass sie beinahe ins Taumeln geriet. Nein! Das Wort verwandelte sich in einen einzigen Schrei ihres Inneren. Nein, nein, nein!

Was war nur in ihren nachgiebigen Vater gefahren? Wie konnte sich das Blatt für sie mit einem Mal derart gewendet haben? Sollte sie sich wirklich so sehr in ihm getäuscht haben?

Verzweifelt versuchte Rosalyn, gegen den aufkommenden Schwindel anzukämpfen. Sie schluckte und wollte etwas sagen. Doch ein Blick in die Augen ihres Vaters ließ sie innerlich zittern.

Berechnung war das Einzige, was sie darin erkennen konnte.

Kapitel 3

Die Nobleys reisten mit einem Vierspänner an. Eine maßlose Übertreibung, fand Rosalyn, denn neben der Kutsche ritt Edward Nobley höchstpersönlich auf einem großen dunkelbraunen Pferd, sodass in dem Gefährt lediglich seine Eltern saßen.

Sie stand zwischen Richard und ihrer Mutter auf den Stufen vor dem Haupteingang und kämpfte immer noch gegen den Schwindel an.

Als der Vierspänner durch den Torbogen rollte, warf Lady Charlotte Mandeville einen letzten flüchtigen Blick in Richtung ihrer Tochter. Ihre Augen wanderten von Rosalyns Haaransatz bis zum Saum des Kleides und wieder zurück – dann nickte sie kaum merklich und drehte sich mit einem zufriedenen Lächeln um.

Rosalyns Hände ballten sich zu Fäusten. Wie sehr sie diesen Blick ihrer Mutter verabscheute! Als sei sie eine bloße Ware, deren Wert sich Lady Mandeville versichern wollte, bevor sie diese teuer anpreisen konnte. Sie blinzelte eine Träne weg. Sie konnte es sich nicht erlauben zu weinen.

Ihre Besucher hatten den Eingang nun fast erreicht. Rosalyn spürte eine sanfte Berührung an ihrem Handrücken. Demonstrativ drehte sie den Kopf noch etwas weiter von Richard weg. Seine liebevolle Geste machte sie nur noch wütender. Er hatte gewusst, dass ihr Vater sie vor vollendete Tatsachen stellen würde!

Die Kutsche und der Reiter hielten vor den Treppenstufen der breiten Eingangstür. Von den vergangenen Saisons in London hatte Rosalyn nur noch ein vages Bild von Edward Nobley vor Augen, denn ihre Wege hatten sich nicht allzu oft gekreuzt. Obwohl die Stadthäuser der Familien sich in überschaubarer Entfernung voneinander befanden, hatten sie bisher nicht denselben Kreis erlesener, wünschenswerter Kontakte geteilt.

Widerwillig musste Rosalyn sich eingestehen, dass die Gerüchte über den begehrtesten Junggesellen bezüglich seines Aussehens nicht übertrieben waren: Edward Nobley war von großer, schlanker Statur, unter seinem schwarzen Gehrock zeichnete sich ein breites Kreuz ab. Sein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer breiten Stirn wurde von kurzen dunkelbraunen Haaren umrahmt. Mit Leichtigkeit sprang er von seinem Pferd. Mit einem prüfenden Blick übergab er es Thomas, einem der Stallburschen. Er ließ den Blick über das Haus und den Innenhof schweifen, dann näherte er sich Rosalyn würdevoll.

„Miss Mandeville? Es ist mir eine Ehre, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“

Rosalyn knickste und hielt ihm gehorsam die Hand hin. Sanft führte Edward Nobley sie an seinen Mund und deutete einen Kuss an. Als er den Kopf hob, blieb sein Blick kurz unterhalb von Rosalyns Schultern hängen. Dann schaute er ihr wieder direkt in die Augen.

Rosalyn lächelte bemüht. „Herzlich willkommen auf Leighton Hall, Mr Nobley! Erstaunlich, dass Sie schon so viel über mich gehört haben, wo Sie doch erst seit wenigen Tagen in der Gegend sind.“ Ihr Lächeln verwandelte sich in einen herausfordernden Blick.

Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. „Nun, den besonders schönen Damen eilt ihr Ruf voraus.“

Er bot ihr seinen Arm an, und Rosalyn hakte sich bei ihm ein, schwieg jedoch. Ob er sie den gesamten Abend mit derartigen Phrasen bedenken würde, die er mit seinen achtundzwanzig Jahren sicherlich schon zur Genüge von sich gegeben hatte?

Besonders viel Mühe! – Dunkel hallten Sir Henrys Worte in ihr nach. Er würde keine Halbherzigkeit tolerieren. Wieder durchfuhr ein schmerzhafter Stich ihr Herz. Wieso um alles in der Welt hatte ihr Vater es nicht für nötig erachtet, sie im Voraus über seine Pläne zu informieren? Ob bereits eine Abmachung zwischen ihm und Sir George bestand?

Rosalyn schauderte, besann sich dann jedoch auf ihre Pflicht.

„Wie gut, dass ich mir um den Aspekt der Schönheit keine Gedanken machen muss“, sagte sie in überheblichem Tonfall. „Was haben Sie denn noch über mich gehört, Mr Nobley? Ich bin schrecklich neugierig, müssen Sie wissen, und natürlich sehr um die Wahrung meines Rufes bemüht.“ Sie hoffte, dass ihre Eltern sie nicht hörten, denn ihre Stimme troff vor Sarkasmus, den sie sich in einer Situation wie dieser einfach nicht verkneifen konnte.

„Ich nehme eine gewisse Diskrepanz zwischen Gesagtem und dem Tonfall sowie der begleitenden Mimik wahr.“ Edward Nobley klang belustigt. „Die unterschwellige Botschaft Ihrer Aussage lässt mich das Gegenteil annehmen, Miss Mandeville.“

„Dann stellen Sie gerade entweder Ihre gute Menschenkenntnis unter Beweis oder ich muss dringend an meinen Umgangsformen gegenüber einem Gast arbeiten.“

„Ich würde behaupten, dass Ersteres zutrifft – wenn Sie dies bescheidene Eigenlob erlauben. Ich bin viel gereist und habe bei meinen Aufenthalten in anderen Ländern die ganze Bandbreite menschlichen Verhaltens gesehen. Ich wage zu behaupten, dass dies einen aufmerksamen und offenen Geist prägt und schult.“

„Darin kann ich Ihnen wohl nicht widersprechen.“

„Was den zweiten Punkt anbelangt, obliegt es mir nicht, als soeben vorgestellter Gast eine Einschätzung Ihrer Fähig- und Fertigkeiten vorzunehmen.“ Er neigte den Kopf etwas zu ihr hinab. „Aber wenn ich meine bescheidene Meinung dazu äußern darf …“

Rosalyn wartete einen kurzen Moment, bevor sie nickte.

„Nun, dann kann ich bereits nach weniger als fünf Minuten in Ihrer Gesellschaft sagen, dass mir Ihre unverblümte und leicht zynische Art lieber ist als das Gesprächsallerlei, von dem eine derartige Zusammenkunft sonst geprägt ist.“

Zum ersten Mal an diesem Abend erschien ein zaghaftes, ehrliches Lächeln auf Rosalyns Gesicht. Vielleicht würde das Dinner trotz der Hiobsbotschaft ihres Vaters besser werden als gedacht.

Für eine ganze Weile verlief der Abend genau so, wie man es sich als exzellenter Gastgeber nur wünschen konnte. Die Dienstboten verrichteten ihre Arbeit so still und geschickt, dass man ihre Gegenwart kaum wahrnahm, und die Gespräche umkreisten die typischen Themen, welche genügend Raum für eigene Interpretationen ließen, gleichzeitig jedoch unverfänglichen Boden für das Kennenlernen einer neuen Bekanntschaft bedeuteten. Man unterhielt sich über die Ernten aus dem vergangenen Jahr, die vielversprechenden Erträge für das kommende Jahr, die Saisons in London und Bath, die Verluste und Siege im Kampf gegen Napoleon, kurz: über alles, was für den britischen Adel zu unterhaltsamer Konversation gehörte.

Sir Henry zeigte sich seinen Gästen gegenüber ganz als unbeschwerter und großzügiger Gastgeber. Während Rosalyn an Prinzesskartoffeln und zartem Braten knabberte, fragte sie sich ernsthaft, ob die Dramatik des Gesprächs in der Bibliothek bloß ihrer Einbildung entsprungen war.

„Nun, es war unmöglich, mit allen Kontakten persönlich ein Wort zu wechseln. Zweitausend geladene Gäste, eine überwältigend große Anzahl!“ Die Teilnahme der Nobleys am Bankett des Prinzregenten im vergangenen Monat unterstrich ihre einflussreiche gesellschaftliche Position – und durfte deshalb natürlich nicht unerwähnt bleiben.

„Das ist in der Tat eine große Zahl! Sagen Sie, mein lieber Sir George, ergab sich denn die Gelegenheit, die Pferde des Prinzregenten zu bewundern?“

Es überraschte Rosalyn nicht im Mindesten, dass ihr Vater versuchte, das Gespräch in diese Richtung zu lenken. Sicher würde es keine Minute dauern, bis Grand Noir das Thema der Unterhaltung wäre.

„Nein, mein Guter, die Besichtigung des royalen Stalles war uns nicht vergönnt.“ Bedauernd schüttelte Sir George den Kopf.

„Aber sind in Ihrem Stall nicht mindestens genauso erstklassige, wenn nicht noch edlere Pferde zu finden, Sir Henry?“ Enthusiastisch wandte Edward sich dem Gastgeber zu. „Sie selbst sind doch im Besitz eines der wertvollsten Pferde Englands, Sir! Eines Nachkommens des legendären Eclipse?“

„So ist es, so ist es!“ Zufrieden über die erfolgreiche Wendung des Gesprächs lehnte Sir Henry sich zurück. „Grand Noir stammt über die mütterliche Linie von Eclipse ab. Er hat mir einige schlaflose Nächte beschert, bevor er nach Leighton Hall gekommen ist. Es gab noch einen weiteren Interessenten, der Lord Hayward eine stattliche Summe angeboten hat.“

„Aber … Sie haben den Zuschlag erhalten?“, fragte Edward nach angemessener Berücksichtigung der Kunstpause.

„Jawohl.“ Sir Henrys Miene verzog sich zu einem stolzen Lächeln. „Der Vorteil alter Bekanntschaft.“

„Sie können sich äußerst glücklich schätzen, Sir!“ Edward neigte huldigend den Kopf. „Mir ist auch zu Ohren gekommen, dass es Ihre reizende Tochter sein soll, die das Tier hauptsächlich reitet?“ Er suchte Rosalyns Blick, und sein Lächeln nahm augenblicklich eine charmante Färbung an.

„Dies ist ebenfalls richtig. Grand Noir ist lebhaft – genau wie meine Tochter.“ Gefälliges Gelächter folgte. „Er ist ein etwas empfindliches Pferd, und als ich feststellte, dass er unter der feinfühligen Hand einer Frau umgänglich und leistungsstark agierte, ließ ich mich auf das Experiment ein. Mein Wagemut wurde belohnt – ich habe bisher kein anderes Pferd gesehen, das in der Lage gewesen wäre, Grand Noir ausdauernd zu verfolgen. Sein Renngalopp verleiht ihm nahezu Flügel!“

Während Rosalyn sah, wie Edwards Augen vor Bewunderung aufleuchteten, ertönte links von ihr ein schriller Aufschrei.

„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, mein Guter, oder etwa doch?“ Hektisch wedelte Lady Nobleys kleiner Handfächer vor ihrem Gesicht herum. „Ich dachte, diese Erzählungen seien nichts als Gerüchte, aber … Nein, mein lieber Sir Henry! Ihre Tochter ist von solch zarter Statur!“ Die Lady schien außerordentlich beunruhigt.

Bevor Sir Henry die Wogen des entrüsteten Gefühlsausbruchs glätten konnte, schritt seine Gattin ein. „Glauben Sie mir, Verehrteste, ich konnte nie mein volles Einverständnis zu dieser Abmachung geben.“ Lady Mandeville seufzte laut und leidend. „Sicher handelt es sich nur um eine jugendliche Posse, der unsere Rosalyn bald entwachsen sein wird. Bis jetzt hat der Herrgott ein gnädiges Auge auf sie gehabt.“

Rosalyn bemühte sich um ein gelassenes Lächeln. In ihrem Inneren tobte es jedoch.

„Ich bin der Überzeugung, dass es nicht nur die Gnade vom Herrgott ist, sondern auch Miss Mandevilles Talent, mit Pferden umzugehen, welches es ihr ermöglicht, ein Pferd wie Grand Noir zu reiten“, sprang ihr unvermutet Edward zur Seite. „Ihre Reitkünste müssen über die Maße herausragend sein, sonst hätten Sie ihr den Hengst wohl nicht anvertraut, Sir.“

Erstaunt blickte Rosalyn über den Tisch hinweg in Edwards braune Augen, die direkt auf sie gerichtet waren.

„Sie haben es durchschaut, Mr Nobley.“ Sir Henry nickte ihm gönnerhaft zu.

Nun meldete sich auch Richard zu Wort. „Abgesehen davon kann ich Ihnen versichern, meine Herrschaften, dass meine Schwester die Kunst des Reitens in der Tat besser als so mancher Gentleman beherrscht.“ Er warf ein galantes Lächeln in die Runde, welches Sir George und seine Gattin höflich erwiderten.

Rosalyns Wut verlor augenblicklich etwas von ihrer Intensität.

„Eine derartige Begabung einer Frau wird immer meine Bewunderung für sie wecken!“ Edward hob sein Glas in Rosalyns Richtung und nickte ihr anerkennend zu. „Sagen Sie, Miss Mandeville: Denken Sie, dass Grand Noirs Gemüt mit zunehmendem Alter und Erfahrung noch umgänglicher werden wird?“

„Das wird allein die Zeit zeigen, Mr Nobley. Sicherlich wird sich seine Nervosität mit jeder Erfahrung weiter legen, doch was seinen Charakter anbelangt, so bin ich überzeugt, dass er zeit seines Lebens ein sensibles Pferd bleiben wird, welches die Hand eines vertrauenswürdigen Reiters braucht.“

Für einen flüchtigen Augenblick verhärteten sich Edwards Kiefermuskeln. Doch dann eroberte das charmante Lächeln sein Gesicht zurück, und er erhob erneut das Glas. „Auf Ihr Urteil, Miss Mandeville!“

Nach dem Dinner begab sich die kleine Gesellschaft direkt in den Großen Salon. Während die ältere Generation sich mit Richard an einem der runden Tische niederließ, um eine Partie Whist zu spielen, fand Rosalyn sich mit Edward auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes beim Flügel ein. Glücklicherweise kam niemand auf die Idee, sie um eine Darbietung ihrer musikalischen Fähigkeiten zu bitten – die längst nicht so ausgefeilt waren wie ihre Reitbegabung.

„Ich nehme an, dass Sie gerne und viel lesen, Miss Mandeville?“

Schnell wandte Rosalyn den Blick zum Flügel, um ihre Belustigung zu verbergen. Wie passend, dass Edward das Thema ansprach! „O ja! Lesen vereint willkommene Abwechslung und informative Bildung zugleich, meinen Sie nicht?“

„Das kommt wohl auf die jeweilige Lektüre an, aber insgesamt muss ich Ihnen wohl beipflichten.“

„Das heißt, Sie unterscheiden zwischen solcher Lektüre, die dem reinen Zeitvertreib dient, und der, die allein die eigene Weiterbildung zum Ziel hat?“

„So kann man es sagen, ja.“

„Mr Nobley, ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ihrer Frage eine bestimmte These zugrunde liegt.“ Rosalyn neigte den Kopf etwas zur Seite. „Haben Sie angenommen, dass ich gerne und viel lese, weil ich schlicht und ergreifend das passende Alter und Geschlecht für diese Art von Zeitvertreib habe?“

Sein Lächeln verlor etwas von seinem Strahlen. „Sie haben mich durchschaut.“ Er hob kapitulierend die Hände in die Höhe und deutete eine Verneigung an.

Rosalyn bedachte ihn mit einem kurzen Lächeln, dann verschränkte sie die Arme hinter dem Rücken und ging langsam zum Fenster. „Lesen Sie gerne Romane?“

„Wusste ich’s doch!“ In Edwards Stimme schwang Triumph mit. „Einige, ja. Allerdings kann ich Büchern, die sich zu sehr auf die Darstellung wachsender Zuneigung zwischen den Protagonisten konzentrieren, wenig abgewinnen.“

„Was ist mit der pointierten Analyse unserer Gesellschaft, die diese Werke zum Teil beinhalten?“

Edward zuckte die Schultern. „Solange die Leserin sich von diesen nicht völlig vereinnahmen lässt, warum nicht?“ Er trat neben sie und sah ihr direkt in die Augen. „Insgesamt sollte das Eintauchen in fiktive Welten jedoch nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen, dass die Leserin sich darin völlig verliert und sich die Beschaffenheiten dieser Welten derart zu Herzen nimmt, dass sie deren Umsetzung in der Realität erwartet.“

Schwach lächelnd nickte Rosalyn. Er spielte auf genau die Wahrheit an, die sie so gerne ignorieren wollte: dass eine Heirat in ihren Kreisen nicht die Liebe als Grundlage brauchte. Sie unterdrückte ein Stöhnen. Wenn sie doch nur herausfinden könnte, warum ihr Vater ausgerechnet jetzt so vehement auf ihrer Vermählung beharrte!

„Er war …“ Mit geistesabwesendem Gesichtsausdruck starrte Rosalyn in das kleine Feuer im Kamin, dessen niedrige Flammen kaum noch über die Holzscheite hinaus aufflackerten. „Er war … äußerst höflich.“

„Das hoffe ich doch“, grummelte Maggie, die damit beschäftigt war, das blaue Seidenkleid auszuschütteln. Dann näherte sie sich dem Frisiertisch. „Und sonst?“

„Er war … zuvorkommend. Glaube ich …“

Maggies Stirn legte sich in Falten. „Glaubst du?“

„Ich … ich weiß nicht recht, was ich von ihm halten soll.“

„Hm.“ Maggie begann, die ersten Nadeln aus Rosalyns Haar zu ziehen.

„Ich habe das Gefühl, ihn nicht greifen zu können. Ich weiß nicht, woran ich bei ihm bin.“

„Das ist nach dem ersten Kennenlernen vielleicht auch etwas zu viel verlangt, meinst du nicht?“ Sanft fuhr Maggie über eine lose Locke. „Ich gehe davon aus, dass Mylord für ausreichend Gelegenheiten sorgen wird, bei denen du Mr Nobley besser kennenlernen kannst.“

„Ja, das wird er.“ Rosalyns Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Die ernste Ansprache ihres Vaters kam ihr weit weg vor. Hatte er sie wirklich erst vor wenigen Stunden darüber in Kenntnis gesetzt, dass er ihren zukünftigen Ehemann ausgesucht hatte und nun absoluten Gehorsam erwartete? Das Ende der Tage, in denen sie ihren Willen bekommen hatte und mit Geschenken überhäuft worden war, hatte sie ereilt, ohne dass sie es hatte kommen sehen.

Edwards Umgang mit ihr war erfrischender gewesen, als sie es aus ihren vorherigen Begegnungen mit potenziellen Ehemännern gewohnt war: charmant, gelassen, humorvoll – aber auch ehrlich?

Die Frage hallte wie ein nie enden wollendes Echo in ihr nach: War er ehrlich gewesen? War er wirklich das, was er vorgegeben hatte zu sein?

Es schüttelte sie innerlich, als sie daran dachte, dass ihre Eltern damit rechneten, Edward und sie würden noch diesen Sommer ihre Verlobung bekanntgeben. Von diesem Schritt fühlte sie sich so weit entfernt, wie England und der australische Kontinent es voneinander waren. Egal, was Sir Henry diesbezüglich von ihr verlangte und erwartete – er würde ihr hoffentlich genügend Zeit einräumen, sich an den Gedanken einer Vermählung zu gewöhnen. Und vielleicht konnte sie ihren Hals in dieser Phase doch noch irgendwie aus der Schlinge ziehen.

„Maggie?“

„Ja, Liebes?“ Die Gouvernante hielt mitten in der Bewegung inne und blickte Rosalyn im Spiegel an.

„Ich will einfach noch nicht heiraten! Ich weiß, dass ich das irgendwann tun muss, irgendwann ja, aber … nicht so bald! Und vor allen Dingen niemanden, der für mich ausgesucht wurde.“

Maggie schwieg, wich aber Rosalyns Blick nicht aus.

„Es wird sich so viel verändern! Ich will Leighton Hall nicht verlassen! Wenn ich daran denke, einen Hausstand führen zu sollen, wird mir ganz schwindelig. Empfänge planen, Gäste zum Tee und Dinner empfangen … das kann doch nicht alles sein! Oder doch?“ Rosalyn drehte sich um und schaute verzweifelt zu Maggie hoch. „Das kommt mir so … so nichtssagend vor! Und mal ganz abgesehen davon … du wirst auch nicht mehr an meiner Seite sein.“

„Aber Rosalyn …“ Maggie legte die Nadel in ihrer Hand in die kleine Porzellanschale auf der Ablage. Dann kniete sie sich vor Rosalyn hin und nahm deren Hände in ihre. „Ich kann doch nicht ewig an deiner Seite bleiben. Es war sehr gnädig von deinem Vater, mich bis jetzt hierzubehalten.“

„Aber … du warst doch gerne hier, oder?“

„Sicher war ich das!“ Maggie nickte. „Es war … ein Geschenk, dich aufwachsen zu sehen und ausbilden zu dürfen. Aber nun bist du wirklich eine Dame, kein kleines Mädchen mehr. Vergiss nicht, dass andere junge Damen sich bereits mit fünfzehn oder sechzehn Jahren von ihren Gouvernanten verabschieden müssen.“

„Ich weiß“, murmelte Rosalyn. Ihr Herz fühlte sich unendlich schwer an. Als sie in das von leichten Falten durchzogene Gesicht der Frau vor sich blickte, wurde ihr schmerzlich bewusst, welch entscheidende Rolle Maggie in ihrem Leben spielte.

Margaret Taylor war nach Leighton Hall bestellt worden, als Richard gerade vier Jahre alt geworden war. Drei Monate später hatte Rosalyn das Licht der Welt erblickt, und auch wenn sie zunächst von einer Amme aufgezogen worden war, war Maggie spätestens seit Rosalyns drittem Lebensjahr zu einem fest mit ihrem Leben verwobenen Bestandteil geworden. Maggie hatte sie erzogen, sie in den unterschiedlichsten Disziplinen unterrichtet, sie mit der adligen Etikette vertraut gemacht und dennoch immer wieder Freiräume geschaffen, in denen Rosalyn ein verspieltes, wildes Mädchen hatte sein dürfen. In den letzten Jahren hatte Maggies Rolle der Gouvernante sich zu der einer Gesellschafterin und Zofe gewandelt. Nur Maggie gegenüber konnte Rosalyn ganz ehrlich sein, was ihre Wahrnehmung und Beurteilung der unterschiedlichsten Situationen und Ereignisse betraf, die ihre kleine Welt auf Leighton Hall bereithielt. Maggie war die einzige Person, in deren Gegenwart Rosalyn das Gefühl hatte, sich nicht hinter der Maske adliger Konversationsetikette verstecken zu müssen.

„Du brauchst mich nicht mehr.“ Sanft drückte Maggie Rosalyns Hände und stand auf. „Es ist Zeit für dich, deinen eigenen Weg zu gehen.“

Als sich ein Schleier über Maggies Augen legte, wallte Panik in Rosalyn auf. „Was soll das heißen? Maggie – verabschiedest du dich gerade von mir?“

„Du liebe Zeit, Rosalyn! Wo denkst du hin?“ Doch Maggies gekünsteltes Lachen beruhigte Rosalyn nicht im Mindesten. Im Spiegel verfolgte sie jede Bewegung ihrer Gouvernante, als diese sich wieder daranmachte, die restlichen Haarnadeln zu lösen.

„So – ich denke, ich habe nun auch die letzte gefunden.“ Triumphierend hielt Maggie eine Nadel hoch und konnte Rosalyn zumindest ein schwaches Lächeln entlocken. Maggie erwiderte dieses, dann jedoch wandte sie schnell den Blick ab. Liebevoll strich sie über Rosalyns Schultern.

Abrupt drehte Rosalyn sich wieder um. So viel unverhohlene Herzlichkeit zeigte ihre Begleiterin selten. „Maggie, ist alles in Ordnung? Ich meine … geht es dir gut?“

„Sicher!“ Maggie holte tief Luft und fuhr mit dem Handrücken über Rosalyns Wange. „Natürlich ist alles in Ordnung. Du bist ein wenig überspannt. Nun leg dich schlafen. Und lies nicht mehr so viel!“

„Nein, keine Sorge. Ich werde nicht lesen.“ Seufzend stand Rosalyn auf und ließ sich wenig damenhaft auf ihr Bett fallen. „Dafür geht mir viel zu viel durch den Kopf. Obwohl ich gerade an einer sehr spannenden Stelle von Verstand und Gefühl bin.“ Sie schielte zu dem Buch auf ihrem Nachttisch. „In dieser Hinsicht werden Mr Nobley und ich wohl nicht auf einen Nenner kommen.“ Dann griff ihre Hand doch nach dem Buch. „Findest du es nicht aufregend, Maggie, dass es sich bei diesem Roman ebenfalls um ein Werk handelt, das von einer Frau verfasst wurde? Und dass keiner wirklich weiß, wer sie ist?“

„Du verlierst dich schon wieder in Schwärmereien, Rosalyn.“ Maggies Stimme klang bemüht tadelnd, aber in ihrem Gesicht las Rosalyn Gutmütigkeit. „Du solltest jetzt wirklich schlafen. Sonst kommt dein Geist gar nicht mehr zur Ruhe. Gute Nacht, du kleiner Wildfang.“

Mit einem Lächeln auf den Lippen schmiegte sich Rosalyn in ihre Decke. Es war lange her, dass Maggie ihren Kosenamen aus Kindheitstagen gebraucht hatte. Für einen Moment träumte sie sich in die Zeit zurück, in der sie das kleine Mädchen gewesen war, das frei und wild über die Wiesen und Felder von Leighton Hall getobt war.

„Gute Nacht, Maggie.“

Kapitel 4

Das Geräusch von schwerem, über den Boden schleifenden Stoff weckte Rosalyn am nächsten Morgen. Sie rekelte sich, bevor sie sich verschlafen aufrichtete. Das müde genuschelte „Guten Morgen“, mit dem sie Maggie meistens begrüßte, blieb ihr jedoch im Hals stecken, als sie feststellte, dass es gar nicht Maggie war, die sich an den dunkelgrauen Vorhängen zu schaffen machte. Es war Sarah, die Zofe ihrer Mutter!

Mit einem Mal war Rosalyns Müdigkeit verflogen. „Sarah? Was machst du hier?“

„Guten Morgen, Miss Rosalyn.“ Die Zofe knickste und näherte sich dem Bett. In ihren Augen flackerte Unsicherheit auf.

„Wo ist Miss Taylor?“

„Ihre Mutter wünscht Sie zu sprechen, Miss. Sie erwartet Sie im Kleinen Salon.“

„Ja, ja, aber … wo ist Miss Taylor?“ Mit einer heftigen Bewegung schlug Rosalyn die Decke zurück. Ihr Herz pochte plötzlich doppelt so schnell wie zuvor.

„Das … das wird Ihnen Ihre Mutter sagen, Miss Rosalyn.“ Sarah fühlte sich sichtlich unwohl. Sie vermied den Blick in Rosalyns Augen und lief zwischen Bett und Frisiertisch hin und her, ohne dabei eine erkennbare Aufgabe zu verrichten. „Ich soll Ihnen beim Ankleiden helfen.“

Fast schon schmerzhaft schlug Rosalyns Herz in ihrer Brust. Was war geschehen? War Maggie krank? Oder noch schlimmer …

Das flaue Gefühl vom gestrigen Abend kehrte mit voller Wucht zurück. In Windeseile schlüpfte Rosalyn mithilfe von Sarah in ein einfaches zartgrünes Tageskleid und band ihr Haar nur mit einem Satinband zurück. Noch während sie die Füße in die dünnen Stoff-Hausschuhe steckte, stolperte sie bereits aus dem Zimmer.

„Sie sollen doch nicht rennen, Miss!“

Sarahs Ruf verhallte ungehört. So schnell die offenen Schuhe es erlaubten, lief Rosalyn durch den langen Flur des ersten Stockwerks und die Treppe hinunter. Unten angekommen, bog sie scharf nach rechts ab und drückte, ohne sich vorher durch ein Klopfen anzukündigen, die Klinke zum Kleinen Salon herunter.

„Mutter! Was ist mit Maggie?“

„Grundgütiger, Rosalyn!“ Lady Mandeville blickte ihrer Tochter mit konsterniertem Gesichtsausdruck entgegen. „Schnelles Laufen ziemt sich nicht für eine junge Dame. Schließlich bist du kein Kind mehr!“

„Mutter, bitte!“ Rosalyn sah sie flehend an. Die Hände vor dem Oberkörper krampfhaft ineinander verschränkt, ging sie auf Lady Mandeville zu. „Bitte sag mir, was mit Maggie ist! Ist sie etwa …“ Rosalyn stockte. Die Worte auszusprechen, vor denen ihr Herz zitterte, schaffte sie nicht.

„Nein, um Himmels willen, Miss Taylor ist nicht tot.“ Ihre Mutter schüttelte fassungslos den Kopf, als sei diese Möglichkeit eine der absurdesten Ideen, die Rosalyn je gehabt hatte.

„Puh.“ Rosalyn atmete erleichtert aus. Doch dann legte sich ihre Stirn wieder in Falten. Besorgt sah sie ihre Mutter an. „Was ist es dann?“

Kaum merklich verengten sich Lady Mandevilles Augen. Doch schnell entspannte sich ihr Gesichtsausdruck wieder, und mit einer Selbstverständlichkeit, als ginge sie mit der Haushälterin Mrs Collins das Menü für das nächste große Dinner durch, antwortete sie: „Miss Taylor hat Leighton Hall heute in der Frühe verlassen.“

Das laute Zwitschern der Vögel war das Einzige, was Rosalyn in diesem Moment hörte. Und es passte kein bisschen zu dem Sturm, der sich in ihrem Inneren zusammenbraute. Unheilvoll hallten die Worte ihrer Mutter in ihr wider.

„Sie hat … was?“ Krächzend stolperte die Frage über Rosalyns Lippen.

„Sie hat Leighton Hall verlassen.“ Lady Mandeville schritt auf sie zu und legte ihre zarten Hände auf die Schultern ihrer Tochter. Ihre graublauen Augen blickten Rosalyn um Verständnis bittend an.

„Aber wieso?“ Rosalyn hörte zwar, wie sie die Frage stellte, doch es kam ihr vor, als sei ihre Stimme meilenweit entfernt. Ihr Herz pochte mit solch einem Druck, dass ihre Schläfen zu schmerzen begannen.

„Du bist zu alt für eine Gouvernante, Rosalyn!“ Lady Mandeville nahm die Hände wieder herunter und entfernte sich einige Schritte. Während sie aus einem der drei großen Fenster schaute, tastete sie mit einer Hand vorsichtig ihre sorgsam gewickelten und hochgesteckten blonden Locken ab. Im Gegensatz zu den Haaren ihrer Tochter waren Lady Mandevilles Haare glatt und bedurften intensiver Bearbeitung, wenn sie so kunstvoll hochgesteckt werden sollten, wie es der aktuellen Mode entsprach. „Und du brauchst auch keine Gesellschafterin mehr. Es war höchste Zeit, dass Miss Taylor weiterzieht.“

„Aber …“ Vergeblich versuchte Rosalyn, die tatsächliche Bedeutung der Nachricht zu erfassen. Es gelang ihr nicht. Leighton Hall ohne Maggie! Das konnte nicht, durfte nicht sein! „Aber warum habt ihr mir nichts gesagt? Wieso musste sie so plötzlich gehen? Ohne Verabschiedung?“ Sie spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten, und dieses Mal machte sie sich nicht die Mühe, sie zurückzuhalten. „Maggie war so lange bei uns! Ich hätte mich gerne von ihr verabschiedet. Ich verstehe nicht, wieso –“

„Es reicht, Rosalyn!“ Sir Henrys schneidende Stimme hallte von den Wänden wider.

Durch den Tränenschleier hindurch erblickte Rosalyn ihren Vater, der den Salon durch die Tür zum Musikzimmer betreten haben musste.

„Ich dulde derartige Gefühlsausbrüche nicht! Von einer fast zwanzigjährigen Dame erwarte ich ein anderes Verhalten!“ Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, näherte er sich ihr. „Wenn ich deine Reaktion so sehe, wird mir klar, dass es umso nötiger war, dich und Miss Taylor zu trennen. Du hast dich viel zu sehr an ihre Gegenwart gewöhnt. Rosalyn, du kannst nicht ewig in deinem Kokon aus jugendlicher Leichtigkeit bleiben!“

Der Kloß in ihrem Hals schwoll zu erstickender Größe an. Mühevoll würgte Rosalyn eine Erwiderung herunter. Zu schweigen war in diesem Moment klüger als jeder Versuch, sich zu erklären. Die Härte im Auftreten ihres Vaters war ihr unbegreiflich.

Lady Mandeville eilte mit federnden Schritten an ihre Seite. „Ach Kind!“ Mit einem Spitzentaschentuch tupfte sie die Spuren der aufgelösten Gefühle ihrer Tochter weg. „Für dich brechen nun andere Zeiten an.“ Sie lächelte aufmunternd.

„Ich erwarte, dass du an deiner Contenance arbeitest, Rosalyn.“ Sir Henry hatte ihr den Rücken gekehrt und steuerte die Tür des Salons an. Die Hand an der Klinke, drehte er sich noch einmal um. „Du solltest ihr das neue Mädchen vorstellen, meine Liebe. Vielleicht hebt das ihr Gemüt.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum.

„Aber natürlich!“ Mit einem bewusst unbekümmerten Tonfall klatschte Lady Mandeville leicht in die Hände. „Das neue Kammermädchen! Sie wird dir für die Morgentoilette und wann immer du sie sonst brauchst zur Verfügung stehen. Wir werden sehen, ob sie die Qualitäten einer richtigen Zofe besitzt. Ist das nicht aufregend? Dein eigenes Kammermädchen!“

Rosalyn starrte ihre Mutter an und fragte sich, ob diese allen Ernstes von ihr erwartete, dass sie ihr in überschwänglicher Freude um den Hals fallen würde. Sie wollte Maggie zurückhaben – und nicht irgendein dahergelaufenes Kammermädchen!

Die Reaktion war ihrer Mutter nicht entgangen. „Rosalyn, bitte wahre deine Fassung“, mahnte sie verärgert. „Ich werde Sarah Bescheid geben, dass sie das Mädchen herbringt. Dann kann sie gleich mit ihrem Dienst beginnen.“