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von Alfred Bekker & Pete Hackett Der Umfang dieses Buchs entspricht 1000 Taschenbuchseiten. Dieses Buch enthält folgende Romane: Alfred Bekker: Katagi Alfred Bekker: Axtkrieger - Der Namenlose Pete Hackett: Godwin - Freund der Götter (Gesamtausgabe 1-12) Alfred Bekker: Die Drachenreiter von Dharioona Lange diente ich den Kaisern von Drakor als Berater und Zauberer. Das Blut von Magiern und Dracheniern fließt in meinen Adern, und als ich das Licht der Welt erblickte, war die Balance zwischen den Fünf Reichen im Gleichgewicht, und Drachenia wurde von gerechten Kaisern regiert. Der unstillbare Durst nach Wissen erfüllte mich, aber nie die Gier nach Macht, auch wenn die Gnade des Unsichtbaren Gottes mir letztere obendrein gab – und wieder nahm, als ich sie am dringendsten gebraucht hätte.
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Seitenzahl: 1349
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Das Extra Romanpaket der Heroic Fantasy Februar 2024
Copyright
Katagi
AXTKRIEGER – Der Namenlose
Erstes Buch: KRYLL
1. DIE GESANDTEN
2. EIN KÖNIG OHNE MACHT
3. EIN FREMDER OHNE NAMEN
Zweites Buch: DER RING VON KULDAN
1. DIE PROPHEZEIUNG
2. DAS MONSTRUM AUS DER TIEFE
3. DIE ZITADELLE DES RINGES
4. DIE RINGWÄCHTER
Drittes Buch: DER SPIEGEL VON UZ
1. DIE GLÄSERNEN DÄMONEN
2. DER KAMPF UM DEN SPIEGEL
3. DIE EISMENSCHEN
4. GEFANGEN IN DER EISFESTUNG
5. DER KATZENGESICHTIGE MAGIER
6. AUF DEN SCHWINGEN DES WEISSEN VOGELS
Viertes Buch: DAS HEER DER SCHATTEN
1. EINE VERSAMMLUNG IN WALLANA
2. DAS TOR DER FINSTERNIS
3. DER LÄRM VIELER SCHLACHTEN
Fünftes Buch: SHYRKONDAR
1. DIE ARMEE DER TOTEN
2. IM NEBEL DER ILLUSIONEN
3. DER ZWERG THAURIACH
4. DER KAMPF MIT DEM WEISSEN VOGEL
Sechstes Buch: DER NAMENLOSE UND DER STEUERMANN
1. DIE FAHRT ÜBER DAS SCHATTENAUGE
2. DAS DORF DER SCHATTEN
3. VERBLASSENDE SCHATTEN
Godwin – Freund der Götter (Gesamtausgabe)
Godwins Traum vom Bund des Friedens – Teil 1
1
2
3
4
5
Godwins Pakt mit den Göttern – Teil 2
1
2
3
4
5
Godwin und die Diener des Bösen – Teil 3
1
2
3
4
5
Godwin bei den Ansibarii – Teil 4
1
2
3
4
Godwin und der unversöhnliche Fürst – Teil 5
1
2
3
4
Godwin und Richwin, der Wolf – Teil 6
1
2
3
4
Godwin und der Bund der Stämme – Teil 7
1
2
3
4
Godwin und die große Schlacht – Teil 8
1
2
3
Heimkehr unter schlechtem Stern – Teil 9
1
2
3
Die Flucht zu den Ansibarii – Teil 10
1
2
3
4
Godwin – verraten und verkauft – Teil 11
2
3
4
5
Der Wolf und die Schakale – Teil 12
1
2
3
4
Die Drachenreiter von Dharioona
von Alfred Bekker & Pete Hackett
Der Umfang dieses Buchs entspricht 1000 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende Romane:
Alfred Bekker: Katagi
Alfred Bekker: Axtkrieger - Der Namenlose
Pete Hackett: Godwin - Freund der Götter (Gesamtausgabe 1-12)
Alfred Bekker: Die Drachenreiter von Dharioona
Lange diente ich den Kaisern von Drakor als Berater und Zauberer. Das Blut von Magiern und Dracheniern fließt in meinen Adern, und als ich das Licht der Welt erblickte, war die Balance zwischen den Fünf Reichen im Gleichgewicht, und Drachenia wurde von gerechten Kaisern regiert.
Der unstillbare Durst nach Wissen erfüllte mich, aber nie die Gier nach Macht, auch wenn die Gnade des Unsichtbaren Gottes mir letztere obendrein gab – und wieder nahm, als ich sie am dringendsten gebraucht hätte.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2024 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Drachenfluch – Drachenring – Drachenthron: Die DrachenErde-Saga von Alfred Bekker
© 2012 der Digitalausgabe AlfredBekker/CassiopeiaPress
Ein CassiopeiaPress E-Book
www.AlfredBekker.de
Alle Titel der Serie in 6 E-Books:
Rajin (Drachenfluch, Erstes Buch)
Katagi (Drachenfluch, Zweites Buch)
Prinz Rajin, der Verdammte (Drachenring, Erstes Buch)
Yuum und die Macht des dritten Drachenrings (Drachenring, Zweites Buch)
Schatten der Vergangenheit (Drachenthron, Erstes Buch)
Schatten des Schicksals (Drachenthron, Zweites Buch)
***
Und als die Kriegsdrachen über Winterborg kamen, wurde der Ort zu einer Totenstätte, und die Eismöwen dort hielten ihr letztes, grausiges Festmahl, während ihr Gekreische in der Bucht widerhallte.
Da aber stieg Ogjyr vom Augenmond herab. Der Schlafbringer wandelte über das Leichenfeld und suchte nach einer Seele, mit der er handeln konnte. Eine Seele, die bereit war, sich ihm zu überantworten. Eine Seele, deren Hass groß genug war, um einem zweiten, untoten Leben Kraft zu geben.
Und siehe da: Er fand sie.
So sprach der Gott Ogjyr: „Sammle die Asche deines kurzen Lebens, Wulfgarskint Wulfgarssohn. Hassbringer sollst du von nun an heißen, und als Geschöpf der Finsternis wirst du alle verfolgen, die dir Unrecht taten. Danach aber gehört deine Seele mir allein!“
Das Buch des Usurpators
Lange diente ich den Kaisern von Drakor als Berater und Zauberer. Das Blut von Magiern und Dracheniern fließt in meinen Adern, und als ich das Licht der Welt erblickte, war die Balance zwischen den Fünf Reichen im Gleichgewicht, und Drachenia wurde von gerechten Kaisern regiert.
Der unstillbare Durst nach Wissen erfüllte mich, aber nie die Gier nach Macht, auch wenn die Gnade des Unsichtbaren Gottes mir letztere obendrein gab – und wieder nahm, als ich sie am dringendsten gebraucht hätte.
Am Hof des Kaisers erwarb ich mir den Beinamen Weiser, da ich dem Herrscher in vielen Angelegenheiten zu helfen vermochte. Mein eigentlicher Name – Liisho – bedeutet im Dialekt des Ostmeerlandes »Die Augen, die sehen«, und er sollte für mein künftiges Schicksal bestimmend werden.
So vieles haben meine Augen gesehen. Die Geburt und den Tod so vieler Kaiser. Ihre Namen haben sich in mein Gedächtnis eingeschrieben. Ich wurde alt, und die Spanne eines gewöhnlichen Lebens hatte ich lange überschritten. Die Kraft so mancher Zaubertränke hatte es wohl verlängert und mir die nötige Kraft gegeben, um den süßen Verlockungen des Todes zu widerstehen. Zu vieles gab es noch zu tun, zu vieles noch zu erfahren und zu sehen.
Doch in jener Nacht, von der ich berichten will, neigte sich mein Leben scheinbar unwiderruflich dem Ende entgegen. Ich schlief ein, nachdem eine ungewöhnlich bleierne Müdigkeit über mich gekommen war und ich bereits ahnte, dass ich vielleicht nicht mehr erwachen würde. Die Augen, die sehen, schlossen sich, und im Traum erschien mir eine Gestalt in dunkler Kutte. Das Gesicht, das unter der Kapuze hervorleuchtete, glich dem Augenmond. Es war ein sandfarben leuchtendes Oval mit zwei unterschiedlich großen, schwarzen Augen darin.
„Wer bist du?“, fragte ich im Traum.
Die Gestalt deutete mit dürren Fingern auf die zweischneidige Axt, auf deren Stil sie sich stützte, und fragte: „Erkennst du mich denn nicht, Liisho, da man dich doch den Weisen nennt?“ Ein schauderhaftes Gelächter folgte. „Ah, ich habe so viele Namen, dass ich nicht weiß, welchen davon ich dir empfehlen soll. Der Herr des Augenmondes werde ich genannt, Ogjyr heißt man mich im Seereich, und unter dem Namen Axtmann erschreckt man mit Geschichten über mich die Kinder der Tajimäer und der Feuerheimer. Aber ich heiße auch Traumhenker, Schlafbringer und Todverkünder - und seit man in Drachenia den Glauben an den Unsichtbareren Gott zur Staatsreligion gemacht hat, bin ich dort der Namenlose geworden. Der, den angeblich der neue Gott vernichtete und dessen Existenz doch niemand leugnen kann, der Augen hat, die zum Himmel sehen können. - Suche dir einen Namen aus, Liisho!“
„So nenne ich dich Traumhenker, weil du mich im Traum überfällst. Warum bist du gekommen?“
„Ahnst du es nicht?“
„Um meine Seele zu holen, auf dass du deinen Schabernack mit ihr treiben kannst?“
„Ich bekomme die Seelen nicht. Ich trenne sie nur. Niemand will bei mir bleiben. Die Seelen der Sterblichen meiden mein Reich, wie es in Kinderversen besungen wird, und ich meide inzwischen auch sie, denn sie sind mir zuwider geworden. Nur hin und wieder schlage ich einem Verdammten einen Handel vor …“
„Warum nennst du mich einen Verdammten?“
„Weil du es von nun an sein wirst. Von diesem Augenblick an, da ich dir etwas anbiete, was kaum ein Sterblicher auszuschlagen vermag. Und schon gar nicht einer wie du, der den Namen Die-Augen-die-sehen trägt und dessen Augen noch längst nicht genug gesehen haben …“ Er trat näher. „Ich gebe dir Lebenskraft für ein ganzes Zeitalter, wenn deine Seele anschließend mir gehört und mir die einsamen Stunden auf dem Augenmond vertreibt!“
Mir schauderte, zumal mir bewusst war, dass er sein Angebot wirklich ernst meinte. Ich willigte ein, und am nächsten Tag erwachte ich mit neuer Kraft und einem eisernen Ring um das linke Fußgelenk, wie Gefangene sie tragen. Ich wandte mich an den kaiserlichen Schmied Lanjin, der es trotz Anwendung seiner ganzen Kunst nicht vermochte, mich von diesem Ring zu befreien, es sei denn, er hätte mir den Fuß abgeschlagen. Das Metall und seine Verarbeitungsweise waren ihm vollkommen unbekannt, und er war sich sicher, dass es sich auch nicht um eine jener besonderen Legierungen handelte, deren Geheimnisse die Schmiede Feuerheims seit ewigen Zeiten für sich bewahren. Ebenso rätselhaft waren die in das Metall gravierten Zeichen. Schriftzeichen, die weder der in Drachenia gebräuchlichen Schrift noch den Runen der Seemannen oder den Alphabeten von Magus, Feuerheim oder Tajima ähnelten. Eine Schrift der Vergangenheit, so dachte ich, die wahrscheinlich Zauberkraft besitzt – aber selbst in Ezkor, wo die Priesterschaft des Unsichtbaren Gottes die mit Abstand größte Bibliothek des Drachenlandes unterhält, wurde ich nicht fündig.
So war es wohl mein Schicksal, ein Gefangener des Traumhenkers zu sein.
Sein Wort hielt er.
Meine Lebensspanne hat jedes menschliche Maß überschritten, und selbst die Angehörigen des Magier-Volkes, deren Blut ja auch in meinen Adern fließt, können sich nicht über so lange Zeit am Leben erhalten, auch bei all ihren Elixieren und Zaubertränken nicht!
Aber ich weiß, dass irgendwann, wenn die Augen, die sehen, alles gesehen haben, der Traumhenker seinen Preis einfordern wird. Der Ring an meinem Fußgelenk erinnert mich jeden Tag daran – ebenso wie jeder Blick zum Nachthimmel, nachdem der Augenmond aufgegangen ist und wie das Gesicht des Todverkünders auf mich herabblickt – mein Beschützer und mein Verderben zugleich. Ein Verdammter bin ich, aber auch ein Gesegneter, denn niemand hat so viel gesehen und erfahren wie ich. Niemand konnte dieses Maß an Weisheit in seiner Seele aufhäufen. Der Gedanke, dass all dies einst die Beute des Axtmannes sein wird, macht mich rasend, wenn ich nur daran denke.
Aber wer weiß? Vielleicht wird eher der Schneemond auf die Welt fallen und damit das Fünfte Äon und die Geschichte selbst beenden, als dass mich der Schlafbringer zu sich holt. Dann wird ohnehin alles, was je gedacht, je gesagt und je geschrieben wurde, dem Großen Vergessen anheimfallen. Die Priester in der Heiligen Stadt Ezkor glauben, dass der Unsichtbare Gott die Kraft hätte, den langsamen Fall des Schneemondes aufzuhalten. Aber ich fürchte, ich habe inzwischen meinen Glauben verloren.
Vielleicht liegt es daran, dass ich mich durch meinen Handel einem anderen Gott verschrieben habe. Einem, von dem es in den alten heidnischen Schriften heißt, dass der Tag des Schneemond-Sturzes sein größter Feiertag sein wird, denn dann gäbe es so viele herrenlose Seelen, dass selbst der ungeliebte Traumhenker einige davon bekommen wird!
Aus den Schriften des Weisen Liisho
Ich werde die Schreie der Sterbenden nie vergessen, die erklangen, als der Usurpator Katagi mit seinen Getreuen den Kaiserpalast überfiel. Ein Teil der Drachenreiter-Samurai hatte sich mit ihm in einer schändlichen Verschwörung verbündet. Die Schreie der Sterbenden mischten sich mit dem Brüllen der Kriegsdrachen, doch der Kampf um den Palast dauerte nicht lange. Ich sah, wie Katagi selbst Kaiser Kojan mit einem Speer durchbohrte und der Kaiserin Minjanée den Kopf abschlug.
Mir aber entriss man das Kind, das ich auf dem Arm trug, und schlug seinen Kopf gegen eine Marmorsäule, da man annahm, es handele sich um Prinz Rajin. In Wahrheit war es mein eigenes Kind, dessen Geburt es mir ermöglicht hatte, im Palast als Amme zu dienen. Als man den Irrtum erkannte, zahlte man mir eine Entschädigung von drei Silberstücken und verwies mich des Palastes.
Katagi aber ließ sich am Tag darauf die Drachenkrone aufsetzen und von den Fürsten Drachenias huldigen. Selbst der Legat der Priesterschaft des Unsichtbaren Gottes soll das Haupt vor ihm geneigt haben, und zwei Monate später waren die Straßen und der Hafen Drakors für die Ankunft des Ehrwürdigen Abtes von Ezkor geschmückt, der sich nicht scheute, die Herrschaft des Usurpators zu bestätigen. Und dies, obwohl Katagi so ziemlich gegen alle Gebote des Unsichtbaren Gottes verstoßen hatte.
Mir aber bleibt nur die schwache Hoffnung, dass eines Tages jemand kommen wird, um Gerechtigkeit zu fordern.
Aus den Erinnerungen der kaiserlichen Amme Payjé
Das Blut Kaiser Kojans und seiner Gemahlin Minjanée troff noch von der Klinge des Usurpators, als er erfuhr, dass dem Weisen Liisho mit den fünf Prinzen des Kaiserhauses die Flucht aus dem Palast geglückt war. Liishos Drache Ayyaam, von dem man sagte, er sei ein direkter Nachfahre des Urdrachen Yyuum, trug sie in einer Gondel davon.
Der Usurpator Katagi riss dem toten Kaiser die drei Ringe von den Fingern, die dem Kaiser seit den Zeiten Barajans die Herrschaft über die Drachen sicherten. Doch Liishos Drache Ayyaam war mit den Ringen nicht zu beeinflussen, denn der Weise hatte ihn mit einem Bann belegt.
Liisho brachte die fünf Prinzen an entlegene Orte, um sie vor den Häschern Katagis zu verbergen.
Dies waren die Namen der Prinzen: Gajin, Haojin, Jayjin, Tanjin und Rajin.
Gajin war mit zwölf Jahren der Älteste von ihnen, während Rajin noch ein Säugling war.
Gajin ließ der Weise Liisho bei einfachen Leuten in jenen Bergen zurück, die das Dach der Welt bilden und in einem Kreis um den Vulkansee angeordnet sind, der das Zentrum des Luftreichs Tajima bildet. Prinz Haojin, ein Junge von zehn Jahren, wurde auf der Burg von Ambor im Zweifjordland versteckt, einer Provinz, die in früherer Zeit einmal dem Seereich angehört hatte. Auf Burg Ambor residierte nämlich Fürst Yetujan, ein Getreuer des wahren Kaisers, der den Jungen als entfernten Verwandten ausgab, der bei ihm zur Ausbildung zum Drachenreiter-Samurai weile. Der achtjährige Prinz Jayjin aber kam zu Waldbauern in Tembien, der östlichsten Provinz Feuerheims, während der fünfjährige Prinz Tanjin auf der abgelegenen und zum Reich Magus gehörenden Insel Yadnam aufwachsen sollte.
Prinz Rajin aber war der Jüngste unter ihnen.
Ihn brachte Liisho nach Winterland, jene Insel im äußersten Nordwesten des Seereichs - einen Ort, zu dem aufgrund des unwirtlichen Klimas, das dort herrscht, kein Drache freiwillig fliegt. Er pflanzte den Keim des Wissens in die Seelen der Prinzen und blieb mit ihnen in Gedanken verbunden, um sie auf ihre künftige Aufgabe vorzubereiten.
Gleichzeitig aber verhinderte er mit einem Zauberbann, dass sie über ihre wahre Herkunft sprechen konnten, weil sie sich damit verraten und selbst in Gefahr gebracht hätten.
Noch war die Macht des Usurpators zu groß, um ihn stürzen zu können. Aber der Tag würde kommen, sobald wenigstens einer der Prinzen in der Lage war, die Kaiserwürde zu übernehmen.
Der Weise Liisho begab sich mit seinem Drachen Ayyaam zur Insel der Vergessenen Schatten, die weit draußen vor der Küste des Ostmeerlandes liegt. Er verbarg sich in den Ruinen von Qô und bereitete sich auf den Tag vor, da es möglich sein würde, Katagi zu stürzen und einem rechtmäßigen Herrscher den Drachenthron besteigen zu lassen.
Die Häscher Katagis aber schwärmten in alle fünf Himmelsrichtungen aus. Der neue Kaiser bediente sich übelster Zaubererei, um die Aufenthaltsorte der fünf Prinzen ausfindig zu machen, und warb eine Reihe von Magiern an, die der Großmeister des Landes Magus verstoßen hatte. Und mit Hilfe der Drachenringe zwang er wildlebende Drachen unter seinen Bann, die er als willfährige Kundschafter einsetzte, um auch in fremden Ländern nach den Prinzen suchen zu können. Er sandte als Händler getarnte Mörder und Spione in alle Herren Länder aus. Nach und nach spürte Katagi die Aufenthaltsorte der Prinzen auf. Einer nach dem anderen wurde getötet.
Nur von Rajin fand sich lange Zeit keine Spur, und Katagi hoffte bereits, dass der Prinz ein natürliches Ende gefunden hatte, denn die Sterblichkeit der Säuglinge war selbst unter Fürsten und reichen Händlern hoch.
Es vergingen Jahre, ehe Katagi den ersten Hinweis darauf bekam, wo sich Prinz Rajin möglicherweise verborgen hielt …
Die Chronik des Kaiserhauses Barajan
Für Äonen hatte der Urdrache Yyuum geschlafen, sodass sein Körper eins geworden war mit dem Gebirge, das ihn umgab. Lange hatten die Berge nicht gebebt und Feuer gespieen. Doch dann erwachte er. Vielleicht war es der Ruf Kaiser Katagis an die wilden Drachen, der ihn weckte.
Bergaffen waren die einzigen anderen Lebewesen in seiner Nähe. Sie zwang er unter seinen Willen und sandte sie aus, um ihm von der Welt zu berichten. Nur wenn es sich lohnte oder es unvermeidlich war, gedachte der Urdrache vollkommen zu erwachen und den Zustand eines immerwährenden Schlafs gänzlich aufzugeben.
Die Affen kehrten schließlich zurück und berichteten von dem, was sie gesehen hatten. Sie erzählten ihm, dass sich Menschen und Magier die Welt untertan gemacht hatten, dass es Menschen gab, die über das Meer herrschten, andere, die das Feuer zu ihrem Element erkoren hatten, und wieder andere mit schwebenden Schiffen den Himmel erobert hatten. Auch vom Volk der Magier berichteten die Affen – wenn auch sehr erschrocken und verhalten, da sie vieles, was sie dort gesehen und erfahren hatten, nicht einzuordnen vermochten.
Den Zorn des Urdrachen aber erregte das, was er über das Drachenland Drachenia hörte: Die Menschen hatten sich die Drachen unterworfen und behandelten sie wie Haustiere. Ihr Wille wurde durch die drei Ringe des Drachenkaisers unterdrückt, sodass sie von jedermann gezähmt werden konnten, der sich entweder von Natur aus oder durch eine besondere Gabe darauf verstand oder dies zu lernen bereit war.
„Bringt mir diese Ringe!“, befahl der Urdrache. Er brauchte keine Worte dafür, denn Drachen sprechen nicht. Ein mächtiger Gedanke war es, den er den Affen einpflanzte und so seine Ziele zu den ihren machte.
Einer dieser Affen geriet in Gefangenschaft eines umherziehenden Gauklers und gelangte so in den Palast des neuen Kaisers. Während eines Festes, bei dem Kaiser Katagi bereits dem Wein und dem berauschenden Räucherwerk seiner Magiergehilfen stark zugesprochen hatte, stahl der Affe ihm einen der drei Drachenringe und entfloh damit, um ihn dem Urdrachen Yyuum zu bringen.
Im Volk aber sprach sich dieser Vorfall herum. Man fragte sich hinter vorgehaltener Hand, ob die beiden verbliebenen Ringe des Kaisers ausreichten, den Willen der Drachen auch in Zukunft zu unterdrücken. Und manche sahen darin, dass Katagi nur noch über zwei der drei Drachenringe verfügte, auch ein Zeichen des Unsichtbaren Gottes. Ein Zeichen, dass Katagis ungerechtfertigte Herrschaft bald beendet sei. Schon tauchten Prediger auf, die behaupteten, dass der Unsichtbare Gott Katagis Regentschaft missbillige.
Doch jedem, der die Geschichte vom Diebstahl des Drachenrings weiterzählte, drohte nicht nur die Hinrichtung, sondern auch eine Verurteilung als Ketzer durch den Ehrwürdigen Abt von Ezkor und die ewige Verdammung der Seele nach dem Tod.
Die Legende der Drachenringe
Kaiser Katagi aber hatte beschlossen, dass das Gleichgewicht der Fünf Reiche nicht zum Besten seiner Herrschaft war. „Warum fünf Reiche bestehen lassen, wenn ich doch die Macht habe, die anderen vier zu erobern und daraus ein einziges Imperium zu machen?“, sprach er zu den Befehlshabern seiner Drachenreiter-Samurai.
Der Chronist des Fünften Äons
Die fünf Prinzen von Drachenia
Es waren fünf Prinzen.
Einen erschlug die Axt,
da waren es nur noch vier.
Es waren vier Prinzen.
Einen köpfte das Schwert,
da waren es nur noch drei.
Es waren drei Prinzen.
Einen tötete die Magie,
da waren es nur noch zwei.
Es waren zwei Prinzen.
Einen tötete der Pfeil,
da war es nur noch einer.
Es war ein Prinz.
Den fand der Kaiser nicht.
Auf den warten wir.
Abzählvers aus der drachenischen Provinz Neuland – nach einer Abschrift aus dem 15. Jahr der Regierungszeit von Kaiser Katagi
Niemand aber, der ohne Recht auf dem Thron sitzt, wird dem Zorn des Unsichtbaren Gottes entgehen!
Wandspruch - von Unbekannten in die Wand des Kaiserpalastes von Drakor geritzt
So höre denn von den geheimen Kräften, die verschiedenen Geschöpfen oder Dingen innewohnen. Erfahre von ihrer Natur, und sie werden dir nicht mehr rätselhafter erscheinen als die Kraft des Windes, die Kraft, die einen geworfenen Stein zu Boden zwingt oder einen Wasserlauf vom Gebirge ins Tal und vom Tal in den Ozean fließen lässt.
Die Kraft, die den Abkömmlingen des Magier-Volkes innewohnt, ist die Magie, doch gibt es ähnliche, wenn auch für gewöhnlich nicht so stark ausgeprägte Kräfte bei Geschöpfen, in deren Adern kein Magierblut fließt. Diese Kräfte werden nicht als magisch, sondern als zauberisch bezeichnet. Auch wenn sich beide vom äußeren Anschein und ihren Auswirkungen her kaum unterscheiden mögen, so weiß doch jeder, der sich eingehender mit dieser Kunde befasst hat, dass sie von gänzlich verschiedener Art sind.
Magie und Zauberei sind die Wunderkräfte letztlich sterblicher Wesen.
Jene Wunder, die von den Göttern vollbracht werden, stehen außerhalb von Magie und Zauberei und übertreffen beide an Wirksamkeit und Ausmaß um ein Vielfaches.
Die mächtigste Kraft aber ist der Glaube, denn er lässt die Götter erst entstehen und mächtig werden.
Das Buch von den Kräften des Unsichtbaren
Seine linke Hand schloss sich um den Griff des Schwerts an seiner Seite. Es hatte eine leicht gebogene, sehr schlanke und außerordentlich biegsame Klinge, wie sie nur in Drachenia geschmiedet wurde, nach einem Verfahren, um das selbst die Schmiedekünstler Feuerheims die Drachenier beneideten. Mit der rechten Hand schlug er den Mantel etwas zur Seite.
Einen Mantel in Purpur, der Farbe des Kaisers.
„Dies ist nur das Vorspiel zu deinem großen Feldzug“, sagte Katagi, während er aus dem verglasten Fenster der kaiserlichen Drachengondel auf die brennenden Ruinen von Winterborg blickte. Der kaiserliche Gondelträger-Drache namens Sánshantô brüllte laut und kraftvoll auf. Er war darauf dressiert worden, den Landeanflug auf diese Weise anzukündigen, um die Insassen nicht zu erschrecken. Seit fünf Generationen stand Sánshantô bereits in den Diensten der Kaiser von Drakor. Niemand wusste, wie lange er noch kraftvoll genug sein würde, um diese Aufgabe zu erfüllen, denn die Lebensspanne von Drachen war höchst unterschiedlich. Manche lebten kaum dreimal so lange wie ein Mensch, während man sich von anderen erzählte, dass sie schon das Erste Äon erlebt hätten. Aber zwei Jahrhunderte trauten die kundigen Drachenreiter-Samurai diesem mächtigen Koloss auf jeden Fall noch zu – schon deshalb, weil Sánshantô, seitdem er die Schale seines Drachen-Eis mit den Klauen zerhackt hatte, stetig gewachsen war.
„Die angeblich so tollkühnen und tapferen Seemannen ließen sich wie die Hasen jagen und niedermetzeln“, fuhr Katagi versonnen fort. „Es war keine Schwierigkeit, ihren Widerstand zu brechen.“
Er war ein Mann mit breitem Gesicht, in dessen ehedem schwarzblauem Haar sich bereits deutlich graue Strähnen zeigten. Der noch immer vollkommen schwarze Schnauzbart reichte zum Kinn herab, sodass er den abweisenden Eindruck der heruntergezogenen Mundwinkel noch verstärkte, so wie die hohen Wangenknochen den der Hochmütigkeit in dem fast reglosen maskenhaften Gesicht. Er hatte gelernt, seine Gefühle zurückzuhalten, wenn es erforderlich war, und so hatte Kaiser Kojan ihm einst vollkommen vertraut, was sich für ihn und das ganze Reich als verhängnisvoller Fehler erwiesen hatte.
Ein leichtes Zucken der Mundwinkel war alles, was sich in
diesem Augenblick in seinem Gesicht zeigte. Kein zufriedenes Lächeln, kein Ausdruck von Triumph. Aber eine leise Mischung aus Wachsamkeit und Verachtung spiegelte sich im kühlen Blick seiner dunklen Augen wider – durchsetzt von einer grenzenlosen Gier nach Macht. Eine weitere winzige, nur für den geübten Beobachter bemerkbare Nuance war ebenfalls in dieser gefährlichen Melange enthalten: Furcht.
Aber die Zeiten, in denen er sich zu fürchten brauchte, waren vorbei. Da hatte ihn die Vorstellung gequält, einer der Söhne seines Vorgängers Kojan würde eines Tages mit einem starken Heer den Kaiserpalast von Drakor angreifen.
Katagi berührte leicht die beiden Drachenringe an seiner linken Hand. Es hätten drei an der Zahl sein müssen. Aber es war nun schon ein paar Jahre her, dass ein verrückter Bergaffe, der sich sein Futter durch das Tragen lustiger Kostüme und das Vorführen von Purzelbäumen bei einem Gaukler verdiente, ihm einen der Drachenringe gestohlen hatte. Weder vom Affen noch vom Ring war danach noch eine Spur zu finden gewesen, und es hatte auch nichts geholfen, den Gaukler zu foltern.
Die Suche nach dem dritten Ring war bisher so erfolglos gewesen wie jene nach dem jüngsten Prinzen des Kaiserhauses Barajan. Aber noch hatten sich für Katagi durch den Verlust des Rings keine negativen Folgen bemerkbar gemacht – wenn man einmal von dem abergläubischen Geschwätz einiger weniger ketzerischer Prediger absah, die das Volk aufzuhetzen versuchten. Kein einziger Drache aus den Beständen der kaiserlichen Stallungen hatte etwa gegen seine Verwendung als Kriegs- oder Lastdrache rebelliert, nur weil der Kaiser nur noch zwei der drei Drachenringe besaß.
Manche waren inzwischen sogar der Ansicht, dass die Macht dieser Artefakte vielleicht nur eine Frage des Glaubens war. Aber Katagi wusste wie sonst nur seine Vorgänger auf dem Drachenthron, dass dem nicht so war. Die innere Kraft, mit deren Hilfe er mit den Drachen in Verbindung treten und ihren Willen bezwingen konnte, war in Katagi nur schwach ausgeprägt. Ein bisschen Magierblut floss in beinahe dem gesamten Adel Drachenias, aber natürlich in unterschiedlicher Stärke. Doch seit Katagi die Drachenringe an seiner Hand trug, war die innere Kraft in ihm gewachsen war.
Vielleicht war sie immer noch äußerst gering im Vergleich zu einem, der aus der direkten Linie Barajans stammte, der das Kaisergeschlecht in Drachenia begründet hatte. Aber auf jeden Fall reichten Katagis Kräfte, um selbst mit zwei Drachenringen die Herrschaft über die Armada der Kriegs-, Reit- und Lastdrachen aufrechtzuerhalten – und nur darauf kam es an. Denn zu garantieren, dass die Drachen dienstbar und gehorsam blieben, war die vorderste Aufgabe des Kaisers und die Basis seiner Macht.
Katagi wusste das nur zu gut – hatte er doch lange genug seinem Vorgänger Kojan gedient und die Mechanismen der Herrschaft aus nächster Nähe beobachten können.
Zwei weitere Männer befanden sich in der Passagier-Kabine der kaiserlichen Gondel: ein Krieger und ein Magier, wie an ihrem Äußeren leicht zu erkennen war.
„Mit Verlaub, aber Ihr solltet dieses abgelegene Eiland nicht mit der Macht des Seereichs verwechseln“, entgegnete der Krieger auf sagte Katagis Worte. Er war ein hoch gewachsener, breitschultriger Mann, über dessen Gesicht quer eine Narbe verlief: Sie begann oberhalb des linken Auges und endete zwei Fingerbreit rechts vom Kinn und stammte offenbar vom Hieb eines drachenischen Schwertes.
Er trug die Schärpe und den vergoldeten Drachenstab des Lord Drachenmeister, wie der oberste Befehlshaber der Kriegsdrachen-Armada genannt wurde, und sein Name war Tarejo Ko Joma, wobei „Ko“ einfach nur das alt-drachenische Wort für „Haus“ und „Joma“ der Name der Adelsfamilie war, der er entstammte. Kaiser Kojan hatte das Haus Joma einst enteignet und die Ländereien und Burgen der Familie in seinen Besitz gebracht, weil mehreren Mitgliedern des Hauses Untreue und Missachtung der kaiserlichen Gesetze sowie die Erhebung nicht genehmigter Steuern vorgeworfen worden war. Diese Familienschmach war der Hauptgrund für Tarejo gewesen, sich Katagi anzuschließen.
Der neue Kaiser hatte ihn dann auch umgehend zum Lord Drachenmeister ernannt, doch es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sich der zuvor einfache Drachenreiter-Samurai Tarejo den Respekt der altgedienten Offiziere in der kaiserlichen Kriegsdrachen-Armada erworben hatte. Ein Respekt, den der Kaiser mit purer Grausamkeit gefördert hatte. In den ersten Jahren seiner Herrschaft waren zahllose Köpfe gerollt, und manche Spötter behaupteten, dass in dieser Zeit mehr Samurai durch den Henker umgekommen waren als in allen Kämpfen zusammengenommen, die die Kriegsdrachen-Armada in den letzten Jahrhunderten zu bestehen gehabt hatte.
Dass Tarejo sich die Narbe in seinem Gesicht zugezogen hatte, lag etwa achtzehn Jahre zurück. Einer der kaiserlichen Wachen hatte sie ihm beigebracht, als er zusammen mit Katagi und dessen zu allem entschlossenen Getreuen in den Palast eingedrungen war. Schützend hatte sich der Wachmann vor seinen Kaiser und dessen Gemahlin gestellt und wie ein Löwe gekämpft.
Der Schwertstreich, den ihm der Wachmann beibrachte, hatte Tarejo wie rasend gemacht. Während ihm das Blut über das Gesicht gelaufen war, hatte er mit einer raschen Folge von Schwertschlägen auf seinen Gegner eingedroschen und ihn regelrecht zerteilt. Die scharfe Klinge seines drachenischen Schwertes drang ohne großen Widerstand durch Fleisch und Knochen. Während Katagi bereits mit seinem Speer des Kaisers Brust durchbohrt hatte und das blutige Haupt seiner Gemahlin in der Linken hielt, ließ Tarejo noch immer seine Klinge durch den bereits völlig zerstückelten Körper des Wachsoldaten fahren, wobei er tierhafte Laute ausstieß.
Selbst einen Mann wie Katagi hatte dieser Anblick erbleichen lassen. „Es ist gut, einen Mann mit Euren düsteren Leidenschaften nicht gegen sich zu haben, Tarejo!“, so waren die Worte des Usurpators gewesen.
„So macht mich zum Lord Drachenmeister!“, hatte Tarejos Vorschlag gelautet.
„Und ich hatte gedacht, die Folterkammer zu leiten wäre eher nach Eurem Geschmack – oder scheut Ihr die viele Arbeit, die in nächster Zeit auf Euch zukäme?“ Katagi grinste breit. „Andererseits soll man das Angenehme nicht mit dem Notwendigen vermischen, denn dann tritt bald der Schlendrian ein. Also seid Ihr ab jetzt Lord Drachenmeister und befehligt die Kriegsdrachen-Armada!“
Katagi hatte diese Entscheidung nicht bereut. Mit unerbittlicher Härte hatte Tarejo dafür gesorgt, dass die wichtigste Säule der kaiserlichen Macht stabil blieb – und was seine finsteren Leidenschaften anging, so hatte er oft genug Gelegenheit, die Folterkeller aufzusuchen und ihnen zu frönen.
Von Katagis Mitverschwörern war Tarejo inzwischen der Einzige, der noch am leben war. Alle anderen waren nach und nach Opfer jener Schreckensherrschaft geworden, die sie selbst mit herbeigeführt hatten.
Der dritte Mann in der Passagierkabine des Kaisers war Ubranos aus Capana, ein Magier. Äußerlich sprachen die tiefschwarzen buschigen und nach oben gebogenen Augenbrauen für seine Herkunft und dass ihm an der Oberlippe der Bartwuchs fehlte. Wenn er seine Kräfte sehr stark konzentrierte, zeigten seine Augen zeitweilig nur noch ein leuchtendes Grün; das konnte nur Momente dauern, manchmal aber auch über Tagen oder sogar Wochen anhalten. Wie alt Ubranos genau war, wusste nicht einmal der Kaiser genau zu sagen.
Er trug ein schwarzes Gewand, aus dessen weiten Ärmeln sehr dürre und knochige Finger ragten. Die Adern an seinen Händen traten deutlich hervor. Katagi schloss daraus, dass Ubranos wesentlich älter war, als es auf den ersten Blick schien.
Der Großmeister von Magus und der Hohe Rat der Magier in Magussa hatten ihn verstoßen, da man ihm unerlaubte Anwendung von »Unaussprechlicher Magie« vorwarf. Darunter verstand man in Magus all die Praktiken, die weder der erlaubten Weißen noch der erlaubten Schwarzen Magie zuzurechnen waren und ein erhebliches Risiko bargen. Allerdings war bekannt, dass sich die Auffassungen im Hohen Rat von Magussa im Laufe der Zeit durchaus gewandelt hatten, was genau alles zur »Unaussprechlichen Magie« zu zählen war, was dazu führte, dass ein zwar nicht besonders breiter, aber steter Strom von verstoßenen Magiern das Land Magus verließ, darunter so manch angesehener Meister, der sich daraufhin anderswo verdingen musste.
Die Gaukelei war das harmloseste Handwerk, dass sich einer von ihnen suchen konnte. Die meisten wurden Berater von Königen und Fürsten, deren Erwartungen an die magischen Fähigkeiten ihrer Bediensteten allerdings zumeist vollkommen übertrieben waren.
Oft ließen es sowohl der Stolz als auch der unstillbare Durst nach Wissen und Erkenntnis nicht zu, dass diese verstoßenen Magier zurückkehrten und vor dem Rat eine Unterlassungserklärung abgaben. Und so kam es, dass es nahezu an allen Herrscherhöfen Magier als Berater, Heiler und Zukunftsseher gab. Häufig genug konnte man sie inzwischen auch schon in den Kontoren reicher Händler finden, wo sie die Vertrauenswürdigkeit von Geschäftspartnern abzuschätzen hatten oder dem kaufmännischen Erfolg mit übernatürlichen Mitteln nachhalfen.
„Ich spüre eine Präsenz, die …“ Ubranos griff sich an die Schläfen und schloss für einen Moment die Augen. Er wirkte angestrengt, und auf seiner Stirn bildeten sich zwei Falten, die sich genau über dem Nasenansatz trafen: Die Magierfalte war ein weiteres Kennzeichen dieses Volkes, das lange vor den Menschen die kosmischen Tore passiert und diese Welt betreten hatte. Das Kaiserhaus führte seine Herkunft auf den Magier Barajan zurück, und man hatte dieses Merkmal tatsächlich im Abstand mehrerer Generationen bei einigen kaiserlichen Familienmitgliedern bemerken können. Besonders ausgeprägt war sie bei Kaiser Kojan gewesen …
Ubranos öffnete die Augen. Sie waren vollkommen von leuchtendem Grün erfüllt und wirkten wie kleine Ebenbilder des Jademondes. Aber dieses Leuchten verschwand schon nach wenigen Herzschlägen.
Katagi hob die Augenbrauen. „Nun?“
Im selben Moment setzte die kaiserliche Gondel auf dem Boden auf. Brüllend flatterte Sánshantô mit seinen lederhäutigen Flügeln und erhob sich wieder in die Lüfte.
„Es ist eine Präsenz, deren Muster mit jenem übereinstimmt, das im Geist des ungezähmten gelb-schwarzen Drachen festgehalten wurde.“
„Prinz Rajin?“, stieß Katagi aufgeregt hervor.
„Es ist das gleiche Muster“, murmelte Ubranos. „Der Träger dieser Präsenz kann nicht weit entfernt sein!“
„Wir werden hier alles und jeden niedermachen, bis diese Präsenz oder was immer Euch auch beunruhigen mag, nicht mehr vorhanden ist“, versprach Tarejo.
Während zwei Krieger von außen die Gondel öffneten, legte sich die Hand des Lord Drachenmeisters grinsend um den Griff seines Schwertes.
Katagi trat ins Freie. Dutzende seiner Krieger hatten überall Posten bezogen. Das letzte Häuflein Überlebender war zusammengetrieben worden, insgesamt nicht mehr als zwei Dutzend Männer, Frauen und Kinder. Viele von ihnen waren verletzt. Mit barschen Anweisungen und den Spitzen ihrer Waffen trieben die Fußsoldaten des Kaisers sie vor sich her. Die Anweisungen verstand keiner der Gefangenen – aber die Drohungen mit Schwert und Speer verlangten keinerlei Übersetzung.
Grob stieß man die Gefangenen in den Staub, und dann trat ein Krieger mit der Schärpe eines Hauptmanns vor, kniete vor dem Kaiser nieder, und ohne den Blick zu heben, meldete er: „Dies sind die letzten der Barbaren. Alle anderen Bewohner dieses Ortes wurden niedergemacht.“
„Gut so“, murmelte Katagi.
„Was soll mit den Barbaren geschehen, Majestät?“, erkundigte sich der Hauptmann.
„Wartet“, sagte der Kaiser und richtete den Blick auf Ubranos. „Nun schlägt Eure Stunde, Magier!“
„Gewiss, Majestät!“, murmelte dieser, dann ging er auf die Gefangenen zu, wobei er die Stirn in der für Magier so charakteristischen Weise in Falten legte. Seine Nasenflügel begannen zu beben, wie bei einem Tier, das Witterung aufnimmt. Eigenartige Laute kamen murmelnd über seine Lippen. Silben, die keine Worte bildeten, weder in der Sprache Drachenias noch in jener, die im Lande Magus üblich war. Es handelte sich wohl eher um die nach außen dringenden Fragmente eines Dialogs, den er in seinem Inneren führte.
„Lasst sie aufstehen!“, rief er plötzlich, und seine Augen begannen jadefarben zu leuchten, dass kein Weißes mehr in ihnen zu sehen war.
Dann schnüffelte er wieder wie einer der Berghunde, die an der Grenze zu Tajima im Mitteldrachenischen Gebirge zu Hause waren, dort, wo der Legende nach der Urdrache Yyuum seit Äonen schlummerte.
Die Krieger sorgten mit brutalen Schlägen dafür, dass alle Gefangenen, die sie gerade erst grob zu Boden gestoßen hatten, innerhalb weniger Augenblicke wieder aufstanden. Einige zitterten, und viele der Verletzten hatten kaum die Kraft, sich aufrecht zu halten.
Ubranos streckte seine knochigen Finger nach dem Gesicht einer Frau aus. Sie keuchte erschrocken auf, hatte aber nicht den Mut, zurückzuweichen, und so legte er ihr die Hände seitlich an den Kopf, sodass seine Daumen gegen ihre Schläfen drückten. Das jadefarbene Licht aus den Augen des Magiers strahlte in die Augen der Gefangenen, die daraufhin wie eine Wahnsinnige aufschrie.
Der Schrei der Wehrlosen ließ ein sadistisches Grinsen im Gesicht des Lord Drachenmeister Tarejo entstehen.
„Wahrt Euer Gesicht und erweist Euch damit rücksichtsvoll gegenüber unseren Kriegern, Lord Drachenmeister“, spottete der Kaiser in hohntriefendem Tonfall. „Schließlich sollen sie auch weiterhin davon überzeugt sein dürfen, dass wir die Zivilisation vertreten und die anderen die Barbaren sind.“
Ubranos ließ die Frau los. Kreischend wirbelte sie herum, lief wie von Sinnen davon. Der Schwerthieb eines kaiserlichen Kriegers zerteilte ihr den Rücken, und anschließend herrschte Stille.
Der Magier ging an den anderen Gefangenen vorbei, fasste einem der Kinder unters Kinn und hob grob den Kopf des Jungen, sodass der ihm in die jadefarbenen Augen sah. Der etwa Achtjährige zitterte.
Eine ruckartige Bewegung ging durch Ubranos Körper. Es sah aus, als würde er einen Anfall erleiden. Dann ließ er den Jungen los und fixierte mit den immer noch jadegrün leuchtenden Augen eine junge Frau, die kaum älter als siebzehn Sommer sein konnte.
Ubranos entblößte die Zähne, murmelte etwas vor sich hin, und erneut vibrierten seine Nasenflügel, wobei ein zischendes Geräusch entstand, das an die giftigen Schlangen in den Wäldern Tembierns erinnerte.
Er trat auf die junge Frau zu und fasste mit seiner langfingrigen rechten Hand nach ihrer Stirn. „Ah, hier ist es - die Präsenz …“
„Wer ist sie?“, fragte Katagi, der auf Ubranos und die junge Frau zutrat.
„Nya … Ihr Name ist Nya, Tochter von Kallfaer …“, murmelte der Magier. „Oh, dieser schwache, schwache Geist …“ Die junge Frau begann zu zittern. Ihr ganzer Körper wurde davon erfasst. Dann erstarrte sie plötzlich wie zur Statue, und ihre Augen verdrehten sich, sodass fast nur noch das Weiße darin zu sehen war.
„Was interessieren mich die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Barbarin!“, schimpfte Katagi ungehalten. „Ich will wissen, was sie mit Rajin zu tun hat!“
„Sie kennt ihn. Das ist eindeutig … Und da ist etwas in ihr …“ Ubranos Hand löste sich von ihrer Stirn. Ein roter Fleck blieb dort zurück, so als hätte die Haut dort einen Sonnenbrand bekommen. Ubranos legte ihr die Hand auf den Bauch. Sie stöhnte auf, schien aber vollkommen unfähig, sich zu bewegen.
Ein zynisches, triumphierendes Lächeln legte sich auf das Gesicht des Magiers. „Trotz all unserer Bemühungen, sie zu dezimieren, gibt es offenbar bereits eine weitere Prinzengeneration in der Ahnenreihe des Hauses Barajan.“
„Was sagt Ihr da?“, stieß Katagi konsterniert hervor.
„Diese Barbarin trägt den Sohn von Prinz Rajin unter dem Herzen. Das ist eindeutig.“
„Und Rajin selbst?“
„Sie weiß nicht, wo er sich befindet. Ihre Seele ist leer. Er scheint es ihr nicht gesagt zu haben.“
„Wenn Ihr sie mir überlasst, könnte ich mit meinen Methoden vielleicht doch noch etwas mehr herausbekommen!“, meldete sich Tarejo zu Wort.
„Schweigt, Lord Drachenmeister!“, herrschte der Kaiser ihn an, und Tarejo nahm daraufhin sogleich Haltung an. Das hässliche Grinsen, das gerade noch seine Lippen umspielt hatte, während er sich am Leid der Gefangenen weidete, verschwand. Er kannte diesen speziellen Tonfall in der Stimme seines Kaisers sehr gut, und die Tatsache, dass er all die Jahre an der Seite des Herrschers überlebt hatte, stand in einem sehr engen Zusammenhang mit der Fähigkeit, diesen Tonfall herauszuhören und zu interpretieren. Andere, die in dieser Hinsicht weniger begabt gewesen waren, hatten das schnell mit ihrem Leben bezahlt.
Katagi machte ein Zeichen, woraufhin der Magier von der jungen Frau abließ und zur Seite trat. Sie stand schwankend da, hielt sich den Kopf, so als ob ein rasender Schmerz in ihr toben würde. Ihr Blick wirkte wie der einer Blinden.
Töte sie!
Das war Katagis erster Gedanke. Wenn sie mitsamt ihrem Kind starb, war dieser neue Spross des Hauses Barajan im Keim vernichtet.
Aber vielleicht war es klüger, dies nicht zu tun. Er wog Vor- und Nachteile ab. Die Barbarin wusste ganz sicher nichts über die Bedeutung, die die Frucht ihres Leibes für das Kaiserreich Drachenia hatte. Vielleicht ließ sich dieses Kind benutzen. Es umzubringen war immer noch möglich.
„Tötet alle!“, rief der Kaiser den Soldaten zu. „Tötet alle außer dieser Barbarin … Nya!“
Schreie gellten durch die rauchenden Ruinen von Winterborg, und Blut tränkte den Boden. Die Kaiserlichen Krieger verstanden ihr Handwerk. Innerhalb von Augenblicken lebte keiner der Gefangenen mehr, während Nya in die Gondel des Kaisers gebracht wurde – ständig bewacht von zwei Fußsoldaten.
Letzteres wäre kaum notwendig gewesen, denn der Magier Ubranos belegte sie mit einem Bann, der sie bewegungsunfähig zu Boden gehen ließ.
„Seht zu, ob Ihr unter den Toten nicht die Präsenz von Prinz Rajin findet, Meister Ubranos“, forderte Katagi.
Das jadefarbene Leuchten in den Augen des Magiers blieb bestehen. Er senkte daher den Blick, denn er wusste, dass der Kaiser es nicht schätzte, auf diese Weise angesehen zu werden. Er argwöhnte dann jedes Mal, dass der Magier vielleicht versuchte, ihn auf irgendeine Weise zu beeinflussen.
Aber dagegen hatte sich Katagi abgesichert, so glaubte er. Er trug eine zauberische Medizin in einem Lederbeutel vor der Brust, die er sich vor vielen Jahren von einem anderen Magier hatte zusammenstellen lassen. Die durchweg unappetitlichen Bestandteile dieser Medizin entfalteten bei warmer Witterung einen durchdringenden Geruch, der jedem auffiel, der sich in Katagis Nähe aufhielt. Doch niemand bei Hof wagte es, ihn darauf anzusprechen, weder die Offiziere der Drachenreiter-Samurai noch die Hofdamen, Höflinge und Beamten, die den riesigen Palast von Drakor bevölkerten. Seit er Kaiser war, war Katagi unantastbar, und es war jedem im engeren Umkreis des Kaisers nur allzu bewusst, dass es schlimmere Qualen zu erleiden gab als eine stinkende Zaubermedizin, die den Herrscher vor den Einflüssen feindlicher Magie schützen sollte.
Jener Magier, der ihm die Zaubermedizin zusammengestellt hatte, war kurz darauf von einem kaiserlichen Assassinen umgebracht worden. Katagi war eben jemand, der sich um jeden Preis absichern wollte.
„Ich werde es versuchen“, versprach Ubranos. „Aber ich habe nur die Präsenz von Prinz Rajins Sohn spüren können – nicht die von Rajin selbst.“
„Aber sie muss zu spüren sein!“, sagte Katagi erregt. „Uns ist kein Schiff begegnet, und wir haben Kundschafter-Drachen in alle Richtungen entsandt. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass Rajin die Insel auf dem Seeweg verlassen hat!“
„Dass hätte ich in diesem Fall auch in dem schwachen Geist des Mädchens erkannt“, stellte Ubranos klar. „Sie steht dem Prinzen nahe, wie ich spüre, auch wenn sie nicht wusste, wer er ist und ihn mit einem barbarischen Namen benennt - Bjonn Dunkelhaar …“
„Nach Art der Seemannen eben“, lautete Tarejos Kommentar. „Wie wär’s, wenn Ihr Euch einfach etwas umseht, Meister Ubranos? Möglicherweise stoßt ihr auf eine Spur. Ansonsten müssen wir wohl auch den anderen Siedlungen dieser Insel einen Besuch abstatten.“
„Es gibt keine weiteren größeren Siedlungen, nur ein paar vereinzelte Höfe an der südlichen Küste“, sagte der Magier. Auch das hatte er offenbar aus den Gedanken der Gefangenen gesogen. Er blickte ruckartig auf und sah sofort zur Seite, um den Kaiser mit seinen vollkommen von jadegrünem Schein erfüllten Augen nicht direkt anzublicken. „Allerdings gibt es ein Heiligtum im Landesinneren, das regelmäßig besucht wird.“
„Ein Heiligtum?“, wiederholte Katagi stirnrunzelnd.
„Und in den Gedanken der jungen Frau fand ich einen vagen Hinweis, der Rajins Präsenz mit den Pferchen der Riesenschneeratten in Verbindung bringt. Aber es könnte auch sein, dass sich dies auf frühere Ereignisse bezieht. Die Eindrücke vermischten sich.“ Ubranos machte eine Pause, schloss kurz die Augen, kniff sie zusammen und öffnete sie wieder, als bereitete es ihm Schwierigkeiten, das den Seelen der Barbaren entrissene Wissen zu ordnen. Schließlich fuhr er murmelnd fort: „Auf dem Rücken von Riesenschneeratten reisen sie zu einem schwarzen Felsen, um ihre Waffen von einer Gottheit weihen zu lassen. Primitiver Aberglaube, der mit der Kunst wahrer Magie nichts gemein hat.“
„Ein schwarzer Felsen?“, fragte Katagi. „Ich habe nicht gewusst, dass es hier, in diesem Land, ein kosmisches Tor gibt!“
„Es ist nicht gesagt, dass es sich tatsächlich um ein Tor handelt“, gab der Magier zu bedenken. „In den Gedanken der Barbaren war davon nichts zu erkennen. Für sie ist es nur das Heiligtum einer Gottheit.“
Katagi ballte so heftig die rechte Hand zur Faust, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Es würde aber einen Sinn ergeben!“, meinte er. „Prinz Rajin ist an einen Ort geflohen, wo er eine Möglichkeit der Flucht sieht – zu einem kosmischen Tor! Liisho wird ihn dorthin geführt haben, dieser schlaue Fuchs. Du weißt am besten, dass der alte Mann die Macht dazu hätte.“
Ubranos neigte das Haupt tiefer als sonst. „Es ist gut möglich, dass Ihr mit dieser Vermutung richtig liegt, Majestät …“
Ubranos schritt durch den Ort des Gemetzels, um zu den Pferchen zu gelangen. Er folgte winzigsten Spuren einer Präsenz, die sich längst aufgelöst hatte. Prinz Rajin war hier gewesen, das stand fest. Vielleicht ließen sich auch noch schwache geistige Hinterlassenschaften seiner Gegenwart erspüren, denn Ubranos beherrschte seine magischen Sinne meisterhaft.
Tatsächlich entdeckte der Magier am Pferch eine winzige Spur. Seine Nasenflügel bebten, und seine Augen leuchteten so grell, dass nicht nur die Kaiserlichen Krieger, sondern auch die in der Luft kreisenden Kriegsdrachen es vermieden, in seine Richtung zu blicken.
Die Riesenschneeratten hatten die Pferche während des Kampfes verlassen. Viele waren vom Drachenfeuer getötet worden. Die anderen irrten in der Umgebung umher.
„Na, habt Ihr etwas herausgefunden?“, erkundigte sich Tarejo. Der Lord Drachenmeister war dem Magier wie ein Schatten gefolgt, während der Kaiser es vorzog, in der Nähe seiner Gondel zu bleiben.
„Es ist nur schwach …“, murmelte der Magier. „Stellt Euch vor, eine der Hofdamen im Kaiserlichen Palast würde ein Flakon mit Duftstoffen von ihrer Drachengondel aus in die Bucht von Drakor vergießen, sodass sich die Substanz mit dem Ozean vermischt - und Ihr hättet dann die Aufgabe, diesen Duft aus dem Geruch von Salz, Tang, Fisch und Möwenkot herauszuriechen.“
„Ich beneide Euch nicht um Eure Aufgabe, Meister Ubranos.“ Am Tonfall war nicht zu erkennen, ob Tarejo dies ehrlich meinte oder spöttisch.
Ubranos ging nicht darauf ein, sondern blickte sich um. Er unterstützte seine Zaubersinne, indem er eine magische Formel vor sich hin murmelte. Dabei benutzte er eine der alten Sprachen von Magus, die den Legenden nach nur während des Zweiten Äons in Gebrauch gewesen waren, als die Magier den Drachen die Herrschaft über die Welt streitig gemacht hatten. Ubranos’ Augen glühten weiterhin, während er vor sich hin sprach. Schließlich verstummte er, schaute sich noch einmal um und sagte dann auf Drachenisch: „Es sind so viele Spuren hier, dass die Nuance, die ich suche, nicht eindeutig zu bestimmen ist. Dennoch gehe ich davon aus, dass wir Rajin im Landesinneren suchen müssen. Und außerdem ist da noch etwas anderes, das alles überdeckt: Wut … Zorn … der Durst nach Rache … namenloser Schmerz … ruhelose Seelen … Ah, ich hasse es, meine magischen Sinne auf Schlachtfeldern zu ruinieren!“ Ubranos wandte ruckartig den Kopf und sah Tarejo an. „Da ist etwas Böses. Eine Aura, die uns wie ein Fluch verfolgen wird, wenn wir noch länger bleiben.“
Tarejo lachte heiser. Mit dem Stiefel stieß er einen der gefallenen Barbaren an und drehte ihn herum, sodass der Leichnam auf dem Rücken lag. „Der Fluch der gemeinen Tat? Der Schatten von Totenseelen, die einem des Nachts auf die Brust kriechen und einem den Atem rauben? Das ist Aberglaube, für den du als Ketzer verdammt werden kannst.“
„Aberglaube?“ Die Stimme Ubranos’ wurde sehr ernst. „Ich glaube an gar nichts, außer an die Kraft der Magie und an das, was ich selbst wahrnehme, werter Lord Drachenmeister. Und davor sollten wir alle uns fürchten. Also lasst uns aufbrechen!“
„Von meiner Klinge habe ich das Blut so vieler abgewischt – ob nun Magier oder Menschen –, dass eine ganze Legion von bösen Geistern mich verfolgen müsste“, höhnte Tarejo, „aber ich erfreue mich noch immer bester Gesundheit!“
Die Nasenflügel des Magiers bebten, aber seine Augen glühten nicht mehr, waren normal geworden. Er starrte den Lord Drachenmeister finster an, dann wirbelte er herum und machte sich auf den Rückweg zur kaiserlichen Gondel.
Tarejo folgte ihm, und dabei staubte unter dem Tritt seiner Stiefel die Asche jener empor, die das Feuer der Kriegsdrachen verbrannt hatte.
„Ich hoffe nur, dass die Drachen eine Reise ins Landesinnere ohne Probleme mitmachen“, gab Tarejo während des Rückwegs zur Gondel seiner Hauptsorge Ausdruck. „Die Biester mögen die Kälte nicht.“
„Da sagt Ihr nichts Neues“, brummte Ubranos.
„Könntet Ihr da nicht etwas machen? Mit Euren magischen Fähigkeiten, meine ich.“
Ubranos lachte heiser. „Das könnte ich. Solltet Ihr frieren, Lord Drachenmeister, ist es keine Schwierigkeit für mich, Euren Geist mit einem Wärmezauber so zu beeinflussen, dass Ihr Euch wohl fühlt, selbst wenn Ihr nur im Hemd die Gletscher besteigen wolltet. Zumindest für eine Weile wäre das möglich. Aber bei Drachen ist das etwas anderes. Barajans Bann ist immer noch wirksam, solange die Drachenringe existieren, und dieser Bann verschließt uns Magiern den Geist der Drachen.“
„Ist das nicht nur eine Legende?“, fragte der Lord Drachenmeister. „Eine Legende, die es Euch jetzt erlaubt, Euch herauszureden?“
Ein dünnes Lächeln umspielte die Lippen des Magiers. „Wenn es nur eine Legende wäre – glaubt Ihr nicht, dass dann auch der Großmeister von Magus über eine Armada von Kriegsdrachen verfügen würde?“
„Aber was sollte der Großmeister damit anfangen wollen?“, fragte Tarejo. „Schließlich stehen dem Regenten von Magus und seinen Getreuen gewiss genügend magische Mittel zur Verfügung, um Kriege zu führen. Und wenn ich die Pläne unseres Kaisers richtig verstanden habe, werden wir sehr bald wissen, wie groß die militärischen Fortschritte des Reiches Magus tatsächlich sind. Zumindest ich rechne mit einem baldigen großen Krieg.“
„Gegen Magus?“
„Es wird sich zeigen, wer bereit ist, sich dem Kaiser zu unterwerfen, und wer es vorzieht, vernichtet zu werden.“
„Der Kaiser ist ein Mann klarer Entscheidungen“, murmelte Ubranos.
Wenig später gellten Befehle in drachenischer Sprache über jenes Ruinenfeld, das einst Winterborg gewesen und von dem, abgesehen vom Heiligen Stein in der Mitte, nichts geblieben war.
Die kaiserlichen Krieger zogen sich in die Gondeln zurück, die wenig später von den in der Luft kreisenden Großdrachen angehoben wurden. Die Seile wurden eingehakt, und es dauerte nicht lange, dann nahm die Armada der Kriegsdrachen Kurs auf das Landesinnere.
Sie ließen den im Sommer eisfreien Küstengürtel hinter sich, und bald stieg die Kälte der ersten Gletscher zu den Gondeln auf. Man hörte die dröhnenden Schreie der Drachen, denen diese klimatischen Bedingungen überhaupt nicht gefielen. Die vereinzelten Wilddrachen, die die Armada begleiteten und von Kaiser Katagi mittels seiner Drachenringe gelenkt wurden, flogen der Armada nicht mehr voraus, sondern folgten ihr widerwillig und in deutlichem Abstand.
Die kaiserlichen Navigatoren brüteten über den Karten. Vom Inneren Winterlands gab es in Drachenia nur unzulängliches Kartenmaterial. Die Navigatoren hatten innerhalb der kaiserlichen Gondel einen eigenen Raum. Dort beschäftigten sie sich mit den Werken der Kartenzeichner aus Etana und Jandrakor, von denen die Meisten ihr Handwerk bei den Kartenmeistern des Luftreichs Tajima gelernt hatten.
Der Kaiser selbst stattete diesem erlauchten Kreis kluger Männer hin und wieder einen Besuch ab, aber mit Einzelheiten wollte er nicht belästigt werden. Zumeist aber stand Katagi am verglasten Aussichtsfenster seines kaiserlichen Gemachs und blickte hinaus in die schneebedeckte Ödnis. Inzwischen trug er ein wärmeres und dafür nicht ganz so prächtiges Wams unter seinem purpurnen Kaisermantel, denn die Kälte kroch mittlerweile auch in die kaiserliche Gondel.
Die Finger seiner rechten Hand glitten über die kunstvollen Gravuren der Drachenringe an seiner Linken. Ich werde Euch finden, Prinz Rajin … Finden und zur Strecke bringen wie ein wildes Tier, zu dem Euch die Jugend in diesem barbarischen Land ja wohl gewiss auch gemacht haben dürfte …
Nya lag reglos in einer Kabine, die kaum die halbe Größe des Alkovens maß, den ihre Eltern als Schlafstätte benutzt hatten. Eine Abstellkammer ohne Fenster, in der es stockdunkel war.
Zwischendurch kam einer der kaiserlichen Krieger und brachte ihr eine Decke, die er über ihren erstarrten Körper ausbreitete, denn es wurde immer kälter.
Ansonsten war Nya allein mit ihren Gedanken und den grausamen Erinnerungen. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter von einem Pfeil getötet worden war. Was mit ihrem Vater geschehen war, wusste sie nicht, aber sie war überzeugt davon, dass auch er nicht mehr am Leben war – so wie alle anderen Einwohner Winterborgs.
Nya versuchte sich zu bewegen. Aber eine unheimliche Kraft hinderte sie daran, selbst den kleinen Finger zu rühren. Die einzige Regung, die sie zustande brachte, war ein Blinzeln mit den Augenlidern. Sie atmete flach, aber regelmäßig, und ihr Herz schlug. Aber ansonsten war nichts, wie es hätte sein sollen. Der Mann mit den Jadeaugen verfügte offenbar über Zaubermacht. Ein paar winterländische Händler, die schon bis zum Hafen Dalbos im Lande Magus vorgedrungen waren, um dort Waren zu kaufen oder anzubieten, hatten einiges über das Aussehen der Magier berichtet: über die auffällig gebogenen und sehr buschigen Augenbrauen, über die so genannte Magierfalte auf der Stirn, die von der Form her aussah wie eine nach unten gerichtete Pfeilspitze, und vor allem über das grüne Leuchten der Augen, das mal stärker und mal schwächer zutage trat und manchmal auch gar nicht zu sehen war.
Dieser Mann musste ein Magier in den Diensten des Kaisers sein. Mit Schaudern dachte Nya daran, wie er ihre Seele durchforscht und sie bis in den letzten Winkel durchdrungen hatte. Eine innere Kälte hatte sie dabei erfasst, gegen die sich der härteste Winter ihrer rauen Heimat wie ein laues Frühlingslüftchen ausnahm.
Als Kallfaer Eisenhammer erwachte, war alles, was er zunächst spürte, ein furchtbarer Schmerz. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass ihn etwas am Kopf getroffen hatte. Verschwommene Bilder an das wilde Kampfgetümmel zwischen einer Handvoll Winterborger Seemannen und mehr als einem Dutzend drachenischen Fußsoldaten stiegen in ihm auf, und allmählich fügten sich die Bruchstücke zu einem Ganzen zusammen. Eine neue Welle des Schmerzes durchzuckte seinen Kopf. Sein Herz hämmerte wie wild, und mit jedem dieser Hammerschläge schien der Schmerz noch zuzunehmen. Er versuchte den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Eine Blutlache versickerte unmittelbar vor seinem Gesicht im Boden. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es sein eigenes Blut war.
Ein Speer hatte ihn am Kopf gestreift und ihn gefällt wie einen Baum.
Die Erinnerung daran kehrte auf einmal mit aller Macht zurück. Es fiel ihm wieder ein, wie der blutige Speer im nächsten Moment den Rücken von Svejn Lodvirssohns durchbohrt hatte. Svejn war ein treuer Gefolgsmann Kallfaers gewesen – nun lag er hingestreckt da.
Kallfaer atmete tief durch. Frisches Blut, das aus der Wunde an seinem Kopf quoll, rann ihm ins linke Auge. Er stützte sich mit den Armen auf, dann langte er nach seinem Schwert. Das lag nur eine halbe Armlänge von ihm entfernt auf dem Boden. Er umfasste den Griff. Den Dracheniern war es nicht wertvoll genug gewesen, um es mitzunehmen, obgleich die Klinge aus bestem Feuerheimer Stahl war. Aber die Schwerter der Seemannen waren den Kriegern des Drachenlandes zu plump und schwer, wohingegen man unter Seemannen häufig genug darüber spottete, dass die Drachenier einfach zu schwach waren, um ein richtiges Schwert führen zu können.
Schließlich stand Kallfaer auf seinen Beinen. Ihm schwindelte, und er betastete vorsichtig die Wunde an seinem Kopf. Die Drachenier mussten ihn für tot gehalten und deswegen ebenso achtlos liegen gelassen haben wie seine Klinge. Kallfaer wischte sich das Blut aus dem linken Auge. Er sah sich um und lauschte. Eine grausige Stille lag über Winterborg. Die Stille des Todes.
Kein Kampfeslärm, kein Wehklagen, kein Schreien von Verwundeten oder Sterbenden und kein Drachengebrüll. Und keines dieser Ungetüme verfinsterte noch mit seinen weiten Schwingen oder einer voluminösen Kriegsgondel den Himmel über dem Ruinenfeld, das einst ein blühender Ort von Seemammutjägern gewesen war. Die Schlacht war zu Ende und die Angreifer fort, und soweit Kallfaer sehen konnte, hatten sie nur Tod und Zerstörung hinterlassen.
Doch ihn wunderte, dass nicht einmal das Gekreische der Eismöwen zu hören war, denn eigentlich wäre ein Schlachtfeld wie dieses, auf dem der Axtmann Ogjyr so reiche Ernte gehalten hatte, für die geflügelten Aasfresser doch wie ein reichlich gedeckter Tisch gewesen.
Aber kein einziger Möwenschrei war zu hören …
Kallfaer steckte das Schwert ein, denn er glaubte nicht daran, noch irgendwo zwischen den Ruinen der ausgebrannten Langhäuser auf einen kampfbereiten Drachenier zu treffen. Er wankte durch die ehemaligen Gassen des Ortes. Überall lagen die Toten verstreut, manche grausam zugerichtet. Die Drachenier hatten nicht einmal davor zurückgeschreckt, Kinder niederzumetzeln. Es sah aus, als hätten sie ganz Winterborg vollkommen auslöschen wollen. Selbst von dem Kadaver des roten Drachen, den Bjonn Dunkelhaar besiegt hatte und der noch nicht hatte fortgeschafft werden können, waren nur noch verkohlte Knochen und ein riesiger fratzenhafter Schädel geblieben; offenbar hatte ihn ein Feuerstrahl aus dem Rachen einer anderen Bestie getroffen.
Kallfaer erreichte die Überreste seines niedergebrannten eigenen Hauses. Von den Toten war kaum etwas geblieben, ihre Leiber hatte das Drachenfeuer nahezu vollständig verzehrt. Der eisige Wind wehte Asche auf. Hier und dort lagen die metallenen Teile von Waffen, Spangen, Schmuck oder Münzen.
Ohnmächtige Wut kam in Kallfaer auf, als er das sah. Wut auf die skrupellosen Drachenier, die sich ausgerechnet den abgelegendsten Winkel des Seereichs ausgesucht hatten, um einen Krieg zu beginnen, und die dabei so ehrlos waren, einen ganzen Ort bis zum letzten Säugling auszulöschen.
Mehrere Stunden lang irrte Kallfaer durch das, was von dem Ort übrig war, schlug sich mit seinem Schwert durch eingestürzte, vollkommen verkohlte Dächer aus Seemammuthaut und sah sich jeden noch halbwegs erkennbaren Toten an, in der stillen Hoffnung, dass irgendjemand aus seiner Sippe vielleicht überlebt hatte, so wie er.
Tränen des Zorns rannen ihm aus den Augen und in seinen vom Blut verklebten Bart.
Schließlich fand er eine Gruppe offenbar zusammengetriebener Seemannen unterschiedlichen Alters, die man ohne Gegenwehr erschlagen hatte. Es waren Männer, Frauen und Kinder, und die Männer hatte man vorher offenbar entwaffnet, denn Speere oder Schwerter fand Kallfaer bei den Toten nicht.
Die Drachenier hatten ihre Mordgier an Gefangenen ausgelassen! Die Augen der Toten waren weit aufgerissen, und ein namenloser Schrecken stand in ihren Gesichtern. So als wäre ihnen der Totengott Ogjyr selbst erschienen – und nicht bloß eine Horde drachenischer Mörder.
Kallfaer ersparte es sich nicht, sich jedes dieser Gesichter anzusehen. Unter den Toten entdeckte er Xjergrid, eine seiner Nebenfrauen. „Diese Bestien!“, murmelte er grimmig. „War das die Strafe dafür, dass Wulfgar diesen schmaläugigen Fluchbringer-Bastard bei sich aufnahm? Wenn dem so war, mag Njordir ihm die Aufnahme in sein nasses Reich verweigern, sodass er ein Opfer Ogjyrs wird!“
Doch Kallfaer sprach in die Stille hinein. Er zürnte einem kalten Schicksal, und die gleichgültigen Götter teilten seine Empörung offenbar nicht.
„Ein Zeichen nur, ihr Götter!“, rief er verzweifelt aus. „Ein winziges Zeichen, dass ihr dereinst Gerechtigkeit herstellen werdet! Oder wollt ihr diese Aufgabe einem einsamen Sterblichen überlassen?“
Da aber erhielt Kallfaer das, wonach er verlangte.
Ein Zeichen.
Auf dem Boden lag ein silbernes Amulett, nur so groß wie ein Daumennagel. Es hing an einem zerrissenen Lederband. Kallfaer hob das Amulett auf. Eine winzige Gravur, wie sie nur die besten Silberschmiede zu Wege brachten, zierte den Anhänger. Njordir schützt Nya, stand dort in seemannischen Runen. Dieses Amulett hatte Kallfaer Eisenhammer seiner Tochter Nya einst zum zwölften Geburtstag geschenkt, und seitdem hatte sie den Glücksbringer stets getragen.
Offenbar hatte sie es verloren, aber so sehr Kallfaer auch suchte, unter den dahingemetzelten Toten fand er sie nicht. In diesem Augenblick erschien dem Schmied der Gedanke, dass die Drachenier sie möglicherweise als Gefangene fortgeführt hatten, wie ein schwacher Trost.
Kallfaer stieß einen lauten, wütenden Schrei aus, in dem seine ganze Wut und sein innerer Schmerz zum Ausdruck kamen. Er hatte das Gefühl, als ob Fjendur selbst sein Herz mit seiner kalten Hand umfasst hätte und es erbarmungslos zusammendrückte. Warum quälten ihn die Götter, anstatt ihm beizustehen? Eine Faust schloss sich um den Talisman. Njordir hatte das Versprechen nicht halten können, dass die Runen auf dem Amulett zu geben schienen. Er hatte Nya nicht davor bewahrt, die Frucht des Bastards zu empfangen, den Wulfgar Wulfgarssohn großgezogen hatte. Vielleicht waren die drachenischen Mörder ja gekommen, um sich diese Leibesfrucht von ihresgleichen zu holen?
Dieser Gedanke ließ Kallfaer einfach nicht mehr los, und er war nahe daran, die Götter allesamt in Bausch und Bogen zu verfluchen - an erster Stelle Njordir, diesen Versager, der die Seinen offenbar nicht schützen konnte, aber auch Fjendur und die Götter der Fünf Monde, und von denen vor allem Groenjyr, den trinksüchtigen Schicksalsgott des Jademonds, der wohl zurzeit mal wieder einen schweren Rausch ausschlief!
Aber Kallfaer hielt sich zurück. Er schluckte seine Wut so gut es ging hinunter und ließ den wüsten Fluch, der ihm schon auf den Lippen lag, nicht nach draußen dringen. Mochten die Götter vielleicht auch seine Gedanken lesen, ein ausgesprochener Fluch hatte doch eine ganz andere Macht, und mit dem Amulett war ihm ja immerhin ein Zeichen gesandt worden – auch wenn Kallfaer noch nicht so recht verstand, was dieses Zeichen nun eigentlich bedeuten sollte.
Er presste seine Faust mit dem Amulett an seine Brust. Was auch immer geschehen sein mochte – wenn sich zeigen sollte, dass die Götter nicht in der Lage waren, für Gerechtigkeit zu sorgen, so war Kallfaer wild entschlossen, dies selbst in die Hand zu nehmen. Mochte es auch lange dauern und auch er am Ende von Drachen zerrissen oder zu Asche versengt werden! Das war ihm gleichgültig.
Kallfaer schnitt mit dem langen Messer, das er am Gürtel trug, einem gefallenen Drachenier ein Stück seines Gewandes ab, woraus er sich einen Verband für die Kopfverletzung machte.
Er überlegte, was er tun konnte. Auf das Festland des Seereichs an die Küste von Sturmland überzusetzen war für einen einzelnen Mann so gut wie unmöglich. Davon abgesehen waren die Schiffe im Hafen verbrannt. Aber selbst wenn dort noch eine brauchbare Barkasse, die er allein hätte segeln können, gewesen wäre, hätte die Reise ein enormes Risiko dargestellt. Die See zwischen Winterland und Sturmland war unberechenbar, und den starken Strömungen sowie den unvorhersagbaren Wetterwendungen konnten eigentlich nur größere Schiffe trotzen.
Aber mit einer Barkasse konnte Kallfaer eventuell die Küste entlang nach Süden segeln. Am Südkap Winterlands lag der Hof von Orik Wulfgarssohn, Wulfgar Wulfgarssohns jüngerem Bruder. Vor vielen Jahren hatte Orik im Streit einen Mann erschlagen und war dafür vom Kapitänsrat verbannt worden.
Aber angesichts dessen, was sich in Winterborg zugetragen hatte, würde Orik Wulfgarssohn nicht mehr nachtragend sein, zumal die Drachenier die Sippe seines Bruders gänzlich ausgelöscht hatten.
Kallfaer wusste, dass Orik es im Laufe der Jahre zu einigem Wohlstand gebracht hatte. An die hundertfünfzig Menschen lebten auf seinem Hof, und er nannte drei prächtige Langhäuser sowie ein Kesselhaus zum Aufkochen von Seemammutfleisch sein Eigen. Außerdem züchtete er Riesenschneeratten.
Hin und wieder ankerten Händler, die nach Winterborg kamen, zuerst in der Bucht bei Oriks Hof und verkauften ihm den besseren Teil ihrer Waren zu einem höheren Preis, was in Winterborg schon wiederholt für Missstimmung gesorgt hatte. In mehr oder minder regelmäßigen Abständen hatte der Kapitänsrat daher darüber debattiert, ob der damalige Richtspruch nicht zu milde gewesen war und man Orik nicht nachträglich noch zum Tode oder wenigstens zum Verlust seines gesamten Vermögens verurteilen könnte.
Aber diese Debatten hatten stets zum gleichen Ergebnis geführt. Es hätte sich nämlich nie jemand gefunden, der bereit gewesen wäre, ein neues Urteil mit seinen Männern durchzusetzen, da man sehr wohl wusste, dass eine Reihe sehr guter Kämpfer und Seeleute aus Borgland in Oriks Diensten standen und man Verluste in ungewisser Höhe in Kauf nehmen musste, wenn man Oriks Hof angriff.
Kallfaer musste gestehen, bei den Zusammenkünften des Winterborger Kapitänsrates stets für eine nachträgliche härtere Bestrafung Oriks gestimmt zu haben, da er der Ansicht gewesen war, dass das milde Urteil auf den Einfluss der Sippe von Wulfgar Eishaar zurückging, aber nicht dem Willen der Götter entsprach. Nun musste Kallfaer damit rechnen, dass die Kunde über sein Abstimmungsverhalten mit den Händlern auch bis zu Oriks Hof gelangt war.
Dennoch meinte er hoffen zu dürfen, dass Orik den aus seiner Sicht vielleicht gerechtfertigten Zorn gegen Kallfaer zügeln konnte, denn schließlich mussten sich alle Seemannen der Gefahr durch die drachenische Kriegsdrachenarmada entgegenstellen.
Kallfaer musste Oriks Hof erreichen. Sein Entschluss stand fest. So sah er sich im Hafen nach einer Barkasse um, die noch einigermaßen seetüchtig war oder die sich zumindest mit geringem Aufwand notdürftig reparieren ließ.
Aber die Drachenier hatten ihren Vernichtungsschlag mit aller Gründlichkeit geführt. Nur verkohlte Wracks lagen noch am Ufer. Die Barkassen waren ebenfalls zerstört. Manche hatten die Drachenier brennend hinaus in die Bucht treiben lassen, und die Ebbe hatte sie fortgezogen. Sie waren unerreichbar.
Aber noch etwas anderes fiel Kallfaer auf: An dem Felsen, den man die „Vergebliche Friedensgabe“ nannte, kauerten Tausende von Eismöwen. Sie kreischten nicht, wie es sonst ihre Art war. Sie bewegten nicht einmal die Flügel. Nur etwa ein Dutzend Schritt entfernt lagen ein paar im Kampf gefallene Tote beider Seiten. Aber keiner der Vögel wagte es, sich an den Leichen gütlich zu tun.
Hin und wieder machte einer von ihnen ein paar Schritte voran, auf die Leichen zu, nur um sogleich wieder zurückzuweichen.
Kallfaer schluckte. Der Legende nach ließen die Eismöwen stets dem Totengott Ogjyr den Vortritt und stürzten sich erst dann auf die Toten, wenn der Herr des Augenmonds die Seelen von den Leibern getrennt hatte. Ogjyr musste noch da sein, und seine Aura hielt die gefiederten Aasfresser zurück. Anders war es für Kallfaer nicht erklärbar, dass die Eismöwen sich nicht an die Toten heranwagten und so furchtsam an der „Vergeblichen Friedensgabe“ kauerten.
Kallfaer ließ einen letzten Blick über den Hafen und die zerstörten Schiffe schweifen. Es wurde Zeit, dass er sich von diesem Ort des Todes entfernte. Vielleicht lebte er nur noch deshalb, weil Ogjyr noch nicht dazu gekommen war, seine Seele vom Körper zu trennen, weil in den Ruinen von Winterborg so viel dieser grausamen Arbeit zu verrichten war, dass es selbst den Herrn des Augenmonds überforderte. Kallfaer hatte nicht die Absicht, dem Todverkünder die Gelegenheit zu geben, das Versäumte bei ihm nachzuholen.
Er erreichte die Pferche der Riesenschneeratten. Dort lag der gefallene Wulfgar Wulfgarssohn. Viel mochte den Schmied in letzter Zeit von dem Urahnen des großen Wulfgar Eishaars getrennt haben, aber in diesem Augenblick empfand er nur noch Trauer und Wut darüber, ihn so daliegen zu sehen.
Bei den Pferchen waren vom Drachenfeuer versengte sterbliche Überreste zu finden, die nicht allein von einem Menschen stammen konnten. Ein beklemmendes Gefühl ergriff von Kallfaer Besitz. Er konnte kaum atmen. Überall sonst hatte er sich die Toten genau angesehen und nach Spuren gesucht – aber an diesem Ort gelang es ihm nicht. Er schien gerade die Pferche zunächst instinktiv gemieden zu haben, wofür er keine rechte Erklärung fand. Doch dann erinnerte er sich an die Vögel an der „Vergeblichen Friedensgabe“.
Ogjyr …