Das Fenster zum Zoo - Carola Clasen - E-Book

Das Fenster zum Zoo E-Book

Carola Clasen

4,3

  • Herausgeber: KBV
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Als der Kölner Zoo am Morgen seine Pforten öffnet, hat die vergangene Nacht grausige Spuren hinterlassen: Im Käfig des Grizzlys liegt die zerfetzte Leiche eines jungen Mannes. Der verstümmelte Körper gehört Ben Krämer, einem Fotografen, der im Zoo auf Motivsuche war. Ist er aus Unachtsamkeit in die Fänge des Bären geraten, oder steckt mehr dahinter? Die Tierpflegerin Nelly Luxem scheint etwas zu verbergen zu haben, und der frisch pensionierte Kommissar und Zooliebhaber Lorenz Muschalik versucht ganz behutsam hinter ihr dunkles Geheimnis zu dringen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 226

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,3 (18 Bewertungen)
10
3
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carola Clasen

Das Fenster zum Zoo

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

NovembernebelDas Fenster zum ZooTot und begrabenAuszeitSchwarze SchafeWildflugMord im Eifel-ExpressSpiel mir das Lied vom Wind

Carola Clasen: Seit 1998 schreibt sie Kriminalromane, die in der Eifel spielen. Mit »Spiel mir das Lied vom Wind« erschien 2009 ihr sechster Roman um die eigenwillige Kriminalkommissarin Sonja Senger. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« ist Mitglied im Syndikat und lebt und arbeitet in Hürth.

Carola Clasen

Das Fenster zum Zoo

1. Auflage 20022. Auflage 20053. Auflage 2010

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 99 86 68Fax: 0 65 93 - 99 87 01Umschlagillustration: Ralf KrampRedaktion, Satz: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-934638-83-9E-Book-ISBN 978-3-95441-019-4

FürStephan und Jan

1. Kapitel

Danach irrte sie voller Panik durch die Straßen.

Sie verlief sich, wusste nicht mehr, wo sie war, ehe sie ans Wasser kam. An den Rhein. Sie lief den gepflasterten Weg hinunter zum Ufer. Das Wasser war schwarz in der Nacht, schlug gluckernd gegen das Ufer, und es roch nach Öl und Tang. Kleine Schaumkronen schoben sich an Land.

Wasser zog sie an, schon immer. Als Kind war sie gerne geschwommen. Aber das war lange her. Sie wusste nicht, ob sie es noch konnte, ob man Schwimmen verlernen kann oder ob es ist wie Gehen und Laufen.

Sie ging in die Hocke, um Luft zu holen und nachzudenken, nur einen Moment. Sie sah sich um. Zur Mülheimer Brücke hin wurde die Uferwiese mit ihren einzelnen Bäumen und Büschen breiter. Manchmal graste hier eine Schafherde. Manchmal schliefen hier Jugendliche unter freiem Himmel. Heute war sie allein.

Und trotzdem fühlte sie sich beobachtet.

Ein Frachtschiff glitt vorbei, sie hörte den tuckernden Motor des Schiffes erst, als es auf gleicher Höhe mit ihr war. Es lag hoch im Wasser, von jeder Last befreit, und fuhr flussabwärts, Richtung offenes Meer. Ein Licht brannte im Fährhaus und eines an Bug und Heck. Wäsche flatterte auf einer Leine. Sie wünschte, sie könnte einfach aufspringen, wegfahren, nur weg – nach dem, was geschehen war. Schon wieder weg.

Sie begriff es immer noch nicht. Sie hatte an alles gedacht, alles geplant. Es hätte nicht passieren dürfen. Gerade ihr nicht. Und nicht hier in Köln.

Sie war noch nicht lange hier, kein halbes Jahr, und es hatte gut angefangen. Jetzt wäre es vollkommen gewesen, ein wirklicher Neubeginn. Sie war gern hier. Nicht unbedingt in der Stadt, von der sie kaum etwas wusste, sondern im Zoo. Sie war es nicht gewöhnt, mit offenen Armen empfangen zu werden. Aber ihr Kollege Mattis war nicht wütend auf sie gewesen, als sie die Bären übernommen hatte, die er bis dahin gepflegt hatte. Sie an seiner Stelle wäre wütend gewesen, mehr als das. Sie hätte den Zoo sofort verlassen. Nichts hätte sie dort mehr halten können. Nichts.

Und jetzt hatte sie alles aufs Spiel gesetzt. Jedes Wort von ihr würde eine andere Bedeutung haben. Alles, was sie tat, würde beobachtet werden. Wenn der Verdacht erst einmal da war, blieb er haften – vielleicht zu Recht, vielleicht die Strafe für bodenlosen Leichtsinn.

Es war eine warme Nacht, und sie zog die schweren Arbeitsschuhe und die groben Socken aus, in denen ihre Füße brannten, wie immer nach einem langen Tag. Sie ging ins Wasser. Knietief watete sie am Ufer entlang, aber ihre Füße kühlten nicht ab.

Woher ihre Leidenschaft für Bären kam, wusste sie nicht genau. Vielleicht hatte es mit dem hellbraunen Stoffbären angefangen, den ihr Vater ihr geschenkt hatte, als sie noch nicht einmal vier gewesen war, und der Vater kurz darauf für immer aus ihrem Leben verschwand. Danach war sie viel allein, ihre Mutter ging wieder arbeiten, ließ sie tagsüber bei der Nachbarin zurück und nachts allein in ihrem Bett. Der neue Vater, der eines Tages auftauchte, war nicht wie der alte. Man konnte Väter nicht einfach austauschen.

Aber was ist ein Stoffbär gegen einen ausgewachsenen Braunbären. Gegen einen Grizzly. Seine Größe war es, die sie am meisten beeindruckte. Nein, angefangen hatte es mit dem Zirkus. Nicht mit dem Stoffbären. Der Zirkus war in die Stadt gekommen. Und der Zirkus hatte einen Tanzbären gehabt. Erst hatte sie mit den anderen Kindern geklatscht, als er seine Runden aufrecht stehend drehte, im Takt der Musik. Zwar hatten sie der Maulkorb und die Leine, an der er hilflos hing, gestört, doch es hatte lustig ausgesehen. Erst viel später fand sie es demütigend, als sie durch einen Zufall erfuhr, wie ein Dompteur einen Bären zum Tanzen bringt; der Zufall, der ihr Leben veränderte.

Unvergesslich die Vorstellung, den Bären zu einer bestimmten Musik auf einer brennend heißen Fläche aufrecht stehen zu lassen. Die Musik vergisst der Bär nie mehr. Wenn er sie hört, erinnert er sich an die unerträgliche Hitze und hebt seine Tatzen auf und ab, um sie ertragen zu können.

Und es war, als hätte ihre kindliche Welt Risse bekommen.

Sie hörte ein Plätschern, vielleicht ein Fisch, der hochgesprungen war, aber dann sah sie den Punkt in den schaukelnden Wellen. Einen Punkt an einem Faden, und der Faden führte an Land, und da saß er. Der Angler.

Er saß ein paar Meter von ihr entfernt zwischen zwei niedrigen Büschen. Er musste sie gesehen haben, als sie gekommen war. Es war zu spät sich zu verstecken oder still zu verhalten, die Füße im Wasser nicht mehr hin und her zu schieben.

Mit den Jahren waren ihr grausame Bilder von Bären in die Hände gefallen. Bären als lebende Zapfsäulen für angebliche Medikamente, Bären in Verließen und viel zu engen Käfigen. Einsame Bären mit traurigen Augen, gequält und misshandelt. Bären, denen man die Tatzen abgehackt hatte, um Souvenirs daraus zu machen. Und ihre Jäger, die stolz Bärenköpfe und Felle in die Kamera hielten. Es waren immer Männer, die so etwas taten; ihr Misstrauen hatte sich schon früh auf Männer konzentriert.

Den nächsten lebenden Braunbären hatte sie im Zoo gesehen: Kaspar. Und sie hatte immer auf seine Tatzen schauen müssen, die zwar groß und breit aussahen, aber auch weich und empfindsam. Alles andere hatte sich von selbst entwickelt. Die Arbeit im Zoo in den Schulferien, während die Mitschülerinnen verreist waren, der erste Kontakt mit dem Bären – da hatte ihre Berufswahl schon festgestanden. Nach dem Schulabschluss war sie zurückgekommen, und ihr eigentliches Leben hatte beginnen können. Kaspar war noch da gewesen und hatte sie wiedererkannt, als hätte er auf sie gewartet. Gefolgt waren die Ausbildung zur Tierpflegerin im Zoo und das Angebot zu bleiben, bei dem Bären. Ein Leben lang, das war es, was sie wollte. Nur das. Er würde sie nie verlassen. Solange es den Bären gab, wäre sie nie mehr allein.

Die Sonne ging über der Mülheimer Brücke auf. Der Himmel wurde heller, das weiche Licht verdrängte fast übergangslos die Nacht. Sie hörte einen surrenden Ton, ein Klicken und Schnappen. Sie verließ sich nicht auf ihr Gehör, sondern blickte sich vorsichtig um. Der Angler stand auf, holte die Angel ein, packte seine Tasche, klappte den Hocker zusammen und ging ganz dicht hinter ihr zur Boltensternstraße hinauf.

»Morgen«, brummte er, und sie zuckte zusammen.

»Geht nichts über einen Sonnenaufgang am Rhein. Aber ich muss noch zur Arbeit.«

Er sah sich nicht mehr nach ihr um, und sie atmete auf.

Sie musste hier verschwinden, ehe die Stadt erwachte und alle sie sehen würden. Sie trocknete die Füße mit ihren Socken ab, zog die feuchten Socken über und stieg in die Arbeitsschuhe, an denen noch der Dreck der letzten Nacht klebte. Erde und Matsch aus dem Bärengehege, Stroh aus der Höhle, Trittspuren auf der Kappe von ihren eigenen Schuhsohlen, Kratzer von den Krallen des Bären. Auch ihre Arbeitshose war dreckiger als sonst. Am linken Hosenbein entdeckte sie einen Riss, über die Haut darunter zogen sich Lehmstreifen.

Sie hätte im Schutz der Dunkelheit nach Hause gehen sollen, jetzt würde man ihr alles ansehen.

Der Autoverkehr hatte noch nicht begonnen. Sie ging mit schnellen Schritten über die stille Boltensternstraße und bog am Blumengroßmarkt links in die Barbarastraße ein.

Ein Zeitungsjunge fuhr auf seinem Fahrrad ohne Licht an ihr vorbei, ein herrenloser Hund hob an einer Haustür sein Bein, und die Amseln auf den Dächern begannen in den Morgen zu singen.

Zu Hause schlich sie in ihr Zimmer, so wie sie sich vor ein paar Stunden herausgeschlichen hatte, auf Socken. Sie schloss die Tür hinter sich ab. Das tat sie sonst nie. Die Arbeitsschuhe stellte sie in den Schrank, dann legte sie sich aufs Bett, so wie sie war, in der dreckigen Arbeitshose mit dem Riss im linken Hosenbein. Auch das tat sie sonst nie.

Es war keine Nacht wie jede andere gewesen.

Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass die Wecker ihrer beiden Mitbewohnerinnen links und rechts von ihr zu klingeln anfingen. Sie hatten ihre Wecker auf die gleiche Zeit gestellt, sie fuhren zusammen zur Arbeit. Wenn sie gingen, war es auch für sie an der Zeit aufzustehen. Aber heute war alles anders. Heute würde sie nicht aufstehen können.

Als die Wecker klingelten, erschrak sie, obwohl sie nicht geschlafen hatte. Sie lauschte den Geräuschen. Türen schlugen, Schubladen wurden auf- und zugemacht. Christine ging ins Bad. Christine ging immer an ungeraden Tagen zuerst ins Bad. Sie hatten ihr Ritual, damit sie rechtzeitig fertig wurden. Während Christine duschte, machte Sabine das Frühstück für drei Personen. An geraden Tagen war es umgekehrt.

Christine und Sabine waren die einzigen Freundinnen, die sie je gehabt hatte, abgesehen von Kinderfreundschaften, die vergingen. Sie waren ein Glücksgriff. Als sie sich auf das Inserat hin gemeldet hatte – Kleines Zimmer in Frauen-WG –, hatte sie mit Frauen gerechnet, die sie eingehend beobachten würden und vielleicht Anstoß daran nehmen könnten, wie sie lebte, wie sie gekleidet war, wie sie ihr Haar trug. Und wie schwerfällig sie war.

Christine und Sabine hatten nichts dergleichen getan. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie könnten Schwestern sein, so selbstverständlich war ihr Zusammenleben. Sie selbst hatte keine Geschwister.

»Nelly. Aufstehen!«

Sabine hämmerte an ihre Tür. Aber sie konnte nicht öffnen. Sie konnte nicht aufstehen. Ihr Körper war schwer, schwerer als sonst, er gehorchte ihr nicht, war wie gelähmt, wie Blei.

»Nelly!«

Sie bekam keinen Ton heraus, als sie den Mund öffnete.

»Nelly! Ist alles in Ordnung bei dir?«

Dann schaffte sie es doch, die Tür zu öffnen.

»Du bist ja schon angezogen«, sagte Sabine und sah an ihr herunter. Aber sie sah nicht die Spuren der Nacht, sie war in Eile.

»Wir müssen los«, rief Christine. Sie wartete schon in der Diele.

»Tschüss!«

Sie konnte nicht frühstücken. Sie räumte den Tisch ab und verstaute Brot, Marmelade und Käse im Kühlschrank. Den Kaffee goss sie in eine Thermoskanne.

Als sie zur Arbeit ging, war sie viel später dran als sonst. Der Zoo lag friedlich da, wie immer, wie jeden Morgen. Hatte niemand nach dem Grizzly gesehen? War niemand in sein Gehege gegangen? Der Zoo hatte längst seine Tore geöffnet. Hatte kein Zoobesucher etwas bemerkt?

Es blieb an ihr hängen. Sie musste Alarm geben, um Hilfe schreien. Dabei hatte sie schon längst keinen Atem mehr.

2. Kapitel

Gut, dass ich ein Hobby habe«, sagte Lorenz Muschalik jedem, der ihm die Hand zum Abschied gab.

Es war der 19. Juli, ein Mittwoch und sein letzter Tag im Dienst. Das Alkoholverbot im Polizeipräsidium Köln war vorübergehend aufgehoben, und Muschalik hatte genügend Sekt kaltgestellt, sodass alle auf ihn trinken konnten. Und er hatte zwei Platten mit belegten Brötchen aus der Kantine kommen lassen, eine mit Käse und eine mit Wurst. Die Kollegen von der Mordkommission schenkten ihm zum Abschied ein Foto, ein Gruppenbild mit Chef und mit Lise Becker, der Sekretärin, vorne kniend in der ersten Reihe, im hellen Kostüm. Auf dem Passepartout hatten alle unterschrieben.

Staatsanwalt Henrik van Dörben war seiner Einladung gefolgt, ebenso Gerichtsmediziner Theo Fürbringer und der Ballistiker Kai Lennartz. Wer einen einlud, lud alle ein, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Kai ließ sich keine Feier entgehen, keinen Schluck Alkohol und vor allem nicht die Gelegenheit, einen Blick auf das weibliche Personal zu werfen. Er war im Präsidium für seine Affären bekannt. Er färbte seine Haare weißblond, trug flippige Kleidung und im rechten Nasenflügel ein Piercing. Er war charmant und witzig und die Frauen im Präsidium fanden ihn alle »süß«, allein Lise Becker sah ihm nicht nach.

Van Dörben und Theo waren ganz anders.

Van Dörben lebte nur für seine Gesetze und vor allem für die Lücken, die sie boten, wenn man sie nur genügend studierte. Er war geradezu versessen darauf, das Gesetz zu dehnen, wo immer es möglich war. Jeder im Präsidium wusste, dass er an den Wochenenden vor seiner jungen Familie floh, sich mit dem Gesetzbuch an irgendeinen abgelegenen Teich im Erftkreis setzte und die Angel auswarf. Gesetzeslücken ausfindig zu machen, war seine Passion, nicht das Angeln. Er mochte keinen Fisch, und er fing auch nie etwas. Wahrscheinlich angelte er sogar ohne Köder. Aber beim Angeln fand er die Ruhe, die er brauchte.

Und Theo war unten im Keller in seinen kalten Sezierräumen mit den Jahren weltfremd geworden. Er war wortkarg. Man konnte kein harmloses Schwätzchen mit ihm halten, weil er immer nur das Nötigste sagte. Er war ein Mann der Fakten. Er hasste es, wenn Gerüchte in die Welt gesetzt wurden, und im Polizeipräsidium wurde wie in jeder anderen Behörde kräftig getratscht. So blieb er meist allein, man sah ihn nie im Flur mit jemandem reden, seine Telefonate waren kurz und knapp und wenn man zu ihm gehen musste, war man in zwei Minuten wieder draußen.

Auch heute sagte Theo nichts, stand allein herum und nippte an seinem Wasserglas. Er trug eine Fliege, einen kleinen akkuraten Schnäuzer und eine goldene Taschenuhr und wirkte ein bisschen wie aus einer anderen Zeit.

»Ich bin nicht gut im Reden«, hatte er Muschalik erklärt, als sie das erste Mal miteinander zu tun hatten, »ich arbeite den ganzen Tag mit Leichen. Sie sind ziemlich schweigsam.« Die einzige Unterhaltung in seinem kalten Keller kam von seinem Walkman, den er ständig trug. Er liebte Edvard Grieg. Beim Sezieren pfiff er dazu.

Die Kollegen hatten alle leider nicht viel Zeit, wollten sich nur kurz blicken lassen und ihm Gesundheit wünschen für den Rest seines Lebens. Sie sagten, dass sie ihn um seine Freiheit beneideten, er solle sie genießen. Dann sprachen sie durcheinander, nicht mehr mit ihm, sondern über seinen Kopf hinweg über dienstliche Belange.

Nach einer halben Stunde war alles vorbei, Muschalik blieb allein zurück und trug die Reste in die Teeküche, stellte das Fenster in seinem Büro auf Kipp und warf einen letzten Blick hinunter in den Hof. Dann räumte er seine Kaffeetasse, den Kamm aus der Schublade und den Schal von der Garderobe in seine Aktentasche und ließ auch den Kaktus nicht zurück, der seit Jahren auf seinem Schreibtisch in unveränderter Größe stand.

Leise zog er die Tür hinter sich zu. Sein Namenschild fischte er aus der Plastikhalterung und zerknüllte es in seiner Hosentasche.

»Das war’s, Muschalik«, sagte er.

Er hatte sich seinen Abschied anders vorgestellt.

Als er am Morgen zum letzten Mal um sechs Uhr den Wecker zum Schweigen gebracht hatte, hatte er einen unangenehmen Druck in der Magengegend verspürt. Er hatte sich lange auf den neuen Lebensabschnitt gefreut. Seine Frau Betty, die vor fünf Jahren gestorben war, und er, sie hatten Pläne gemacht für die Zeit danach. Sie wollten vor allem gemeinsam reisen, sie hatten noch nicht viel von der Welt gesehen. Ihr zuliebe hatte er auch nach ihrem Tod auf der Vorruhestandsregelung bestanden, sogar Urlaubstage angesammelt um früher aufhören zu können, und sich geweigert darüber nachzudenken, dass die Dinge nun anders lagen – für einen Witwer wie ihn. Heute morgen aber hatte er gewünscht, der Tag selbst wäre schon vorbei. Er liebte es nicht, im Vordergrund zu stehen. Er fürchtete eine Rede vom Chef und viel Brimborium um seine Person. Er fürchtete vor allem, nicht Herr seiner Gefühle zu sein. Nach dem Wecken hatte er kalt geduscht, sich sorgfältig rasiert, seinen besten Anzug angezogen, in dessen Stoff kleine Karos eingewebt waren, und war ein letztes Mal mit schwerem Herzen und seiner Aktentasche zum Dienst gegangen.

Jemand tippte auf seine Schulter, und als er sich umdrehte, fiel ihm der Kaktus aus der Hand. Olaf Kraft von der Mordkommission stand hinter ihm und sah zufrieden aus. Kraft war sein Nachfolger.

Kraft lief stets in nicht mehr ganz schwarzer, leicht ergrauter Kleidung herum und hatte sich für eine Stoppelfrisur entschieden – seine Haare waren höchstens einen Zentimeter lang. Auch er hatte sich zurückhaltend gezeigt, keine Umarmung unter Männern, kein Schulterklopfen.

Kraft bückte sich und hob den Kaktus vorsichtig auf. Die herausgefallene Erde verwischte er mit dem Schuh.

»Alles klar, Lorenz?«, wollte er wissen.

»Natürlich.«

Muschalik nahm den Kaktus ungeschickt an sich und stach sich in den Daumen.

»Du hast es so gewollt, nicht wahr?«

»Den Vorruhestand, meinst du?« Muschalik sah irritiert auf den Blutstropfen an seinem Daumen.

»Ja, den auch. Aber ich meine die Abschiedsfeier.«

Er hatte mit Kraft über seine Bedenken vor dem letzten Tag im Dienst gesprochen und dass er sich wünschte, es wäre ein ganz normaler Tag, nur eben der letzte.

»Es war nicht einfach, den Chef von seiner Rede abzuhalten und der Lise die Girlanden zu verbieten, das kannst du mir glauben. Wir hätten dich gern groß gefeiert, das weißt du.«

»Danke«, sagte Muschalik und leckte das Blut ab.

Kraft war ein Imi und Vater von sechsjährigen Zwillingen, Tim und Tom. Sie hatten rote Haare und blaue Augen. Toms Gesicht war von Sommersprossen wie mit Sternen übersät, Tims Haare kringelten sich zu kleinen Locken. Ihr Vater konnte keine Ähnlichkeit mit ihnen vorweisen. Kraft wirkte immer ein bisschen orientierungslos. Sein Privatleben schien ein Chaos zu sein. Muschalik und Kraft hatten sich auf einem Gewerkschaftsseminar kennen gelernt. Kraft wollte Karriere machen, und als er von Muschalik hörte, dass in Köln der Posten des Hauptkommissars demnächst neu zu besetzen sei, hatte er sich beworben. Vor einem halben Jahr war er dann von Wiesbaden nach Köln gekommen, zur Einarbeitung. Er hatte seine Familie vorerst dort zurückgelassen, die nachziehen wollte, sobald er eine passende Wohnung gefunden hätte. Muschalik hatte den Verdacht, dass die räumliche Trennung von seiner Frau Rosa auch ein Test für ihre Ehe sein sollte. Denn Rosa machte keine Anstalten umzuziehen. In der Zwischenzeit teilten sie sich die Kinder. Kraft, der wohl beweisen wollte, dass er ein guter Vater war, holte die Kinder so oft es ging nach Köln. Aber wenn sie bei ihm waren, wusste er nichts mit ihnen anzufangen. Fast jeder in der Abteilung hatte die Zwillinge schon gehütet, allen voran Lise Becker. Sie hatten schon viele Nachmittage mit ihr und dem Katalog mit den Fahndungsfotos als Malvorlage im Polizeipräsidium verbracht.

»Sehen wir uns mal im Zoo, Lorenz?«, fragte Kraft.

»Ja. Wir sehen uns im Zoo.«

Denn Muschaliks Hobby war der Zoo. Der Kölner Zoo.

Zu Hause stellte er den Kaktus auf die Fensterbank und schob die Aktentasche mit Inhalt weit unters Bett. Sie hatte ihren Dienst getan, sie hatte ein Anrecht auf Ruhe, wie er. Am Küchenfenster zog er sich mit einer Pinzette den Stachel aus dem Daumen und dachte nach.

Betty hatte ihn vor fünf Jahren mit all dem zurückgelassen, womit er sich nicht auskannte: mit schmutziger Wäsche, einem defekten Staubsauger, einem Fensterputzgerät, einem Dampfkochtopf und einer Tiefkühltruhe, in der geheimnisvolle Päckchen ruhten. Aber er hatte den Kampf aufgenommen, auch gegen die Einsamkeit, die über ihn hergefallen war wie ein Raubtier. Inzwischen kam er gut zurecht, allein. Er hatte den Haushalt neu organisiert, obwohl Betty damit nicht einverstanden gewesen wäre. Die Wäsche gab er in die Wäscherei, warm gegessen wurde nur während der Woche in der Kantine, den Staubsauger ersetzte er endlich durch ein neues Gerät, und Fensterputzen stellte sich als relativ einfach heraus, wenn man es mit den Schlieren nicht so genau nahm. Und das tat er nicht.

Betty hatte seine Liebe zum Zoo geteilt, auch die Patenschaft für den Marabu, die sie kurz vor ihrem Tod übernommen hatten. Die Wahl war auf den Marabu gefallen, weil die zweihundertfünfzig Euro »Betriebskosten« für ihn eher dem Gehalt eines Hauptkommissars entsprachen als etwa die Summe für einen stolzen Löwen. Außerdem riss sich niemand um ihn, er war nicht besonders schön anzusehen, weder als junges noch als ausgewachsenes Tier. Dafür, dass er zur Familie der Störche gehörte, war er geradezu hässlich.

Während der letzten fünf Jahre hatte Muschalik seine freie Zeit zwischen dem Nordfriedhof und dem Zoo aufgeteilt. Er wohnte auf der Florastraße gegenüber St. Hildegardis. Betty und er waren es leid gewesen, durch die halbe Stadt aus Klettenberg mit der KVB anzureisen. Sie hatten sich jahrelang vergebens um eine Wohnung auf der Stammheimer Straße bemüht, mit Blick auf den Zoo. Einmal wäre es ihnen beinahe gelungen. Eine ältere Dame hatte einen Platz im Altersheim gefunden und suchte einen Nachmieter. Die Wohnung wäre genau richtig gewesen für Muschalik und Betty; Wohnküche, Schlafzimmer, Bad und Balkon im obersten Stockwerk und uneingeschränkte Sicht auf den Zoo. Aber kurz bevor die Sache spruchreif geworden war, hatte Berta Heimbach ihr Angebot zurückgezogen. Sie konnte sich nicht von ihren Möbeln trennen und wollte lieber nach einer mobilen Betreuung Ausschau halten. Betty hatte Verständnis gehabt, Muschalik war wütend auf Berta Heimbach gewesen, deren Namen er nie wieder vergessen würde; so nah am Ziel, das konnte er ihr nicht verzeihen. So hatten sie sich mit einer Wohnung in der Florastraße begnügen müssen, von der ein Fußweg von nur zehn Minuten – wenn man zügig ging – zum Haupteingang des Zoos führte. Selbst zum Nordfriedhof konnte er zu Fuß gehen, die Neußer Straße hoch bis zur Friedrich-Karl-Straße und dann links auf die Merheimer Straße. Muschalik ging gern zu Fuß.

Köln-Nippes war schnell sein Veedel geworden. In dem kunterbunten, multikulturellen Stadtviertel fühlte Muschalik sich wohl. Er war nicht der einzige Fremde.

Ab heute sah alles anders aus. Muschalik war jetzt Herr seiner Zeit, jeden Tag in der Woche, im Monat, im Jahr, von morgens bis abends. Er konnte sich sein Leben ganz neu einrichten. Und er hatte fest vor, das Beste daraus zu machen, auch ohne Betty.

Aber er konnte in der Kantine des Polizeipräsidiums kein warmes Essen mehr bekommen. Er dachte daran, sich ein Kochbuch zuzulegen. Betty war eine intuitive Köchin gewesen, die nach Lust und Laune gekocht hatte, ohne schriftlichen Rückhalt. Zutaten wählte sie nach Stimmungslage aus, Gewürze nach der Jahreszeit, nach ihrem Duft und ihren Farben. So schmeckte ein gewöhnlicher Schweinebraten jedes Mal anders.

Er wollte das Kochen eher systematisch als kreativ angehen, wie es seine Art auch in anderen Dingen war. Im Beruf hatte es sich bewährt, warum sollte es beim Kochen anders sein.

Muschalik tauschte bei diesen Überlegungen seinen guten karierten Anzug gegen die olivgrünen Cordhosen und das karierte Flanellhemd. Er suchte seine Wanderschuhe hervor, setzte seine karierte Schirmmütze auf und zog noch den karierten Blouson über. Seine Liebe zu Karos hatte Betty nicht geteilt, sie war ihr vielmehr ein Dorn im Auge gewesen. Es waren diese Kleinigkeiten, die ihn an sie erinnerten.

Er steckte sein Portemonnaie in die Gesäßtasche. Heute wollte er eine neue Jahreskarte für den Zoo kaufen, nach einem Kochbuch für Anfänger Ausschau halten und Betty von der misslungenen Abschiedsfeier erzählen.

Es war Juli und Sommer in Köln, seine Stimmung wurde besser mit jeder Minute, in der er sich über seinen neuen Lebensabschnitt klar wurde. Er war frei, und alle Tiere im Zoo erwarteten ihn. Voller Vorfreude dachte er an das Glücksgefühl, das ihn befiel, sobald er der Stadt mit ihrem Lärm und Gestank den Rücken kehren und eintreten konnte in diese andere, fremde Welt. Obwohl der Verkehr noch deutlich zu hören war, stellten sich seine Ohren sofort auf den Ruf der Wildnis ein, ein schrilles Pfeifen, ein dumpfer Schrei, ein forderndes Grunzen von irgendwoher. Und dazu der bittere, strenge Geruch nach einem Leben, in dem Fressen und Gefressenwerden ganz nah beieinander liegen. Trotz Wassergräben, Panzerglas und Fanggittern spürte er eine vage Gefahr. Er hatte keine besondere Vorliebe für bestimmte Tiere, abgesehen von seinem Patenkind, dem Marabu. An manchen Tagen zog es Muschalik zu den Raubtieren, an anderen zu den Affen, es war eine Frage seiner Tagesform. Aber er unterwarf sich stets einem Thema, einem Lebensraum oder einer Gattung. Er wollte nicht gedankenlos im Zoo hin und her laufen, ohne Sinn und Ziel.

Heute war ihm nach Wasser. Nach Seelöwen oder Flusspferden. Die Sonne stand am Himmel, ein heißer Tag stand bevor.

Und es war erst elf Uhr, die ideale Zeit für einen Zoobesuch.

Als er die Stammheimer Straße überquerte, sah er zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei vor dem Haupteingang stehen, den Wagen des Notarztes und einen Leichenwagen. Er reihte sich in die Gruppe der Schaulustigen ein, die sich auf dem Vorplatz versammelt hatte und durcheinander sprach, rätselte und nach Aufklärung suchte, und er versuchte zu verstehen, was geschehen war:

Ein Toter im Zoo.

Ein Kind? Ein Mann!

Die Löwen? Nein, die Bären. Der Grizzly.

Zerrissen, zerfetzt?

Über das Gitter geklettert, gefallen, gestürzt?

Der Bär krank, vielleicht voller Schmerzen durchgedreht?

Welch ein Wahnsinniger!

Nachts im Zoo!

Was hatte er dort verloren?

Kein Wunder!

Niemand darf den Zoo betreten!

Die Einsatzfahrzeuge waren leer, und Muschalik drängte sich bis zum Eingang vor, der von einem Polizisten bewacht wurde.

»Ich bin von der Mordkommission Köln«, stellte er sich vor und vergaß, dass er es seit ein paar Stunden nicht mehr war.

»Einen Kommissar haben wir schon«, wies der Polizist ihn zurück.

»Aber es stimmt«, bestätigte die Kassiererin, »er ist Kommissar.«

Der unbekannte Kollege ließ ihn widerwillig durch. Im Laufschritt passierte Muschalik die Anlagen der Fischotter, Präriehunde und Erdmännchen und die ersten beiden Bärenanlagen, in denen die kleineren Brillen- und Malaienbären leben.

Um das Revier des Grizzly war schon das gelbe Absperrband gezogen. Unten standen Olaf Kraft und Staatsanwalt Henrik van Dörben, der es sich grundsätzlich nicht nehmen ließ, einen Tatort höchstpersönlich zu inspizieren. Drei Männer von der Spurensicherung krochen in weißen Papieranzügen auf allen vieren und sahen wie junge Eisbären aus. Der Tierpfleger Mattis Oldenburg, der sommers wie winters eine blaue Pudelmütze trug, und der Zoodirektor Professor Dr. Nogge waren ebenfalls da. Eine Kamera surrte. Im Wassergraben schwamm ein Schuh. Der Grizzly war in seiner Höhle eingesperrt, und er grollte vor Zorn darüber.

»Lorenz!« Kraft brachte ein Lächeln zustande, als er ihn sah. »Treffen wir uns also auf diese Weise im Zoo.«

»Ja. Leider. Aber was machst du eigentlich hier? War es etwa kein Unfall?«

»Keine Ahnung. Während wir fröhlich deinen Abschied im PP gefeiert haben, waren unsere uniformierten Kollegen längst hier. Aber ihnen war die Sache viel zu heiß. Ist ja auch ein starkes Stück. Hat es das schon mal gegeben?”

»Ne.« Muschalik schüttelte den Kopf.

»Das haben sie sich auch gedacht. Und kaum warst du aus der Tür, auf dem Weg in die Freiheit, haben sie sicherheitshalber Unterstützung angefordert.«

»Dein erster Einsatz. Als Chef, meine ich.«

»Na, und was für einer. Er hieß übrigens Ben Krämer und war Fotograf«, sagte Kraft und zeigte auf den Toten.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Sie.«

Kraft zeigte auf Nelly Luxem, die abseits stand. Sie sei die neue Bärenpflegerin und vor einem halben Jahr von Duisburg nach Köln gekommen. Sie habe Mattis abgelöst, der jetzt im Südamerika-Haus arbeite. Sie solle eine Kapazität sein, was Bären anging, und sei jetzt für alle Braunbärenarten verantwortlich.