James Lovelock
Das Gaia-Prinzip
Die Biographie unseres Planeten
Aus dem Englischen vonPeter Gillhofer und Barbara Müller
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die englische Originalausgabe erschien 1988 unter dem Titel The Ages of Gaia. A Biography of Our Living Earth bei W. W. Norton & Co., New York/London.© 1988 by the Commonwealth Fund Book Program of Memorial Sloan-Kettering Cancer Center
Nutzung der Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Bibliographisches Institut GmbH Die deutsche Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel Das Gaia-Prinzip bei Artemis & Winkler Verlag, Zürich/München.© 1991, Bibliographisches Institut GmbH (Artemis & Winkler), Berlin
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Bibliothek der Nachhaltigkeit
Eine Buchreihe des oekom e.V. in Kooperation mit dem oekom verlag, herausgegeben von Jacob Radloff und Dr. Manuel Schneider
Anlässlich des 30-jährigen Verlagsjubiläums haben der oekom verlag und der oekom e.V. gemeinsam die »Bibliothek der Nachhaltigkeit« ins Leben gerufen. Die Reihe präsentiert Autorinnen und Autoren, die als Pioniere und Vordenkerinnen ihrer Zeit voraus waren und ungewöhnliche Wege des Denkens eröffnet haben. Ihre Texte liefern auch heute noch wichtige Impulse für die Diskussion und Praxis der Nachhaltigkeit, Transformation und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
Beirat der Reihe
Prof. Dr. Günther Bachmann
Ulrich Grober
Dr. Simone Müller
Dr. Barbara Muraca
Prof. Dr. Joachim Radkau
Prof. Dr. Wolfgang Sachs
Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
Inhalt
Einführung
Gaia – eine Idee, die voranschreitet
Ugo Bardi
Das Gaia-Prinzip
Vorbemerkungen
Einleitung
Was ist Gaia?
Die Erforschung von Daisyworld
Das Archaikum
Das Proterozoikum
Die Neuzeit
Gaia und ihr heutiges Umfeld
Das Kohlendioxid-Fieber
Ein Fall von Säure-Unverträglichkeit
Das Dilemma der Dermatologen: Ozonämie
Eine Dosis radioaktiver Strahlung
Die wirkliche Krankheit
Der zweite Lebensraum
Gott und Gaia
Nachwort
Weiterführende Literatur
Erklärung einiger Begriffe
Zu Leben und Werk
James Lovelock: Visionär, Provokateur, Optimist
Ernst Ulrich von Weizsäcker, Konstantin Götschel
Einführung
Gaia – eine Idee, die voranschreitet
Ugo Bardi
Es dauert eine Weile, bis sich revolutionäre Ideen durchsetzen; und es ist bekannt, dass sich neue wissenschaftliche Wahrheiten, wie Max Planck einmal sagte, »nicht in der Weise durchzusetzen [pflegen], dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben«. Doch Planck war diesbezüglich womöglich ein Optimist: Es dauert unter Umständen viel länger als die Lebenszeit der ursprünglichen Gegner, bis eine wahrhaft revolutionäre Idee als herkömmliche Weisheit akzeptiert wird. James Lovelocks gemeinsam mit Lynn Margulis entwickelte Gaia-Hypothese zählt zu den Ideen, die sich über einen langen Zeitraum hinweg immer weiterentwickelt haben. Fast 50 Jahre nach der ersten Präsentation ist Gaia immer noch eine Idee, die weiter voranschreitet.
Wenn wir verstehen wollen, auf welche Weise das Gaia-Prinzip in der Wissenschaft zunehmend an Anerkennung gewinnt, müssen wir zu den Ursprüngen der Versuche zurückgehen, die Mechanismen der lebenden Welt zu entschlüsseln. Charles Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Selektion wurde zum ersten Mal im Jahr 1859 in dem Buch »On The Origin of Species« (deutsch: »Über die Entstehung der Arten«) dargelegt; und ursprünglich wurde es allenfalls als eine dumme Idee betrachtet, dass der Mensch von den Affen abstammen sollte. Aber nach und nach setzte sich die Evolutionstheorie durch und gelangte zu der derzeitigen Anerkennung, die man mit dem berühmten Zitat des Genetikers und Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky von 1973 zusammenfassen könnte: »Nichts in der Biologie ergibt Sinn außer im Licht der Evolution«.
Heute betrachten wir Darwins Theorie nicht nur als einen Eckstein der Biologie, sondern als einen der ersten Versuche, »komplexe Systeme« zu begreifen, also Systeme, die sich nicht mit einer einfachen Gleichung darstellen lassen, sondern die dazu neigen, sich so zu verhalten, als hätten sie einen eigenen Willen. Lebende Wesen sind ein gutes Beispiel für ein komplexes System, und die gesamte Biosphäre ist mit Sicherheit ein weiteres. Darwins Ideen waren ein großer Fortschritt auf diesem Feld: Er hatte verstanden, wie die Bestandteile eines komplexen Systems tendenziell auf Störungen durch Anpassung und Mutation reagieren.
Darwins Konzept fand vor allem in der englischsprachigen Welt Anhänger. Parallel dazu entwickelten andere Wissenschaftler ganzheitlichere Konzepte von dem, was wir heute das »Ökosystem« nennen. Bereits vor der Veröffentlichung von Darwins Buch betrachtete Alexander von Humboldt (1769–1859) die Biosphäre der Erde in seinem großen Werk »Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung«, das 1845 erstmals veröffentlicht wurde, eindeutig als eine Gesamtheit. Anschließend untersuchten mehrere russische Wissenschaftler das Konzept genauer. Der im Westen wohl bekannteste von ihnen ist Wladimir Wernadski (1863–1945), dem wir das Konzept der »Biosphäre« und viele andere Erkenntnisse zum Leben auf der Erde verdanken. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Vorstellung einer Biosphäre als sich selbst regulierendes System in Russland von Viktor Gorschkow (1935–2019) untersucht, der in den 1980er-Jahren das Konzept der »biotischen Regulation« entwickelte. Im Westen wurden diese Ideen von Menschen wie George Evelyn Hutchinson (1903–1991), bekannt als der »Vater der modernen Ökologie«, und Rachel Carson (1907–1964) am Leben erhalten und weiterentwickelt. Letztere ist mit ihrem Buch »Silent Spring« (deutsch: »Der stumme Frühling«, 1962), einem Meilenstein der ökologischen Weltanschauung, weltweit bekannt geworden. Das Gaia-Prinzip war Teil dieser Weiterentwicklung von Ideen. Zum ersten Mal wurde es im Jahr 1972 in einem Artikel dargelegt, der zu dem Thema »Atmospheric Environment«, also atmosphärische Umgebung, erschien.
Die Geburt der Idee Lovelocks verlief ganz ähnlich wie die Darwins: Beide Wissenschaftler untersuchten Systeme, die bereits bekannt waren, allerdings mit anderen Augen. Darwins Reise zu den Galapagos-Inseln ermöglichte es ihm, sich auf die Vielfalt der Anpassungsformen an die Umgebung zu konzentrieren, und so entwickelte er seine originelle Theorie, wie diese Vielfalt überhaupt zustande gekommen war. Für Lovelock war seine Beschäftigung mit extraterrestrischem Leben in den 1960er-Jahren der Ausgangspunkt. Zu der Zeit war so wenig über das Sonnensystem bekannt, dass es nicht undenkbar war, anzunehmen, dass biologisches Leben oder sogar kleine grüne Männchen auf dem Mars und auf der Venus existieren könnten. Folglich war die Entdeckung, dass beide Planeten unfruchtbar waren, für viele eine herbe Enttäuschung, doch für Lovelock war sie ein Ansporn. Er drehte die Frage »Warum gibt es auf dem Mars kein Leben?« um zu: »Warum gibt es auf der Erde Leben?« Und bekanntlich ist die Betrachtung der gleichen Sache aus einem anderen Blickwinkel der Weg zu großen Entdeckungen. Auf Gaia trifft dies in der Tat zu.
Für Biologen ist die Zusammensetzung der Atmosphäre in der Regel ein fester Parameter. Lovelock hingegen betrachtete die Atmosphäre der Erde mit den Augen des Chemikers. Er bemerkte, dass sie reaktive Gase enthielt, die sich nicht in einem chemischen Gleichgewicht befanden, allen voran Sauerstoff. Nichts kann lange Zeit außerhalb eines Gleichgewichts bleiben, und wenn Sauerstoff in der Atmosphäre existierte, dann musste er kontinuierlich durch einen aktiven Prozess erzeugt werden. Das konnte nur die fotosynthetische Aktivität lebender Kreaturen sein. Keine Biosphäre, kein Sauerstoff. Und als Folge: kein Sauerstoff, keine Biosphäre. Der Mangel an Sauerstoff in der Atmosphäre des Mars war der ausreichende Beweis dafür, die Anwesenheit einer von fotosynthetischen Organismen erzeugten Biosphäre auszuschließen.
Im Anschluss daran entwickelte Lovelock aufgrund dieser Beobachtung eine vollständige Theorie für die Funktionsweise der Biosphäre. Sauerstoff ist nicht nur das Abfallprodukt, das bei der Fotosynthese entsteht, sondern eine elementare Voraussetzung für Leben. Also schafft Leben Sauerstoff, und Sauerstoff schafft Leben – das ist einer der Kreisläufe der Biosphäre. Der Sauerstoffverbrauch und dessen Erzeugung zählen dazu. Somit erkannte Lovelock, wie die Atmosphäre und die Biosphäre miteinander interagieren, um eine fast konstante Sauerstoffkonzentration zu bewahren. Diesen Zustand nennt man »Homöostase«. Aus diesen Überlegungen heraus entsprang die Vorstellung, die Biosphäre der Erde sei ein einziges, miteinander zusammenhängendes, komplexes System, in dem sich alle Bestandteile gegenseitig beeinflussen: Gaia – der griechische Name der Göttin der Erde.
Lovelocks Ideen hatten in der westlichen Welt bemerkenswert großen Einfluss. Das Gaia-Prinzip hielt genau in dem Moment Einzug in die Debatte, als manche Konzepte, die das Fundament der rasch wachsenden westlichen Wirtschaft bildeten, neu überdacht wurden. Es ist kein Zufall, dass Lovelocks erster Aufsatz über Gaia im Jahr 1972 erschien, dem Jahr, in dem auch der berühmte Bericht für den Club of Rome mit dem Titel »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlicht wurde. Bis zu diesem Moment wurde die Biosphäre lediglich als ein Depot voller Waren, die dem Menschen zum Konsum vorbehalten waren, angesehen, doch »Die Grenzen des Wachstums« stellte diese Annahme infrage und machte darauf aufmerksam, dass die Menge der von der Menschheit verbrauchten Ressourcen entweder endlich war, wie im Fall der Bodenschätze, oder nur in einem begrenzten Ausmaß ersetzt werden konnte, wie im Fall der biologischen Ressourcen. Der Bericht führte das Konzept des »Overshoot« oder der »Überlastung« ein, welches das Ungleichgewicht zwischen dem menschlichen Verbrauch und der Produktion der Biosphäre beschreibt. Eine Überlastung führte am Ende zum Zusammenbruch der Zivilisation, falls nicht ein besseres Gleichgewicht mit der Natur hergestellt werden konnte.
Lovelocks Gaia-Konzept wirkte sich nicht so unmittelbar wie »Die Grenzen des Wachstums« auf die Debatte um Wachstum aus, doch es rührte tief an die grundlegenden Bausteine der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Vermutlich deshalb wurde es auch völlig missverstanden, wie es so oft mit Ideen geschieht, die eine tiefe Bedeutung haben. So ging es auch Darwins Ideen, die gelegentlich als Beweis für die Idee einer evolutionären Überlegenheit der »weißen Rasse« gewertet wurden. Gerade im Falle von Lovelocks Gaia-Prinzip verstanden viele es völlig falsch, wenn sie beispielsweise davon ausgingen, dass es unnötig sei, sich über Umweltverschmutzung den Kopf zu zerbrechen, wo sich doch »Mutter Gaia« darum kümmern würde, das von uns angerichtete Unheil zu wiedergutzumachen. In manchen Fällen wurde Gaia wiederum als zornige Göttin angesehen, die die Menschen für ihre Hybris strafen würde, für die Idee, dass sie die dominierende Spezies auf Erden seien. Lovelock vermenschlichte sein Geschöpf gelegentlich selbst, wenn er erklärte, dass das Ökosystem der Erde mit Respekt behandelt werden müsse. Nicht umsonst heißt eines seiner Bücher »The Revenge of Gaia: Why the Earth is Fighting Back« (2006; deutsch: »Gaias Rache. Warum die Erde sich wehrt«, 2007).
Diese Missverständnisse trübten die Debatte und ließen die Menschen gelegentlich vergessen, dass das Gaia-Prinzip, wenn es wirklich unsere Weltsicht beeinflussen sollte, im wissenschaftlichen Sinn wahr sein musste – es durfte nicht nur ein Märchen oder eine philosophische beziehungsweise religiöse Weltanschauung sein. Also wurden Lovelocks Ideen unverzüglich einer kritischen Prüfung unterzogen, wie es in der Wissenschaft üblich ist. Es würde zu weit führen, diesen Prozess hier ausführlich zu schildern, beschränken wir uns auf die Feststellung, dass Lovelocks Theorie in vielen Fällen den gleichen Dekonstruktionsmethoden unterzogen wurde, die man früher auf Darwins Theorie angewandt hatte und noch heute bei Ideen nutzt, die den etablierten Konsens gefährden.
Somit wurde Lovelock von Menschen kritisiert, die seine Theorie nicht oder nur teilweise verstanden hatten. Das gleiche Schicksal hatte auch Darwins Theorie ereilt, die, sobald sie auf Aussagen wie »Der Mensch stammt vom Affen ab« reduziert wurde, ganz einfach durch die Feststellung ad absurdum geführt werden konnte, dass kein einziger von uns einen Affen als Großvater habe. Im Falle Gaias umfassten die Missverständnisse häufig die Anklage der Teleologie (einer zielorientierten Erklärung von Phänomenen) oder einer theologischen Haltung (Erklärung durch göttliche Intervention). Beides war Lovelocks Anschauungen völlig fremd, es trifft jedoch auch zu, dass die Ausformulierung seiner Ideen nicht immer eindeutig war. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich die Gaia-Theorie schon bald in mindestens zwei Schulen verzweigte, die unter der Bezeichnung der »schwachen« und der »starken« Gaia-Hypothese firmieren. Die schwache Hypothese besagt, dass Gaia nur passiv auf Störungen reagiert, um den Status quo, der auch Homöostase genannt wird, zu erhalten. Die starke Hypothese hingegen geht davon aus, dass Gaia aktiv in irgendeiner Form tätig wird, um die Parameter der Biosphäre zur Entwicklung der Flora und Fauna zu optimieren.
Lovelock äußerte nie eine klare Präferenz für eine der beiden Versionen seiner Idee, aber augenscheinlich schwebte ihm die »starke« Hypothese vor, als er einige relativ unhaltbare Anschauungen vertrat, etwa dass eine Eiszeit die günstigste Umgebung für das Leben auf Erden sei, genau genommen der »bevorzugte Zustand« für Gaia. Eine derartige Ansicht konnte man in den 1980er-Jahren vertreten, als die Paläogeologie noch Daten über die lange Erdgeschichte sammelte. Aber nach und nach stellte sich heraus, dass Eiszeiten keineswegs der häufigste Zustand des Ökosystems Erde waren. Die Temperaturschwankungen, die die Paläogeologie entdeckte, waren so stark, dass man meinen könnte, Gaia sei, wenn sie tatsächlich die Temperaturen auf der Erde kontrollierte, am Steuer eingeschlafen oder vielleicht zugedröhnt gewesen. Im Lauf der vergangenen Milliarden Jahre scherten die Temperaturen in einigen Fällen so stark nach oben aus, dass sie um ein Haar die Auslöschung der Biosphäre verursacht hätten, beispielsweise während der Katastrophe am Ende des Erdzeitalters Perm vor rund 250 Millionen Jahren. Umgekehrt stand der Planet auch mehrmals kurz davor, vollständig von Eis bedeckt zu werden (die sogenannte Schneeball-Erde). Das geschah in dem Zeitalter, das Cryogenium genannt wird, vor 720 bis 635 Millionen Jahren.
Diese Ungewissheiten lösten ein wahres Sperrfeuer kritischer Stellungnahmen zur Gaia-Hypothese aus, die häufig nichts mehr mit Vernunft zu tun hatten. Der bekannte Evolutionsbiologe Richard Dawkins äußerte sich besonders scharf. In seinem Buch »The Extended Phenotype« (1982; deutsch: »Der erweiterte Phänotyp. Der lange Arm der Gene«, 2010) verglich er die Gaia-Theorie mit einem, wie er es nannte, »BBC-Theorem«, einer Sichtweise von »Fernsehökologen«, die das Ökosystem »nach der Poesie der Geflechte und Netzwerke« betrachten. Ganze Bücher widmeten sich der Kritik an Lovelocks Idee. In »The Medea Hypothesis« (2009) zählt der Paläontologe Peter Ward eine ganze Reihe von Katastrophen auf, die sich in der langen Erdgeschichte ereigneten, und versucht so, die wohlwollende Erdgöttin Gaia durch eine andere mythologische Figur zu ersetzen: Medea, die bekanntlich ihre eigenen Kinder umbrachte. Die Idee, eine Göttin durch eine andere zu ersetzen, ist jedoch, gelinde gesagt, eine schwache Form der Kritik. In dem Buch »On Gaia« (2013) versuchte Toby Tyrrel nachzuweisen, dass die Parameter, die das Leben auf Erden ermöglichten, das Ergebnis »eines glücklichen Zufalls« seien, ohne sich allzu sehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sich dieser »Zufall« fast vier Milliarden Jahre lang hatte halten können – denn so lange gibt es bereits Leben auf der Erde.
Eine besser begründete Kritik an Lovelocks Ideen stammte aus der Ecke der herkömmlichen Darwin‘schen Lehre. Wenn die Evolution durch natürliche Selektion auftritt, wie konnte sich Gaia dann weiterentwickeln? Mit wem oder was sollte sie in einen Wettstreit treten? Richard Dawkins sprach diese Kritik aus, indem er erklärte, dass es, wenn die natürliche Selektion auf Gaia aktiv sein sollte, »eine Reihe rivalisierender Gaias geben müsste, vermutlich auf verschiedenen Planeten. Biosphären, die auf ihren planetarischen Atmosphären keine effiziente homöostatische Regulierung entwickeln, sterben tendenziell aus« (nach: »The Extended Phenotype«). Diese Kritik ist vernünftig und hätte, gepaart mit schlichtem Unglauben, das Gaia-Modell für immer auf den Müllhaufen verrückter wissenschaftlicher Theorien verbannen können. Hinzu kam, dass sich Lovelock selbst gelegentlich vage ausdrückte, was er genau mit Gaia meinte. Einmal bezeichnete er die Grande Dame als einen »Superorganismus« oder einfach nur als »Organismus«. Wie Lynn Margulis in ihrem Aufsatz von 1995 mit dem Titel »Gaia is a Tough Bitch«, also etwa »Gaia ist ein zähes Luder« ausführte, benutzte Lovelock den Begriff »Organismus«, obwohl er wusste, dass er falsch war, um das Konzept den Menschen verständlicher zu machen und sie dazu zu bewegen, die Umwelt mit mehr Respekt zu behandeln.
Das Problem daran ist, dass der Begriff »Superorganismus« vieles bedeuten kann, für gewöhnlich aber für Einheiten wie Ameisenhügel und Bienenkörbe verwendet wird. Womöglich schwebte Lovelock oder einem anderen Verfechter der Theorie sogar eine solche Vorstellung vor, aber Bienenkörbe und Ameisenhügel existieren deshalb, weil sie durch den Standardmechanismus der Selektion entstanden sind, der für alle Organismen gilt. Kurzum, Gaia kann kein Organismus sein: Wie Lynn Margulis treffend in ihrem Aufsatz von 1995 anmerkt: »Kein Organismus isst seinen eigenen Abfall.« Lovelock parierte diese Kritik mit einer brillanten Idee: dem »Daisyworld« genannten Modell, das erstmals in einem zusammen mit Andrew Watson geschriebenen Artikel auftaucht, der 1983 veröffentlicht wurde. Detailliert wird das Modell in Lovelocks Buch von 1988 »The Ages of Gaia« (deutsch: »Das Gaia-Prinzip. Die Biografie unseres Planeten«) beschrieben. Das Modell basiert auf der Vorstellung eines Planeten, dessen Temperatur durch die Farbe der Vegetation (Gänseblümchen, auf Englisch: daisies) auf der Oberfläche beeinflusst wird. Es zeigt, dass die Vegetation, unter bestimmten Annahmen und der Voraussetzung, dass sich die Sonneneinstrahlung im Laufe der Zeit verändert, dazu neigt, eine hellere oder dunklere Farbe anzunehmen, um eine möglichst konstante Temperatur an der Oberfläche zu bewahren, die für das Überleben der Vegetation optimal ist.
Das Modell Daisyworld ist ein gutes Beispiel für Lovelocks Erfindergeist: Er hatte genau genommen ein bekanntes Konzept des Ingenieurwesens wiederentdeckt, nämlich das der Steuerungskontrolle mithilfe einer »Push-Pull-Strategie« für das zu steuernde System. Das Modell brachte ein ganzes Forschungsfeld mit dem Ziel hervor, vereinfachte Modelle der Biosphäre zu schaffen, die nachweisen, inwiefern die Kontrolle von Parametern wie Temperatur keinen Gesamtplan geschweige denn eine gemeinsame Anstrengung der steuernden Elemente erfordert. Das Modell lieferte faszinierende Erkenntnisse über die Steuerungsmechanismen, die eine Biosphäre sich aneignen konnte, doch, was den Beweis für die Existenz Gaias oder die Erhellung ihrer inneren Mechanismen anging, gelang es nicht, die Gegner zu überzeugen. Das Hauptproblem war, dass der Mechanismus der Temperatursteuerung in dem Modell wenig mit der Art und Weise zu tun hatte, wie die Temperatur auf der Erde gesteuert wird. Also war Daisyworld zwar ein Schritt nach vorn, aber es reichte nicht aus, um Lovelocks Theorie zu beweisen.
Aber wenn die Evolutionsbiologen geglaubt hatten, sie hätten Gaia mithilfe einer zur Waffe gemachten Version der Ideen Darwins zur Strecke gebracht, so bewies die Göttin eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Wiedergeburt in neuen und anderen Formen, vergleichbar mit altertümlichen Jahreszeitengöttinnen, die meist im Winter sterben und im Sommer wiedergeboren werden. Das Gaia-Konzept erwies sich als außerordentlich zäh und vital und fasste auf verschiedenen Feldern der Wissenschaft Fuß: Die Biologie, die Wissenschaft komplexer Systeme, die Klimaforschung, die Atmosphärenforschung und sogar die Theologie beobachten ein wachsendes Interesse an Gaia als einer vereinigenden Kraft, die unzählige Phänomene miteinander verbindet, die sonst kaum zu begreifen wären.
Vor allem eine simple Tatsache bleibt unerklärlich, wenn man nicht eine Form der Kontrolle des Ökosystems postuliert: Im Lauf der langen Erdgeschichte blieben die Temperaturen stets innerhalb der erforderlichen Grenzen, damit zumindest an manchen Orten des Planeten Wasser in flüssiger Form vorhanden war. Mit den Fortschritten der Klimaforschung zeigte sich jedoch auf immer beunruhigendere Weise, dass das System Erde instabil ist: Es könnte zu einer der beiden Varianten kippen: eine gefrorene (Mars-ähnliche) und eine flammend heiße (Venus-ähnliche) Erde. In beiden Fällen wäre biologisches Leben unmöglich. Wie mochte es der Erde gelungen sein, dieses fragile Gleichgewicht zwischen den beiden Extremen fast vier Milliarden Jahre lang zu bewahren? Man mag es »Gaia« oder »planetare Homöostase« oder »biotische Regulation« oder wie auch immer nennen. Doch sollten wir es auf keinen Fall, wie Toby Tyrrell, einen »glücklicher Zufall« nennen.
Wenn Gaia also kein Organismus ist, was ist sie dann? Eine treffliche Aussage dazu ist vielleicht die folgende, die Tyler Volk (in »Gaia’s Body«, 1998) dem Ökologen Lee Klinger zugeschrieben hat: »Eine Zelle ist eine Zelle, ein Organismus ist ein Organismus, Gaia ist Gaia.« Aber die wohl beste Definition von Gaia ist die von ihrer Mitbegründerin Lynn Margulis vorgeschlagene: die als ein Holobiont, einer Gesamtheit von Lebewesen, die in einer dem gegenseitigen Vorteil dienenden Beziehung miteinander zusammenleben. Holobionten sind in der Biosphäre der Erde weitverbreitet, genau genommen ist es gar nicht so einfach, eine biologische Einheit zu finden, die kein Holobiont ist. Die wenigsten Tiere oder großen Pflanzen könnten ohne die Hilfe umfangreicher Mikrobiota, einzelliger Lebewesen also, die in ihrem Körper oder im Umfeld davon existieren, überleben. Große Organismen arbeiten mit Bakterien, Pilzen, Archaeen und Viren zusammen und schaffen so ein feingliedriges Beziehungsgeflecht von Lebewesen, die sich gegenseitig mit Nahrung und Dienstleistungen versorgen. Allerdings tut dies kein einziger aus rein altruistischen Gründen. Holobionten existieren in verschiedenen Größen, manche hängen mit individuellen Organismen zusammen, andere mit viel größeren. Zum Beispiel ist ein Baum an sich bereits ein Holobiont, doch ein Wald ist ein weiterer, viel größerer. Ganze Biome kann man als Holobiont betrachten, und das gesamte Ökosystem ist ebenfalls einer. Dieses Konzept bietet allem Anschein nach einen soliden Rahmen für die Gaia-Theorie, auch wenn sich das Feld immer noch rasch verändert.
Selbst 50 Jahre nach dem ersten Auftreten ist Gaia ein Konzept, das sich weiterentwickelt. Das Problem ist, dass es nur eine Gaia gibt, die wir beobachten können. Zudem neigt sie dazu, sich nicht in ihrer ganzen Größe zu zeigen – wie so oft bei Damen der Oberschicht. Doch die Tatsache, dass die Göttin dazu neigt, sich in einen Mantel aus Wolken zu hüllen, sollte uns nicht davon abhalten, das Ökosystem der Erde zu erforschen – das womöglich faszinierendste Forschungsfeld für die Menschheit. Für diese Aufgabe mag das Buch von James Lovelock »Das Gaia-Prinzip«, das mehr als 30 Jahre nach dem ersten Erscheinen immer noch seine Gültigkeit hat, einen guten Einstieg bieten. Die jüngste Forschung hat nichts Wesentliches an seinen Aussagen verändert, und das Werk ist noch heute ein Meilenstein auf dem Weg, den das Gaia-Konzept beschreitet.
Ob Göttin, Holobiont oder einfach ein Märchen: Gaia ist noch heute ein grundlegendes Konzept für uns Menschen, um zu verstehen, wie wir uns gegenüber dem Ökosystem der Erde zu verhalten haben und warum wir es vermeiden sollten, ihm zu schaden oder gar es zu zerstören – und damit auch uns.
Zum Autor
Ugo Bardi lehrt an der Universität Florenz physikalische Chemie. Er ist Mitglied des Club of Rome. Sein jüngstes Buch »Before the Collapse« wurde 2019 veröffentlicht. Auf Deutsch ist im oekom verlag 2017 »Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können« erschienen. Bardi betreibt das englischsprachige Blog »Cassandra’s Legacy« (www.cassandralegacy.blogspot.com).
Das Gaia-Prinzip
Vorbemerkungen
Ich schreibe in dem Anbau einer ehemaligen Wassermühle, die vom River Carey angetrieben wurde, der sich wiederum in den Tarnar und damit ins Meer ergoss. Coombe Mill ist immer noch in Betrieb, nur dient sie heute als Laboratorium, Arbeitsraum und Treffpunkt, und ich verbringe einen Großteil meiner Zeit dort. Von dem Anbauzimmer blickt man auf das Flusstal mit seinen kleinen Feldern und Hecken, die typisch sind für die Landschaft in Devonshire.
Die Beschreibung des Ortes, an dem dieses Buch entstanden ist, ist für sein Verständnis wichtig. Ich arbeite hier, und es ist mein Zuhause. Es bleibt einem gar keine andere Wahl, wenn man an einem so unkonventionellen Thema wie Gaia arbeitet. Die Forschungen und Expeditionen zur Entdeckung von Gaia haben annähernd zwanzig Jahre in Anspruch genommen. Ich bezahle sie von dem Geld, das mir die Erfindung und Entwicklung wissenschaftlicher Geräte einbringt. Ich danke Helen Lovelock für ihre Großzügigkeit, mir dafür den größten Teil unseres gemeinsamen Einkommens zu überlassen. Dankbar bin ich auch für die getreue und beständige Unterstützung der Hewlett Packard Company, die die besten Abnehmer meiner Erfindungen gewesen sind und die Forschungsarbeit erst ermöglicht haben.
Wissenschaftliche Arbeit wird, im Gegensatz zu anderen intellektuellen Tätigkeiten, selten zu Hause ausgeübt. Die moderne Wissenschaft ist ebenso professionell geworden wie die Werbebranche. Und wie diese ist sie von einer teuren, ausgeklügelten Technik abhängig. Für einen Amateur ist in der modernen Wissenschaft kein Platz. Doch wie es in Berufen häufig der Fall ist, widmet auch der Wissenschaftler seine Kenntnis öfter den trivialen als den genialen Dingen. Einen Unterschied zu den Medienberufen macht lediglich die fehlende Zusammenarbeit in der Wissenschaft mit selbstständig Tätigen aus. Malern, Dichtern und Komponisten fällt es leicht, aus ihren eigenen Bereichen in die Welt der Werbung zu wechseln und umgekehrt. Und beide Welten profitieren davon. Doch wo sind die selbstständigen Wissenschaftler?
Man mag den akademischen Wissenschaftler als Pendant des selbstständigen Künstlers begreifen. Tatsächlich aber sind fast alle Wissenschaftler bei großen Organisationen wie Regierungsämtern, Universitäten oder multinationalen Unternehmen angestellt. Nur selten haben sie die Freiheit, ihre persönliche Sicht darzustellen. Sie mögen sich für frei halten, aber in Wirklichkeit sind sie fast alle Angestellte. Die Freiheit ihres Denkens haben sie eingetauscht gegen gute Arbeitsbedingungen, ein festes Einkommen, Besitz und Rentenanspruch. Auch sind sie einer Armee von bürokratischen Kräften ausgeliefert, angefangen von den Vermögensberatern bis hin zu Krankenkassen und Versicherungen. Wissenschaftler sind darüber hinaus den Standesregeln ihrer jeweiligen Disziplin unterworfen. Ein Physiker würde eine Chemietätigkeit als Zumutung empfinden, und für einen Biologen wäre die Physik ein Ding der Unmöglichkeit. Zu allem Überfluss ist die »Reinheit« der Wissenschaft in den letzten Jahren immer mehr unter die Kontrolle eines selbsteingesetzten Schiedsgerichtes, so eine Art Wissenschaftsrat, geraten. Diese gut gemeinte, aber engstirnige Gouvernanteninstitution sorgt dafür, dass die Wissenschaftler nach dem konventionellen Denkschema arbeiten und sich nicht durch Neugierde oder Eingebung leiten lassen. Ihrer Freiheit verlustig laufen sie Gefahr, in blasierte Vornehmheit zu verfallen oder wie die Theologen des Mittelalters zu dogmatisch orientierten Kreaturen zu verkümmern.
Als Universitätswissenschaftler wäre es mir nahezu unmöglich gewesen, meine gesamte Zeit der Erforschung der Erde als lebendem Planeten zu widmen. Für eine derart spekulative Forschungstätigkeit wären schon gar keine Gelder bewilligt worden. Wäre ich hartnäckig geblieben und hätte in meiner Mittags- oder Freizeit gearbeitet, dann hätte es sicher nicht lange gedauert und ich wäre zum Laboratoriumsdirektor vorgeladen worden. Er hätte mich daraufhin in seinem Büro vor den Gefahren für meine Karriere gewarnt, wenn ich mich weiterhin mit einem so unzeitgemäßen Thema beschäftigen würde. Hätte ich dennoch unbeirrbar weitergemacht, wäre ich ein zweites Mal vorgeladen und nunmehr darauf aufmerksam gemacht worden, dass ich den Ruf der Fakultät und die Karriere des Direktors selbst gefährde.
Bei dem ersten Gaia-Buch benötigte ich als einziges Hilfsmittel ein Wörterbuch. Und auch bei dem vorliegenden Werk versuchte ich, auf diese Weise zu arbeiten. Verunsichert wurde ich dabei nur durch die Reaktion einiger meiner Wissenschaftskollegen, die mich dafür schalten, dass ich Wissenschaft auf solche Art darlegte. Die Dinge haben in den letzten Jahren eine seltsame Wendung genommen. Der Kreis hat sich seit Galileis berühmtem Kampf gegen das theologische Establishment fast geschlossen. Heute stellt sich das wissenschaftliche Establishment selbst in die esoterische Ecke und schwingt die Peitsche wider die Ketzer.
Das war nicht immer so. Man fragt sich, was aus jenen schillernden und faszinierenden Persönlichkeiten geworden ist, aus den verrückten Professoren und weisen Doktoren, aus den Wissenschaftlern, die offenbar die Freiheit hatten, sich völlig ungehindert auf allen Wissenschaftsgebieten tummeln zu können? Es gibt sie noch, und in gewisser Weise schreibe auch ich als ein Angehöriger dieser seltenen und gefährdeten Spezies.
Im Ernst: Es war mir gar nichts anderes übrig geblieben, als ein radikaler Wissenschaftler zu werden, erkennt die Wissenschaftsgemeinde doch nur widerstrebend neue Theorien als Tatsachen an, und das mit Recht. Es dauerte nahezu 150 Jahre, ehe die Theorie, dass Wärme ein Maß für die Geschwindigkeit der Moleküle darstellt, ein wissenschaftliches Faktum wurde, und 40 Jahre, bis die Lehre von den tektonischen Platten von der Wissenschaftsgemeinde anerkannt wurde.
Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum ich zu Hause arbeite und mich und meine Familie mit allem, was sich mir gerade bietet, über Wasser halte. Das ist keine Strafe, vielmehr eine wunderbare Art zu leben, was Maler und Schriftsteller übrigens schon seit jeher gewusst haben. Wissenschaftskollegen folgt mir: Ihr habt nichts zu verlieren außer euren Zuschüssen. Der Hauptteil dieses Buches befasst sich mit einer neuen Evolutionstheorie. Sie bestreitet Darwins großartige Vision nicht, sondern ergänzt sie durch die Beobachtung, dass die Evolution der Arten von Organismen nicht unabhängig von der Evolution ihrer materiellen Umgebung abläuft. In der Tat sind Arten und Umwelt eng miteinander verbunden und entwickeln sich als Gesamtsystem. Was ich darstellen werde, ist die Evolution des größten lebenden Organismus, Gaia.
Die ersten Gedanken zu Gaia kamen mir, als ich in Norman Horowitz’ biowissenschaftlicher Abteilung im Jet Propulsion Laboratory arbeitete. Unsere Aufgabe war es, nach Leben auf anderen Planeten zu suchen. Diese Anfangsgedanken kamen 1968 kurz im Rahmen einer Tagung der American Astronautical Society zur Sprache und wurden dann 1971 ausführlicher in einem Schreiben an »Atmospheric Environment« dargelegt. Doch erst zwei Jahre später gewann das Gerüst der Gaia-Hypothese im Anschluss an eine intensive und fruchtbare Zusammenarbeit mit der Biologin Lynn Margulis an Gehalt und Leben. Die ersten Abhandlungen wurden in den Zeitschriften »Tellus« und »Icarus« veröffentlicht, deren Herausgeber der Sache wohlwollend gegenüberstanden und bereit waren, unsere Vorstellungen diskutieren zu lassen.
Lynn Margulis ist die zuverlässigste und beste unter meinen Kollegen. Zu meinem Glück stellt sie mit ihrem weiten Verständnis für die lebende Welt und deren Umgebung auch eine Ausnahme unter den Biologen dar. In einer Zeit, in der die Biologie sich in dreißig oder mehr enge Spezialgebiete aufgespalten hat, in denen jeder stolz ist auf seine Unkenntnis in anderen Wissenschaften, ja sogar in anderen biologischen Disziplinen, bedurfte es eines Menschen mit Lynns seltener Sichtweite, um einen biologischen Kontext für Gaia zu erstellen.
Manchmal, in Augenblicken überschwänglichen Mitgefühls mit dem Leben auf Erden, vertraue ich mich Lynns Führung an und übernehme die Rolle als »gewerkschaftlicher Vertrauensmann« für die Mikroorganismen und die geringeren, unterrepräsentierten Lebensformen. Sie waren es, die diesen Planeten über 3,5 Milliarden Jahre hinweg lebensfähig erhalten haben. Die Streicheltiere, die Wildblumen, die Menschen, sie alle verdienen Beachtung. Und doch wären sie ein Nichts ohne die weitläufige Infrastruktur der Mikroben.
Nach fast 20 Jahren Entwicklungsarbeit an einer Theorie über die Erde als lebenden Organismus – wo die Evolution der Arten und ihrer materiellen Umgebung trotz natürlicher Auslese eng miteinander verbunden sind – ist es praktisch unvermeidlich, auch einen Blick auf die Probleme der Verschmutzung und der Verschlechterung der Umwelt durch die Menschen zu werfen.
Die Gaia-Theorie erfordert eine globale Perspektive. Entscheidend ist die Gesundheit des Planeten und nicht die irgendeiner einzelnen Art von Organismen. An diesem Punkt stimmt das Konzept von Gaia nicht mehr mit den Umweltbewegungen überein, die sich in erster Linie mit der Gesundheit der Menschen beschäftigen. Die Gesundheit der Erde ist am meisten durch die gewaltigen Veränderungen im natürlichen Ökosystem gefährdet. Als Hauptquellen dieser Umweltschäden werden Land- und Forstwirtschaft sowie in geringerem Umfang der Fischfang angesehen. Die Folge ist das unaufhaltsame Ansteigen der Treibhausgase Kohlendioxid, Methan und einiger anderer, die demnächst folgen. Die Geophysiologen erkennen wohl die Zerstörung der Ozonschicht in der Stratosphäre und die gleichzeitige Gefahr des Anstiegs von kurzwelliger, ultravioletter Strahlung oder das Problem des sauren Regens. Sie werden als reale und potenziell ernsthafte Gefahren angesehen, hauptsächlich jedoch für die Menschen und Ökosysteme der westlichen Industrienationen – ein Gebiet, das aus der Gaia-Perspektive eine klar zu vernachlässigende Größe darstellt. Vor nur 10.000 Jahren lag es noch unter Gletschern begraben oder war eine eisige Tundra. Das scheinbar größte Problem, die radioaktive Strahlung, ist für Gaia von untergeordneter Bedeutung, so schrecklich sie auch für etliche Menschen sein mag. Vielen Lesern könnte es so vorkommen, als würde ich jene Umweltwissenschaftler nicht ernst nehmen, für die diese Bedrohungen der menschlichen Existenz zur Lebensaufgabe geworden sind. Das ist nicht meine Absicht. Ich will lediglich für Gaia eintreten, denn das tun nur wenige verglichen mit den vielen, die sich für die Menschen einsetzen.
Aufgrund dieser unterschiedlichen Gewichtung, die eher ein Problem für den Planeten darstellt als für uns, wurde mir klar, dass man wahrscheinlich einen neuen Berufszweig schaffen müsste, den der planetarischen Medizin. Ich bin dem Historiker Donald McIntyre zu Dank verpflichtet, der mir schrieb, dass es James Hutton war, der im 18. Jahrhundert als Erster die Idee der globalen Physiologie eingeführt hatte. Die Physiologie war die erste medizinische Wissenschaft, und eines der Ziele dieses Buches ist es, die »Geophysiologie« als Grundlage für eine globale Medizin zu etablieren. In diesemfrühen Stadium unseres Verständnisses von der Erde als einem physiologischen Wesen benötigen wir Allgemeinmediziner, keine Spezialisten. Wir sind in derselben Lage wie die Ärzte vor dem Aufkommen der Antibiotika; noch in den 1930er-Jahren vermochten sie den Patienten, die an einer Infektion litten, kaum mehr als Erleichterung bei den Symptomen zu verschaffen. Heute sind die Haupttodesursachen aus der Anfangszeit des 20. Jahrhunderts – Tuberkulose, Diphtherie, Keuchhusten, Lungenentzündung – stark zurückgegangen. Die Ärzte haben sich heute meist mit degenerativen Krankheiten wie Herz- und Gefäßleiden oder Tumorbildungen auseinanderzusetzen. Gewiss hat das Auftauchen des HIV-Virus unser Vertrauen erschüttert, die Medizin könne alle Krankheiten heilen. Dennoch haben wir den Status der Hilflosigkeit aus den Tagen vor 1940 weit hinter uns gelassen.
Hinsichtlich der Gesundheit der Erde befinden wir uns heute in derselben Situation wie früher die Ärzte. Es gibt Spezialgebiete wie Biogeochemie, theoretische Ökologie und Entwicklungsbiologie, doch sie haben dem engagierten Umweltarzt oder dem Patienten nicht mehr anzubieten als die entsprechenden Wissenschaften Biochemie oder Mikrobiologie im 19. Jahrhundert.
Bei ihrer Graduierung müssen die Ärzte den Hippokratischen Eid ablegen. Er schließt die Verpflichtung mit ein, nichts zu tun, was dem Patienten schadet. Einen ähnlichen Eid müssten auch vorgebliche Globalmediziner ablegen, um ärztliche Kunstfehler auszuschalten. Der Eid sollte die Übereifrigen davon abhalten, eine Therapie anzuwenden, die mehr schadet als nützt. Nehmen wir zum Beispiel ein Industrieunglück, bei dem ein ganzes Gebiet mit irgendeinem krebserregenden Stoff verseucht wird. Der Grad der Verseuchung ist leicht festzustellen, das Risiko für die in dieser Region lebenden Menschen kalkulierbar. Soll man die gesamte Ernte und den Viehbestand in dem Gebiet vernichten, um den Risiken, die ihr Verzehr birgt, vorzubeugen? Oder soll man stattdessen der Natur freien Lauf lassen? Oder sollte man nach einer weniger massiven Mittellösung suchen? Ein Vorfall aus jüngster Zeit demonstriert, wie die angewandte Methode ohne Einwirkung des Globalarztes ernstere Konsequenzen nach sich zog als das Gift selbst. Ich beziehe mich auf die Tragödie im schwedischen Lappland, wo man im Gefolge des Tschernobyl-Unfalles Tausende von Rentieren, die Nahrung der Lappen, tötete. Man hatte das Fleisch wegen seines zu hohen radioaktiven Gehalts als zum Verzehr ungeeignet befunden. War der brutale Eingriff in eine sensible Kultur und das von ihr abhängige Ökosystem gerechtfertigt angesichts einer leichten radioaktiven Verseuchung? Oder waren die Folgen der »Therapie« schlimmer als die ferne, theoretische Krebsgefahr für einen kleinen Teil der Bevölkerung?
Im Anschluss an ein Kapitel über diese Umweltproblematik folgt der letzte Teil des Buches, der sich mit einigen Spekulationen über den Einsatz eines geophysiologischen Systems auf dem Mars befasst. Weil das erste Gaia-Buch auch ein Interesse an den religiösen Aspekten von Gaia weckte, versuchte ich, in einem weiteren Kapitel ein paar der schwierigen Fragen zu beantworten, die aufgetaucht sind. Auf diesem ungewohnten Terrain kam mir die starke, moralische Unterstützung der Lindisfarne Fellowship zugute, insbesondere ihrer Gründer William Irwin Thompson und James Morton, sowie die Freundschaft mit anderen Mitgliedern wie Mary Catherine Bateson, John und Nancy Todd und Steward Brand, dem langjährigen Herausgeber von »CoEvolution Quarterly«.
Seit den Tagen, als ich zu schreiben anfing und mir erstmals Gedanken über Gaia machte, wurde ich beständig daran erinnert, wie oft dieselben allgemeinen Überlegungen schon angestellt worden sind. Besonders gut konnte ich mich in die Schriften des Ökologen Eugene Odum einfühlen. Sollte ich versehentlich frühere »Geophysiologen« beleidigt haben, indem ich ihren Schriften keinen Glauben schenkte, bitte ich um Verzeihung. Ich weiß, dass es eine große Zahl weiterer Denker geben muss, wie beispielsweise den bulgarischen Philosophen Stephen Zivadin, die bereits vor mir viel dazu gesagt und keine Beachtung gefunden haben.
Ich schätze mich glücklich, Freunde zu haben, die die Kapitel des Buches nach seiner Fertigstellung lasen und kritisierten. Peter Fellgett, Gail Fleischaker, Robert Garrels, Peter Liss, Andrew Lovelock, Lynn Margulis, Euan Nisbet, Andrew Watson, Peter Westbroek undMichael Whitfield; sie alle gaben mir ihren eingehenden und geistreichen wissenschaftlichen Rat. Gleichermaßen dankbar bin ich meinen Freunden, die das Buch auf seine Lesbarkeit hin überprüften: Alex und JoyceAndrew, Stewart Brand, Peter Bunyard, Christine Curthoys, JaneGifford, Edward Goldsmith, Adam Hart-Davis, Mary McGowan und Elizabeth Sachtouris. Moralische und materielle Unterstützung, besonders für das Konzept der Globalmedizin, erhielt ich seit 1982 von der United Nations University über ihren Program Officer Walter Shearer.
Ich neige beim Schreiben dazu, Textblöcke zu verfassen, die ähnlich den Mustern eines Mosaiks nur aus der Distanz besehen einen Sinn ergeben. Erst die geschickte und geschätzte Hand von Jackie Wilson, die bei der Herausgabe des Manuskripts meine Sätze neu ordnete, machte den Text lesbar.
»The Commonwealth Fund Book Program« versetzte mich durch seine großzügige Unterstützung in die Lage, die notwendige Zeit zur Entwicklung der Ideen aufzubringen und das Buch zu schreiben. Besonders dankbar bin ich dabei Lewis Thomas und den beiden Herausgebern Helene Friedman und Antonina Bouis für ihre warmherzigen Ermunterungen und ihren moralischen Zuspruch.
Und doch hätte dieses Buch nicht entstehen können ohne den uneingeschränkten Beistand und die Liebe von Helen und John Lovelock.
Meine ganze Kindheit hindurch war ich zutiefst davon überzeugt, dass ich nichts taugte, meine Zeit vergeudete, meine Talente zugrunde richtete und mich ungeheuer dumm, gemein und undankbar benehme – und all das, so schien es, war unvermeidlich, weil ich unter Gesetzen lebte, die absolut waren, wie das Gesetz der Schwerkraft, aber es war unmöglich für mich, sie einzuhalten.
George Orwell, A Collection of Essays
Einleitung
Das schönste Privileg, das man sich nach erfolgreich bestandenem, 50-jährigem Überlebenskampf erwirbt, ist die Freiheit, exzentrisch sein zu dürfen. Es ist schon eine Freude, die physischen und mentalen Grenzen der Existenz in Ruhe und Sicherheit ausforschen zu können, ohne sich darum zu scheren, ob man nun als verrückt angesehen wird. Die Jungen empfinden die Zwänge der Konvention für gewöhnlich als zu mächtig, um ihnen entfliehen zu können – es sei denn in Form einer Kulthandlung. Im mittleren Alter lassen einem die normalen Lebensaufgaben keine Zeit dafür übrig. Erst die Alten können in aller Fröhlichkeit verrückt spielen.
Die Vorstellung, dass die Erde etwas Lebendiges ist, gehört in die Randbezirke wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit. Ich war Anfang fünfzig, als ich darüber nachzudenken und zu schreiben begann. Alt genug also, um radikal zu sein, ohne mich dem Vorwurf der Alterstorheit auszusetzen. Mein Altersgenosse und Dorfnachbar, der Romanschriftsteller William Golding, behauptete, dass alles Lebendige einen Namen verdiene. Und was würde für einen lebenden Planeten besser passen als Gaia, der Name, den die Griechen der Erdgöttin verliehen?
Der Gedankengang, dass die Erde durch das Leben an ihrer Oberfläche aktiv erhalten und gelenkt wird, entstand bei der Suche nach einem Leben auf dem Mars. Alles begann an einem Frühlingsmorgen des Jahres 1961, als mir der Postbote einen Brief brachte, der für mich annähernd so verheißungsvoll und erregend war wie mein erster Liebesbrief. Es war ein Angebot der NASA, als Experimentator an ihrem ersten unbemannten Mondflugprojekt teilzunehmen. Der Brief kam von Abe Silverstein, dem Direktor der NASA-Raumfahrtprojekte. Ich erinnere mich noch an meine andauernde und ungläubige Freude.
Der Weltraum ist nur gute hundert Kilometer entfernt und ein Flug dorthin heute etwas Alltägliches. Aber 1961 lag es gerade vier Jahre zurück, dass die Sowjetunion mit dem »Sputnik« ihren ersten künstlichen Satelliten ins All geschickt hatte. Ich lauschte seinen simplen Pieptonbotschaften, die aufzeigten: Wir waren fähig, von der Erde wegzukommen. Nur sechs Jahre davor hatte ein bekannter Astronom auf die Frage, was er von der Möglichkeit eines künstlichen Satelliten halte, geantwortet: »Blühender Unsinn«. Es war eine Würdigung und Anerkennung meiner privaten Fantasiewelt, ein offizielles Angebot zu erhalten, bei der ersten Erforschung des Mondes mitzuwirken. Der Weg meiner Kindheitslektüre hatte den bekannten Verlauf genommen, von »Grimms Märchen« über »Alice im Wunderland« zu Jules Verne und H. G. Wells. Im Scherz hatte ich oft gesagt, es sei die Aufgabe der Wissenschaftler, die Zukunftsromane in die Praxis umzusetzen. Irgendeiner musste mir zugehört haben und zwang mich nun, Farbe zu bekennen.
Meine erste Begegnung mit der NASA-Weltraumforschung geschah bei einem Besuch des Jet Propulsion Laboratory, dieser Großraumkathedrale der Wissenschaft und Technik am Stadtrand von Pasadena in Kalifornien. Bald nach dem Beginn meiner Arbeit an der NASA-Mondsonde wurde ich in einen noch reizvolleren Arbeitsbereich versetzt. Ich hatte empfindliche Geräte zur Analyse der Oberflächen und Atmosphären von Planeten zu entwickeln. Mit meinem Hintergrundwissen aus der Biologie und der Medizin war ich neugierig auf die Experimente, mit deren Hilfe man Leben auf anderen Planeten finden wollte. Ich erwartete, Biologen anzutreffen, die die Aufgaben hatten, Versuche und Instrumente zu planen, die so wunderbar und ausgezeichnet durchdacht waren wie die Raumschiffe selbst. Die Wirklichkeit aber war eine Enttäuschung, was meine Euphorie stark dämpfte. Ich ahnte, dass sie mit ihren Experimenten kaum eine Chance hatten, Lebewesen auf dem Mars zu entdecken, selbst wenn es dort davon wimmeln sollte.
Wenn eine große Organisation vor einem schwierigen Problem steht, gehört es zum üblichen Verfahren, Experten einzustellen. Und genau das tat die NASA auch. Diese Methode bewährt sich, wenn es darum geht, einen besseren Raketenantrieb zu konstruieren. Aber wenn man das Ziel hat, Leben auf dem Mars zu entdecken, dann stehen dafür keine Experten zur Verfügung. Es gibt keine Professoren für das Leben auf dem Mars, also musste die NASA sich mit Experten für das Leben auf der Erde zufriedengeben. Diese aber waren als Biologen meist mit dem begrenzten Bereich an Lebendigem vertraut, mit dem sie in ihren erdgebundenen Laboratorien zu tun hatten. Es gab freilich keinen Grund für die Annahme, dass solche Lebensformen auf dem Mars existierten, selbst wenn dort vielfältiges Leben vorkommen sollte.
Die Experimente zur Lebenserforschung auf dem Mars hatten von Anfang bis Ende etwas Unwirkliches an sich. Lassen Sie es mich mit einer Anekdote erklären. Dr. X, ein hervorragender Biologe, zeigte mir seinen Lebensdetektor für den Mars: ein würfelförmiger Käfig aus rostfreiem Stahl, schön konstruiert, mit einer Seitenlänge von etwa einem Zentimeter. Ich fragte ihn, wie er funktioniere, und er antwortete: »Es ist eine Flohfalle. Die Flöhe werden von den Ködern im Innern angelockt, hopsen hinein und können nicht mehr entkommen«. Ich fragte ihn daraufhin, woher er denn die Sicherheit nehme, dass es Flöhe auf dem Mars gebe. Seine Antwort war: »Der Mars ist die größte Wüste innerhalb des Sonnensystems – ein Planet voller Wüste. Wo es Wüste gibt, gibt es Kamele, und es existiert kein Lebewesen, das so viele Flöhe hat wie ein Kamel. Wenn es also Leben auf dem Mars gibt, so wird mein Detektor es finden.« Ich glaube, dass die anderen Wissenschaftler am Jet Propulsion Laboratory mich als einen Advocatus Diaboli ertrugen. Sie standen unter großem Druck, mit ihrer Arbeit voranzukommen, und hatten daher wenig Zeit, darüber nachzudenken, was für eine Arbeit sie da eigentlich machten. Meine Fragen bezüglich der Marsflöhe hörten sie sich mit Belustigung und Skepsis an.
Ich war mir sicher, dass es einen besseren Weg gebe. Zu jener Zeit besuchte die Philosophin Dian Hitchcock das Jet Propulsion Laboratory. Die NASA hatte sie beauftragt, die dortigen Experimente auf ihre logische Schlüssigkeit hin zu überprüfen. Gemeinsam gelangten wir zu der Überzeugung, dass der sicherste Weg, Leben auf Planeten zu entdecken, die Analyse der jeweiligen Atmosphären sei. Wir veröffentlichten zwei Abhandlungen, die unter der Prämisse standen, dass Leben auf einem Planeten notwendigerweise die Atmosphäre und Ozeane als Grundstofflieferant und Aufnahmespeicher für die Produkte seines Stoffwechsels nutzt. Das würde die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre dergestalt verändern, dass sie erkennbare Unterschiede gegenüber der Atmosphäre eines Planeten ohne Leben aufweise. Selbst auf der Erde wäre es dem Viking-Lander wohl nicht gelungen, Leben aufzuspüren, wenn er in der Antarktis niedergegangen wäre. Aufschluss hätte nur eine vollständige atmosphärische Analyse geben können, wofür die Viking aber nicht ausgestattet war. Tatsächlich standen aber schon in den 1960er-Jahren Untersuchungsergebnisse von der Marsatmosphäre zur Verfügung. Sie stammten von Teleskopen, mit denen man über Infrarotlicht anstelle von sichtbarem Licht zum Mars schauen konnte. Die Messungen hatten ergeben, dass die Atmosphäre zum größten Teil aus Kohlendioxid bestand und fast im Zustand chemischen Gleichgewichts war. Die Gase der Erdatmosphäre dagegen befinden sich in ständigem Ungleichgewicht. Das legte für uns die Schlussfolgerung nahe, dass es kein Leben auf dem Mars gebe.
Dieser Schluss wurde indes von unseren NASA-Geldgebern gar nicht gern gesehen. Sie brauchten dringend Argumente für die Finanzierung einer Mars-Expedition, und welches Ziel konnte verlockender sein als die Entdeckung von Leben dort? Ein gewisser Senator Proxmire, eiserner Hüter des Staatssäckels, hätte sich vielleicht sehr dafür interessiert, dass die NASA weiterhin auf eine kostspielige Marslandung drängte, obwohl Wissenschaftler innerhalb der Organisation behaupteten, dort könne kein Leben existieren. Möglicherweise hätte ihn auch die Entdeckung schockiert, dass Hitchcock und ich als Teil unserer von der NASA finanzierten Forschung ein imaginäres Teleskop auf unseren eigenen Planeten gerichtet hatten, um zu zeigen, dass die Erde Leben im Überfluss hervorbringe.
In diesen aufregenden Tagen diskutierten wir oft über mögliches Leben auf dem Mars und über die Ausdehnung seiner Oberflächenhülle. Ende der 1960er-Jahre schickte die NASA ihre Mariner-Raumsonde hinauf, um die Planetenoberfläche von einer Umlaufbahn aus beobachten zu können. Aus ihrer Sicht präsentierte sich der Mars, wie schon der Mond, als ausgedehnte Kraterfläche. Auch schien sich die trübe Voraussage zu bestätigen, die Dian Hitchcock und ich beim Studium der atmosphärischen Zusammensetzung aufgestellt hatten: Es gibt wahrscheinlich kein Leben auf ihm. Ich erinnere mich an eine feinsinnige Auseinandersetzung mit Carl Sagan, der es für möglich hielt, dass es Leben in Oasen gebe, in denen die örtlichen Bedingungen günstiger seien. Schon lange bevor Viking Kurs auf den Mars nahm, fühlte ich intuitiv, dass Leben nicht so vereinzelt auf einem Planeten vorkommen könne; es könne sich nicht in ein paar Oasen festgesetzt haben, außer zu Beginn oder am Ende seiner Existenzperiode. Mit der Entwicklung der Gaia-Theorie wuchs auch diese Erkenntnis; heute sehe ich sie als ein Faktum an.
Viele Diskussionen gab es auch über die Notwendigkeit einer Sterilisierung des Raumschiffes vor dessen Start zum Mars. Ich habe niemals verstanden, warum das kleine Risiko eines zufälligen Transports von Leben zum Mars als etwas so Furchtbares angesehen wurde. Es könnte sogar die einzige Gelegenheit sein, die wir je hätten, Leben an einen anderen Planeten weiterzugeben. Die Diskussionen darüber verliefen manchmal scharf und betont männlich, quollen über vor unausgegorener Maskulinität. Für mich, der ich den Mars ohnehin für tot hielt, war die Vorstellung von Vergewaltigung, die zuweilen auftauchte, nicht maßgeblich. Schlimmstenfalls könnte man dabei von Leichenschändung reden. Aber im Ernst: Als Instrumentenkonstrukteur wusste ich, dass eine Sterilisierung die sowieso schon übermenschliche Aufgabe des Baus der Viking-Geräte nahezu unlösbar machte. Sie brachte auch deren ausgezeichnet aufeinander abgestimmte und konstruierte innere Funktionen in Gefahr.
Heute noch erinnere ich mich dankbar an die Toleranz und Großzügigkeit meiner Kollegen am Jet Propulsion Laboratory und bei der NASA, besonders aber an die persönliche Freundlichkeit von Norman Horowitz, dem damaligen Teamchef der Raumbiologen. Trotz der »schlechten Neuigkeiten«, die ich geliefert hatte, halfen sie mir weiter bei meinen Forschungen, bis die Viking-Mars-Projekte abgeschlossen waren. Die weiche Landung dieser zwei komplizierten, mit fast menschlicher Intelligenz ausgestatteten Roboter 1975 auf dem Mars gelang. Ihre Aufgabe war es, dort Leben zu finden. Doch die Botschaften, die sie per Funk zur Erde schickten, waren entmutigend. Kein Anzeichen von Leben. Der Mars war mit Ausnahme der Tage im Sommer ein Ort unbarmherziger Kälte, abweisend und ungastlich gegenüber dem warm-feuchten Klima auf der Erde. Die beiden Viking-Roboter sitzen heute dort und brüten schweigend vor sich hin. Nachrichten vom Mars senden sie keine mehr, wehren sich nur noch gegen ihre endgültige Vernichtung durch den Wind mit seinem kratzenden Staub und seiner ätzenden Säure. Wir haben die Unfruchtbarkeit unseres Sonnensystems akzeptiert. Die Suche nach einem Leben irgendwo anders ist keine dringende Aufgabe der Wissenschaft mehr. Aber die totale Unfruchtbarkeit des Mars, bestätigt von den Viking-Geräten, bildete den Hintergrundkontrast für neue Modelle und Vorstellungen von der Erde. Wir wissen heute, dass unser Planet sich gewaltig von seinen beiden toten Geschwistern Mars und Venus unterscheidet.
Das war damals der Beginn der Gaia-Hypothese. Wir blickten mit unserer Vorstellungskraft, mit neuen Augen also, auf die Erde und entdeckten viele Dinge, unter anderem die Ausstrahlung eines infraroten Signals als Merkmal für die ungewöhnliche, chemische Zusammensetzung unserer Atmosphäre. Diese unaufhörliche Melodie des Lebens kann jeder hören, der einen Empfänger hat, sogar außerhalb des Sonnensystems. Ich will versuchen, in den folgenden Kapiteln aufzuzeigen, dass die Voraussetzungen für die Bewohnbarkeit eines Planeten erst dann erfüllt sind, wenn Leben von ihm Besitz ergreift und einen großen Raum einnimmt. Planetarisches Leben muss imstande sein, sein Klima und seinen chemischen Zustand zu regulieren. Zeit- oder teilweises Bewohnen oder bloß gelegentliche Besuche reichen nicht aus, die unausweichlichen Kräfte, die die chemische und physikalische Evolution eines Planeten vorantreiben, in den Griff zu bekommen. Im Kapitel »Der zweite Lebensraum« wird die imaginäre Aufgabe erörtert, Leben auf dem Mars oder sogar den Mars zum Leben zu bringen. Es dreht sich dabei um den Aufwand, der nötig wäre, den Mars in einen lebensfähigen Zustand zu versetzen und diesen so lange aufrechtzuerhalten, bis das Leben von ihm Besitz ergriffen hätte. Dabei zeigt sich auch, in welch beeindruckendem Ausmaß der größere Teil unserer eigenen Umwelt ständig die vollkommenen und günstigen Voraussetzungen für das Leben bietet. Die Sonnenenergie ist so ideal verteilt, dass die Regulierung letztendlich von selbst geschieht.
Die Gaia-Hypothese geht von der Annahme aus, dass die Erde etwas Lebendiges ist, und untersucht, welche Argumente dafür und dagegen sprechen. Ich unterbreitete sie meinen Wissenschaftskollegen erstmals 1972 in einem Aufsatz mit dem Titel »Gaia as Seen Through The Atmosphere«. Der Aufsatz war kurz, er umfasste lediglich eine Seite in der Zeitschrift »Atmospheric Environment«. Bei der Beweisführung berief ich mich hauptsächlich auf die Zusammensetzung der Erdatmosphäre und ihren Zustand des chemischen Ungleichgewichts. Eine Darstellung davon zeigt die Tabelle unten. In ihr wurden der neuere Wissensstand über die Zusammensetzung der Atmosphäre auf Mars und Venus sowie die mutmaßlichen Daten von der heutigen Erdatmosphäre, wenn nie Leben existiert hätte, zum Vergleich herangezogen. Nach langen, intensiven Gesprächen veröffentlichten Lynn Margulis und ich detailliertere, aber prägnantere Darstellungen in den Zeitschriften »Tellus« und »lcarus«. 1979 brachte die Oxford University Press dann mein Buch »Gaia: A New Look at Life on Earth« heraus, in dem alle unsere bisherigen Vorstellungen zusammengefasst waren. Ich begann dieses Buch 1976 zu schreiben, als das Viking-Raumschiff der NASA gerade auf dem Mars gelandet war. Die dortige Planetenerforschung nahm ich zum Ausgangspunkt für die Entdeckung von Gaia, dem größten lebenden Organismus im Sonnensystem.
Atmosphären der Planeten und ihre Zusammensetzung
Venus
Erde ohne Leben
Mars
Erde, wie sie ist
Kohlendioxid
96,5 %
98 %
95 %
0,03 %
Stickstoff
3,5 %
1,9 %
2,7 %
79 %
Sauerstoff
gering
0,0
0,13 %
21 %
Argon
70 ppm
0,1 %
1,6 %
1 %
Methan
0,0
0,0
0,0
1,7 ppm
Oberflächen-temperaturen in °C
459
240340
–53
13
Druck in Bar
90
60
0,0064
1,0
Zehn Jahre später war es dann soweit, abermals mit dem Schreiben zu beginnen; dieses Mal über die Erfahrung mit Gaia und die Entdeckung, welche Art Leben sie ist. Der einfachste Weg, Gaia zu erforschen, ist zu Fuß. Wie sonst kann man so leicht Teil ihres Ambiente werden? Wie sonst kann man sie mit allen seinen Sinnen erfassen? Ich war daher sehr erfreut, vor ein paar Jahren von einem anderen Menschen zu lesen, der gerne durch die Lande wanderte und ebenfalls daran glaubte, dass die Erde lebt.
Jewgraf Maximowitsch Korolenko lebte vor mehr als 100 Jahren in Charkow in der Ukraine. Er war ein unabhängiger Wissenschaftler und Philosoph. Und auch er war in den Sechzigern, als er Ideen äußerte und diskutierte, die für seine Kollegen im mittleren Alter viel zu radikal waren. Korolenko war ein gebildeter Mensch. Obwohl Autodidakt, kannte er doch die Werke der großen Naturwissenschaftler seiner Zeit. Er erkannte keine philosophische, religiöse oder wissenschaftliche Autorität an, sondern versuchte selbst Antworten zu finden. Einer, den er sowohl auf seine Wanderungen mitnahm wie auch in seine radikalen Ideen einweihte, war sein junger Cousin Wladimir Wernadski. Wernadski, der ein hervorragender Sowjetwissenschaftler werden sollte, war tief beeindruckt von der Behauptung des alten Mannes: »Die Erde ist ein Organismus.« Doch für Wernadskis Biografen R. K. Balandin war das nur »ein weiterer von Korolenkos Aphorismen. Es erscheint sehr zweifelhaft, dass der junge Wladimir Wernadski sich noch ein halbes Jahrhundert später an diesen Aphorismus erinnert haben soll. Dennoch musste Korolenkos naive Analogie von der Erde als lebendem Organismus die Vorstellungskraft seines jungen Freundes einfach beflügeln.«
Die Vorstellung von der Erde als etwas Lebendigem ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Doch die erste öffentliche Äußerung davon, als wissenschaftliche Tatsache formuliert, stammt von dem schottischen Wissenschaftler James Hutton. 1785 sagte er auf einer Versammlung der Royal Society of Edinburgh, dass die Erde ein riesiger Organismus sei und sie eigentlich von Physiologen erforscht werden müsste. Er fuhr fort, den Kreislauf der Nährstoffe im Boden und die Bewegung der Ozeane zum Land hin mit der Zirkulation des Blutes zu vergleichen. James Hutton ist zu Recht als Vater der Geologie in die Geschichte eingegangen, doch seine Idee von der lebenden Erde geriet in Vergessenheit oder wurde in dem gewaltigen Reduktionismus des 19. Jahrhunderts verworfen. Lediglich in den Köpfen von so unorthodoxen Wissenschaftlern wie Korolenko lebte sie fort.
Wir alle verwenden heutzutage das Wort »Biosphäre«. Die wenigsten aber dürften wissen, dass es Eduard Sueß war, der 1875 diesen Begriff erstmals beiläufig erwähnte, als er seine Arbeit über die geologische Struktur der Alpen niederschrieb. Wernadski erweiterte den Inhalt des Begriffs und verwendete ihn ab 1911 in seiner modernen Bedeutung. Er sagte: »Die Biosphäre ist die Hülle des Lebens, d. h. der Bereich der lebenden Materie … die Biosphäre kann als der Bereich der Erdkruste angesehen werden, in dem durch Umformung kosmische Strahlungen in effektive, terrestrische Energie, elektrische, chemische, mechanische, thermische usw. umgewandelt werden.«
Als ich zum ersten Mal die Gaia-Hypothese formulierte, waren mir die verwandten Ideen dieser früheren Wissenschaftler, besonders von Hutton, Korolenko und Wernadski, gänzlich unbekannt. Ebenso wenig wusste ich von ähnlichen Gedanken, die in neuerer Zeit von vielen Wissenschaftlern dargelegt worden sind, unter ihnen Alfred Lotka, dem Begründer der Populationsbiologie, dem Meereschemiker Arthur Redfield und dem Biologen J. Z. Young.