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Beate Rothenmund ist ein Teenager, der auf den ersten Blick wie jedes andere Mädchen ihres Alters träumt. Die Siebzehnjährige stellt sich wie alle anderen das "ganze Glück" des Lebens auf eine Art vor, wie es unmöglich in Erfüllung gehen kann. Sie lernt, über drei verschiedene Lebensabschnitte hinweg, dass das Glück sich letztendlich in der Erfülltheit durch eine Aufgabe wiederspiegelt und erst in deren Licht findet sie schließlich die Antwort auf ihre Suche. -
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Seitenzahl: 86
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Lise Gast
SAGA Egmont
Das ganze Glück
Copyright © 1965, 2018 Lise Gast und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711508718
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Beate trat aus der Hütte, barfuß im Schlafanzug. Es mußte noch früh sein, sie schauerte in der Morgenfrische. Das Tal lag bläulich vor ihr, vorn durch die Spitzen der einzelnstehenden Lärchen, weiter hinten durch die querlaufende Bergkette begrenzt. Ein blendend weißer Wolkenwisch zog sich mitten hindurch und verdeckte die von hier aus spielzeugklein wirkende Kirche, die gewundene Straße, die Dorfhäuser. Der Himmel war von einem unregelmäßigen, aber so stark gleißenden Weiß, daß sein Licht den Augen weh tat.
Beate stand wie jeden Morgen still und sah hinunter; als Kind der Ebene konnte sie sich hier nie satt sehen. Sie hielt sich am Geländer fest, während ihre Füße Halt suchten auf den wackligen Brettern, die hier den „Altan“ bildeten.
Überhaupt, diese Hütte hatte die Blüte ihrer Jahre hinter sich. Das Holz der Wände war fast schwarz vor Alter, rissig und rauh, und das Dach hielt nicht mehr dicht, jedenfalls auf der Seite, wo die Bauern früher das Heu gestapelt hatten. Deshalb war dieser Raum leer bis auf ein paar ausgediente Werkzeuge, die an der Wand lehnten, und die Tür stand offen. Wahrscheinlich suchte das Vieh dort Schutz, wenn ein Gewitter kam.
Die Wohnseite der Hütte hatte dem Wetter widerstanden. Der Ofen, lehmgemauert, füllte das eine Viertel des Raumes fast ganz aus; ihm gegenüber stand der festgerammte Tisch und um ihn herum an den Wänden die drei flachen, mit Heu gefüllten Kästen, in denen Beate, Frau Bergmann und Barbara schliefen.
Alle drei fanden es wunderbar, eine Hütte für sich zu haben, und beneideten die Jungen nicht, die in dem neuen, aus Stein gefügten Gebäude etwa fünfzig Meter weiter talwärts hausten. Ihre Hütte war zünftig, viel zünftiger als die andere, wenn diese auch feste Wände und ein richtiges Dach besaß.
Heute waren alle Jungen fort. Früh um vier schon, sie wollten eine große Tagestour machen, angeführt vom Cherusker, der in Wirklichkeit schlicht Hermann hieß. Dr. Bergmann, hier nur „der große Manitou“ genannt, hatte einen freien Tag verdient, darüber waren sich alle einig.
Beate kratzte sich mit dem rechten Fuß an der linken Wade und lachte schadenfroh und liebevoll zugleich in sich hinein. Manchmal machten die zwanzig Jungen sogar ihm den Kopf warm.
Er war ja selbst schuld. Warum fuhr er nicht mit seiner Frau und Barbara allein in irgendeine Sommerfrische und erholte sich vom Unterrichten, statt auch noch die Ferien mit jungen Menschen gemeinsam zu verbringen? Aber gerade daß er das nicht tat, daß er sich nicht schonte und heraushielt, obwohl er nicht mehr der Jüngste war, das imponierte und verschaffte ihm diese Sonderstellung, die sonst kein Lehrer dieser Schule eingeräumt bekommen hätte. Nichts gegen Manitou! So etwa dachte jeder der Schüler, wenn es auch niemand aussprach.
Er war Jahrgang und Studienfreund von Beates Vater. Die beiden Männer hatten sich zufällig bald nach dem Tod von Beates Mutter, vor etwa drei Jahren, getroffen, und Pastor Rothemund hatte daraufhin seine Tochter sofort aus der bis dahin von ihr besuchten Schule genommen und dem Gymnasium anvertraut, an dem Manitou Deutsch und Geschichte gab. Seitdem ging Beate bei Bergmanns aus und ein, als wäre sie dort Kind im Haus und Barbaras Schwester. Frau Bergmann, an den Umgang mit jungen Menschen gewöhnt, verstand sich in ihrer freundlichen, ein wenig gleichmütigen Art sehr gut mit ihr. Beate nannte sie, wie Barbara, Mami. Oft schlief sie wochenlang bei Bergmanns, und die Ferien verbrachte sie fast ausnahmslos mit ihnen.
Barbara und Mami schliefen noch. Beate atmete die kalte und ein wenig feuchte, rauhe Gebirgsluft tief ein. Nein, sie kroch nicht wieder in ihren Schlafsack und in die trotz offnem Fenster etwas muffige Luft der Hütte! Sie angelte sich ein Frottiertuch und die Tasche mit Seife und Zahnbürste vom Fensterbrett und balancierte über die ausgelegten Bretter zum Wassertrog. Hier war der Boden von unzähligen Tritten des zur Tränke gehenden Viehs zerstampft und in Morast verwandelt. Zwei der fahlbraunen Rinder standen auch jetzt noch am Trog. Beate scheuchte sie mit dem Badetuch weg. Ein wenig bange war ihr als Großstadtkind doch, trotz ihrer siebzehn Jahre.
Als sie, gewaschen und nun ganz munter, wieder ins Tal hinunterguckte, sah sie, daß der Wolkenstreifen verschwunden war. Das Dorf lag unten, winzig klein und klar zu erkennen, und hinter den Bergflanken hoben sich die letzten Nebel. Es würde also schön werden, ein Tag voller Glanz, und diesmal für sie privat, für Manitou und Mami, Barbara und sie und niemand sonst!
Gewöhnlich liefen die beiden Mädchen hier in der Bergeinsamkeit den ganzen Tag im Turnzeug umher, wie die Jungen. Heute aber fühlte Beate plötzlich Lust, sich schön anzuziehen. Ihre Sachen hingen im Vorraum. Sie schlüpfte in ein Kleid, das sie sich mit Barbaras Unterstützung selbst geschneidert hatte: enges, leuchtend rotes Mieder mit kurzen Ärmeln, dazu ein weiter weißer Nesselrock. Sandalen an die Füße, fertig.
Beate kämmte ihr langes, dunkles Haar, flocht es in zwei Zöpfe. Sie und Barbara trugen Zöpfe, der heutigen Mode zum Trotz. Sie wußten genau, wie gut ihnen das stand. Freilich machte es Mühe, Beate brauchte jeden Morgen eine halbe Stunde, bis sie fertig war, aber das mußte man in Kauf nehmen.
Befriedigt warf sie die dunklen Schlangen über die Schultern, holte sich einen kleinen emaillierten Henkeltopf aus der Küche und wanderte los. Sie wollte heute Beeren pflücken. Für vier Personen lohnte sich das. Dort, wo der Fußweg aus dem Tal auf die Hütte zu führte, wuchsen sie in Mengen.
Ernsthaft und hingegeben sammelte sie, auf den schrägen Waldboden hingekauert, merkte, wie die Sonne kam, blies Fliegen von ihren Armen und schüttelte Ameisen von den Füßen und war in ihre Arbeit so tief versunken, daß sie sonst nichts um sich wahrnahm.
So sah sie der Mann, der nach einiger Zeit in Sporthemd, kurzer Hose und graugrüner Wanderjacke den gewundenen Weg heraufkam. Er blieb stehen und überlegte, ob er sie anrufen und nach dem Weg fragen sollte. Dann aber entschied er sich dagegen und ging still weiter.
Barbara war schon wach, als Beate an die Männerhütte kam. Sie sah auf die Stufen vor dem Eingang und putzte Manitous Bergschuhe, erspähte die Freundin und schrie ihr gleich die wichtige Nachricht entgegen, die sie beinah platzen ließ vor Aufregung.
„Du, Beate, denk dir, Achille ist gekommen, Manitous Bruder! Aber natürlich hab ich dir von ihm erzählt, weißt du das nicht mehr? Der so lange in Amerika war! Warum glaubst du mir eigentlich nie, wenn ich dir was sage? Komm rein, dann wirst du ihn sehen!“
„Ich glaub dir ja“, sagte Beate und setzte sich neben sie. „So viele Beeren, sieh mal! Achille heißt er? Ein toller Name.“
„Hach, und ein toller Mann, kann ich dir sagen! Viel jünger als Manitou, aber ähnlich sieht er ihm! Genau dasselbe Profil! Und rumgekommen ist er in der Welt, und …“
„Und – und – und“, vollendete Beate lachend. „Und Fräulein Barbara ist sofort bis über beide Ohren verschossen in den neuen Onkel!“
„Verschossen – so ein Quatsch! Aber warte nur –.“ Sie sprang auf und erraffte die Schuhe. „Komm, ich zeig ihn dir!“
An der Tür prallte sie mit dem zusammen, der ihre Phantasie so beschäftigte. Beate stand hinter ihr, und obwohl Barbara den Stoß empfing, fühlte ihn Beate, als ginge er ihr genau ans Herz. Sie hatte so etwas noch nie erlebt.
Während sie zu dem Mann aufsah, der zwei Stufen über ihr stand, merkte sie, daß sie rot wurde. Sie gab ihm schweigend die Hand, als er ihr seine entgegenstreckte.
Später saßen sie am Küchentisch, den sie vor die Hütte gerückt hatten, und frühstückten: Manitou, Mami, Barbara, sie und Achille Bergmann. Die ganze Welt war verändert, unerklärlicherweise. Beate konnte nichts essen.
„Bist du krank?“ fragte Mami besorgt. Beate schüttelte den Kopf. Wie konnte man Brot abbeißen und kauen und schlucken, wenn einem dieser Mann gegenübersaß!
Er war groß und dunkel, Manitou ähnlich, und hatte dasselbe Steinadler-Profil. Was aber den älteren Bruder wie in eigener Kraft ruhen ließ, wirkte bei ihm geschmeidig, sehnig. Seine Hände waren beweglich und ausdrucksvoll, auch der Mund. Die Augen lagen tief, man konnte die Farbe nicht erkennen, wenn man nicht genau hineinsah. Und das wagte Beate nicht.
„Beate – ich hätte mir da eher etwas Blondes vorgestellt“, sagte er und sah zu ihr hinüber. „Beate dürfte nicht dunkel sein, meine ich. Jeder Name hat seine Farbe.“
„Ich bin Beatrix getauft, gottlob nennt mich keiner so“, sagte Beate. Es klang rauh, tief und ein wenig heiser. Immer wurde ihre Stimme so, wenn sie sich aufregte. „Für Namen kann man ja nichts. Und es gibt bestimmt noch ausgefallnere.“
„Achille zum Beispiel“, sagte Manitou behaglich. Beate fühlte, wie sie erneut rot wurde. „Das meinte ich nicht.“
„O, ich weiß!“ Die ganze Runde lächelte. Beate hätte sich ohrfeigen können, weil sie dies herausgefordert hatte. Sie sah auf ihren Teller und wünschte sich meilenweit weg. Und dann blickte sie vorsichtig auf und merkte, daß Achille nicht gelächelt hatte.
Beate stand am Trog und wartete, daß der dünne, silbern blinkende Wasserstrahl ihren Krug füllte. Da trat Achille plötzlich neben sie. Sie bemühte sich, den Krug still zu halten, aber es gelang ihr nicht ganz.
„Danke“, sagte sie, als er ihn ihr aus der Hand nahm. Es ging auf einmal ganz leicht und mühelos und wie im Traum, hier, allein mit ihm in der großen, weiten, hellgrünen Bergwelt.
„Wohin damit?“ Jetzt lächelte er.
„In die Küche. Mami braucht es.“
„Noch mehr?“
„Vorläufig nicht.“
Sie wartete, bis er wieder aus der Hütte getreten war, und schlenderte dann dem Wald zu. Er ging neben ihr. Heute wollte Mami kochen, gewöhnlich tat das der Küchendienst der Jungen. Barbara war in die obere Hütte gelaufen, um sich umzuziehen. Achille fragte nach ihr. Beate gab Bescheid.
„Wollen wir auf sie warten?“
„Sie braucht immer ewig und drei Tage, deshalb …“ Sie lachte, und er lachte auch. Vom Waldrand aus führte der Weg steil bergauf, er war holprig und zur Hälfte überwachsen. Achille sah auf Beates Sandalen herab.
„Braucht man hier nicht Bergschuhe?“
„O, es geht auch so. Wir sind es gewöhnt.“