Ein Fohlen für Doria - Lise Gast - E-Book

Ein Fohlen für Doria E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Dori, die eigentlich Doria heisst, ist ein hilfsbereites und quirliges Mädchen, voller Phantasie und Lebensfreude. Sie geniesst das Leben auf dem "Schlosshof" vollumfänglich und versteht sich prächtig mit ihrer Grossmutter, sowie mit Tante Ulle und deren Sohn. Zusammen mit Peter, Tante Ulles Sohn, erlebt Dori viele Abenteuer. -

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Lise Gast

Ein Fohlen für Doria

Drei Pferdegeschichten für Mädchen

Saga

Ein Fohlen für Doria

© 1997 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509210

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Ein Fohlen im Versteck

Na, wen hast du dir denn da wieder aufgehalst?“, fragte Peter und zog sein zehnjähriges Ohrfeigengesicht auseinander. Mutter legte den Hörer auf.

„Was heißt wieder? Dieses Jahr hatten wir noch keine Gäste, oder etwa –“

„Und Schillings? Sie waren sechs Wochen hier, mit dem unausstehlichen Sebastian. Dann kam Waltrud und dann Robert ...“

„Wenn man so wohnt wie wir – du hast ja keine Ahnung, was es heißt, in der Stadt leben zu müssen, wo es nach Autoabgasen stinkt und man dauernd das Rasseln der Lastwagen hört, wo man keine Sonne hat und abends keine Sterne ...“

„Jaja, ich weiß. Trotzdem könnten wir auch mal unter uns bleiben.“

„Ach Peter, ist es denn weniger schön bei uns, wenn noch ein paar andere Leute hier sind und es gut haben? Die es sonst –“ Mutter hielt inne. Sie suchte nach einem Wort, das kräftig genug war und trotzdem auszusprechen.

„Beschissen“, half Peter ihr freundlich aus. Sie musste lachen.

„Danke. Genau. Du sagst es, bleiche Taube. Und jetzt geh und füttere die Katzen, sie haben heute noch nichts gekriegt. Und Brumme muss ausgeführt werden.“

Peter hatte Pfingstferien. Er behauptete in den Ferien mehr zu tun zu haben als in der Schulzeit. Da konnte man sich jederzeit mit einem „Ich hab noch Schularbeiten“ oder „Wir schreiben morgen eine Arbeit“ dünnemachen, während es in den Ferien dauernd hieß: „Tu das!“, „Mach jenes!“, „Hol mir mal schnell –“, wenn man nicht von vornherein dazu verurteilt war, einzukaufen oder Mutters Fahrrad zu putzen oder sonst eine Sklavenarbeit zu verrichten.

Peter wollte sich auch jetzt schnellstens absetzen, bevor Mutter noch mehr einfiel, aber seine Neugierde war doch größer als die Faulheit.

„Wer kommt denn?“, fragte er also noch mal. Wissen wollte er es schon.

„Eine Kusine von dir. Du kennst sie noch nicht. So alt wie du, nein, etwas älter. Doria heißt sie.“

„Doria? Ist das ein Name?“

„Ja, damit du es weißt. Sie wird Dori genannt. Sicher ist sie nett. Und nun verdufte.“

„Nett, nett“, brummte Peter vor sich hin, während er davontrottete, „wenn ich das schon höre. Aber vielleicht kann sie ...“

... die Katzen füttern, Fahrräder putzen, ins Dorf fahren und einkaufen ... Er würde schon dafür sorgen.

Peter war der vierte von vier Brüdern, ein Nachkömmling, die drei andern hatten das Elternhaus bereits verlassen.

Langsam schlenderte er über den Hof. Die Kastanien hatten ihre weißen Kerzen aufgestellt, der Flieder hing in schweren lila-blauen Dolden über den Zaun. Es war wirklich schön in dem weiten Hof, der an einer Seite von dicken Kastanienbäumen begrenzt war, an der anderen vom ehemaligen Bauernhaus. Das war ihr Wohnhaus, der angebaute Pferdestall zum Atelier für Vater umgebaut. An der dritten Seite des Hofes begann der Park, in dem das Schloss stand. Zu ihm hatte früher der Hof gehört, weshalb er noch heute „der Schlosshof“ genannt wurde. An der vierten Seite, dort, wo man hereinkam, lag das Pförtnerhaus. Dort wurde gebaut.

Peter bummelte hinüber. Er ärgerte sich über Mutter. Seit die großen Brüder nicht mehr daheim waren, hatte sie sich verändert, fand er, war nicht mehr dieselbe. Sie sagte das selbst.

„Ich kann nur in großen Töpfen kochen“, seufzte sie manchmal und versuchte es scherzhaft klingen zu lassen, aber es war ihr Ernst. „Wenn bei uns der Tisch nicht ausgezogen ist und mindestens fünfzehn hungrige Mäuler darauf warten, dass ich ausgebe wie in der Jugendherberge –“

„Fünfzehn“, sagte Vater dann, blinzelte ein wenig und schüttelte den Kopf, „übertreib nicht so maßlos.“

„Und ich nicht Quadratmeter Kuchen backe, der mir aus den Fingern gerissen wird“, fuhr Mutter fort, „und alles ohne Katastrophen abläuft ...“

Früher war fast täglich der Ruf „Katastrophe! Katastrophe!“ ertönt, ob nun ein Fahrradreifen geplatzt war oder eine Katze gejungt, der Hund ein „gräfliches Huhn“ erwischt und stolz apportiert hatte, wofür man sich noch entsetzlich entschuldigen musste – immer war etwas los gewesen. Jetzt, da Peter allein für Mutters Abwechslung sorgte, verlief der Tag meistens harmlos und friedlich. Das war gut, wenn Vater da war; wenn er sich, wie so oft, auf Reisen befand, behauptete Mutter, sie wüsste nicht, wozu sie eigentlich da sei. Deshalb die vielen Gäste, deshalb also Doria.

Peter versuchte die Kusine zu vergessen, bis sie kam, und blieb vor dem Pförtnerhäuschen stehen. Hier war gottlob etwas los. Der Kran, der mit seinen zwei Schalen wie ein gewaltiges Riesenmaul zugriff, schwenkte Balken und Baumaterial durch die Luft, der Trecker ruckelte heran, was beim Bauen gebraucht wurde. Und manchmal, wenn Peter mit gar zu sehnsüchtigen Augen zum Fahrer hinaufschaute, sagte der:

„Komm, Junge, kannst mal ein Stück fahren ... Schlag ein, aufpassen – ja, so ist es richtig. Noch etwas mehr!“

Peter war wie ein Affe hinaufgeturnt und saß am Steuer, gab Gas, bediente die Kupplung – und der Trecker gehorchte, ruckte vor oder zurück, wie er es wollte. Peters Gesicht glühte vor Eifer.

Wenn nur Mutter nicht dazukam. Sie konnte es gar nicht leiden, wenn er auf dem Trecker saß – dabei hatten die großen Brüder das auch getan. Hoffentlich dauerte die Bauerei noch recht lange, mindestens die ganzen Pfingstferien über! Aus dem Pförtnerhäuschen, das bisher als Garage gedient hatte, sollte ein kleines Wohnhaus für Großmutter werden. Sie hatte sich entschlossen hierher zu ziehen.

Peter kannte sie nur von gelegentlichen Besuchen her. Ihn interessierten die meisten Erwachsenen nicht. Freilich brachten sie oft etwas mit und Großmutter war insofern eine Ausnahme, als sie sich nicht auf Schokolade beschränkte, sondern auch ferngelenkte Autos oder andere technische Dinge mitbrachte. Auch Bücher. Peter las sehr gern, wenn die Bücher interessant waren, und die von Großmutter waren eigentlich immer Treffer. Dabei war sie doch schon ziemlich alt. Aber sie fuhr noch Auto, was Peter ihr hoch anrechnete. Selbst hatte sie keinen Wagen mehr, aber einmal war sie mit einem geborgten BMW hier gewesen. Den fuhr sie genauso selbstverständlich, wie andere Großmütter Strümpfe strickten. Oder wie es hieß, dass sie es taten, gesehen hatte Peter das noch nie. Na ja, die Erwachsenen ...

„Schlaf nicht, Junge, pass auf!“, raunzte in diesem Augenblick der Treckerfahrer zu ihm herauf. „Nimm den zweiten, los, ja. Und kuppeln! Na siehst du, so ist’s gut.“

Habt ihr Pferde?“ Die Frage schoss aus Dori heraus, noch ehe sie und Peter einander begrüßt hatten. Peter war von Mutter zum Bahnhof geschickt worden um den Gast abzuholen und hatte missmutig und gelangweilt auf dem Bahnsteig herumgestanden.

„Pferde, wieso?“, fragte er mürrisch.

„Na, ihr wohnt doch auf einem Bauernhof, auf dem Schlosshof, hat Mutter gesagt.“ Dori ließ nicht locker. „Bauernhöfe haben doch Pferde – oder Schlosshöfe vielleicht nicht?“

„Es ist kein Bauernhof mehr, Vater ist Maler“, entgegnete Peter verärgert. „Früher gab es welche bei uns, das heißt, als wir noch nicht da wohnten. Jetzt ist der Pferdestall Vaters Atelier.“

„Schade!“ Doris Enttäuschung war groß. „Auch keine Ponys? Ich hab bestimmt geglaubt, ihr habt welche. Mutter sagte, jetzt gibts überall auf dem Lande Ponys.“

„Das kann sie ja nicht wissen.“

Dori hatte ihr Fahrrad aus dem Gepäckwagen des Zuges in Empfang genommen und machte sich nun daran, ihr Gepäck darauf zu verstauen. Der Rucksack kam auf den Gepäckträger, eine Tasche an die Lenkstange, die andere ...

„Gib her“, sagte Peter nicht gerade freundlich, aber schließlich mussten sie ja weiter. „Ich hänge sie bei mir dran. Wir müssen sowieso die meiste Zeit schieben.“

„Gehts bergauf?“, fragte Dori. Peter nickte.

„Klar. Wir wohnen auf dem Schlossberg.“

„Zu schade, dass ihr keine Pferde habt“, wiederholte Dori, während sie die Fahrräder nebeneinanderher aus dem Bahnhofsgelände schoben. „Bei uns ist ein Reitverein gleich nebenan, da bin ich jeden Tag zum Helfen. Zum Ausmisten und Stallgasse-Kehren, na, zu allem, was gemacht werden muss. Manchmal darf ich auch trockenreiten.“

„Trockenreiten?“

„Na ja doch. Wenn die Pferde nass geschwitzt sind, in der Abteilung oder beim Ausreiten, müssen sie zehn Minuten geführt oder im Schritt geritten werden, bis sie trocken sind. Ich führe natürlich nicht, sondern reite.“

„Hm. Einen Reitverein gibts hier auch. Nicht in Neuenstein, aber in Oeffingen. Das ist das Nachbardorf. Wir können ja mal hinradeln.“

„Mal? Jetzt gleich. Wir bringen nur das Gepäck weg, zu euch – oder können wir es woanders lassen, damit wir nicht erst den Berg rauf müssen?“

„Nee, das müssen wir erst raufbringen. Mutter wartet. Sonst denkt sie, du bist gar nicht gekommen.“

Peter sprang vom Rad, sie waren am Fuß des Schlossbergs angelangt. Während sie ihre Räder den steilen Fußweg hinaufschoben, wobei Dori immerzu der Rucksack vom Gepäckträger rutschen wollte, betrachtete Peter sie unauffällig. Sie war etwas größer als er, was ihn ärgerte, trug eine kurze Hose und ein T-Shirt und hatte ziemlich kurz geschnittenes Haar, braun mit einem rötlichen Schimmer darüber. Ein rundes Gesicht mit lustigen Sommersprossen, muntere Augen und einen Mund, der nicht stillstand, auch hier nicht, wo man die Luft doch eigentlich zum Steigen brauchte, vor allem, wenn man ein beladenes Fahrrad schob. Dori scherte sich nicht darum, sondern fragte und fragte, wollte alles wissen, vor allem vom Reitverein. Schließlich fand Peter, der nicht allzu viel vom Reitverein wusste, nun könnte er ja auch mal was fragen.

„Wie heißt du eigentlich? Doria?“, setzte er also an. Es klang nicht sehr liebenswürdig.

„Eigentlich Dorothea“, antwortete sie, „das heißt ‚Gottesgeschenk‘. Meine Eltern haben sich eine Tochter gewünscht und mich deshalb so genannt.“

„Na, wie ein Gottesgeschenk siehst du nicht aus“, meinte Peter. „Aber keiner kann für den Geschmack seiner Eltern. ‚Peter‘ mag ich ja auch nicht.“

„Peter heißt bei uns ein Rappe, ziemlich schwer, aber gutmütig“, sagte Dori. „Damit es schneller geht, sagen sie Doria oder Dori oder Dor zu mir. Ich hieße gern anders. Es gibt aber viel mehr hübsche Jungenals Mädchennamen. Petra würde ich gern heißen.“

„Ausgerechnet Petra?“, fragte Peter erstaunt. Sie lachte.

„Noch lieber richtig Peter. Es gibt Mädchen, die Peter heißen. Oder Hansi. Ich aber leider nicht.“

„Gefällt dir denn ‚Peter‘?“, fragte er erstaunt.

„Und wie! Ich nenne mein erstes Kind bestimmt mal so, ob Junge oder Mädchen.“ Sie sagte das so selbstverständlich, wie ein anderer vielleicht gesagt hätte: Mein Rucksack rutscht schon wieder. Eine Schmeichelei war es also auf keinen Fall.

Peter schwieg. Dann waren sie oben.

Mutter kam ihnen nicht entgegen. Sie fanden sie auch nicht in der Küche, sondern endlich im oberen Flur.

„Ich muss fort, Vater hat eben angerufen. Sucht euch etwas zu essen – Tag, Dori! Wie schön, dass du da bist ...“ Schon war sie um die Ecke der Garderobe verschwunden. Peter lachte vergnügt.

„Na schön, können wir machen, was wir wollen. Spiegeleier oder –“

„Hast du Hunger?“, unterbrach ihn Dori. „Ich nicht. Bloß Durst. Lass, ich trinke Wasser.“ Peter hatte den Kühlschrank aufmachen wollen. „Damit wir fortkommen.“

„Fort? Wohin denn?“

„Na, zum Reitverein natürlich. Wohin denn sonst?“

Dori warf den Rucksack in eine Ecke und die Taschen darauf. „Komm, los, desto mehr Zeit haben wir dort.“

„Na schön.“

Peter wäre lieber in der kühlen Küche geblieben, aber er konnte seinen Gast nicht gut allein loslaufen lassen. Außerdem wusste Dori ja nicht, wo der Reitverein war. So trank auch er nur ein Glas Wasser und wollte Dori folgen, besann sich aber und erwischte sie noch am Arm, ehe sie die Treppe hinunter war.

„Komm noch mal her, ich will dir was zeigen.“

Aus der Küche führte eine zweite Tür in den oberen Flur und von da aus ging eine Wendeltreppe hinab, bei der man rundum sausen konnte, wenn man sich am mittleren Geländer festhielt. Peter machte es vor, Dori folgte. Dann standen sie in einem großen Raum, der nach zwei Seiten hin Fenster hatte.

„Das ist das Atelier. Früher war es der Pferdestall.“

Bei dem Wort Pferdestall riss Dori die Augen weit auf.

„Richtig. Das müssen die Boxen gewesen sein.“ Sie ging von einem der Pfosten, die noch vorhanden waren, zum anderen. „Hier – und hier – und da –“

„Dort hinten war der Wassertrog. Der Kutscher pumpte ihn immer abends voll, sagt Mutter.“

„Damit das Wasser abgestanden war. Pferde müssen abgestandenes Wasser bekommen, kein eiskaltes.“

„Und dort oben ist die Luke.“ Peter deutete zur Decke hinauf. „Da durch warfen sie das Heu herunter.“

„Das ist praktisch“, lobte Dori. „Bei uns im Reitstall ist das auch so: oben der Heuboden mit den vielen Katzen.“

„Gibts dort so viele?“, fragte Peter.

„Klar. Wo Pferde sind, die Hafer zu fressen bekommen, sind immer Mäuse, deshalb hält man sich Katzen. Nur bekommen sie oft Junge, ohne dass man es merkt – im Heu. Meist findet man sie erst, wenn sie schon ziemlich groß sind. Was glaubst du, wie oft ich schon mit jungen Katzen herumgezogen bin und sie Leuten angeboten habe, in der Hoffnung, dass sie sie nehmen würden. Katzen vermehren sich wahnsinnig schnell. Ich habe mal ein Bild bei unserem Tierarzt gesehen, da war oben eine Katze, darunter zwei, dann vier und acht und so weiter, zuletzt lauter, lauter, lauter Katzen, ein ganzer Berg. Kein Mensch will so viele. Aber man kann sie ja beim Tierarzt sterilisieren lassen. Das sollten alle Leute tun, die sich eine Katze wünschen.“

„Kann man das?“, fragte Peter.

„Man kann. Man muss. Du, im Reitverein hatten wir mal eine Ratte. Die saß in einer leeren Tonne, in der vorher Kraftfutter gewesen war. Da haben wir unseren größten Kater geholt und dazugetan. Und weißt du, was dann passierte?“

„Er brachte die Ratte um.“

„Denkste! Überhaupt nicht. Er hat sich gefürchtet wie vor wer weiß was, hat gemaunzt und ist schließlich aus der Tonne herausgesprungen und weg war er.“

„Und die Ratte?“

„Die hinterher! Über den Hof haben wir beide fegen sehen und dann waren sie weg. Das heißt, der Kater kam eines Tages zurück. Er gehörte ja zu uns. Den haben wir aber ausgelacht.“

„Ob er das gemerkt hat?“

„Na sicher. Katzen sind sehr feinfühlige Tiere.“

„Aber so eine Ratte ist auch was zum Fürchten. Ich kann den Kater verstehen. Der kannte bis dahin vielleicht nur Mäuse. Ich hab mal eine Ratte von nahem gesehen, die war ganz fett und hatte scheußliche Zähne ...“ Peter schüttelte sich noch, während er daran dachte. Dori nickte zustimmend.

„Ja, Ratten sind ekelhaft. Aber Mäuse sind niedlich.“

Sie schoben die Fahrräder nebeneinander den Weg hinunter, der zu steil war um hinunterzufahren.

„Ich hatte mal eine Haselmaus“, erzählte Dori, „die war süß! Ganz klein, etwa so groß wie das vordere Glied von meinem Daumen. Und zahm! Und rennen konnte die! Ich war damals krank, lag im Bett und langweilte mich. Mutter ist ja berufstätig, halbtags, aber oft war sie den ganzen Tag nicht da. Damals hab ich mir heimlich die Haselmaus geholt und auf die Bettdecke gesetzt. Aber –“

„Sie rannte dir fort?“, fragte Peter gespannt.

„Im Gegenteil. Sie kletterte sofort von der Bettdecke auf meine Hand. Und lief mir den Arm rauf und runter und auf die andere Hand, wenn ich sie hinhielt.“

„Mensch, lustig“, sagte Peter begeistert. Sie waren auf der Straße angekommen und stiegen auf die Fahrräder. „Erzähl weiter!“

„Weiter gar nichts. Aber ich hatte keine Langeweile mehr. Sie sauste hin und her auf meinen Händen, ganz süß. Und ich hab sie natürlich gefüttert, mit Krümeln. Die nahm sie und aß sie im Sitzen, so wie ein Eichhörnchen ungefähr, sehr niedlich.“

„Und in der Nacht? Hattest du da nicht Angst sie zu zerdrücken?“

„Ja, doch. Da hab ich sie dann wieder in ihr Kästchen gesetzt, vorsichtshalber. Sie wohnte in einem viereckigen Glasbehälter, in den hatte ich unten Watte gelegt, damit sie nicht fror, und eine kleine flache Schüssel mit Milch dazugestellt. Über das Glas hatte ich einen durchsichtigen Stoff gespannt, aber eines Morgens war der angenagt und die Maus fort. Ich hab schrecklich geheult, weil ich nun nichts mehr zum Spielen und Füttern hatte, und Mutter versprach mir eine weiße Maus aus einer Zoohandlung mitzubringen. An dem Tag konnte sie es aber nicht, da waren die Läden zu und am nächsten –“

„Brachte sie auch keine? Die Erwachsenen versprechen oft viel und dann ...“

„Nein, so ist Mutter nicht. Aber am nächsten Tag war die Haselmaus wieder da, auf einmal. Ich konnte es gar nicht fassen. Mutter rief: ‚Dori, Dori, was glaubst du, was ich hier habe?‘ Na, was schon, sagte ich maulig. Aber da kam sie angelaufen und hatte das Mäuschen in der hohlen Hand, obwohl sie sich sonst vor Mäusen graulte. Das war eine Freude!“

Dori und Peter radelten nebeneinanderher. Es war heiß, aber schön.

Sie erreichten das Dorf und gleich darauf den Reitverein. Ein großer alter Stall mit einem Walmdach, daneben ein riesiger Misthaufen, zu dem eine kleine Brücke hinüberführte. Dahinter die Halle.

Die beiden lehnten ihre Fahrräder an die Stallwand. Im Nu war Dori in der offenen Stalltür verschwunden. Zu ihrer größten Verblüffung fand sie sich aber schon im nächsten Augenblick draußen wieder, und zwar recht unsanft gelandet auf ihrem Allerwertesten.

„Puh, wer war das. Wer hat mich ...“

Peter krümmte sich vor Lachen.

„Das war Mephisto, der kleine Teufel!“

Dori stand auf, putzte ein wenig an sich herum und ging dann vorsichtig wieder auf die Stalltür zu.

„Mephisto? Wer ist denn das?“

„Der Ziegenbock. Im Verein halten sie sich einen Zwergziegenbock, der soll Glück bringen. Und der mag Fremde nicht.“ Peter hatte sich vorsichtshalber hinter einen der beiden Torpfosten gestellt. Dori kam näher.

Ja, jetzt sah sie das kleine Biest. So klein, dass sein Kopf, mit Hörnern bestückt, ihr nur bis an die Knie reichte. Der hatte sie so freundlich begrüßt.

„Geh ja nicht wieder ran“, warnte Peter, aber Dori war schon dabei. Sie hatte entdeckt, dass an der Stallmauer entlang Löwenzahn wuchs, beinahe aus den Steinen heraus, denn der Hof war gepflastert. Sie pflückte ein paar und näherte sich mit diesem Friedenspfand in der Hand erneut dem kleinen Ungeheuer.

„Mephisto, mein Guter, ich hab dir was mitgebracht“, schmeichelte sie, „komm, komm, schöner Löwenzahn, den mögen kleine Ziegenböcke gern!“

Der winzige Teufel kam näher, schnupperte an den Blättern und fraß sie ihr dann aus der Hand. Peter stand daneben und staunte. Sie streichelten Mephisto und lobten ihn und er tat ganz vertraut.

Dann führte Peter Dori an den Ständen entlang. Die Namen der Pferde standen auf kleinen Tafeln über den Krippen. Es waren komische dabei: Astnichte und Damenweg und Garibaldi, und dann wieder ganz einfache wie Hansi oder Moritz oder Liebchen. Auch ein Mumpitz war dabei.

„So würde ich mein Pferd aber nie nennen“, sagte Dori empört. „Und Garibaldi, das klingt wie der Name von einem Schnellkochtopf. Werde bald gar, so ungefähr.“ Peter sah sie von der Seite an.

„Weißt du nicht, dass Garibaldi ein berühmter Mann war?“

„Ja, und es ruft sich auch gut, jedenfalls besser als Astnichte“, meinte Dori. Gerade kam der Pferdepfleger. Er sah die beiden an.

„Was wollt ihr denn hier?“

„Helfen!“, rief Dori sofort. Der Mann lachte behaglich. Er war alt und freundlich; über Hemd und Hose trug er eine grüne Schürze.

„So eine Schürze hab ich mir immer gewünscht!“, sagte Dori.

„Vielleicht bringt sie der Osterhase“, erwiderte der Alte, „aber es geht auch ohne ganz gut. Ihr könnt die Stallgasse fegen, dort stehen Besen. Dich kenne ich ja, Junge.“

Peter wurde rot vor Stolz. Er war schon ein paar Mal hier gewesen.

„Der Osterhase?“, fragte Dori und lachte.

„Ja, du meinst, das dauert eine Weile, bis der wieder kommt? Dahinten steht er.“ Er wies zum Ende des Stalles hin, wo ein Pferd nicht in einem Stand wie die anderen, sondern in einer ringsum geschlossenen Box stand. Wirklich, auf dem Schild stand „Osterhase“. Dori guckte über die Bretterwand und lachte.

„Ein bisschen sieht es wirklich so aus, jedenfalls die Ohren!“ Die waren länger als bei den meisten Pferden. Der Alte lachte.

„Jaja. Da war der Vater ein Esel. Aber lasst mal, Esel sind gar nicht dumm. Das heißt es nur immer. Esel sind weder dumm noch störrisch. Und dieser hat viel von der Mutter. Ihr wisst ja, wenn der Vater ein Esel ist und die Mutter eine Pferdestute, dann wird das Kind ein Maultier. Und umgekehrt, ist die Mutter eine Eselin, der Vater ein Pferd, so gibt das einen Maulesel. Dieser kam an einem Ostersonntag zur Welt, deshalb heißt er Osterhase.“

„Und man kann ihn richtig reiten wie ein Pferd?“

„Man kann. Die Leute, denen er gehört, haben noch andere Pferde. Aber der Junge bestand darauf, dass sie den Osterhasen behielten. Er reitet ihn.“

„Und dort? Dahinter? Wer steht darin?“, fragte Dori und lief zur nächsten Box. Der Alte schüttelte den Kopf.

„Niemand. Wenn du keines mitbringst, ist die Box leer.“

„Ich hab leider kein Pferd. Aber“, Doris Gesicht leuchtete jetzt vor Eifer, ihre Augen sprühten, „ich spare auf eins. Schon lange. Ich esse kein Eis, wenn mir jemand eins spendieren will, und lass mir lieber das Geld geben. Und wenn wir einen Schulausflug machen und Geld mitbekommen, dann kaufe ich mir nichts unterwegs. Alles spare ich – schon seit Jahren!“

„Das ist recht. So kommt man zum Pferd“, lobte der Pferdepfleger. „Kannst dir ja am Mittwoch eins aussuchen. Da ist Stutenschau in der Kreisstadt. Ihr kommt doch sicher auch hin, ihr beiden. Wir auch.“

Gegen Abend kamen die Reitvereinsleute. Manche sattelten selber, einige ließen sich die Pferde vom Pferdepfleger fertig machen, sogar nachgurten, warfen dann ihren Zigarettenstummel auf die Erde und traten ihn aus. Dori beobachtete es angewidert.

„Ich würde immer selbst satteln“, murrte sie, „man muss doch wissen, ob alles sitzt. Und du?“

Peter zuckte die Achseln. Er hatte sich das noch nie überlegt. Als sie heimradelten, fragte er:

„Du möchtest wohl gern reiten? Erlauben das deine Eltern nicht?“

„Es ist zu teuer“, erklärte Dori. „Voltigieren habe ich gedurft, als ich noch kleiner war. Das war schön. Aber reiten ... Wenn ich erst einmal ein eigenes Pferd hab ...“

„Wissen sie, dass du darauf sparst?“, fragte Peter.

„Hm. Weiß nicht. Doch, ja, sie wird es wohl wissen.“

„Und ein Pferd im Reitverein stehen haben, das ist teuer, ich weiß“, sagte Peter. „Zu mir sagt Vater immer, ich hätte noch zu kurze Beine. So ein Quatsch. Die Prinzessin Anne in England ist auch schon mit fünf Jahren geritten, als ob ich das nicht wüsste. Er sucht bloß eine Ausrede. Und dein Vater? Was meint der?“

„Ich habe bloß eine Mutter. Mein Vater lebt schon lange nicht mehr. Deshalb ist sie ja auch berufstätig.“

„Wo arbeitet sie denn?“, fragte Peter mit mattem Interesse. Aber er meinte, etwas müsste man ja fragen.

„In einer Buchhandlung. Sie ist befreundet mit der Chefin dort. Eigentlich arbeitet sie nur halbtags, aber oft geht sie auch nachmittags hin. Vor Weihnachten zum Beispiel, wenn sehr viel zu tun ist. Und zwischen Weihnachten und Silvester, da machen sie Inventur. Ich bin ja auch kein Baby mehr. Früher, sagt sie, war es oft mühsam, wenn ich krank war oder so.“

„Und dann kochst du dir selber was, wenn du aus der Schule kommst?“

„Manchmal ja, wenn ich Lust dazu habe. Sonst – ach, Essen ist nicht so wichtig.“

„Und Geschwister hast du keine?“

„Nee. Aber du ja auch nicht. Jedenfalls keine, die noch zu Hause sind und mit denen du spielen kannst.“

„Und wenn sie da sind, kümmern sie sich nicht um mich.“ Er sagte das um ihr zu zeigen, dass Geschwister auch nicht immer die reine Freude sind.

Sie lachte.

„Kümmern sich wohl! Der eine lässt dich sogar manchmal heimlich ans Steuer, hast du mir erzählt.“

„J-ja, schon. Aber das macht er selten. Mutter war der Meinung, ich sollte auch mal eine Schwester in meinem Alter haben – dich. Möchtest du meine Schwester sein?“ Es klang spöttisch und nicht sehr einladend. Dori sah ihn an.

„Ich weiß nicht. So von heute auf morgen ... Na, mal sehen, wie es weitergeht. Jedenfalls habt ihr es hier schöner als wir in der Stadt. Nur keine Pferde ... das ist schade. Schlosshof – da hatte ich mir vorgestellt, dass es Kutschpferde gäbe und welche zum Reiten ...“

Sie waren am Schlossberg angekommen. Schweigend schoben sie die Räder bergauf.

In der Küche erwartete sie eine leckere Überraschung: Peters Mutter backte Waffeln, dazu gab es Rhabarberkompott.

Das Waffeleisen war ein altes, schwarzeisernes Gerät, das man umdrehen musste; es hing in einem Gelenk und sah aus, als habe man es schon im Dreißigjährigen Krieg benutzt. Mutter war erhitzt, sie hatte rote Backen und die Schürze voller Mehl. Die Waffeln schmeckten noch mal so gut, wenn man sie hantieren sah.

„Was habt ihr denn für morgen vor?“, fragte sie, während sie weiterbackte.

„Noch nichts“, murmelte Peter mit vollem Mund.

„Schön“, sagte Mutter, „ich frage, weil ... Ein Bekannter aus Norddeutschland hat sich für morgen bei uns angesagt. Netter Kerl. Ein Freund von Roland – das ist Peters ältester Bruder, Dori –, der möchte hier ein bisschen die Gegend kennen lernen und ich hab gerade jetzt gar keine Zeit. Könntet ihr mit ihm herumfahren? Ihm den Neckar zeigen? ‚Neckartal ist wunderschön, so was hat man nie gesehen ...‘“, zitierte Mutter. „Oder vielleicht Ludwigsburg und – na, was euch eben einfällt. Einen Tag lang, wenn er will auch zwei. Ich kann wirklich nicht weg, hab für Vater zu tun.“

„Mit dem Auto?“, fragte Peter.

„Klar.“

„Was hat er denn für eins?“

„Da bin ich überfragt. Jedenfalls kriegte auf diese Weise auch Dori die Umgebung zu sehen, wäre das nicht hübsch?“

„Oh ja, das wird schön!“, strahlte Dori. Sie verstand nicht, dass Peter ein so mürrisches Gesicht machte. Wie eine müde Klosettfliege, dachte sie, sagte es aber nicht. Statt vor Freude hochzuspringen, wo er doch Autos so liebte.

„Was passt dir denn daran nicht?“, fragte sie, als sie sich endlich voll gegessen und satt aus der Küche schoben. Peter grinste.

„Du bist blöd. Wenn ich ‚Hurra!‘ und ‚Klasse!‘ schriee, würde mich Mutter nächstens auch mit einem alten Wackelkopp und womöglich zu Fuß losschicken“, brummte er. „Man darf die Erwachsenen nicht verwöhnen. Wer sagt übrigens, dass der nicht auch ein dämlicher Wackelkopp ist und eine alte Rostlaube fährt, die in allen Gelenken knirscht. Ja sagen, wenn man möchte, schön. Aber ja nicht zu begeistert.“

„Blödmann“, brummte Dori, aber es klang nicht ganz so verächtlich wie zuvor. Peter war gar nicht so blöd; was er sagte, konnte stimmen.

Heiner war weder ein Wackelkopp noch fuhr er eine alte Schleuder. Er gefiel Dori gleich und der Wagen gefiel Peter sogar sehr. Keine Rostlaube, wahrhaftig nicht, sondern ein Jaguar. Nur mit Mühe unterdrückte Peter seine Begeisterung.

Am nächsten Morgen ging es wirklich los, bei herrlichem Wetter. Es war sonnig und noch nicht zu heiß, das Verdeck des Wagens war zurückgeschlagen und Dori und Peter genossen das Sitzen im offenen Wagen. Das Vergnügen hatten sie nicht alle Tage!

Rolands Freund erwies sich als lustiger Geselle.

„Wohin, meine Herrschaften?“, fragte er, als sie den Schlossberg hinuntergefahren waren. „Bitte nur nicht in ein Museum oder gar in zwei oder drei. Das fände ich entsetzlich. Als ich so alt war wie ihr, musste ich mit meinen Eltern sonntags immer ins Museum ... Auch nicht in Kirchen, bitte schön! Das ist was für den Winter. Ich warte auf Vorschläge.“

Kirchen und Museen hatten die beiden auch nicht vorgehabt. Sie lotsten Heiner zunächst ins „Blühende Barock“ nach Ludwigsburg, was ihm sehr gut gefiel, und planten dann das Weitere anhand der Karte. Dori zog es natürlich zum Reitverein, aber den konnten sie sich für den Schluss aufsparen. So fuhren sie in die Altweibermühle in Tripstrill, rollten sich durch das drehende Fass, schwankten über hin und her wackelnde Brücken und rutschten die riesenlange, blanke Rutschbahn an die fünfzig Mal hinunter, nie ohne vor angstvollem Entzücken zu kreischen oder wenigstens zu quietschen. Heiner lud sie dann zu einem großen Eis ein, das Dori sich wie gewohnt in bar erbat. Schließlich ruhten sich die drei im Auto von all den Aufregungen aus, die die Mühle bot.

„Nur nicht nach Hause, da wären wir ja dumm“, meinte Peter, der alle diplomatische Zurückhaltung aufgegeben hatte, „vielleicht könnten wir ja auf die Schmetterlingswiese gehen? Dort war ich ewig nicht und sie muss jetzt sehr schön sein. Im Winter übrigens auch – überhaupt immer. Ja, dorthin! Da war Dori auch noch nicht.“

„Was ist denn das für eine Wiese?“, fragten Dori und Heiner wie aus einem Mund.

„Hach, was Tolles. Nicht weit von zu Hause. Man kann gut zu Fuß hingehen von uns aus. Aber das merkt ja niemand, dass wir so nahe sind. Also da ist ein Mann im Dorf, der hat das Grundstück gekauft, ein flaches Tal, wie eine Schale, ringsum Wald, ganz verschwiegen. Eigentlich wollte er sich dort ein Haus bauen und darin wohnen, aber das hat die Baupolizei nicht genehmigt. Eingezäunt hatte er es schon und nun baute er einen Stall hinein, einen, der nur drei Wände hat, das gilt nicht als Haus. Vorn ist der Stall mit einem Querbalken zu verschließen, aber das ist gar nicht nötig. Er ist offen und hat oben einen Heuboden. Was damit ist, verrate ich nicht. Wollen wir hin? Ich fände das wunderbar.“

„Und warum heißt sie Schmetterlingswiese?“, fragte Heiner. Peter wurde immer eifriger.

„Der Besitzer dieser Wiese meint, man müsste etwas tun, damit die Schmetterlinge nicht aussterben. Überall sind die Gärten jetzt abgeschleckt und sauber, ein Grashalm neben dem andern, kein Gänseblümchen, kein Löwenzahn, keine Brennnessel. Ja, gerade Brennnesseln werden ausgerottet und sie seien so wichtig, sagt er. Es gibt Schmetterlinge, zum Beispiel Pfauenaugen, die legen ihre Eier nur in Brennnesseln und wenn es keine mehr gibt, sterben sie aus. Er lässt also die Schmetterlingswiese ganz und gar so wachsen, wie sie will, mit Unkraut und allem, was von allein wächst, und stellt im Sommer nur seine Rinder dorthin. Die können fressen, was sie mögen, und Wasser haben sie auch. Er hat eine Quelle so gefasst, dass sie in einen großen runden Bottich mündet, den hat er gemauert und dort trinken die Rinder. Man kann sich auch dort waschen, es ist eine Überlaufstelle da, sodass das Wasser sich immer erneuert. Und viel Seife nimmt man eben nicht, man muss ja Rücksicht nehmen auf die Tiere.“

„Was dir sicher ein großes Opfer ist!“ Dori lachte. In den Tagen, die sie nun schon hier war, hatte sie bemerkt, dass Peter Seife überhaupt nicht leiden konnte. Er ging darum herum wie um ein giftiges Reptil.

„Also los, zur Schmetterlingswiese“, sagte Heiner vergnügt, „hoffentlich bringt uns der Bulle nicht um, wenn wir kommen.“

„Der Bulle! Dort steht doch kein Bulle! Rinder hat er dort.“

„Ist ein Bulle kein Rind?“, fragte Heiner.

„Mal gewesen. Unter Rindern versteht man Jungvieh. Sobald die Kälber nicht mehr saugen, werden sie dorthin gebracht.“

Sie fuhren los. Peter franzte, es ging durch ein paar Dörfer, dann übers Feld auf einem schmalen, aber auch asphaltierten Weg. Überall fahren die Bauern jetzt mit ihren Treckern und so werden alle Wege asphaltiert oder geschottert. Zum Radfahren war der Asphalt ja gut, aber zum Reiten zum Beispiel – und Dori dachte bei allem und jedem ans Reiten – natürlich nicht. Sie sagte es.

„Hast ja noch kein Pferd“, brummte Peter.

„Später, wenn du mal eins hast, gibt es vielleicht Reitwege mit Sand“, tröstete Heiner, „im Frankfurter Stadtwald ist das auch so. Dort, wo die Reitwege anfangen, ist als Wegweiser ein Hufeisen auf einen Pfosten genagelt. Ist das nicht hübsch?“

Am Waldrand hielten sie. Peter führte sie noch ein Stück zu Fuß weiter und guckte an den Bäumen hoch. „Hier – nein, hier noch nicht.“

Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte: den Einstieg zur Wiese, einen schmalen Trampelpfad, der sehr steil bergab führte.

„Wenn es nass ist oder geschneit hat – vielen Dank! Dann kommt man am besten runter, wenn man sich auf den Hosenboden setzt und rutscht“, erklärte er, während er vorsichtig als Erster hinunterzuklettern begann, seitlich, Tritt um Tritt, während er sich rechts und links am Gebüsch festhielt. Dori folgte, hinter ihr Heiner. Es war wirklich nicht einfach ohne auszurutschen hinunterzukommen, schließlich aber war die Talsohle erreicht. Sie öffneten ein Gattertor und nun ging es nur noch sanft bergab, durch hohes Gras, das man eigentlich nicht zertreten durfte, wie Dori sofort sagte. So gingen sie hintereinander und jeder trat in die Fußstapfen seines Vordermannes. Ein Apfelbaum blühte, Bienen summten und Schmetterlinge, die der Wiese den Namen gaben, taumelten darüber hin. Noch ein Stück weiter und sie entdeckten den Stall. Der Balken war zurückgeschoben, man konnte also hinein. Peter, der jetzt voranlief – er war stolz den andern alles zeigen und erklären zu können –, kletterte sofort seitlich eine Leiter hoch.

„Los, kommt, hier ist was zu sehen!“

Heiner und Dori folgten ihm. Und wahrhaftig, da gab es was zu sehen. Der Heuboden war nur zur Hälfte mit Heu gefüllt, die andere Hälfte als Stübchen eingerichtet. Ein altes Sofa stand da, am Fenster ein Tisch, davor ein Stuhl. An einer Wand ein Regal mit Töpfen und Pfannen, ein kleiner Spirituskocher, alles wirkte sauber und ein bisschen wie in einer Puppenstube.

„Ach, ist das hübsch, ist das hübsch“, rief Dori entzückt, „hier möchte ich wohnen, mal eine Woche oder zwei oder den ganzen Sommer!“

„Das haben schon manche getan“, erzählte Peter, „einer hat seine Doktorarbeit hier geschrieben und zwei junge Leute haben ihre Hochzeitsreise hierher gemacht.“

„Und woher kamen die? Aus Berlin? Aus Java? Oder vielleicht aus Kanada?“, fragte Heiner.

Peter sah ihn nur verblüfft an. Heiner erklärte:

„Beim Reisen kommt man doch immer irgendwoher und reist irgendwohin.“

„Ausgerechnet Kanada!“ Peter lachte. „Sie kamen aus unserem Ort, sonst hätte ich es ja gar nicht wissen können.“

Er kramte in einer Ecke, kam dann mit einem dicken Buch zurück.

„Das ist das Gästebuch. Da müssen wir auch reinschreiben und, wer kann, ein Gedicht machen oder eine Zeichnung. Ihr könnt es ja mal ansehen. Der Mann, dem das Ganze hier gehört, ist ein witziger Kerl. Er erlaubt, dass man hier wohnt und kocht, man kann auch übernachten. Er stammt nicht von hier, sondern aus Schweden oder Norwegen, genau weiß ich das nicht, jedenfalls aus Skandinavien. Dort ist es so ähnlich mit den Jugendherbergen. Man zieht von einer zur anderen, kann Feuer machen um die Sachen zu trocknen, kann übernachten, Hauptsache, man verlässt die Hütte so, wie man sie vorfand. Das ist Ehrensache und alle richten sich danach. Manche Leute lassen auch Kaffee dort oder Schokolade, sozusagen als Dank, oder was sie sonst spendieren wollen. Es kann ja auch sein, dass einmal sehr Erschöpfte da ankommen. Dort wird überhaupt nicht gestohlen. Er hat mir erzählt, dass einer einmal seine Armbanduhr in solch einer Hütte vergessen hatte. Er wanderte weiter nach Norden, der Vogelfluglinie nach, und Wochen später denselben Weg zurück. Als er wieder in die Jugendherberge kam, hing seine Uhr an einem Band von der Decke herunter, sodass jeder sie sehen konnte. Und was glaubt ihr: Sie ging! Jeder, der dort übernachtete, hatte sie aufgezogen, aber keiner nahm sie mit. Gut, nicht?“

„Klasse!“, fand Dori und auch Heiner nickte.

„Einmal haben wir auch hier übernachtet, meine Brüder und ich“, erzählte Peter, „mit noch einem Freund von mir. Wir beide waren noch klein, vier vielleicht. Meine Brüder wollten im Heu schlafen und wir beide auf dem Sofa, das reichte für uns, wenn wir die Beine einzogen. Wir krochen also darauf und deckten uns zu. Da bollerte es auf einmal an die Wand, die zum Heuboden führt, und eine tiefe Stimme schrie: ‚Üch bün der Hoilige Goist!‘ Es war mir ein bisschen unheimlich, das muss ich schon sagen, aber mein Freund fürchtete sich nicht.

‚Heiliger Geist, du Scheißbock!‘, schrie er und darauf musste der, der geklopft hatte, so lachen, dass wir ihn erkannten. Roland war es, mein ältester Bruder. Er kann auch herrliche Gruselgeschichten erzählen.“

Später guckten sie sich draußen um. Auf der Wiese grasten zwei Rinder, die bald neugierig herankamen. Als Heiner eine Tafel Schokolade aus der Tasche zog, wollten die Rinder auch etwas davon und reckten ihm ihre glatten, nassen Mäuler entgegen.

Es war ein schöner Tag und Peter und Dori bettelten, Heiner solle morgen wieder etwas mit ihnen unternehmen. Aber der hatte versprochen am nächsten Tag mit Mutter zu fahren. Auf einen Familienausflug hatte Peter jedoch keine Lust. Er sagte das ganz offen. Dori widersprach.

„Deine Mutter ist nett, tu nicht so garstig“, sagte sie. „Sie backt uns sogar Waffeln.“

„Na und?“

Ich hätte auch gern eine Mutter, die mit roten Backen am Herd steht und Waffeln backt, die Schürze voll Mehl, dachte Dori, sagte es aber nicht. Es gibt Sachen, die spricht man nicht gern aus, weil sie dann sofort anders klingen, schärfer, vielleicht sogar böse. Aber denken muss man sie manchmal.

„Gar nicht und“, sagte sie also patzig und dann brachen sie auf.

Der Platz war asphaltiert, Autos und Pferdeanhänger standen am Rande unter großen Bäumen, man hörte Gewieher und das dumpfe Poltern, mit dem Pferde die schrägen Klappen der Transporter herunterstampften. Überall wurde gerufen, gerannt, gelacht, geschimpft. Von den drei Richtern, die inmitten des Platzes standen, ertönten Anweisungen durch den Lautsprecher; es roch nach gebratener Wurst. Mitten auf dem Platz war ein großes Dreieck aus Sägespänen gestreut, auf dem die Pferde einzeln vorgeführt wurden, erst stehend, dann im Schritt und im Trab. Manche galoppierten auch; dann mussten die Leute, die sie führten, mitrennen und die Zuschauenden lachten. Hunde schnüffelten herum oder verbissen sich wütend ineinander, von ihren Herrchen auseinander gerissen und gescholten. Kinder liefen in die Mitte des Kreises und mussten zurückgeholt werden, die Erwachsenen rannten und schwitzten. Bekannte begrüßten einander, alle waren wach und aufgeregt und interessiert, es herrschte eine richtige Jahrmarktsstimmung.

Peter und Dori waren mit den Rädern gekommen, hatten diese an die Bäume gelehnt und drängelten sich in die erste Reihe der Zuschauer um alles genau zu sehen und mitzuerleben. Stutenschau, ein großes Fest für alle, denen Pferde am Herzen liegen.

„Jetzt die Reitponys. Fahren Sie ein!“, ertönte es aus dem Lautsprecher.

„Fahren!“, prustete Peter. „Als ob die Wagen hätten!“

„So sagt man aber“, verwies ihn Dori aufgeregt, „das heißt so. Da, guck – Himmel, sind die schön!“ Sie deutete auf eine Reihe von halbgroßen Pferden, die jetzt zur Mitte geführt wurden. Es waren zwei helle mit schwarzweißer, gestutzter Mähne, Norweger, dann ein Dunkelfuchs, ein paar braune und ein Schimmel. Drei der Ponys hatten Fohlen bei Fuß, die hochbeinig und noch wollig bepelzt neben den Müttern herliefen, von Erwachsenen oder Kindern geführt. Sie machten Bocksprünge und wehrten sich gegen die Führenden, hopsten, sperrten sich mit den Vorderbeinen, manche rannten los, dass die Führenden kaum mitkamen, es war ein toll bewegtes Bild.

Nach den Reitponys kam noch eine größere Stute, kein Pony, mittelbraun mit großer weißer Blesse über Nase und Maul. Deren Fohlen war außer Rand und Band. Ein großer Junge führte es oder versuchte es zu führen. Es tanzte auf den Hinterbeinen, wickelte sich den Strick, der am Halfter befestigt war und den der Junge hielt, blitzschnell ein paar Mal um den Hals, weil es sich wie ein Kreisel drehte, warf sich auf die Erde und zappelte wie verrückt. Der Junge beugte sich hinunter um den Strick zu entwirren, da wieherte die Stute nach ihrem Kind. Das sprang auf und ihr nach. Der Junge wurde mitgerissen, stolperte und fiel lang hin, hielt den Strick noch, schließlich ließ er ihn los. Das Fohlen raste jetzt mitten in die Zuschauer hinein, die auseinander spritzten. Schon war es auf der Straße und auf und davon.

Dori und Peter hatten ganz nahe der Stelle gestanden, an der das Fohlen den Kreis der Zuschauer durchsprengt hatte. Geistesgegenwärtig rannten sie ihm jetzt hinterher, Dori immer ein paar Schritte voraus. Obwohl die Autos wegen all dem Trubel langsam fuhren, war es für das Tier doch gefährlich, zwischen ihnen herumzuspringen. Es musste aufgehalten und sicher zurückgeführt werden.

„Donner! Donnerwetter!“, brüllte der Besitzer der Mutterstute. Sein Sohn hatte sich mittlerweile aufgerappelt und spurtete ebenfalls dem Fohlen hinterher, immer wieder „Donner! Donner!“ rufend. Die Zuschauer lachten. Sie hatten gut lachen, ihnen gehörte das Fohlen nicht. Aber den Ruf „Donner! Donner!“ nahmen sie auf, man hörte ihn jetzt von allen Seiten. Donner, von Dokterant und aus der Domina, so sagt man. Und wenn irgendein Name auf ein Pferd passte, dann „Donner“ auf dieses Fohlen. Das aber begriffen Peter und Dori erst später.

Jetzt rannten sie wie die Jagdhunde hinter ihm her. Das Fohlen folgte der Autostraße, die hier abbog zum Freibad der kleinen Stadt. Wie der Wind sprangen Dori und Peter die Straße entlang, ein Auto überholte sie vorsichtig, der Fahrer schien Spaß an der Jagd zu haben.

„Donner! Donner!“, riefen noch ein paar von den Zuschauern. Peter und Dori schrien schon lange nicht mehr mit den anderen mit. Sie brauchten die Luft zum Rennen.

Die Straße führte geradewegs auf das Gebäude zu, das zum Freibad gehörte und die Straße sozusagen abschloss. Durch eine Absperrung, an der links der Schalter für die Kasse lag, konnte man auf die Wiese vor dem Freibad gelangen. Das Fohlen hielt drauf zu und Dori schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass dort geschlossen sein möge. Das war es zwar nicht, aber gerade im richtigen Moment kam ein dicker Mann durch den schmalen Eingang und versperrte ihn mit seiner Leibesfülle. Das Fohlen bremste seinen Lauf, brach dann nach rechts aus, schoss an Dori und Peter vorbei und die Straße zurück, auf der es gekommen war.

Hier kam ihm ein Radler entgegen; er fuhr sehr schnell, sah das Fohlen und versuchte seitlich auszuweichen. Aber es gelang ihm nicht mehr. Donner rannte genau in ihn hinein.

Nun lagen beide auf der Erde, daneben das Fahrrad. Dori kniete schon bei Donner, hob seinen Kopf, der seitlich im Staub lag, und jammerte unaufhörlich: „Donner! Aber Donner! Was machst du denn!“ Peter war nun auch heran. Der Radfahrer versuchte stöhnend sich aufzurichten.

„Ihr könnt doch ein Pferd nicht einfach auf der Straße rumjagen“, zeterte er, „ich zeig euch an! Mein neues Rad ... und hier –“ Er wies ein zerschundenes Knie vor. Dori dachte: Wenn’s weiter nichts ist ... Denn sonst schien nichts kaputt zu sein. Der Lenker des Fahrrades war nur verdreht. Dori nahm das Vorderrad sachverständig zwischen die Knie und drehte den Lenker zurück. Aber der Junge bestand darauf, Schadenersatz zu bekommen.

„Ich zeig euch sonst an!“

„Ist ja gar nicht unseres“, sagte Peter empört und Dori fühlte einen Stich im Herzen. Er sagte das so zufrieden, weil er meinte, nun könnte ihnen nichts passieren. Sie aber – ja, wenn es ihres wäre ...

„Gib nicht so an, wir sprechen mal mit dem Besitzer“, sagte sie also möglichst freundlich. „Komm mit, ich zeig ihn dir.“

Die Nase des Jungen blutete jetzt auch. Er wischte daran herum, was sein Gesicht nicht gerade verschönerte. Peter versuchte Donner zu halten. Der war schon wieder aufgesprungen und wollte los, vermutlich zur Mutter. Er war nur schwer zu halten, zwar trug er ein Stallhalfter, aber der Strick musste auf dem Platz geblieben sein. Peter zog deshalb den Gürtel aus seiner Hose und befestigte ihn am Halfter, wobei das Fohlen dauernd ruckte und störte. Es war kaum zu schaffen. Schließlich aber zogen sie doch, das Fohlen führend, das Fahrrad schiebend, auf den Platz zurück.

Da kam ihnen schon der Besitzer entgegen, rot wie eine Mohnblume und schnaubend vor Wut.

„Auch noch jemanden umrennen und Schaden anrichten! Du kommst zum Metzger, dass du es weißt!“

„Nein!“, jammerte Dori und der große Junge mit dem Fahrrad sah auch sehr entsetzt aus.

„Weil es mich umgerannt hat? Aber ich ... es konnte ja nichts dafür ... ich will ja gar nichts –“ Auch Peter bettelte: „Nein, bitte, bitte nicht!“