Tiergeschichten vom Ponyhof - Lise Gast - E-Book

Tiergeschichten vom Ponyhof E-Book

Lise Gast

4,6

Beschreibung

Auf einem Ponyhof geht es oft turbulent zu und her. In diesem Band erzählt Lise Gast auf amüsante Weise über das Leben auf dem Ponyhof: Weihnachten mit einer "Pferdebescherung", abenteuerliche Erlebnisse mit Feriengästen sowie Pannen, Turniere und Fuchsjagden gehören dabei zur Tagesordnung... – Lustig und humorvoll erzählte Pferderomane. Lesenswert!Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Tiergeschichten vom Ponyhof

Saga

Tiergeschichten vom Ponyhof

German

© 1988 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711510094

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Pferdehandel

Vor langer Zeit, als wir noch keine Pferde hatten, veröffentlichte ich einmal ein Buch, das hieß „Große Schwester Schimmel“ und erwies sich als richtungweisend für unser weiteres Leben. Denn „Schimmel“ deutet auf eine Pferdefarbe hin. Dieses Buch wurde in der Zeitung besprochen, und direkt darunter befand sich die Kritik eines anderen Buches, mit dem Titel „Dick und Dalli und die Ponys“ von Ursula Bruns. Die Autorin schilderte darin das Leben einer Großmutter mit zwei kleinen Enkelinnen, die Ponys züchteten.

Ponys! Seit eh und je mein Traum und mein größter Wunsch. Schon im allerältesten Adreßbuch, das ich noch heute besitze, steht eine Anschrift „Shetlandponys, Alpen, Niederrhein“. Ich kaufte Ursula Bruns Buch und las es den Kindern vor. Und dabei überlegte ich.

Wir wohnten damals auf einem Gutshof in Westfalen, und der Besitzer hielt seine schützende Hand über uns. Er selbst war kinderlos, aber sehr kinderfreundlich, hatte seinen Spaß an unserer Bande und verzieh immer wieder, wenn Dummheiten angestellt wurden. Auf dem Hof gab es eine alte Ölmühle aus dem Jahr 1879, die leerstand; ein Stall war auch dabei. Der Wunsch, den Kindern ein Pony zu halten und sie reiten zu lassen, war groß. Ich begann also, mich umzuhören. Woher bekam man ein Pony?

Erst versuchte ich es bei einer Autorin, die die Frau eines Zoodirektors war. Ihre Antwort war unmißverständlich: „Lassen Sie die Hände davon. Ponys sind kein Spielzeug.“ Sie ahnte nicht — wie konnte sie auch, ich wußte es selbst ja auch noch nicht —, daß wir im Begriff waren, den ersten Ponyhof der Bundesrepublik zu gründen.

Wir suchten weiter. In dem Ort, in den es uns verschlagen hatte, wohnte auch ein alter Offizier, den wir den „rostigen Baron“ nannten. Ihn fragte ich um Rat. Und er wußte tatsächlich jemanden, der Shetlandponys besaß. Er telefonierte sofort, und dieser Mann bot uns eine kleine Rappstute an, fünfjährig, und trächtig. Ob wir ...

Es war einer meiner Blitzentschlüsse. Ich stammelte „Jajaja!“ und hatte gehandelt, wie der Reiter vor dem Hindernis handeln soll — mein Herz vorangeworfen, um nachzuspringen. Die kleine Rappstute wurde unser erstes Pferd. Ich brachte sie, um die Kinder zum Heiligen Abend zu überraschen, erst einmal bei unserm Dorfkaufmann unter. Natürlich war in unserem kleinen Ort nichts zu verbergen. Die Kinder wußten zur Bescherung längst, daß da ein kleiner Vierbeiner stand, Heu fraß, wieherte und ein Fohlen erwartete. Ich holte sie am Heiligen Abend vor der Christmette ins Haus herüber, der „rostige Baron“ ging mit. Der Ladenbesitzer sah uns nach und rief: „Maria und Josef!“ Dabei sollte Blacky, die eigentlich Adele hieß, den Esel darstellen. Da wir später auch Esel besaßen und sehr liebten, betrachteten wir das nicht als Schimpfwort.

Im Mai fohlte sie. Es wurde ein Stutfohlen, und wir nannten es Appelschnut. Die Kleinen strahlten, wenn sie jetzt von „unseren Pferden“ sprachen, liebten Schnute und begannen nach einiger Zeit, Blacky zu reiten. Der „rostige Baron“ gab ihnen Unterricht. Nun aber fanden die großen Kinder und ich, daß auch wir reiten sollten, und ein größeres Pony mußte her. Diesmal nahmen wir unseren Gutsherrn mit, den wir sehr liebten. Er wußte von einem Schecken, der vielleicht in Frage kam. Der Handel ging schnell, wir hatten ja keine Ahnung, waren blutige Laien. Glücklich brachten wir Schekki heim. Und da der Gutsherr beim Kauf dabei war, nahmen wir das als seine Genehmigung, uns Ponys zu halten. Er gönnte uns den kleine Stall.

Es war wiederum Winter, und wir erwarteten unsere Großen, die in Internaten lebten, der Älteste in Wolfenbüttel, die Töchter in Harzburg. Sie kamen immer alle miteinander in den Weihnachtsferien heim, und wir holten sie ab, obwohl es weit war bis zur Bahnstation. Ackus war krank, hatte Grippe und Fieber, wollte aber das Fest über nicht allein in der Schule bleiben. Margot und Brigitte faßten sie beim Umsteigen unter, und wir warteten am Bahnhof, um Rucksäcke, Koffer, Taschen, Kartons, Skier und was sonst noch wichtig war, heimzuschleppen.

„Wir reiten hin“, hatten wir beschlossen, „da sehen sie die Schecki gleich. Das gibt eine Überraschung!“

Auf Schecki kam natürlich Steffi. Sie hatte ihrem Reitpferd zur Feier des Tages ein Glöckchen um den Hals gebunden, das aber machte Schecki rasend. Sie stieg, buckelte und warf Steffi nach kurzem Zweikampf in eine Pfütze. Es war Nacht und wildes Wetter. Von da an führten wir Schecki lieber und schoben unsere Fahrräder nebenher. So erreichten wir den Bahnhof noch rechtzeitig, denn der Zug hatte Verspätung.

Wir hatten Schecki in die Bahnhofshalle geführt, damit die Ankommenden sie gleich sehen konnten. Ackus, durch Grippe und Fieber leicht getrübt, sah sie nur einen Moment und stöhnte: „Mutter hat eine Kuh gekauft!“

Immer, wenn wir an dieses Pony denken, müssen wir uns an Ackus’ Aufschrei erinnern. Selbst wenn ich — wozu eigentlich? — eine Kuh gekauft hätte, warum wohl hätten wir sie durch Sturm und Schnee auf den Bahnhof zerren sollen?!

Auf dem Rückweg führte Ernst das Pony, und Steffi hatte nichts dagegen. Keiner hatte etwas gegen diesen Kauf einzuwenden, denn nun endlich begann das richtige, das Miteinander-Reiten. Nichts hält Familie und Freunde so zusammen wie ein gemeinsames Hobby. Hobby? Reiten ist mehr als das.

Nun also konnten auch die größeren Geschwister reiten. Wer so viele Kinder in die Welt setzte wie ich, hat keine Reitausbildung genossen, das ist klar. Also nahm ich nun endlich Reitstunden in unserer Kreisstadt, natürlich mit den Kindern zusammen. Daß sie mich binnen kurzem weit überflügelten, wird jeder einsehen. Aber einiges bekam ich doch noch mit, und ich reite ja auch keine Turniere, sondern nur im Gelände.

Kaum saß ich damals einigermaßen sicher im Sattel (oder auf dem blanken Pferderücken, ich reite heute noch gerne ohne Sattel), da lernte ich Ursula Bruns kennen, die damals an dem Film „Die Mädchen vom Immenhof“ mitarbeitete. Er wurde nach dem Buch „Dick und Dalli und die Ponys“ gedreht, und die eigentlichen Hauptdarsteller waren die Pferde, Islandpferde, wohlgemerkt, halbgroße, ausdauernde und gutmütige, für den Film eigens importierte Isländer. Ursula Bruns forderte mich, als ich sie besuchte, sofort zum Reiten auf.

„Ich kann aber gar nicht“, stammelte ich, als sie mir Blessi vorführte. „Rauf! Hier wird nicht die alte Frau markiert!“ kommandierte sie.

Ich gehorchte, was blieb mir anderes übrig. Aber siehe da, man muß nur wollen. Wir ritten an diesem Tag drei Stunden, und als ich dann schließlich absaß, war mein Plan gefaßt. Isländer for ever.

Ursula versprach mir einen Isländer aus dem nächsten Transport. „Wie soll er denn aussehen“, fragte sie.

„Ein Fuchs mit heller Mähne“, bat ich. Im Frühjahr sollten die Pferde kommen, bis dahin würden wir auf eigenem Boden wohnen, so lieb uns unser bisheriges Heim auf dem Klostergut auch war.

„Eigene Pferde, eigenes Land“, sagte unser Gutsherr, und ich gab ihm recht und kaufte einen Grund in Süddeutschland, auch deshalb, weil mein Hauptverlag damals in Stuttgart lag. Vierundvierzig Ar, billig, ein Grundstück am Bach, ringsum von Koppeln und Wald eingeschlossen. Auf dem Land stand noch eine alte Baracke, aus der dann der Ponyhof wurde. Als erstes rief Ursula Bruns an.

„Ihr Pferd ist da.“ Es sollte doch erst im Frühjahr kommen, wenn wir eingerichtet sein würden, es kam aber schon im Herbst.

„Die Pferde können ja solange am Kai weiden“, hatten die Isländer vorgeschlagen. In Hamburg, am Kai! Witzbolde! Dies wurde kein Pferdehandel, ich mußte nehmen, was Ursula mir aussuchte, Fuchs mit heller Mähne stimmte, trächtig war sie nicht. Sie hieß Gloa und war ein wunderbares Pferd, Alleingänger, autosicher, und dazu noch sehr gut gebaut, auch für das Auge eines Pferdekenners, der sich noch nicht auf Ponys eingestellt hat. Isländer sind einfach anders als Pferde, gedrungener, ohne Sattel stehen sie oft da wie alte Kühe, deshalb setzten sie sich hier auch nur langsam durch. Unterm Reiter geben sie ein ganz anderes Bild, anfangs aber wurden wir oft mitleidig belächelt. Gloa hingegen wurde sehr bald bewundert, sie war so etwas wie ein Reklamepferd.

Sie kam nachts an, und ich radelte, mit dem Halfter an der Lenkstange und einem Sattel auf dem Gepäckträger, zum Bahnhof, die Kinder ritten. Wir hatten gedacht, im Pulk würde die „Neue“ vielleicht leichter zu dirigieren sein. Sie stand unangebunden allein im Waggon, ließ sich gutwillig aufhalftern und satteln, und ich bestieg sie mit dem Mut der Dummheit.

Sie und ihre fünfzehn Genossen hatten nicht „am Kai geweidet“, sondern waren bei Pferdefreunden untergebracht worden, die sie voll besten Hafer gefüllt hatten. Das merkte ich. Sie ging los wie die Kugel aus dem Rohr, da half nur aufsitzen, komme was wolle.

„Seht zu, wo ihr bleibt, ich kann sie nicht halten!“ japste ich den Kindern gerade noch zu und war schon in der Dunkelheit verschwunden. Eins der Kinder hatte mein Fahrrad genommen, die anderen ritten Blacky und Schecki. Einmal trafen wir uns innerhalb einer Bahnschranke. Von da an ging es im Pulk weiter, im vollen Galopp, denn Gloas Tempo steckte an. Nun ist schnell reiten noch nicht gleichbedeutend mit gefährlich, im Gegenteil, die schönste Gangart ist und bleibt der Galopp. Ich fühlte mich mit den Kindern zusammen sehr viel sicherer und genoß den rasenden Ritt. Es wurde hell. Im Hof angelangt, trafen wir sofort auf unseren Gutsherrn, der uns entgegenkam.

„Wissen Sie, daß die Stute vorn rechts bügelt?“ fragte er mich als erstes. Das hatte ich vom Sattel aus gar nicht gemerkt. Später erfuhr ich, daß manche Isländer das tun, aber beim Reiten stört es nicht. Im Frühjahr darauf zogen wir um.

Bis dahin hatte sich unser Gutsherr mit Gloa abgefunden. Ja, er lobte sie sogar, was mir sehr guttat. Denn einmal hatte ich ein Pferd gekauft, das ein Fehlgriff gewesen war. Ich hatte es natürlich probegeritten, aber immer in Richtung Heimat, und da gehen alle Pferde gern. Umgekehrt streikte Lojo, und ich mußte ihn zurückgeben. Man hat immer vierzehn Tage Zeit, das neugekaufte Pferd zu prüfen. Hat es Mängel, so muß es der Verkäufer zurücknehmen.

In unserem neuen Zuhause konnten wir es uns endlich leisten, die Stuten decken zu lassen und Fohlen aufzuziehen. Ich habe, solange ich den Ponyhof bewirtschaftete — jetzt haben ihn meine Tochter und mein Schwiegersohn in Regie —, über vierzig Fohlen verkauft. Bei den Kindern gab es dann oft Tränen, wenn eins fortkam, mir ging es auch jedesmal ans Herz. Allmählich hatten wir durchschnittlich zwölf Pferde. Mehr sind nicht gut, wenn man allein für sie sorgt, man hat dann so viel zu tun, daß keine Zeit zum Reiten bleibt.

Wir erlebten viele Pferdekäufe. Die Dorfjugend, vor allem die Mädchen, nahmen sich an uns ein Beispiel und fingen an zu reiten. Beim Bauern ein Pferd zu kaufen geht folgendermaßen vor sich: Käufer und Besitzer stehen miteinander im Stall und begutachten das Pferd, um das es sich handelt. Von Zeit zu Zeit nimmt der eine oder andere seinen Hut und rennt schweigend hinaus. Ehe endgültig „Ja“ oder „Nein“ gesagt wird, spricht keiner ein Wort. Schließlich beginnt der Käufer, den Preis zu drücken. Das dauert manchmal stundenlang. Bei mir riß oft der Geduldsfaden, die Kinder aber lernten es schnell.

Einmal kam eine Mutter mit einem Zehnjährigen zu uns und wollte ein Pony kaufen. Der Junge ritt einen Esel, erzählte er uns. Wir fuhren mit zu ihm nach Hause, um Stall und Unterbringung anzusehen ... Da führte er uns den Esel vor, riß ihn aber derart im Maul, daß wir protestierten. Dem gaben wir keines unserer Pferde! Als man uns fragte, wo man denn sonst eins bekäme, nannten wir Bekannte in einem Nachbarstädtchen, die eins verkaufen wollten. Es handelte sich dabei um einen halbgroßen Schimmel. Wir fuhren hin, da wir nun sowieso einmal unterwegs waren, und ausgerechnet ich kaufte „Silber“ auf Anhieb, da er mir so gut gefiel! Wir nahmen ihn gleich mit, obwohl Sonntag war und ich nicht entsprechend viel Geld in der Hosentasche hatte. Aber diese Leute kannten wir gut. Silber ging auf viele Turniere, war bestechend hübsch und wurde später vom ältesten Sohn meiner Tochter geritten, manchmal mit zusätzlich zwei Handpferden rechts und links, ebenfalls Schimmeln. Dazu der kleine Reiter mit ernsthaftem Gesichtchen — da widerstand kein Preisrichter.

Ein Stück aus meinem Leben

Als ich ungefähr siebzehn war, wohnten wir in der Stadt, und ich bekam so gut wie kein Pferd zu sehen, geschweige denn zu reiten. Als Beruf wählte ich zwar Landwirtschaftslehrerin, mußte aber dem Direktor die Kasse führen und junge Mädchen im Kochen unterrichten. Ich blieb nicht lange dabei. Heute kann man in den Sattel gelangen, wenn man Taschengeld spart oder jobbt, insofern ist die heutige Jugend zu beneiden.

Nun aber gab es in unserer weitläufigen Verwandtschaft einen Onkel Hagemann, der ein Weingut am Rhein und zwei Kinder besaß, die etwa in meinem Alter waren: Markus und Brigitte. Seine Frau lebte nicht mehr, und unsere Großmutter führte ihm die Wirtschaft. Ich sage „unsere“, weil sie für viele Enkel zuständig war, an die dreißig Stück. Alles, was zwischen zehn und dreißig Jahren alt war, besuchte diesen Onkel in allen Ferien. Er hatte sich selbst viele Kinder gewünscht — „von jeder Sorte eins, das ist so gut wie keins“, pflegte er zu sagen und freute sich an dem bunten Gewimmel.

Wir durften den ganzen Tag über tun, was wir wollten, wenn wir nur pünktlich zu Tisch kamen. Nachgeliefert wurde nichts, wer nicht zur Zeit da war, mußte bis zur nächsten Mahlzeit warten. Unsere Betten und Zimmer machten wir selbst, sonst aber war alles erlaubt, was gefiel. Herrliche Ferien! Bei Tisch konnte es passieren, daß Onkel Hagemann plötzlich auf einen von uns deutete, egal ob Mädchen oder Junge, und ermunternd rief: „Heute haben zwei von euch Hochzeit! Nun halt mal die Damenrede!“ Dann mußte derjenige aufspringen und aus dem Stegreif loslegen. Was haben wir da oft gelacht! Aber frei sprechen lernten wir auch.

Ich verstand mich am besten mit Brigitte, die ein Jahr jünger war als ich, und schwärmte insgeheim für Markus, meinen schönen, etwas älteren Vetter mit den dunklen Augen und dem frechen Mundwerk. Er war, wie ich, ein großer Pferdeliebhaber, das gefiel mir doppelt. Ein Wunder war das nicht, denn Onkel Hagemann hatte, abgesehen von der Leidenschaft, junge Menschen um sich zu versammeln, noch eine: Er züchtete Shetlandponys und besaß eine ganze Anzahl jener kleinen, drolligen Pferdchen, die Kinder so lieben. Einen Meter hoch, im Winter zottig, im Sommer spiegelblank. Als wir klein waren, ritten wir auf ihnen, später durften wir sie einspannen und mit ihnen fahren. Nur den Hengst sollten wir nicht nehmen, er war stark und unberechenbar. Wir liebten ihn alle. Er war ein drahtiger Rappe und schöner als die andern, sehr edel, während Stuten und Fohlen drollig und lieb wirkten. Er hieß Tango.

Eines Tages schlug Onkel Hagemann selbst ans Glas. Alles horchte auf. Er wollte aber keine Rede halten, sondern fragte nur: „Wer von euch ißt denn leidenschaftlich gern Haferflocken?“

Wir waren verblüfft. Zu einem Gutsfrühstück gehörten damals keine, eher Schlackwurst, Schinken, Eier oder sogar Sahnequark. Er erklärte uns seine Frage. Seit einiger Zeit verminderte sich der Hafer in der auf dem Vorwerk stehenden Haferkiste auf eine merkwürdig schnelle Art. Er verdunstete geradezu. Dabei war die Haferkiste verschlossen, das wußten wir alle.

„Hat vielleicht jemand von euch den Schlüssel gefunden und ernährt sich jetzt von gequetschtem Hafer, weil er hier nicht satt wird?“ Er wies lachend auf die reichlichen Vorräte des Sonntagsfrühstücks.

Der Schlüssel zu dieser Kiste fehlte seit einiger Zeit, wir wußten es. Wenn gefüttert werden sollte, mußten wir den Ersatzschlüssel holen, den Onkel Hagemann dann herausgab und den wir ihm wiederzubringen hatten. Sonntags fütterten wir öfter, wenn wir Ponywagen fahren wollten, das war so ausgemacht.

Nein, keiner hatte sich von Hafer ernährt. Wir frühstückten fertig und verstreuten uns dann. Brigitte und ich schlenderten zum Vorwerk hinaus. Dort gab es eine schöne, windgeschützte Ecke, wo wir uns in die Sonne legten. Nach einer Weile erschien Markus, sah uns liegen, schubste Brigitte ein wenig an und sagte: „Na, ihr Flaschen?“ „Flasche“ war damals das gängige, halb verächtliche Schimpfwort wie etwa „trübe Tasse“ oder „Döskopp“.

„Selber Flasche“, knurrte Brigitte, machte aber nicht einmal die Augen auf. Ich schwieg.

„Ihr liegt hier rum ... Wollen wir ein Stück mit den Ponys fahren?“ schlug er vor. Und als wir nicht reagierten, fragte er: „Ihr habt wohl Angst?“

„Angst?“ fragte ich, so verächtlich wie möglich. „Wenn, dann fahr’ ich mit dem Tango.“

Markus lachte mit glitzernden Augen.

„Wollen wir? Ich hol’ ihn. Den Schlüssel hab’ ich.“ Tango ließ sich nur einspannen, wenn ihm jemand eine Schüssel mit Hafer vorhielt.

„Ihr seid verrückt“, sagte Brigitte und wälzte sich auf die andere Seite. „Aber von mir aus. Vater fährt ja auch mit ihm. Und Vater ist heute nicht da.“ Er war über Land gefahren, die Gelegenheit war also günstig. Wir waren schon manchmal heimlich gefahren, gerade, weil wir nicht sollten. Es war nie herausgekommen. Es verlockte uns, keine Frage. Wir standen auf. Während wir dem Stall zu gingen, gerieten wir beiden Mädchen schon mit Markus aneinander.

Der Ponystall auf dem Vorwerk lag etwas abseits und hatte zwei große Boxen, eine für Tango, eine für die andern Ponys. Im Stallgang stand die Haferkiste, weiter nichts. Wir hatten uns wegen einer Kleinigkeit so zerstritten, daß unser Plan zu scheitern drohte. Markus setzte sich auf die Haferkiste, und wir gingen zu den Stuten und Fohlen hinein und streichelten sie. Und dann, ohne noch etwas zu Markus zu sagen, spannten wir Tango ein.

Die Ponygeschirre waren uns so vertraut wie anderen Kindern ihre Schulranzen, auch die verschiedenen Kutschen kannten wir. Wir nahmen den Einspänner, den sogenannten Dogcart. Tango ließ sich gutwillig hinausführen und machte keine Schwierigkeiten, als ich ihn striegelte. Währenddessen kämmte Brigitte ihm die Mähne. Er war wirklich bemerkenswert schön, zierlich und dabei kräftig, kein Wunder, daß Onkel Hagemann ein wachsames Auge auf ihn hielt. Markus war im Stall geblieben. Als ich noch einmal hineinging, um den Hufkratzer zu holen, sah ich ihn nicht, plötzlich aber polterte es in der Haferkiste, der Deckel krachte hoch, und ich erschrak fast zu Tode. Natürlich war es Markus, der sich hineinverkrochen hatte, um mich zu erschrecken. Das war ihm gelungen.

Ich weiß nicht mehr, ob ich überlegte oder in Wut handelte. Jedenfalls griff ich zu, bums! schlug der Deckel der Kiste zu, ich fingerte am Schloß und schob es durch die Haspe. Er war gefangen.

„So, wenn du nun schön bittest, lass’ ich dich wieder raus, eher nicht“, sagte ich atemlos und schadenfroh. Ich wußte, daß Markus nicht bitten würde. Er tat es auch nicht. Er war so still, daß es bedenklich wurde. Hatte ich ihm den Deckel etwa so auf den Kopf gehauen, daß er betäubt war? Vorsichtig schlich ich heran, um durch den Spalt des Deckels zu schielen — und war beruhigt. Markus, der mich wohl gehört hatte, versuchte, mir durch eben diesen Spalt ins Auge zu spucken.

„Du bist ein Ferkel“, sagte ich entrüstet, während ich zurückfuhr, „nun sitz und tu Buße.“

Damit drückte ich das Schloß zu — es war ein Schnappschloß —, steckte den Schlüssel ein und stand noch einen Augenblick davor. „Möchtest du noch was?“ fragte ich.

Darauf ertönte ein höhnisches: „Danke der Nachfrage!“

Ich ging. Mochte er hocken, es würde ihm nichts schaden. „Iß nicht zu viel Hafer, sonst sticht er dich!“ rief ich noch zurück. Dann trat ich zu Tango hinaus.

„Kommt Markus nicht mit?“ fragte Brigitte. Sie stand an Tangos Kopf und hielt ihn. Bei ihm konnte man nämlich nicht einsteigen, ohne daß er sofort im Galopp losging.

„Nein“, sagte ich obenhin und stieg in den Wagen, „wir fahren ohne ihn.“

Während ich die Zügel nahm, ließ Brigitte den kleinen Hengst los und sprang im Anfahren auf. Der Tango ging los, daß uns Hören und Sehen verging. Er mußte lange gestanden haben, war stallmutig wie ein Rennpferd.

„Das kann ja heiter werden“, sagte Brigitte. Wir fegten durch den Hof und bogen in die Straße ein. Heute, am Sonntag, war alles still und menschenleer.

Wir lachten mit einem kleine Unterton der Angst, genossen die sausende Fahrt aber doch. Brigitte hielt jetzt die Zügel, sie fuhr nach dem alten Grundsatz: „Wenn das Pferd durchgeht, dann treib. Laß es laufen, schneller, als es selbst will. Einmal hört es auf.“

Natürlich würde Tango einmal aufhören und langsamer werden. Und dann nichts wie zurück! Ich mußte ja Markus herauslassen. Vorläufig aber konnte ich nichts anderes denken als: Halt dich fest, und hoffentlich kommt nichts, wovor er scheut. Tango war autosicher, aber Mähdrescher, Trecker oder Lastwagen konnten ihn in blinde Panik jagen. Zum Glück würde heute am Sonntag wohl kein solches Schreckgespenst auftauchen.

Schließlich gelang es Brigitte, den kleinen Vulkan einigermaßen zu bändigen. Er trabte jetzt, die Vorderbeine fast waagerecht aus der Schulter werfend, dahin, daß es eine Lust war, und wir konnten uns schon wieder unterhalten. Plötzlich hob Brigitte den Kopf.

„Hörst du nichts?“ fragte sie. Ich lauschte. Tatsächlich, das klang wie ein Jammern, halblaut und kläglich. Brigitte parierte Tango durch, und da hörten wir es deutlich. Wie ein weinendes Kind — aber wo sollte hier eins stecken? Die Felder waren eben und weit zu übersehen, der Wald noch entfernt.

„Dort!“ rief Brigitte, zeigte auf einen Steinhaufen etwas abseits der Straße und warf mir den Zügel zu, während sie absprang. Kurz darauf kam sie zurück, ein etwa vierjähriges Mädchen auf dem Arm tragend, dem sie beruhigend zuredete.

„Nun wein doch nicht mehr, wir sind ja da. Sag, was ist los? Bist du ausgerissen von zu Hause?“

„Nein, ich —“, Schniefen, Schluchzen, „ich — die Großen sind so gemein — sie wollten mich nicht —“, wieder schluchzte es herzzerreißend. „So ge-mei-hein ...“

„Was wollten sie denn nicht?“ fragte Brigitte freundlich und wischte am Gesicht der Kleinen herum.

„Mich — mitnehmen — und da bin ich — hinterher — rennt — und auf einmal warn sie weg.“

„Wer sind denn die Großen?“

„Na, Felix und Ingo —“

„Deine Brüder?“

„Mhm —“

„Aha, große Brüder.“ Ich dachte an Markus, aber nur flüchtig. Denn nun galt es erst, herauszubekommen, woher dieses kleine Bündel stammte und wohin wir es bringen konnten. Das war schwierig, denn auf unsere Frage, wie sie hieße und wo sie wohnte, antwortete die Kleine zwar geläufig: „Monika Bülz, Frankfurt, Lerchesbergring fünfzig —“, das half uns aber nicht viel. Die vielen Kilometer von Frankfurt bis hierher konnte sie nicht hinter den bösen Brüdern hergelaufen sein. Es war, wie wir scharfsinnig schlossen, ein Kind, dessen Familie hier irgendwo Ferien machte. In welchem Dorf aber?

Wir fragten. Wir schmeichelten. Schließlich hoben wir sie einfach auf den Ponywagen, Brigitte nahm die Zügel, ich den kleinen Ausreißer auf den Schoß.

„Erst mal versuchen wir es in der nächsten Ortschaft, und wenn wir dort nichts hören, in der übernächsten“, sagte Brigitte und ließ Tango ausgreifen. Ich schwieg.

Das war natürlich dumm. Jetzt hätte ich Brigitte erzählen müssen, daß — aber ich dachte, vielleicht geht es schnell, und wir kämen bald heim. Es ging aber nicht schnell. Und dann sagte ich erst recht nichts, denn ich schämte mich vor Brigitte, daß ich so lange geschwiegen hatte. Himmel, was mußte sie denken! Nun saß der Unglücksrabe schon zwei Stunden in seiner Dunkelhaft.

Endlich fanden wir einen Anhaltspunkt. Wir hatten beschlossen, die Polizei einzuschalten. Die Wirtin des Gasthofes, von wo aus wir telefonierten, sah das kleine Mädchen und hielt uns erst einmal zurück. Sie fragte, und wir antworteten. Natürlich, so mußte es sein. Sie war vorhin angerufen worden, ob man etwas von einem verlaufenen Kind wüßte. Die Anschrift hatte sie. Wir riefen sofort an. Eine vor Glück und Erleichterung schluchzende Mutter antwortete. Wir versprachen, ihr das Kind auf der Stelle zu bringen. Das heißt, Brigitte versprach es, ich konnte nichts ändern, denn ich stand draußen bei Tango. Und dann brausten wir los, noch einmal in der falschen Richtung. Es war ein schönes Gefühl, der Mutter das Kind wiederzugeben. Aber daß sie uns dann noch unbedingt zum Kaffee einladen wollte, damit wir ihrem Mann alles erzählen konnten, der nach einer anderen Himmelsrichtung losgefahren war, um Klein-Monika zu suchen, und ›sicher‹ bald wiederkommen würde, das war weniger schön, jedenfalls für mich. Ich briet sozusagen auf glühenden Kohlen und sah in immer kürzeren Abständen auf die Uhr, zuletzt in stummer Verzweiflung überhaupt nicht mehr.

Was würde Markus sagen, wenn ich ihn endlich befreite! Wie würde er toben! Das würde er mir nie, nie, nie wieder verzeihen, und ich würde nie wieder zu den Ferien kommen dürfen, und überhaupt ...

Endlich kamen wir los. Brigitte, die nun auch heim wollte, sagte, sie wüßte einen Weg durch den Wald, der die Strecke abkürzte. Wir fuhren ihn in unvermindertem, geradezu rasantem Tempo. Tango merkte, daß es in den Stall ging. Ich überlegte. Eines war sicher: Ich mußte durchsetzen, Tango allein in den Stall zu bringen, damit Brigitte nichts merkte. Brigitte sollte lieber gleich zu den andern gehen und sich den erstaunten anderen zeigen, das war unauffälliger, als wenn wir zusammen eintrafen. Sie ging darauf ein, völlig ahnungslos.

Während ich, Tango am Zügel, hinten herum um die Scheune schlich, dachte ich nach. Ich hatte den Schlüssel zur Haferkiste eingesteckt. Niemand konnte demnach geholfen haben, selbst wenn einer, was unwahrscheinlich war, in den abgelegenen Stall gekommen war. Mir war sehr bang zumute. Markus saß jetzt ungefähr vier Stunden in der Kiste. Er schäumte voraussichtlich vor Wut. Wie, um Himmels willen, würde ich ihn je versöhnen können? Da kam mir eine Idee. Wenn ich ganz, ganz leise aufschloß, das Schloß abnahm, die Haspe hob und mich davonschlich, vielleicht hörte er das nicht. Versuchte er dann wieder einmal den Deckel zu heben, so würde dieser aufgehen, und ich könnte hinterher frech behaupten, ich hätte ihn schon längst befreit. Getobt und gegen den Deckel gedrückt hatte der Gefangene wahrscheinlich nur in der ersten Viertelstunde.

Gedacht, getan. Ich brachte Tango zunächst in den Schafstall, der leer war, und ließ ihn dort frei laufen. Dann schlich ich leise, barfuß, die Schuhe in der Hand, zum Ponystall. Dort war es totenstill. Ich blieb mit angehaltenem Atem stehen. Sobald Markus mich hörte, würde er wahrscheinlich eine Wut- und Schimpfkanonade auf mich loslassen, vor der ich mich fürchtete. Ganz vorsichtig drehte ich den Schlüssel im Schloß. Offen. Noch immer kein Ton. Ob er schlief — oder erstickt war? Unsinn. In einer Kiste, durch deren Deckelspalt man spucken kann, erstickt man nicht. Wahrscheinlich schlief er.

Um so besser. Ich schlich rückwärts, so leise wie möglich davon, immer in der Angst, daß in jedem Moment der Deckel hochgehen und ein rotes, wutverzerrtes Gesicht auftauchen würde. Dann war eiligste Flucht angezeigt, zu den anderen, vor denen Markus, der Blamage wegen, nichts sagen würde. Jetzt war ich an der Tür, drehte mich um und rannte davon. Gerettet!

Ich riß, noch im Schwung, die Haustür auf und prallte auf — Markus, so nah und so plötzlich, daß er mich an den Oberarmen halten mußte, damit ich ihn nicht umrannte. Ich glaubte, ein Gespenst zu sehen. „Markus, Menschenskind, wo kommst du her?“

„Und du?“ stellte er drohend die Gegenfrage, wobei er aber lachte. Ein abscheuliches, überlegenes Lachen, während er meine Oberarme nicht losließ. Ich fühlte plötzlich, daß es eine Wonne gewesen war, ihn wütend, aber ohnmächtig in der Haferkiste zu wissen. Ich versuchte, mich loszureißen, und fauchte: „Laß mich los! Es geht dich gar nichts an, woher ich komme!“

„Wohl geht mich das was an“, sagte er frech, „wenn ich Vater nun erzähle —“

„Was erzähle“, fragte ich atemlos vor Wut, „etwa, daß wir mit Tango gefahren sind? Du wolltest es ja selbst, und jetzt petzen — pfui —“

Gepetzt wurde nicht, nie, das war klar. Markus sah mich an, seine Augen waren halb geschlossen.

„Was heißt hier petzen“, sagte er leise, aber wie er das sagte, das ging mir durch und durch. In diesem Augenblick gongte es: Abendessen. War es wirklich schon so spät? Ich hatte durch die Warterei ganz das Zeitgefühl verloren.

„Übrigens: Darf ich das gnädige Fräulein zu Tisch bitten?“

Markus bot mir feierlich den Arm. Ich erriet, warum.

Von allen Seiten strömte es jetzt heran, unsere Vetter und Kusinen, auch Großmutter, an Onkel Hagemanns Arm. Die beiden nickten uns zu.

„Das ist nett, daß ihr auch da seid“, sagte der Onkel freundlich. „Setzt euch zu uns, kommt, wir wollen euch erzählen. Es war reizend heute. Zu schade, daß ihr nicht mit wart.“

Eigentlich befanden sich unsere Plätze etwas unterhalb am Tisch, mit unseren Altersgenossen zusammen. An diesem Abend aber mußten wir uns zum Onkel setzen. Während ich nur mit halbem Ohr zuhörte, ging es mir unablässig durch den Kopf: Wie ist Markus aus der Kiste herausgekommen? Oder war er gar nicht darin? Bildete ich mir das Ganze nur ein? Dann war ich geistig gestört, das war sicher.

Ich würde es heute noch nicht wissen, wenn Markus es mir am Ende der Ferien auf inständiges Bitten hin nicht verraten hätte. Ich bat ungern, aber ich mußte doch wissen, ob ich mich von nun an zu den Verrückten rechnen müßte, die man nicht ernst nehmen kann.

Deshalb bat ich und bat immer wieder, und als er nicht wollte, sagte ich, dann käme ich nie wieder hierher zu den Ferien. Da gab er zu meiner Verblüffung plötzlich nach, dabei hatte ich das nur versuchsweise gesagt.

Er berichtete: „Ganz einfach, jemand hatte den ersten Schlüssel gefunden, ein Jemand, den ich längst im Verdacht hatte. Dieser Jemand wollte nun gern den ungefährlichen, menschenleeren Sonntag benutzen, um seine Kaninchen einmal wieder richtig mit unserm Hafer satt zu füttern. Sein Gesicht, das mich anstarrte, als der Deckel der Kiste aufging, war Gold wert. Ich hätte dir eigentlich noch danken müssen für die Einsperrerei.“

Ich sah Markus an, noch immer schuldbewußt. Merkte er es? Er lachte sein überlegenstes Lachen.

„Schlechtes Gewissen? Tut dir ganz gut. Aber sonst — ach, vorbei. Alles in Ordnung. Und nächste Ferien kommst du wieder?“

Daß er das fragte! Ich lachte, nun ganz erleichtert und froh: „Klar! Gern! Und dann fahren wir wieder mit Tango, diesmal du mit. Einverstanden?“

Unsere Michaels

Michael ist ein schöner Name. Nicht nur Erzengel heißen so, sondern seit Jahrzehnten auch Menschenkinder. Es ist ein sehr verbreiteter Name, der sich immer mehr durchsetzt. Fast in jeder Familie gibt es einen, so auch in unserer. Und trotz der Mode bereue ich es nicht, daß wir unsern zweiten Sohn so genannt haben. Mein Mann wünschte es sich, und mir gefiel er auch immer. Inzwischen haben wir in unserer weitläufigen Familie viele Michaels, ich habe eine Menge „Beinahe-Söhne“, das ist so, wenn man viele Kinder hat, weil jedes von ihnen Freunde oder Freundinnen mitbringt.

So viele Erzengel gleichen Namens um sich zu haben ist freilich etwas mühsam und gibt Anlaß zu vielerlei Mißverständnissen. So beschlossen wir irgendwann, jedem einen Spitznamen zu geben. Der eine nannte sich Pfaffenlümmel, was mir nicht gefiel. Er ist Pfarrerssohn, gewiß, aber da kann man sich etwas anderes ausdenken. Wir tauften ihn Dekan. Ein anderer, der im Gegensatz zu uns gern vornehm tut (wir sind keine sehr vornehme Familie), wurde dem Dekan entsprechend Baron genannt. Es paßt wirklich zu ihm. Ein weiterer, von mir angenommener Sohn, hieß schon, als er zu uns kam, seiner hellblonden Haare zufolge Schimmel. Mein eigener Michael, seit Jahren „auf der Insel“, also in England, Schottland oder Irland, wird von den Geschwistern Mike gerufen, ich selbst bleibe aber bei Michael.

Einer wieder heißt Misch, das kommt von Mischka, seiner bärenmäßigen Tolpatschigkeit wegen.

So weit, so gut. Jeder der großen Jungen, es sind eigentlich schon Männer, hat irgendeine oder mehrere Eigenschaften, die wir schätzen. Da wir ziemlich einsam in einem kleine Holzhaus zwischen Wiesen und Wald wohnen, sind wir oft direkt auf ihre Hilfe angewiesen, sei es zum Bauen oder Reparieren von Zäunen oder dem Durchstoßen einer verstopften Drainage. Seit einiger Zeit wohne ich ein paar Minuten vom Ponyhof entfernt, den inzwischen Tochter und Schwiegersohn bewirtschaften. Da heißt es „Deine Gäste — meine Gäste“, wir helfen einander mit vielem aus, auch mit der „Ausnützung“ der männlichen Arbeitskräfte.

So wollte ich einmal eine Gardinenschiene angebracht haben und bat den „Dekan“ um seine Hilfe. Er saß mit Freunden im Ponyhof und hatte anscheinend keine Lust, herüberzukommen. Ich hatte selbst Besuch und wartete sehnsüchtig auf ihn, um endlich einen wichtigen Vorhang anbringen zu können.

Da ging das Telefon. Erleichtert sprang ich auf, rannte zum Apparat und meldete mich ausnahmsweise nicht mit Namen, sondern rief glücklich und zärtlich hinein: „Dekan, Dekan, Dekanchen, kommste doch noch?“ Die Antwort ließ mich die Luft anhalten. Eine mir völlig fremde Stimme sagte gemessen:

„Ich bin noch nicht Dekan. Ich bin Ihr neuer Pfarrer und wollte fragen, wann ich bei Ihnen einen Besuch machen darf.“

Ich habe schon manche schwierige Situation durchgestanden, aber hier fuhr mir der Schreck doch in die Glieder. Was sagt man in so einem Fall? Erklärt man? Das macht alles noch schlimmer und komplizierter. Ich war im Augenblick ratlos, bereute meine spontane Art, die mir schon oft Schwierigkeiten eingetragen hat, und flüsterte schließlich betreten:

„Oh, Entschuldigung, ich erwartete — aber das ist nicht so wichtig. Das erzähle ich Ihnen später. Bitte kommen Sie doch gleich und bringen Sie Ihre Frau mit, und wir trinken auf den Schreck eine Flasche Wein zusammen. Ist Ihnen das recht? Nicht wahr, Sie kommen? Bitte!“

Er kam, und es wurde sehr gemütlich. Ich erklärte nun doch mein merkwürdiges Verhalten am Telefon, und wir lachten viel. Seitdem sind wir befreundet, und ich fühle mich in guter geistlicher Hut. Mitunter bringt auch eine spontane Dummheit positive Folgen.

Der Musenkuß

Ich bin — leider auf keinem Ponyhof geboren, sondern in einer Großstadt, in Leipzig, in einer Etagenwohnung, wo weit und breit keine Pferde oder Ponys zu sehen waren, geschweige denn zu reiten. Erst viel später verfiel ich den Pferden. Die Liebe zu Pferden ist wohl die einzige Sucht, die man nicht verteufeln soll, sie prägte mein ganzes Leben. Zunächst aber mußte ich mir einen Beruf suchen und meinte, als landwirtschaftliche Lehrerin käme ich den Pferden näher. Großer Irrtum. Um ein Pferd zu sehen, mußten wir, meine Kollegin und ich, ins Kino gehen, was wir oft nicht durften, da unsere Tätigkeit an der Schule mitunter von früh um sieben bis nachts um elf dauerte. So war ich froh, nach den Probejahren entlassen zu werden, heiratete dann, bekam jedes Jahr ein Kind und träumte nur noch von Pferden, das aber weiterhin.

Dann verlor ich meinen Mann und landete nach schlimmen Zwischenstationen mit den Kindern auf einem Gutshof in der Nähe von Paderborn, und genau diese Anschrift: „An Lise Gast, auf einem Gutshof in der Nähe von Paderborn“ stand auf einer Postkarte, die mich dort tatsächlich erreichte. Es lebe die Findigkeit der Post! Ein alter Freund aus Leipzig meldete sich, der „schlichte Dichter“, wie er sich nannte. Wir erneuerten unsere Freundschaft, trafen uns, machten gemeinsam Auslandsreisen, und wenn wir getrennt waren, schrieben wir uns, meist in Versen. Die „Fließband-Poetin“ nannte er mich meiner vielen Bücher wegen, und ich rief ihn „der schlichte Dichter“. Ich besitze noch viele lustige, geistreiche Gelegenheitsgedichte von ihm, sein Leben war leider kurz.

Damals, als er noch lebte, fing es bei mir mit den Lesungen an, zu denen ich aufgefordert wurde, von Schulen, Seniorenklubs, Volkshochschulen und Ähnlichem. Ich sagte, wenn es irgend ging, immer zu, auch wenn es mir schlecht in meine Arbeit paßte. Nicht des Geldes wegen, das mir, spärlich genug, dabei zufloß, sondern um der guten Sache willen. Wieviel Kinder gibt es noch heute, die kein einziges Buch besitzen, und wie viele Erwachsene, die lieber vor dem Bildschirm hocken, statt ein Buch aufzuschlagen. Die muß man heranlocken ans Buch und es ihnen schmackhaft machen, und dazu eignen sich Autorenlesungen ganz besonders. Wer die Autorin hat lesen hören — ich nehme dann auch Dias vom Ponyhof und unseren kleinen Pferden mit und einen Film —, der vergißt das nicht. Meine Ponybücher sind in den Schulbüchereien meist die zerlesensten. In Hannover, wo ich eine Zeitlang jedes Jahr las, behaupteten die Schüler und Schülerinnen in den Aufsätzen, die sie hinterher schrieben, ich wäre in Reithosen und Stiefeln gekommen. Sie erinnerten sich an die Dias.

Mitunter klappt es nicht, daß ein geeigneter Raum zur Verfügung steht, dann lade ich zu mir auf den Ponyhof ein, damit die nun einmal geplante Lesung nicht ins Wasser fällt. Unsere Räume sind nicht groß, aber abends kann man Dias auch im Freien zeigen, was wir manchmal bei Hochzeiten machen. Oft lade ich auch andere Autoren zum Lesen ein, das ist immer ein großes Fest.

So las bei mir einmal Eckardt von Naso, ein Schriftsteller, den ich von früher kannte und sehr schätze. Er war eine Zeitlang Intendant am Stuttgarter Theater, und von Stuttgart bis zu uns sind es nur fünfzig Minuten im Eilzug. Wir holten ihn vom Bahnhof mit dem Zweispänner ab, das waren wir uns als Ponyhöfler schuldig, und begrüßten ihn froh und dankbar, daß er mutig genug war, unsere Baracke zu betreten.

Wir waren alle glücklich, ihn da zu haben, und baten nicht umsonst um eine Lesung, die er uns auch sofort zusagte. Es wurde ein großes Fest auf dem Ponyhof! Wir hatten nur die engsten Freunde eingeladen, zu meinem Bedauern sagte der „schlichte Dichter“ ab, er hatte eine wichtige Verabredung. Aber sonst kamen alle, Petrus hatte ein Einsehen, und wir konnten draußen sitzen. Ein Lesepult wurde aufgebaut, eine Leselampe anmontiert, wozu haben wir so viele Söhne und Beinahsöhne, die technisch versiert sind, und er las. Er las nicht nur, er sprach dann auch, ließ uns fragen, erklärte und erzählte — es war ein Genuß. Als Thema hatte er den „Musenkuß“ gewählt. Es war sehr lustig: Er schilderte, wie viele seiner Leser sich das Leben eines Schriftstellers vorstellten. Man sitzt am Schreibtisch und wartet auf die Muse. Sie kommt und küßt einen, die eilige Feder läuft über das Papier, man schickt ab, was die Muse einem freundlich diktierte, und schon rauschen die goldenen Bäche der Honorare auf den Dichter zu. Beneidenswert. Oft hatte man auch mir so etwas erzählt, und ich wundere mich immer, warum all diese Leute nicht auch Schriftsteller geworden sind.

„Warum machen Sie es nicht auch so?“ fragte ich sie dann manchmal ironisch. Da wurde ich belehrt: „Wissen Sie, ich könnte das auch. Ich habe nur nicht so viel Zeit wie Sie. Sie haben es ja gut, im Grünen sitzen und dichten — herrlich! Aber ich habe einen Beruf und eine Familie!“

Als ob ich das nicht hätte, meine Familie ist dazu noch viel größer! Keiner, der mir das so sehnsüchtig sagt, würde nämlich auf Komfort und Auto verzichten, und schon gar nicht so wohnen wie wir, pionierhaft, bei Hochwasser und Schnee auf uns selbst angewiesen, ohne hilfreiche Nachbarn. Sie sahen alle nicht, was eigentlich dahintersteckt. „Du siehst die Weste, nicht das Herz“, sagt Busch. Und wie oft kommt die Muse eben nicht!

Darauf kam Eckardt von Naso zu sprechen, und wir verstanden uns großartig. Hinterher saßen wir noch lange am Lagerfeuer, das bei uns die gute Stube ersetzt, tranken Rotwein und fachsimpelten. Es war sicherlich schon neun, als ein Auto kam, wir sahen die Scheinwerfer. Es hielt am Ponyhof an, wollte also wohl zu uns. Eins meiner Kinder lief hinauf und kam mit einem Brief in der Hand zurück. Es war ein Eilbrief, der also auch nachts ausgetragen wird. Ich wunderte mich und schickte dem Boten einen Schnaps hinauf, um mich zu bedanken. Ich öffnete den Brief — er war vom ›schlichten Dichter‹:

Der schlichte Dichter kaut am Federhalter

und wartet auf die Muse, die ihn küßt.

In seinem tugendhaften Greisenalter

ist da ein Nichts als geistiges Gelüst.

Jedoch die Muse kommt nicht, Gottverdammt.

Ein Meisterwerk bleibt demnach ungeboren.

Man jage diese Dame aus dem Amt

und schlag ihr kräftig hinter beide Ohren.

Der schlichte Dichter greift zum Federhalter —

war da nicht eine Stimme, die ihn rief?

Zum Teufel mit der Tugend und dem Alter!

Er schreibt an Lise Gast ’nen Liebesbrief.