Das Geheimnis der Ronneburg - Jörg Olbrich - E-Book

Das Geheimnis der Ronneburg E-Book

Jörg Olbrich

4,9

Beschreibung

Nach dem Tod seiner Mutter macht sich Julius Meyer auf die Suche nach seinem Vater. Diese führt ihn zur Ronneburg, die ein furchtbares Geheimnis birgt. Menschen werden bestialisch ermordet. Julius wird schnell in die beängstigenden Geschehnisse hineingezogen. Doch was haben die mit dem Verschwinden seines Vaters zu tun? Kann es ihm gelingen die dunklen Geheimnisse seiner Vergangenheit zu lüften? Stück für Stück wird das tödliche Puzzle zusammengesetzt und Julius gerät in einen Abgrund von Leidenschaft, Gewalt und Hass. Und dann erkennt er die Wahrheit.

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Seitenzahl: 316

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

1

Julius Meyer zog die Wirtshaustür auf und kam sich auf einmal klein wie ein Zwerg vor.

»Was willst du?«, brummte der Koloss, der vor ihm stand, und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich suche ein Quartier für die Nacht.« Hatte Julius gerade noch ein Durcheinander von Stimmen gehört, so sprach jetzt keiner der Anwesenden mehr ein Wort.

»Wir haben geschlossen«, sagte der Wirt. Die Männer standen so nahe beieinander, dass sie sich fast berührten.

»Der Raum ist voller Gäste. Wie kann da geschlossen sein? Ich bin gerade hier angekommen und möchte die Nacht nicht draußen im Nebel verbringen.«

»Das ist dein Problem. Für Fremde haben wir keinen Platz.« Der Wirt stank nach Alkohol und Schweiß. Er wich keinen Millimeter von seinem Platz, sodass Julius nicht einmal in den Raum sehen konnte.

Julius erinnerte sich an die Reaktion des Leichenwagenkutschers, der ihn hier abgesetzt hatte. Als er ihm sagte, dass er im Gasthaus „Zur Krone“ übernachten wollte, hatte der nur gelacht, sich umgedreht, war weggefahren und hatte ihn alleine auf der Straße zurückgelassen.

»Was ist denn das für ein Wirtshaus, in dem Reisende nicht bewirtet werden?«

»Schmeiß den Kerl endlich auf die Straße, dann ist Ruhe«, ertönte eine Männerstimme aus dem Schankraum.

»Ja, Josef«, rief ein Zweiter. »Du redest doch sonst nicht rum. Zeig dem Bürschchen, wer der Herr des Hauses ist.«

»Raus!«, sagte Josef. »Und zwar augenblicklich.«

Der Wirt trat einen Schritt vor, und Julius wich zurück.

»Könnt Ihr mir bitte erklären, was das soll?«

Ohne zu antworten, zog Josef die Tür ins Schloss und verriegelte sie von innen.

»Sind denn alle hier verrückt?« Julius ging auf ein Fenster des Wirtshauses zu, das zur Straße zeigte. Bevor er aber einen Blick in den Schankraum werfen konnte, wurden die Vorhänge zugezogen. Er drehte sich um. Der Ort wirkte wie ausgestorben. Nur im Wirtshaus brannte Licht. Es war still. Ungewöhnlich still.

Ärgerlich wischte sich Julius einen Regentropfen von der Nase. Er ging ein paar Schritte, und als er gerade die Hausecke erreichte, hörte er ein Geräusch von der anderen Straßenseite.

Eine Gestalt kam auf das Wirtshaus zu. Gehörte sie zu den Männern im Schankraum? War es möglich, dass der Wirt ihn beim Aussteigen aus dem Leichenwagen beobachtet hatte, und deshalb so schnell an der Tür gewesen war? Anders konnte es sich Julius nicht erklären, dass ihn der Koloss direkt an der Tür abgefangen hatte. Kam jetzt die Person, die Josef und die anderen eigentlich erwartet hatten?

Der Schatten erreichte die Eingangstür und klopfte.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du verschwinden sollst!«, hörte Julius von innen.

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Josef glaubte offenbar, dass er einen zweiten Versuch unternehmen würde, ins Gasthaus zu kommen.

»Ich bin es, Eva.«

Was macht eine Frau alleine mitten in der Nacht vor einem Wirtshaus? Die Situation wurde immer verwirrender. Julius hörte, wie sich die Tür öffnete.

»Was willst du?«

»Lass mich rein, Josef.«

»Verschwinde. Das hier ist nichts für Frauen und besonders nichts für dich. Ich habe dir gestern schon gesagt, dass ich mich um alles kümmern werde. Hör endlich damit auf, dich einzumischen.«

»Die Sache geht mich genauso viel an wie euch. Lass mich rein.«

»Nein. Es gibt nichts, was du jetzt tun kannst. Denk daran, was mit deinen Eltern geschehen ist. Geh nach Hause.« Hatte die Stimme von Josef gerade noch ärgerlich geklungen, so hörte er sich jetzt an, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen.

»Ich denke an nichts anderes«, zischte Eva. »Und ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was ihr da drinnen plant.«

»Mach, dass du verschwindest. Noch einmal warne ich dich nicht.« Wieder fiel die Tür ins Schloss. Eva blieb im Regen zurück und hämmerte noch einmal mit beiden Fäusten gegen das Holz. Vergeblich.

2

»Bist du sicher, dass es richtig war, die Kleine wegzuschicken, Josef?«

»Ja. Was wir vorhaben, ist nichts für Frauen.«

»Eva ist ein Hitzkopf«, entgegnete der Pfarrer. »Ich bezweifle, dass sie brav zu Hause sitzen bleibt.«

»Hätte ich sie etwa hereinbitten sollen?«

Die Männer im Schankraum richteten ihre Blicke gespannt auf die beiden. Nur ein von ihnen löffelte weiter seine Suppe, als ginge ihn das alles nichts an.

»Du hättest ihr sagen können, dass sie morgen mit uns gehen kann, Josef.«

»Unsinn«, lallte einer der Männer. »Weiber gehören an den Herd.« Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Krug. Bier schwappte auf den Tisch, als er ihn zurückstellte. Er rülpste leise und richtete seinen Blick wieder auf Josef.

»Richard, trink dein Bier und halt’s Maul!« Josef hatte rote Flecken im Gesicht, wie immer, wenn er sich aufregte. »Ganz unrecht hat der alte Suffkopf nicht«, sagte er dann. »Es ist einfach zu gefährlich, die Kleine mitzunehmen. Außerdem hat sie in den letzten Tagen genug durchgemacht.«

»Sie ist stark genug, das zu verkraften«, entgegnete der Pfarrer. »In ihr brodelt der Zorn, und ich befürchte, sie wird sich nicht an deine Anweisung halten und alleine etwas unternehmen. Wenn sie bei uns wäre, hätten wir sie wenigstens unter Kontrolle.«

»Kommt endlich zur Sache und redet nicht nur um den heißen Brei herum.«

»Richard …«

»Lass ihn«, sagte der Pfarrer. »Wir sind tatsächlich nicht hier, um über Eva Sangwald zu diskutieren.«

»Genau!« Richard grinste triumphierend.

Josef wandte sich an die Männer im Raum, in dem eine Wolke aus Qualm hing. An diesem Abend störte niemanden die stickige Luft. Alle warteten gespannt darauf, was Josef Steger, der fast alle Einwohner des Ortes in seinem Wirtshaus versammelt hatte, ihnen mitteilen wollte.

»Wir sind heute hier zusammengekommen, um einen Schlussstrich unter das Treiben einer Bestie zu ziehen, die uns seit Jahrzehnten heimsucht. Sie hat genug Unheil über uns gebracht. Zu viele von uns haben Opfer zu beklagen. Erst waren es nur unsere Tiere. Jetzt aber sind auch Menschen von diesem Monstrum angefallen und getötet worden. Es ist an der Zeit, endlich etwas zu unternehmen. Gemeinsam können wir es schaffen, unser Land von dieser Plage zu befreien.«

Beifall und Jubelrufe dröhnten durch den Raum. Bierkrüge klirrten gegeneinander. Josefs Worte hatten zielgenau den richtigen Nerv der Männer getroffen. Dass er den Pfarrer auf seiner Seite hatte, den er sonst lieber von hinten als von vorne sah, überzeugte auch den letzten Zweifler im Raum. Alle schienen sich so einig zu sein wie noch niemals zuvor. Es musste etwas passieren.

»Ihr nehmt die Sache zu sehr auf die leichte Schulter«, sagte der Mann, der bisher unbeteiligt seine Suppe gelöffelt und sich scheinbar nicht für die Probleme der anderen interessiert hatte, ins Stimmengewirr.

Schlagartig war es totenstill. Alle Blicke richteten sich auf die einzige Person im Raum, der nicht aus dem Ronneburger Hügelland stammte. »Es ist kein Wolf, den ihr jagen wollt. Mit euren Mistgabeln und Dreschflegeln werdet ihr nicht viel erreichen.«

»Denkst du, das wissen wir nicht?«, maulte Richard. Er nahm noch einen Schluck Bier und sah sich im Raum um, als erwartete er, dass die anderen ihm anerkennend zunickten.

»Ohne Hilfe werdet ihr das Biest niemals erlegen können.«

»Und weil du der große Luuk de Winter bist, gibt es keinen anderen, der es zur Strecke bringen kann?«

»Richard! Noch ein Wort und ich werfe dich raus.« Josef machte einen Schritt auf den Bauern zu.

»Ihr verkennt den Ernst der Situation. Wenn ihr meine Hilfe nicht wollt, ziehe ich morgen weiter. Ich bin es nicht, der ein Problem mit einer mordenden Bestie hat.« De Winter stand auf, zog seinen Mantel an, schulterte seine Doppelbüchse und schob den Stuhl zurück an den Tisch. Er überragte sogar Josef noch um einen halben Kopf, war aber gertenschlank.

»Wartet«, sagte der Pfarrer. »So war das nicht gemeint. Richard hat wieder einmal ein paar Bier zu viel. Er spricht nicht für die anderen Männer hier.«

»Wirklich?«, fragte der Jäger in die Runde und erntete zustimmendes Nicken. »Gut. Dann ruht euch heute Nacht noch aus. Morgen kann ein sehr harter und langer Tag werden.« Ohne ein weiteres Wort drehte er den Männern den Rücken zu und ging die Treppe hinauf in sein Zimmer.

3

»Warten Sie einen Moment«, sprach Julius die Fremde an, als sie sich von der Tür abwandte, und trat hinter der Ecke hervor.

»Was wollen Sie von mir?«, antwortete Eva und wich zurück. »Bleiben Sie stehen. Ich will Ihnen nichts tun. Ich bin fremd hier im Ort.« Julius ging zwei Schritte auf die Frau zu, damit sie ihn besser erkennen konnte.

»Wenn Sie noch einen Schritt weiter gehen, schreie ich.«

Bloß das nicht, dachte Julius und blieb stehen. Wenn die Männer im Schankraum aufmerksam würden, kämen sie sicher heraus, um nachzusehen, was los war. Auf eine Auseinandersetzung mit Josef und seinen Männern konnte er gerne verzichten.

»Ich möchte doch nur mit Ihnen reden, Eva.«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Der Wirt hat nicht gerade leise gesprochen.«

»Dann haben Sie uns belauscht?«

»Das war wirklich keine Absicht. Ich wollte in der Krone übernachten und wurde gar nicht erst eingelassen. Und dann kamen Sie auch schon.«

»Das sieht Josef ähnlich.«

»Was?«

»Dass er kurzen Prozess macht und Sie einfach vor die Tür setzt. In Hüttengesäß werden Sie heute keinen Platz zum Übernachten finden.«

»Warum denn nicht? Was geht hier vor?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Weil ich ein Fremder bin?«

Eva blieb ihm die Antwort schuldig. Die beiden standen etwa fünf Meter von der Wirtshaustür entfernt. Mit Ausnahme von Eva und Julius befand sich niemand auf der Straße. Die Frau war etwa einen Kopf kleiner als Julius. Sie trug einen Fellmantel, dessen Mütze sie wegen des Regens über den Kopf gestreift hatte. Ihr Gesicht konnte er nicht genau erkennen.

»Das ist unglaublich. Wir leben im 19. Jahrhundert, nicht mehr im Mittelalter. Was treiben die Männer da drin?«

»Es ist wirklich besser, wenn Sie so schnell wie möglich verschwinden«, sagte Eva. »Kümmern Sie sich nicht um Dinge, mit denen Sie nichts zu tun haben.«

»Ich würde den Ort verlassen, wenn ich könnte.« Julius ging ein Stück auf Eva zu, damit er nicht so laut sprechen musste.

»Und wieso können Sie ihn nicht verlassen?«

»Soll ich nachts im Nebel alleine durch die Felder laufen? Ich kenne mich hier nicht aus und würde mich hoffnungslos verirren.«

»Da haben Sie tatsächlich ein Problem. Die Krone ist das einzige Gasthaus im Ort.«

»Ich weiß. Das hat mir der Kutscher schon gesagt.«

»Was haben Sie jetzt vor?«

»Das weiß ich nicht.«

Eva sah Julius prüfend an. Er vermutete, dass die junge Frau eine Lösung für ihn hatte und jetzt überlegte, ob sie ihm trauen konnte.

Plötzlich war aus dem Schankraum lautes Gejohle zu hören. Danach wurde es wieder ruhiger, und sie konnten nicht verstehen, was gesprochen wurde. Julius spürte mittlerweile, wie sein Mantel langsam aufweichte. Lange konnte er sich nicht mehr im Freien aufhalten, wenn er sich keine Lungenentzündung holen wollte.

»Sie können in meiner Scheune übernachten, wenn Sie wollen.«

»Das ist sehr …«

»Aber morgen früh müssen Sie aus Hüttengesäß verschwinden. Kommen Sie. Es ist nicht weit.«

Sie gingen die Straße entlang bis zum Ende des Ortes und dann über einen Weg an der rechten Seite auf einen Bauernhof zu. Eva öffnete die Scheunentür, nahm eine Öllampe von der Wand und entzündete sie. »Es ist zwar nicht sehr gemütlich, wird aber für ein paar Stunden ausreichend sein.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir helfen. Ich hätte sonst nicht gewusst, wohin ich gehen sollte.«

»Es ist in diesem Ort in den letzten Tagen genug Unheil passiert. Da brauchen wir nicht auch noch einen Fremden, der erfroren in der Gosse liegt. Das hätte auch Josef klar sein müssen. Manchmal verstehe ich ihn nicht.«

Eva holte eine Pferdedecke aus dem Regal und drückte sie Julius in die Hand. »Was wollen Sie eigentlich hier?«

Julius hatte die Frage schon viel früher erwartet und sich eine Ausrede parat gelegt. Wenn er jetzt die Wahrheit sagte, würde ihn Eva vielleicht doch noch vor die Tür setzen.

»Ich bin auf der Suche nach Arbeit.«

»Und das ausgerechnet hier?« Eva schüttelte den Kopf.

»Vergessen Sie es und verlassen Sie Hüttengesäß, wenn es hell wird. Gute Nacht.«

»Ja. Gute Nacht.«

Eva verließ die Scheune. Julius machte es sich auf dem Stroh so bequem wie möglich und dachte über seine Erlebnisse nach. Seine Ankunft in Hüttengesäß hatte er sich ganz anders vorgestellt. Er hatte aber nicht vor, den Ort so schnell wieder zu verlassen.

4

»Sie sind ja immer noch hier«, sagte Eva und warf die Scheunentür zu.

Julius schreckte aus seinen Gedanken und setzte sich auf. »Guten Morgen«, antwortete er und zog sich ein paar Strohhalme aus den dunklen Haaren.

»Ja. Guten Morgen. Entschuldigung, dass ich hier so rein platze, aber Sie sollten wirklich so schnell wie möglich von hier verschwinden.«

»Warum denn? Ich störe doch niemanden.«

Eva antwortete nicht und sah Julius nur ernst an. Der hatte nun zum ersten Mal Gelegenheit, sich seine Gastgeberin genauer anzuschauen. Sie war etwa so alt wie er. Vielleicht ein oder zwei Jahre jünger. Ihre schwarzen Haare hatte sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Wenn sie nicht so finster schauen würde, wäre Eva sicher ein hübsches Mädchen. Julius stand auf und klopfte den Staub von Jacke und Hose. »Ist es normal, dass man hier so mit Fremden umgeht?«

»Nein. Aber Sie haben sich einen sehr schlechten Zeitpunkt ausgesucht, um unseren Ort zu besuchen.

»Warum sind Sie hier?«

»Das habe ich Ihnen doch gestern Abend schon gesagt.«

»Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie nach Arbeit suchen. Zumindest nicht hier. Wir sind kein reicher Ort und Büdingen liegt nur wenige Kilometer entfernt und ist viel größer als Hüttengesäß.«

»Gibt es hier einen Gutsherren?«

»Ja. Der Wirt regelt die Amtsgeschäfte.«

Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Julius.

»Sagen Sie mir nun, was Sie hier wollen, oder nicht?«

»Ich muss mit diesem Josef sprechen.«

»Das wird im Moment nicht gehen.«

»Dann muss ich eben warten.«

»Warum?«

Julius sah seine Gastgeberin an. Er musste ihr jetzt eine vernünftige Erklärung geben, sonst würde sie ihn vor die Tür setzen. Dann hätte er niemanden mehr im Ort, der ihm helfen würde. »Ich komme aus Frankfurt.«

»Was wollen Sie dann hier? In der Stadt bekommt man doch eher Arbeit als bei uns auf dem Land.«

Eva sah Julius verwundert an. Sicher glaubte sie ihm jetzt noch weniger, selbst wenn er ihr die Wahrheit sagte. Es konnte alles nur noch schlimmer machen, wenn Julius dem Mädchen verriet, warum er die weite Reise auf sich genommen hatte.

»So einfach ist es in Frankfurt auch nicht. Es leben dort sehr viele Menschen in Armut. Meine Mutter ist vor ein paar Tagen gestorben. Sie hat vor meiner Geburt hier gelebt und mir einmal erzählt, dass sie mit den Gutsherren gut kannte. Mehr weiß ich leider auch nicht.«

»Das tut mir leid.«

Julius sah eine Träne in Evas Augen. Hatte der Wirt gestern nicht erwähnt, dass auch ihren Eltern etwas passiert war? Er traute sich nicht, das Mädchen danach zu fragen. Sie standen sich schweigend gegenüber. Eva schien zu überlegen, was sie nun mit ihm anfangen sollte, und Julius dachte an seine Mutter, die ihn vor ihrem Tod vor der Reise nach Hüttengesäß gewarnt hatte. Leider war sie dabei nie konkret geworden und hatte immer nur gesagt, dass sich ein dunkles Geheimnis um den Ort rankte. Als sie dann schließlich an ihrer Lungenentzündung verstorben war, gab es nichts mehr, was Julius in Frankfurt gehalten hätte. »Sie haben sicher Hunger«, sagte Eva nach einer Weile und lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen. »Wie ein Wolf«, antwortete der und ging einen Schritt auf die Scheunentür zu.

Evas Gesicht wurde kreidebleich und sie sah ihren Gast entsetzt an.

»Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Es ist nichts«, antwortete Eva zögerlich. »Kommen Sie mit.«

Julius folgte dem Mädchen ins Haus. Durch einen Flur gelangten sie in die Küche. Eva schnitt zwei Scheiben Brot ab und reichte ihm eine davon. Dazu gab es Käse und ein Glas Milch.

»Kaffee habe ich leider nicht.«

»Das macht nichts. Ich mag die Brühe sowieso nicht.« Julius lächelte das Mädchen an. Sie schien zwar keine Angst vor ihm zu haben, war sich aber offensichtlich noch nicht ganz sicher, was sie von dem jungen Mann aus Frankfurt halten sollte. Er hoffte, dass Eva schnell Vertrauen zu ihm fasste. Vielleicht konnte er von ihr ja doch erfahren, was in dem Ort vor sich ging. Plötzlich drang das Geschrei mehrerer Männer durch das offene Fenster.

»Was ist da los?«

»Ich weiß es nicht. Aber es kommt vom Marktplatz.«

»Lassen Sie uns nachschauen.«

»Ich halte das für keine gute Idee«, sagte Eva, doch Julius war bereits aufgestanden.

5

»Sind jetzt endlich alle Männer hier?«, fragte de Winter mürrisch. Er schaute sich auf dem Markplatz um, auf dem sich über zwanzig Männer aus dem Ort versammelt hatten und wild durcheinander riefen. Der Frühnebel hatte sich verzogen, und die ersten Sonnenstrahlen fielen auf den vom Regen der letzten Tage durchweichten Boden.

»Wie es aussieht, fehlt nur noch Richard Wagner.« Josef war gerade mit einem Handwagen angekommen und blieb bei de Winter stehen.

»Du meinst den Säufer von gestern Abend? Den brauchen wir nicht. Wenn ansonsten alle da sind, gehen wir los.«

»Es ist dennoch seltsam, dass Richard nicht hier ist. Sonst lässt er sich so etwas nicht entgehen.«

»Ich werde nicht auf ihn warten. Es geht hier nicht darum, ein Abenteuer zu erleben. Hast du das immer noch nicht verstanden?«

»Doch, natürlich«, sagte Josef. Der Wirt war es langsam leid von de Winter wie ein Bauernjunge behandelt zu werden. »Wir sind bereit und können gehen.«

»Wollt ihr die Bestie erwürgen?«, fragte der Jäger und deutete auf die unbewaffneten Männer.

»Natürlich nicht«, entgegnete Josef säuerlich. Er griff nach der Decke auf dem Handwagen und zog sie weg. Es kamen etwa zwei Dutzend doppelläufige Jagdflinten zum Vorschein. »Ich denke, das wird reichen.«

»Woher hast du das Zeug?«

»Ein Freund von mir ist Händler.«

»Gut. Ich verlasse mich darauf, dass die Gewehre auch funktionieren. Können deine Männer damit umgehen?«

»Die meisten von ihnen haben noch nie in ihrem Leben eine Waffe in der Hand gehabt. Aber wenn wir es ihnen kurz zeigen, werden sie schon damit klarkommen.«

»Das bezweifle ich«, sagte de Winter.

»Was soll das schon wieder heißen?«

»Dass wir Übungen machen werden. Es ist mir zu riskant, mit Männern auf die Jagd zu gehen, die vorher noch nie einen Schuss abgefeuert haben. Sie sollen vorher wenigstens lernen, in welche Richtung sie den Lauf halten müssen.«

»Wenn du so wenig von unseren Fähigkeiten hältst, warum nimmst du uns dann mit?«

»Weil es eure Bestie ist.«

Josef spürte, wie der Zorn in ihm stärker wurde. Es war ungeheuerlich, wie sich der Belgier aufführte. Er selbst war der mächtigste Mann im Ort. Er musste auf sein Ansehen im Dorf achten und durfte sich nicht alles gefallen lassen. Auch wenn er es selbst gewesen war, der de Winter beauftragt hatte, sie bei der Jagd nach der Bestie zu unterstützen. Er musste ihm zeigen, wer der Anführer der Männer von Hüttengesäß war.

»Da kommt noch jemand, der unbedingt jagen will«, sagte de Winter und deutete auf zwei Personen, die eilig näher kamen.

»Was willst du denn schon wieder hier?«, fluchte Josef Steger, als Julius und Eva ihn fast erreicht hatten. »Ich habe dir gestern schon gesagt, dass wir uns um alles kümmern. Und dir, dass du hier verschwinden sollst.«

»Ich wollte nur nachschauen, warum ihr mit eurem Geschrei die ganze Gegend aufscheucht«, sagte Eva.

»Tu nicht so unschuldig. Du weißt genau, was wir vorhaben.«

»Ja. Und ich werde dabei sein.«

»Nein, das wirst du nicht. Verschwindet! Beide.«

»Kannst du mit einer Jagdflinte umgehen, Junge?«, mischte sich de Winter in das Gespräch ein.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Julius.

»Dann lernst du es.«

»Was soll das werden?«, blaffte Josef. »Nehmen wir jetzt jeden dahergelaufenen Strolch mit?«

»Es ist ein Gewehr übrig«, sagte de Winter ruhig. »Der Junge kommt mit.«

»Und was ist mit mir?“, fragte Eva.

»Du bleibst hier«, antwortete der Belgier. »Für Frauen ist das zu gefährlich.«

»Kümmere dich um dein Vieh«, sagte der Wirt. »Und denk über mein Angebot nach.«

Julius bekam keine Gelegenheit mehr, zu protestieren oder sich von Eva zu verabschieden. De Winter zog ihn einfach mit sich. Das Mädchen blieb mit geballten Fäusten zurück und sah der Gruppe nach, bis sie den Ortsrand erreichten.

6

»Darüber reden wir noch«, sagte Josef Steger zu Julius und beschleunigte seinen Schritt, um zum Pfarrer aufzuschließen, der die Gruppe zum Pfingstberg hin anführte.

Bald hatten sie Hüttengesäß hinter sich gelassen und marschierten in Richtung Wald. Julius ging neben dem Jäger, traute sich aber nicht, ihn anzusprechen. Warum wollte er ihn dabei haben? Es war nur einen Tag her, dass die Bewohner ihn wieder loswerden wollten. Jetzt sollte er mit ihnen eine Bestie jagen und damit unter Umständen sogar noch sein Leben aus Spiel setzen? Er wäre lieber bei der hübschen Eva Sangwald geblieben und hoffte, dass er sie später am Tag wiedersehen würde. Andererseits war er neugierig darauf, was weiter passierte. Es konnte nicht schaden zu wissen, was in dem Ort vor sich ging. Vielleicht bekam er doch noch eine Gelegenheit, mit dem Wirt zu reden.

Sie hatten etwa ein Drittel des Weges zurückgelegt, als de Winter stehen blieb. »Alle Männer zu mir«, rief der Jäger und nahm seine Jagdflinte von der Schulter. Er ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wer hier das Sagen hatte. Sehr zum Unwillen von Josef Steger, der ihn mit finsterem Blick ansah.

»Bevor wir uns der Bestie nähern, muss ich mich davon überzeugen, dass ihr auch mit den Gewehren umgehen könnt«, sagte der Jäger.

»Wir werden sie sicher nicht als Schlagstöcke benutzen«, warf der Wirt ein.

De Winter ignorierte Steger, nahm einen Stein vom Boden auf und drückte ihn Julius in die Hand. »Leg ihn dort drüben auf den Baumstumpf.«

Ohne zu zögern, marschierte Julius zu einer Gruppe von Tannen und platzierte das faustgroße Ziel etwa fünfzehn Meter von den Männern entfernt.

»Meinst du nicht, dass wir die Bestie verjagen, wenn wir jetzt anfangen, hier herumzuballern?«, fragte Steger skeptisch.

»Wir sind noch sehr nahe am Ort. Wenn das Biest dennoch hier in der Gegend ist, werden wir es aufschrecken. Vielleicht wird es unvorsichtig, wenn es merkt, dass es gejagt wird, und wir bekommen eine Chance, es zu erwischen.«

»Oder die Bestie versteckt sich einfach und wartet, bis wir wieder weg sind«, entgegnete Steger. Er drehte sich von de Winter weg und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

»Es ist wichtig, dass ihr eine ruhige Hand behaltet, auch wenn es später vielleicht hart auf hart kommt. Mit einem überhasteten Schuss werdet ihr nicht treffen.« De Winter nahm seine Flinte, presste den Schaft an die rechte Schulter und visierte das Ziel an. Der Schuss krachte los. Alle Männer richteten die Augen auf den Stein, unter dem das Holz wegplatzte. Nur knapp hatte der Jäger das Ziel verfehlt und legte sofort neu an. Diesmal traf er und fegte den Stein vom Baumstumpf. Selbst Josef konnte sich ein anerkennendes Nicken nicht verkneifen. De Winter knickte den Lauf der Flinte ab und lud zwei neue Patronen nach. »Jetzt seid ihr dran«, sagte er zu den Männern. »Leg den Stein wieder richtig hin, Junge.«

Julius ergab sich seinem Schicksal und folgte der Anweisung des Jägers.

»Am besten bleibst du gleich dort stehen«, sagte der Wirt lachend, der seinen Schuss als Nächster abgeben wollte.

Einer nach dem anderen versuchte nun sein Glück, aber keiner traf. Lediglich der Baumstumpf bekam einige Treffer ab, die aber weit unterhalb des Ziels lagen.

»Jetzt du«, sagte de Winter zu Julius.

Er war neben dem Pfarrer, der sich weigerte, eine Waffe in die Hand zu nehmen, der Einzige, der noch nicht geschossen hatte. Wie es der Jäger vorgemacht hatte, visierte er das Ziel an und drückte ab. Die Kugel verfehlte ihr Ziel, ohne dass ein Einschlag zu erkennen war. »Ich habe doch gesagt, dass ich das noch nie gemacht habe.«

»Einen Versuch hast du noch«, entgegnete de Winter.

Noch einmal richtete Julius den Lauf auf den Baumstumpf und drückte ab. Diesmal wackelte der Stein und feiner Staub stob nach oben. Ein Streifschuss!

»Sehr gut«, sagte de Winter.

Auch die anderen Männer nickten Julius anerkennend zu. Lediglich Josef Steger schaute stur in eine andere Richtung und tat so, als hätte er nicht zugesehen.

Plötzlich kam ein Mann den Hang heruntergerannt und winkte der Gruppe wild zu. Kurz bevor er sie erreichte, blieb er stehen. »Gut, dass ihr hier seid. Ich wollte gerade in den Ort kommen, um euch zu holen.«

»Was ist los, Manfred?«, wollte der Wirt wissen.

»Es ist schon wieder passiert. Das ist jetzt bereits das dritte Mal in diesem Jahr.«

»Was ist passiert?«, fragte de Winter.

»Die Bestie hat mir ein Schaf geraubt.«

»Bist du sicher, dass es die Bestie war?«

»Ja, Josef. Natürlich bin ich sicher. Wer sollte es sonst gewesen sein?«

»Zeigen Sie uns die Stelle«, verlangte de Winter.

Manfred Zeiger sah den Belgier einen Moment irritiert an.

»Wer sind Sie?«

»Das ist Luuk de Winter«, erklärte Josef. »Ich habe ihn beauftragt, uns bei der Jagd nach der Bestie zu unterstützen.«

»Es wurde aber auch Zeit, dass endlich etwas unternommen wird«, sagte Zeiger dann und ging vor Wut schnaubend voran zu seinem Hof.

»Schauen wir uns die Sache an«, sagte de Winter zu Josef Steger und dem Pfarrer. »Ihr wartet hier«, befahl er dem Rest der Gruppe.

Julius blieb einfach bei den anderen stehen und hoffte, dass er de Winter so loswerden konnte, aber der packte ihn wie einen Häftling am Arm und zog ihn mit sich. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den Männern zu folgen. Vielleicht würde er jetzt endlich erfahren, welches Tier hier gejagt wurde. Bisher hatte er von den Gesprächen der anderen immer nur Wortfetzen verstanden, in denen von einer Bestie die Rede war.

Sie stiegen weiter den Hang hinauf und gingen dann über einen mit Kopfsteinpflaster ausgebauten Weg auf die Scheune zu.

»Ich habe schon alles nach Spuren abgesucht«, erklärte Zeiger. »Wie bei den anderen Malen auch, war aber nichts zu finden.«

»Man muss wissen, wonach man sucht«, sagte de Winter spöttisch und erntete dafür böse Blicke von Josef und dem Bauern.

Die Schafsweide lag direkt neben der Scheune und war von einem Lattenzaun umgeben. In den Fußabdrücken auf dem vom Regen aufgeweichten Boden zwischen Gatter und dem Stall sammelte sich Schmutzwasser.

Hier wird selbst de Winter keine Spuren mehr finden, dachte Julius. Er war gespannt, ob es dem Jäger gelingen würde, die Fährte der Bestie aufzunehmen. »Das Gatter ist nicht beschädigt«, sagte de Winter.

»Was wollen Sie damit sagen?«, blaffte Manfred Zeiger.

»Dass kein Tier es schafft, den Zaun zu überwinden, ohne Schaden anzurichten. Außer einem Raubvogel vielleicht.«

»Ein Vogel?«, regte sich der Besitzer des Baumwieserhofes auf. »Es war kein Vogel, der meine Schafe geraubt hat. Was bilden Sie sich eigentlich ein?«

»Ein anderes Tier war es auch nicht«, sagte der Belgier.

»Ich glaube nicht, dass die Bestie hier war.«

»Denken Sie etwa, dass ich lüge?«

»Das hat de Winter nicht gesagt«, mischte sich Josef Steger ein und trat zwischen die streitenden Männer. »Du musst allerdings zugeben, dass es hier anders aussieht als auf den anderen Höfen, auf denen die Bestie zugeschlagen hat.«

»Das bringt mir meine Schafe auch nicht zurück.«

»Hier verschwenden wir nur unsere Zeit. Wir gehen weiter.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich de Winter ab und ging den Weg zurück zu den anderen Männern.

7

Die Gruppe setzte ihren Weg den Pfingstberg hinauf fort und hatte den Waldrand nun beinahe erreicht. De Winter ging dicht neben Julius, packte ihn unauffällig am Arm und verlangsamte seine Schritte, bis sie die Nachhut bildeten.

»Und jetzt will ich von dir wissen, warum du nach Hüttengesäß gekommen bist.«

»Ich bin zufällig hier und wollte nur in der Krone übernachten. Fräulein Sangwald war so nett, mich …«

»Ich glaube dir kein Wort, mein Junge.«

»Ich habe mit all dem hier nichts zu tun. Ich weiß ja nicht einmal genau, was ihr jagt, und denke, es ist besser, wenn ich jetzt zurückgehe.«

»Nein. Du bleibst bei mir. Etwas stimmt mit dir nicht, und ich werde herausfinden, was.«

»Sie können mich nicht zwingen.«

»Oh doch, Junge, das kann ich.«

Julius antwortete nicht und blickte stur geradeaus. Nach einer Weile ließ der andere ihn endlich los. Der harte Griff hatte sich wie eine Fessel angefühlt. Was wollte de Winter von ihm? Er hatte den Mann noch nie in seinem Leben gesehen. Seit sie sich am Vormittag auf dem Marktplatz getroffen hatten, tat er aber so, als wäre Julius unmittelbar an den Ereignissen beteiligt. Die Dorfbewohner dagegen schienen zu wollen, dass er so schnell wie möglich wieder aus der Gegend verschwand.

Er warf einen Blick zurück ins Tal. Von hier aus konnte er das Ronneburger Hügelland gut überschauen und sah jetzt zum ersten Mal die Burg, deren Turm das Land wie ein einsamer Wächter überragte. Selbst aus dieser Entfernung konnte er die Gebäude erkennen, die den Bergfried umrahmten.

Dort musste Julius hin. Das war sein Ziel, auch wenn er sich davon seit seiner Ankunft in Hüttengesäß eher entfernt hatte. Er würde sich nicht davon abhalten lassen, in die Burg zu gelangen. Weder von Josef Steger noch von Luuk de Winter. Viel hatte ihm seine Mutter nicht über ihre Zeit im Ronneburger Hügelland erzählt. Er wusste aber, dass sie für den Grafen in der Burg gearbeitet hatte. Mit ihm wollte Julius reden. Den Gutsherrn hatte er bei Eva nur vorgeschoben. Vielleicht würde er ihr später erzählen, was ihn wirklich in die Gegend geführt hatte und was er von Graf Albert zu Büdingen-Ronneburg wollte.

Plötzlich sah Julius eine Bewegung zwischen den Bäumen. »Achtung!«, rief er und gab de Winter einen Stoß, sodass dieser zur Seite fiel.

Sofort sprang der Jäger wieder auf und starrte überrascht auf den Stein, der genau an der Stelle gelandet war, wo er gerade noch gestanden hatte. Gerade als er sich wieder aufgerichtet hatte, flog ein weiteres Geschoss auf ihn zu, dem er aber mühelos ausweichen konnte.

»Godverdomme«, fluchte de Winter.

Alle Männer schauten jetzt zum Wald und versuchten den Angreifer zu erkennen. Für einen kurzen Moment war eine Gestalt zu sehen, die aber blitzschnell wieder zwischen den Bäumen verschwand.

»Nicht schießen!«, schrie der Pfarrer und rannte auf de Winter zu, der seine Jagdflinte bereits im Anschlag hatte. »Um Gottes Willen, nicht schießen.«

»Sollen wir die Bestie nun jagen oder nicht?« De Winter sah den Pfarrer stirnrunzelnd an.

»Das was nicht die Bestie.«

»Wer dann?«

»Es war der Künstler.«

»Bist du sicher?«, mischte sich der Wirt ein.

»Ja, Josef. Ich habe ihn erkannt. Die Schüsse müssen ihn angelockt haben.«

»Von wem sprecht ihr?«, wollte der Belgier wissen.

»Von Karl Krämer«, antwortete Steger. »Er ist Maler und wird von allen Leuten nur der Künstler genannt. Einige seiner Werke schmücken die Häuser von Hüttengesäß und Umgebung. Vor etwa drei Jahren hat er sich in die Wälder zurückgezogen und geht dort seiner Arbeit nach. Er lässt sich nur noch selten im Ort blicken.«

»Also ein Spinner«, stellte de Winter fest.

»Nein, ein Künstler«, entgegnete der Pfarrer.

»Den will ich sehen«, sagte de Winter bestimmt.

»Das ist Zeitverschwendung«, entgegnete Steger. »Karl ist harmlos. Er würde keiner Fliege etwas zuleide tun.«

»Trotzdem werden wir ihn besuchen. Wo lebt er?«

»In einer Hütte oben auf dem Pfingstberg. Es ist nicht weit.«

»Gut. Dann wollen wir uns diesen Künstler einmal näher anschauen. Wenn er trotz der Gefahr durch die Bestie hier alleine im Wald lebt, ist er entweder mutig oder verrückt. Du gehst vor, Josef.«

Der Wirt war sichtlich gegen den Plan des Jägers. Gemeinsam mit dem Pfarrer führte er die Gruppe durch den Wald zur Spitze des Pfingstberges, der genau genommen nicht mehr als ein bewaldeter Hügel war. Julius und de Winter gingen als Letzte.

8

Die Hütte des Künstlers entpuppte sich als grob zusammengezimmerte Holzbude, die ihrem Bewohner bei Wind und Kälte kaum Schutz bieten konnte. Sie war um eine Tanne herum gebaut, sodass es aussah, als würde der Baum durch die Hütte wachsen. Als die Männer die Behausung des Künstlers erreichten, saß Karl Krämer an einer Feuerstelle davor und rührte in einem Kessel, aus dem ein schwefeliger Geruch strömte. Um ihn herum stand eine Reihe von Tontöpfen, die Flüssigkeiten in den unterschiedlichsten Farben enthielten. Julius erschrak, als er den Künstler sah. Er trug eine völlig verschmutzte Leinenhose und keine Oberbekleidung. Es war nicht zu erkennen, wo sein Haupthaar in den Bart überging. Wie konnte ein Mensch so leben?

Der Künstler nahm erst Notiz von seinen Besuchern, als ihn der Pfarrer direkt ansprach.

»Wie geht es dir, Karl?«

»Gut, gut. Du siehst ja, ich habe viel zu tun.« Karl Krämer rührte weiter in seinem Topf, als interessiere es ihn nicht, wer da alles zu ihm gekommen war.

»Warum hast du mit Steinen nach uns geworfen?«

»Das war ich nicht, Herr Pfarrer. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet. Das sehen Sie doch.«

»Du lügst, Karl. Wir haben dich gesehen.«

»Ich habe euch nicht gesehen, also habt ihr mich auch nicht gesehen«, entgegnete der Künstler.

»Hast du in den letzten Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt?«, wechselte der Pfarrer das Thema.

»Die Blätter fallen sehr früh in diesem Jahr.«

»Der will uns doch auf den Arm nehmen«, sagte de Winter und wollte auf den Künstler zugehen. »Ich glaube ihm kein Wort.«

Der Pfarrer hielt ihn jedoch am Arm fest und schüttelte kaum merklich den Kopf, als der Jäger ihn böse ansah. »Lass mich mit ihm reden«, sagte er leise.

»Es gab wieder einen Überfall auf dem Baumwieserhof«, erklärte der Pfarrer.

»Das wird Manfred nicht gefallen.«

»Nein, Karl. Das gefällt ihm ganz und gar nicht. Hast du etwas beobachtet?«

»Nein, Herr Pfarrer. Ich war die ganze Zeit hier. Habe ich doch gesagt. Ich komme nicht so gerne zu den Menschen, wissen Sie?«

»Das bringt uns nicht weiter«, sagte de Winter ärgerlich. »Wir sollten die Hütte durchsuchen und dann schleunigst von hier verschwinden, wenn wir nichts finden.«

»Nein«, entgegnete der Pfarrer. »Wir lassen ihn in Ruhe. Es ist nichts in der Hütte. Karl ist ein verwirrter Mann, der den Kontakt zu den Menschen scheut. Wir haben ihn jetzt schon genug aufgeregt, auch wenn er sich das nicht anmerken lässt.« Der Pfarrer sprach so leise, dass Karl seine Worte nicht hören konnte.

Der Künstler rührte immer noch in seinem Topf, als ginge ihn das alles nichts an. Erst als der Jäger ein paar Schritte auf seine Behausung zuging, sprang er entsetzt auf, rannte zur Eingangstür und hielt beide Arme an die Holzwände. »Ihr dürft es noch nicht sehen!«, schrie er und schüttelte den Kopf. »Es ist noch nicht fertig. Keiner darf es sehen.«

»Ich will nur einen kurzen Blick hineinwerfen«, sagte de Winter. »Dein Geschmiere interessiert mich nicht. Geh zur Seite.«

»Nein!«, schrie der Künstler, wurde aber vom Jäger einfach aus dem Weg gestoßen. Er fiel zu Boden und dabei mit seinem Ellenbogen gegen einen Stein. Als de Winter die Tür zu seiner Hütte öffnete, blieb er zusammengekauert auf dem Boden liegen und schluchzte leise vor sich hin.

Julius hatte kein Interesse daran, einen Blick in die Behausung des Künstlers zu werfen, die nicht mehr als dessen Schlafstätte beinhalten konnte. Während der Belgier mit Josef Steger im Inneren verschwand, und sich der Pfarrer um den noch immer heulenden Karl Krämer kümmerte, entschloss er sich, die Bude zu umrunden. Ein eigenartiger Geruch nach Verwesung mischte sich unter die Dämpfe der Farben, und Julius vermutete, dass der Gestank von der Rückseite der Behausung des Künstlers kam. Dort fand er einen Hauklotz, in den ein Beil geschlagen war, und einen Haufen nicht aufgeschichtetes Brennholz. Er bückte sich und untersuchte den Boden. Neben Rindenstücken lagen dort auch ein paar Reste von Innereien, die vermutlich von einem Wildschwein oder Reh waren, durchaus aber auch von einem Schaf stammen konnten. Julius pfiff leise durch die Zähne.

Wenn de Winter das sah, würde der Künstler großen Ärger bekommen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der etwas mit den Vorfällen zu tun hatte, die ganz Hüttengesäß in Angst und Schrecken versetzten. Aus diesem Grund beschloss er, seinen Fund für sich zu behalten. Julius ging zurück und erreichte die anderen Männer, als auch Josef und der Belgier wieder aus der Hütte herauskamen.

»Wir gehen«, sagte de Winter, ohne den Künstler noch eines Blickes zu würdigen.

In den nächsten Stunden streifte die Gruppe durch die Wälder zu beiden Seiten des Pfingstberges. Dabei trafen sie lediglich auf zwei Wildschweine, die panisch Reißaus nahmen. Julius versuchte mehrfach sich von dem Belgier zu trennen, der ihn aber immer wieder zurückrief und mit misstrauischen Blicken beäugte. Als sie endlich aus dem Wald heraustraten und Hüttengesäß wieder vor sich sahen, dämmerte es bereits. De Winter führte die Gruppe jetzt an und gab somit auch das Tempo vor. Einigen Männern war anzusehen, wie müde sie waren. Sicher freuten sie sich darauf, in der Krone ein Feierabendbier zu trinken.

Plötzlich schallte ein langgezogener Schrei zu ihnen herüber.

»Das kommt vom Florstädter Berg«, sagte Josef Steger und rannte los.

9