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Die Bibliothek als Hüterin eines grauenvollen Geheimnisses - Dramatische und atmosphärische Frauenunterhaltung auf zwei ZeitebenenBei ihrer Doktorarbeit über die Entstehung von Heldenmythen macht Zoe Farwell eine Entdeckung: Ihr Vorfahre Gerald Farwell, der wie ein Heiliger verehrt wird, ist anscheinend ermordet worden. Doch warum findet sich dazu nichts in den Akten? Ihre Neugierde ist geweckt. Liverpool, 1839. Ein Mörder geht um in der Stadt, der es speziell auf Prostituierte abgesehen hat. Doch für ermordete Dirnen fühlt sich die örtliche Polizei nicht zuständig. Einzig Madeline Brown, mit einer der getöteten Huren eng befreundet, verlangt Aufklärung. Doch die Polizei bleibt untätig. Erst als Gerald Farwell, Bruder des Earls of Wooverlough und Pfarrer der Gemeinde, gewaltsam ums Leben kommt, schaltet sich die Metropolitan Police ein. Und auch Madeline begibt sich auf Spurensuche … »Ein atmosphärisch dichter Roman, der dunklen Familiengeheimnissen mit viel Spannung auf die Spur kommt.« Münchner Merkur »Die spannende und mitreißende Geschichte ist von der ersten bis zur letzten Seite ein Lesevergnügen.« Ruhr Nachrichten
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Bei ihrer Doktorarbeit über die Entstehung von Heldenmythen macht Zoe Farwell eine verstörende Entdeckung: Ihr Vorfahr Gerald Farwell, der wie ein Heiliger verehrt wird, ist anscheinend ermordet worden. Doch warum findet sich dazu nichts in den alten Unterlagen? Ihre Neugierde ist geweckt.
Liverpool, 1839. Ein Mörder geht um in der Stadt, der es speziell auf Prostituierte abgesehen hat. Doch für ermordete Dirnen fühlt sich die örtliche Polizei nichtzuständig. Einzig Madeline Brown, mit einer der getöteten Huren eng befreundet, verlangt Aufklärung. Die Polizei jedoch bleibt untätig. Erst als Gerald Farwell, Bruder des Earl of Wooverlough und Pfarrer der Gemeinde, gewaltsam ums Leben kommt, schaltet sich die Metropolitan Police ein. Der junge Inspector Thomas Young und auch Madeline selbst begeben sich auf Spurensuche …
Von Felicity Whitmore sind bei dtv außerdem erschienen:
Der Klang der verborgenen Räume
Das Herrenhaus im Moor
Die vergessenen Stimmen von Chastle House
Der Faden der Vergangenheit. Die Frauen von Hampton Hall, Band 1
Die Straße der Hoffnung. Die Frauen von Hampton Hall, Band 2
Die Heimat des Herzens. Die Frauen von Hampton Hall, Band 3
Felicity Whitmore
Roman
Für meine Leserinnen und Leser
Liverpool, November 1839
Die Kälte legte sich wie ein Seidentuch über Liverpool und überzog die Straßen und Häuser mit einer dünnen Eisschicht. An den Fensterscheiben wuchsen Kristallblumen und der rußige Geruch der Kaminfeuer überdeckte den Fischgestank am Hafen. Das Klatschen der Wellen, die an die Kaimauer schlugen, vermischte sich mit dem Gekreisch der Möwen. Die Nacht war sternenklar und der volle Mond erhellte die Stadt mit seinem kalten, unheimlichen Licht. Ein Schatten schälte sich aus der Dunkelheit, in der Hand einen schweren Backstein. Lautlos schlich er von Hausecke zu Hausecke, ohne die gebeugt gehende Gestalt vor sich aus den Augen zu lassen. Blitzschnell verschwand er in einem Hinterhof, als am Ende der Straße eine Gruppe johlender Matrosen auftauchte. Es war nach Mitternacht, die Spelunken hatten längst geschlossen und für die Fischer war es noch zu früh. Um diese Zeit war es am ruhigsten im Hafenviertel von Liverpool. Nur die kaum wahrnehmbaren Atemwolken ließen erahnen, dass sich jemand hinter dem Torbogen verborgen hielt. Erst als die Seemänner ihn passiert hatten, schlüpfte der Schatten wieder hervor und sah sein Opfer gerade noch am Ende der Straße in Richtung George’s Basin abbiegen.
Er schlich sich hinter einem der Wachhäuschen vorbei, in dem ein Polizist der Nachtwache seinen Dienst tat. Dann rannte er, so schnell er konnte, hinter seinem ahnungslosen Opfer her und erreichte keuchend die Kaimauer. Einen Moment lang hielt er inne und suchte den Hafen mit den Augen ab. Die Masten der Schiffe schaukelten im Mondschein. Die Beute war etwa zwanzig Meter von ihrem Jäger entfernt. Niemand außer den beiden war in dieser eisigen Nacht am Hafen unterwegs. Jetzt oder nie! Mit katzenhaften Bewegungen sprang der Verfolger auf die hagere Gestalt zu. Erschrocken verharrte der Überraschte einen Augenblick lang, bevor er sich umwandte.
Er blickte seinen Jäger gehetzt an. Dann aber erkannte er den Angreifer und ein Grinsen legte sich auf seine spitzen Gesichtszüge. Auch das raubtierhafte Wesen lächelte, beinahe unschuldig. Und noch bevor das Opfer sich wehren konnte, hatte der Jäger den schweren Stein mit beiden Händen in die Höhe gerissen und ließ ihn mit aller Kraft niederfahren. Das Krachen des Schädels war lauter als die Wellen, die gegen die Hafenmauer schlugen. Die hagere Gestalt sank zu Boden und hob verzweifelt die Arme. Sie stöhnte auf, aber noch ehe sie laut um Hilfe schreien konnte, hatte der Täter zum zweiten Mal zugeschlagen. Mit ausladenden Bewegungen schmetterte er den Backstein wieder und wieder auf das wehrlose Opfer, bis sein Kopf zu einer roten breiigen Masse geworden war. Dann richtete sich der Mörder auf und sah sich um. Niemand war im schwachen Schein der Öllampen zu erkennen, die an den Kontoren hingen. Schnell lief der dunkle Schatten zur Kaimauer und warf den Stein ins Wasser hinunter.
Dann kehrte er zu dem reglosen Körper zurück. Einen Moment lang schien er zu überlegen, sein Opfer einfach dort liegen zu lassen. Doch dann bückte er sich und griff nach den Beinen der Leiche. Sie war schwer. Aber der Verbrecher war fest entschlossen. Als er den leblosen Körper zur Kaimauer zerrte, hinterließ er eine schimmernde rote Spur im Frost. Mit einem lauten Platschen landete der Leichnam im Wasser. Der Mörder wischte seine blutigen Hände an den feuchten Steinen der Hafenmauer ab. Dann richtete er sich auf. Ohne einen Blick zurück ging er beinahe lautlos davon. Sein Schatten verschwand ungesehen in der Dunkelheit.
Oxford, heute
Zoe sog den Geruch des alten Hauses in sich auf. Die Colleges hier in Oxford rochen genauso wie die in Cambridge, nach Büchern, Wachs und Reinigungsmitteln. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, während sie in dem schmalen Korridor an den Hörsälen vorbeiging. Die alten Holzdielen knarrten unter ihren Schritten. Wieder an der Uni zu sein war fast wie nach Hause zu kommen, nur dass Zoe schon seit drei Jahren kein Zuhause mehr hatte. Und seit Mel fort war, hatte sie auch keinen Menschen mehr, bei dem sie so etwas wie Geborgenheit verspürte. Einen Moment lang blieb sie stehen und sah aus dem Fenster auf den gepflegten Rasen hinunter. Oxford war ein Neuanfang und das hatte etwas Tröstendes. In Cambridge hatte sie alles an Mel erinnert, in Liverpool alles an ihre Eltern. Ihr war bewusst, dass sie die Promotionsstelle bei Professor Charlotte Arlon nur aufgrund ihres Familiennamens bekommen hatte, aber sie hatte kein schlechtes Gewissen. Auch wenn sie sich geschworen hatte, ohne die Unterstützung der Earls of Wooverlough ihren Weg zu gehen, nahm sie diesen Vorteil gern in Anspruch. Ihre Chancen waren nämlich nicht besonders gut gewesen, als sie sich bei Professor Arlon beworben hatte. Schließlich war sie fünf Jahre älter als der Durchschnitt der Doktoranden, die in Oxford begannen, denn sie hatte sich eine Auszeit genommen, um ihren Roman fertigzustellen.
Zoe wandte sich vom Fenster ab und setzte ihren Weg fort. Irgendwo auf diesem Flur musste das Büro ihrer neuen Professorin sein. Damals bei ihrem ersten Gespräch hatte sie Professor Arlon in einem großen Saal getroffen, zusammen mit weiteren Mitgliedern der Auswahlkommission. Jetzt kam ihr eine Gruppe Studenten entgegen und ihr Magen fing plötzlich an vor Aufregung zu kribbeln. Zum ersten Mal seit Monaten verspürte sie wieder so etwas wie Glück. Zum ersten Mal seit Mel gegangen war, hatte sie das Gefühl, endlich wieder nach vorn blicken zu können.
Sie blieb stehen, als sie das Schild mit der Aufschrift »Professor Dr. Charlotte Arlon« gefunden hatte. Zoe atmete tief durch. Wieso war sie plötzlich so aufgeregt? Sie hatte in den letzten Jahren doch ganz andere Situationen gemeistert. Ihre Hand zitterte leicht, als sie anklopfte.
Zoe hörte Schritte, die sich näherten, und im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet.
Professor Arlon lächelte ihr zu. »Herzlich willkommen in Oxford, Lady Zoe.«
»Oh, bitte nur Zoe«, erwiderte sie und schüttelte die Hand ihrer Professorin. »Ich freue mich sehr, bei Ihnen promovieren zu dürfen, Frau Professor.«
»Charlotte«, sagte diese, wich einen Schritt zurück und ließ Zoe eintreten.
Der dezente Duft eines teuren Parfüms lag im Raum. Die Wände des Büros waren mit Bücherregalen vollgestellt, vor dem kleinen Sprossenfenster stand ein Schreibtisch, und an der linken Wand gab es einen Kamin und eine Sitzgruppe aus abgewetzten Ledersesseln.
Charlotte bedeutete Zoe, Platz zu nehmen, und setzte sich dann neben sie.
»Wie spannend, die Autorin von Der Übernächste als Doktorandin bei uns begrüßen zu dürfen!«
Zoe errötete. Obwohl sie eigentlich an den Ruhm gewöhnt sein sollte, den sie vor zwei Jahren durch ihren Roman erlangt hatte, war ihr die allgemeine Aufmerksamkeit immer noch unangenehm. Sie war froh, dass der größte Wirbel um ihre Person inzwischen vorbei war. Nach Erscheinen ihres Buches war sie zu mehreren Talkshows eingeladen gewesen und musste zahlreiche Interviews geben. Dabei hatte sich Zoe nie wirklich wohlgefühlt.
Sie wechselte das Thema. »Wie ich in meinem Motivationsschreiben ja erläutert habe, verfolge ich Ihre Arbeit schon lange, und ich habe in Cambridge meine Abschlussarbeit über das Thema HeldenentstehungundHeldentum geschrieben.«
»Ich weiß.« Charlotte klopfte mit ihren schlanken manikürten Fingern auf eine Mappe, die auf einem niedrigen Tischchen lag. Der Brillant an ihrem Ringfinger funkelte. »Kevin war so freundlich, sie mir zukommen zu lassen.«
»Oh«, stieß Zoe überrascht hervor. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Kevin Franklin, ihr Professor in Cambridge, bei dem sie ihre Masterarbeit geschrieben hatte, mit Charlotte bekannt war.
Die Professorin lachte und warf ihr langes blondes Haar zurück. »Kevin und ich haben zusammen studiert, und nach Ihrem Bewerbungsgespräch habe ich ihn gleich angerufen. Schließlich wollte ich wissen, ob Sie wirklich mehr sind als die Autorin von DerÜbernächste. Hätten Sie sich am literaturwissenschaftlichen Institut beworben, hätte ich nicht nachfragen müssen, aber Sie möchten in Geschichte promovieren, nicht wahr? Wie alt sind Sie, Zoe?«
»Ich bin achtundzwanzig«, erwiderte Zoe und hörte selbst den beinahe entschuldigenden Unterton in ihrer Stimme. »Mein Roman kam mir dazwischen …«
»Na, glücklicherweise.« Charlotte lachte. »Ich habe Der Übernächste verschlungen. Es ist ein ausgezeichnetes Porträt Ihrer Generation.«
Zoe nickte und errötete wieder. Sie überlegte, dass sie und Charlotte fast aus derselben Generation stammen könnten, die junge Professorin war nicht viel älter als Zoe selbst. Zoe hatte alles über Charlotte Arlon gelesen, was sie finden konnte. Die Professorin war achtunddreißig Jahre alt und ihre akademische Laufbahn beeindruckend. Mit achtundzwanzig hatte sie ihren Doktortitel bereits in der Tasche gehabt und zahlreiche Bücher, Artikel und wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema Heldentum herausgebracht. Innerhalb weniger Jahre hatte sie sich einen Namen gemacht und mit dreißig schon eine Juniorprofessur in Harvard bekommen. Nur ein paar Jahre später übernahm sie den Lehrstuhl in Oxford. Dazwischen hatte sie es sogar noch geschafft, den Dekan der literaturwissenschaftlichen Fakultät zu heiraten und zwei Kinder zu bekommen, und dabei sah sie so umwerfend aus, als wäre sie Berufssportlerin.
Charlotte schaute Zoe fragend an, der auffiel, dass sie ihre Professorin wohl etwas zu eindringlich gemustert hatte. Schnell sagte sie: »Wenigstens ermöglicht mir der Erfolg des Romans, mein Studium zu finanzieren.«
Charlotte zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ich war davon ausgegangen, dass Ihre Eltern Sie unterstützen.«
Zoe schüttelte den Kopf. »Ich habe zu meinen Eltern keinen Kontakt mehr.«
»Das ist schade«, sagte die Professorin und hob die Hand mit dem Brillantring. »Ich meine, ich will mich nicht in Ihre Familienangelegenheiten einmischen, aber ich habe ein Forschungsthema, das ich Ihnen gern vorschlagen würde, und für dieses Thema wäre der Kontakt zu Ihrer Familie sicher vorteilhaft.«
Zoe runzelte die Stirn. »Ich komme zwar aus einer alten Adelsfamilie, aber ich wüsste nicht, in welcher Hinsicht diese Herkunft hilfreich sein könnte. Die Geschichte der Earls of Wooverlough ist so langweilig, dass sie über eine dröge Familienchronik wohl kaum hinausreichen würde – die es übrigens schon gibt.«
»Ihr Vorfahre Gerald Farwell«, sagte Charlotte nur.
»Gerald der Gütige?«, erwiderte Zoe erstaunt.
Die Professorin nickte. »Genau um den geht es. Um Gerald den Gütigen. Gerald Farwell wird nicht nur in Liverpool und Umgebung als Held verehrt. Er ist landesweit bekannt, und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wäre beinahe ein Feiertag ihm zu Ehren geschaffen worden. Soweit ich weiß, war sogar seine Heiligsprechung vorgesehen. Auf jeden Fall gilt er im ganzen Land als Held.«
»Und in unserem Dorf Fleetwood, das jahrhundertelang meiner Familie gehört, gibt es jedes Jahr die großen Gerald-Farwell-Spiele«, warf Zoe ein. »Das ist ein Volksfest mit verschiedenen unterhaltsamen Wettkämpfen.«
»Aber worauf genau gründet sich dieses Heldentum?«, fragte Charlotte. »Was hat Ihr Vorfahre getan, das diese Verehrung rechtfertigt? Gerald Farwell ist meines Wissens einer der jüngsten Helden, die England hervorgebracht hat, abgesehen von den Heldenfiguren der Weltkriege, deren Ruhm sich von ihren militärischen Verdiensten herleitet. Aber Farwell war weder Soldat, noch hat er irgendeine Familie aus einem brennenden Haus gerettet oder sonst etwas getan, das bekannt ist.«
»Er war Geistlicher«, erinnerte sich Zoe.
»Genau. Aber darüber hinaus ist erstaunlich wenig über ihn bekannt, und dennoch wird er als Held verehrt.« Charlotte hielt einen Moment inne. »Worum geht es bei diesen Gerald-Farwell-Spielen? Vielleicht liefert uns das den ersten Anhaltspunkt.«
Zoe lehnte sich in dem Sessel zurück und dachte einen Augenblick nach. »Es ist ein Fest für die ganze Familie. Eine Woche lang werden Wettbewerbe veranstaltet. Tauziehen und Sackhüpfen, ein Eierlauf, ein Kuchenwettbacken und eine Rosenmeisterschaft, bei der die schönste Rose des Dorfes gekürt wird.«
Charlotte nickte. »Das müsste man sich mal genauer anschauen. Ich weiß nicht, ob das Thema Stoff genug hergibt, um eine Dissertation darüber zu schreiben, aber für eine wissenschaftliche Abhandlung sollte es reichen. Und am Ende kann es zumindest ein Teil Ihrer Promotion werden.«
»Warum denken Sie, dass gerade ich mich mit diesem Thema beschäftigen soll?«, fragte Zoe, der nicht wohl war bei dem Gedanken, sich intensiv mit ihrer Familiengeschichte zu befassen. »Wäre ein Außenstehender mit genügend Abstand nicht viel besser geeignet?«
Charlotte wiegte ihren Kopf hin und her. Zoe betrachtete das hübsche Gesicht, das sorgfältige Make-up und die teure Kleidung. Alles an dieser Frau strahlte Wohlstand und Eleganz aus. Charlotte hatte sich vermutlich nie Sorgen um ihr Auskommen machen müssen und war bestimmt auch nie von ihrem Vater aus dem Haus geworfen worden, sodass sie plötzlich ohne einen einzigen Penny dastand. Zoe konnte sich gut vorstellen, wie sich Charlottes Mann in die junge, hübsche Wissenschaftlerin verliebt hatte. Charlotte versprühte einen ganz besonderen Zauber, dem Männer vermutlich schnell erlagen. Und auch Frauen … Nein, Zoe atmete tief durch. Sie würde sich nicht in ihre Professorin verlieben. Was war nur mit ihr los, dass sie diesen Gedanken überhaupt zuließ? Charlotte war so hetero, wie man es nur sein konnte. Zoe stellte sie sich in ihrem eleganten Haus vor, mit ihrem Mann und den beiden Kindern an ihrer Seite. Spießig und beneidenswert zugleich. Manchmal wünschte sich Zoe, genauso zu sein wie andere junge Frauen, die die Erwartungen ihrer Eltern erfüllten. Aber Zoe war anders.
»Ich glaube, Sie könnten an viel mehr Informationen herankommen als jemand, der nicht zur Familie gehört«, erklärte Charlotte und riss Zoe damit aus ihren Gedanken. Ihre Hand legte sie auf die Armlehne des abgenutzten Ledersessels. »Es gibt bisher noch keine Literatur zu diesem Thema, und ich könnte mir vorstellen, dass Sie etwas über Gerald schreiben könnten, das einerseits wissenschaftlich fundiert ist, andererseits aber auch interessierte Laien anspricht. Denn Sie sind als Romanautorin bekannt, Familienmitglied der Wooverloughs und nicht zuletzt Wissenschaftlerin.«
Zoe dachte einen Augenblick lang über die Worte der Professorin nach. Sie bewunderte Charlotte fachlich sehr, hatte viele ihrer Arbeiten gelesen und sie mehrfach in ihrer Masterarbeit zitiert. Und sie musste ihr recht geben, auf den ersten Blick schien es das perfekte Forschungsthema für Zoe zu sein. Aber Wooverlough Court, das Anwesen ihrer Eltern, war ihr nicht mehr zugänglich. Sie würde nicht in den umfassenden Bibliotheken der Familie forschen dürfen, wo alle relevanten Informationen aufbewahrt waren – sofern es überhaupt Aufzeichnungen über Gerald gab.
Charlotte schien ihr Zögern zu bemerken. »Zunächst schlage ich vor, dass Sie nach London fahren und im Archiv von Scotland Yard und der Metropolitan Police recherchieren, ob es Akten über den Mord an Gerald Farwell gibt.«
»Er ist ermordet worden?«, fragte Zoe erstaunt.
Charlotte stutzte. »Ich dachte, das wäre Ihnen als Familienmitglied bekannt.«
Zoe schüttelte den Kopf.
»Es würde mich interessieren, ob er bereits zu Lebzeiten verehrt wurde oder ob er einen heldenhaften Tod gestorben ist«, fuhr Charlotte fort. »Es ist so wenig darüber bekannt. Ich weiß nur, dass er nicht auf natürliche Weise starb. Einer meiner Studenten ist zufällig auf eine Mitteilung in der Liverpooler Zeitung von 1839 gestoßen. Er forscht zum Thema Auswanderung, und da spielte Liverpool natürlich eine zentrale Rolle.«
Zoe sah sie nachdenklich an und lehnte sich in dem alten Sessel leicht nach vorn, in dem schon Generationen von Studenten und Professoren gesessen haben mussten. »Gut möglich, dass der gewaltsame Tod etwas mit der Entstehung von Geralds Heldentum zu tun hat. Haben Sie in den Archiven der Liverpool Police nichts dazu gefunden?«
»Wir haben nicht weiter nachgeforscht. Aber da Gerald Farwell aus einer hochangesehenen Familie stammte, hat man vermutlich nicht gerade einen Dorfpolizisten damit beauftragt, den Fall zu lösen. Damals war die Metropolitan Police gerade gegründet worden, und wenn Mitglieder der gesellschaftlichen Oberschicht Opfer von Gewalttaten wurden, kümmerten sich die Londoner Polizeibehörden um die Angelegenheit. Deshalb gehe ich davon aus, dass Sie dort eher fündig werden als in Liverpool. Dennoch sollten Sie auch dem Archiv der Liverpool Police einen Besuch abstatten.«
Zoe nickte. »Ich werde mich in London umschauen und zusammentragen, was es an Informationen über ihn gibt.«
»Beziehen Sie bitte auch die Zeit nach seinem Tod mit ein. Wie ist es zu der Verehrung gekommen? Das ist unser eigentliches Thema. Auch wenn der Schlüssel dazu tatsächlich häufig im Leben der Helden liegt.« Charlotte lächelte.
Zoe unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte sich im Vorfeld einige Promotionsthemen überlegt, die sie ihrer neuen Professorin vorschlagen wollte. Dass sie nun ausgerechnet über ihre eigene Familie forschen sollte, passte ihr gar nicht.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Charlotte. Sie stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin sehr gespannt auf Ihre ersten Ergebnisse.«
Zoe verabschiedete sich, und als sie in den schmalen Korridor trat, verspürte sie plötzlich den dringenden Wunsch, ihre Professorin auf keinen Fall zu enttäuschen.
In den nächsten Tagen kam Zoe kaum dazu, über Gerald Farwell nachzuforschen. Sie war mit ihrem neuen Apartment beschäftigt, das sie in der Rectory Road gefunden hatte. Die Tantiemen für DerÜbernächste ermöglichten es ihr, die vollkommen überteuerte Zweizimmerwohnung zu kaufen. Sie riss die Tapete von den Wänden, strich sie mit weißer Farbe und kaufte die nötigsten Möbelstücke. Als Mel und Zoe sich getrennt hatten, hatte Mel fast die gesamte Einrichtung mitgenommen, da Zoe zunächst in ein möbliertes Zimmer gezogen war, bis sie wusste, wohin es sie als Nächstes verschlagen würde. Jetzt war sie froh, keine Möbel mehr zu besitzen, die sie an ihre Zeit mit Mel erinnerten. Nicht nur Oxford war ein Neuanfang, sondern auch ihre Wohnung.
Als sie endlich dazukam, sich mit Gerald Farwell zu befassen, musste sie schnell feststellen, dass das Internet ihr keine Informationen über diesen Mann lieferte. Es gab keinen einzigen Eintrag in den einschlägigen Suchmaschinen und Online-Datenbanken, und der Wikipedia-Artikel über Gerald Farwell enthielt nichts, was sie nicht schon gewusst hatte. Der einzig interessante Fund war das Literaturverzeichnis im Anhang, das auf zwei Biografien über ihn verwies.
Als Nächstes nahm Zoe Kontakt zum zentralen Polizeiarchiv in London auf. Als sie endlich zu der zuständigen Archivarin durchgestellt worden war, wurde ihr erklärt, dass sie in Arbeit ersticken würden und dass sie sich selbst auf den Weg ins Polizeiarchiv machen müsse, wenn sie etwas über Gerald Farwells Tod herausfinden wolle. Immerhin rief der Archivar aus Liverpool sie zwei Tage später zurück, um ihr mitzuteilen, dass es keine Akte und auch sonst keine Aufzeichnungen zum Tod Gerald Farwells bei der Liverpool Police gab. Zoe blieb also nichts anderes übrig, als tatsächlich das Polizeiarchiv in London aufzusuchen.
Sie nahm den Zug und erreichte um halb zehn Uhr morgens das Polizeigebäude, wo sie schon eine halbe Stunde später die Akten durchforstete. Als das Archiv um fünf Uhr schloss, hatte sie jedoch nicht einmal den geringsten Hinweis auf den Mord an ihrem Vorfahren gefunden. Daher fuhr sie auch am nächsten Tag noch einmal nach London, doch wieder ohne Erfolg. Allmählich begann sie daran zu zweifeln, dass Gerald wirklich ermordet worden war. Konnte es sich vielleicht um einen tragischen Unfall gehandelt haben, bei dem es keine Ermittlungen gegeben hatte?
Zoe erinnerte sich an die beiden Biografien, die in dem Wikipedia-Artikel erwähnt worden waren, und über den Online-Bibliothekskatalog wurde sie schnell fündig. In Oxford gab es offenbar ein Exemplar von einer der Biografien, es stand in der Bibliothek des Balliol College.
Zoe machte sich sofort auf den Weg in die alte Bücherei. Es dauerte ein wenig, bis sie sich in den Räumen zurechtgefunden hatte und das Werk vor ihr auf dem Tisch lag. Es war in rissiges Leder gebunden. Ausleihen konnte man sich das Buch nicht, aber es war nur achtzig Seiten dick. Es stammte aus dem Jahr 1845, war also sechs Jahre nach Geralds Tod veröffentlicht worden.
Das Licht der Morgensonne fiel durch das Fenster auf den schmalen Tisch, an dem Zoe saß, während sie den Text las, der in einer altmodischen Sprache verfasst war. Sie vertiefte sich in die detailreichen Ausführungen über den gottesfürchtigen und gütigen Geistlichen, der sich wohl von klein auf dazu berufen gefühlt hatte, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen. Gerald kümmerte sich um die benachteiligten Menschen in Liverpool und half ihnen mit verschiedenen Spendenaufrufen. Dann kam ein fragwürdiger Abschnitt über seine Wundertaten und Heilungen. Angeblich konnte er mit Tieren sprechen und den Wolken befehlen zu regnen. Natürlich wurden keine Beweise hierfür aufgeführt. Über seinen Tod stand nichts in dem Büchlein.
Zoe hob die Augenbrauen, als sie am Ende der Biografie angekommen war. Der Bericht über Geralds Leben brach beinahe abrupt ab. Irritiert blätterte sie weiter, aber da stand nichts mehr. Sie betrachtete den Namen des Verfassers: Hanno Nym. Das klang nach einem anonymen Autor. Und als sie den Namen in ihrem Smartphone googelte, fand sich auch tatsächlich kein Eintrag zu einem Schriftsteller mit diesem merkwürdigen Namen.
Zoe seufzte und stand auf. Nachdem sie das Buch ins Regal zurückgestellt hatte, trat sie gedankenverloren in den Herbsttag hinaus. Diese Biografie hatte ihr kaum neue Erkenntnisse gebracht. Gerald hatte sich anscheinend häufig für andere Menschen eingesetzt, aber dieses soziale Engagement rechtfertigte sicher nicht, dass er nach seinem Tod derart zum Helden stilisiert worden war. Nein, Zoe wurde das Gefühl nicht los, dass sein Heldentum auf irgendeine Weise mit seinem Tod zusammenhängen musste. Er war eines Todes gestorben, der ihn zum Helden gemacht hatte.
Zoe zog ihren Schal enger um den Hals, es war plötzlich frisch geworden. Orangerote Blätter segelten an ihr vorbei auf den Schotter des Gehwegs, als sie das Gelände des Colleges verließ. Wenn sie mit ihrem Vater hätte sprechen können, wäre sie mit ihrer Recherche vermutlich schnell vorangekommen. In den Bibliotheken seines Anwesens wartete mit Sicherheit eine Erklärung. Ja, das Thema war durchaus vielversprechend und Charlotte hatte recht – Zoe wäre prädestiniert dafür gewesen, sich ihm zu widmen, wenn sie auf Wooverlough Court noch willkommen gewesen wäre.
Sie schüttelte den Kopf, während sie am Christ Church College vorbeischlenderte, und zog ihr Smartphone aus der Tasche. Laut Wikipedia gab es ja noch ein zweites Buch, das sich mit dem Leben von Gerald Farwell beschäftigte, aber dieses schien öffentlich nicht zugänglich zu sein. Zoe fand zwar die Biografie im Internet, aber keine Bibliothek, wo sie einsehbar gewesen wäre. Plötzlich war Zoe sich sicher, dass dieses Buch und vielleicht noch weitere Unterlagen zu Gerald Farwell in Wooverlough Court zu finden sein würden. Die Bibliothek ihrer Familie war so umfassend, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn ausgerechnet die Bücher über ihren Vorfahren Gerald nicht dort aufbewahrt wären. Aber es war unmöglich für sie, dorthin zurückzukehren.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, suchte sie in ihrem Telefon nach der Nummer ihrer Tante Vicky, der Schwester ihres Vaters. Vicky war eine der Wenigen in ihrer Familie, die Zoe nicht wegen ihrer Beziehung mit Mel und ihrer lesbischen Neigung verurteilten.
»Hallo?«, meldete sich die Stimme ihrer Tante.
»Ich bin’s, Zoe. Alles okay bei dir?«, fragte Zoe und wich einem Studenten aus, der mit seinem Fahrrad in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den Gehweg raste.
»Was für eine Überraschung, Zoe! Ich habe gestern noch an dich gedacht, als ich mich mit einer Freundin über dich und dein Buch unterhalten habe.«
»Ich hoffe, ihr habt nur Gutes über mich gesprochen«, scherzte Zoe. »Sag mal, Vicky, hast du eigentlich schon mal von Gerald dem Gütigen gehört?«
»Gerald? Natürlich. Aber warum fragst du?« Ihre Tante klang erstaunt.
»Leider weiß ich nur sehr wenig über ihn«, erwiderte Zoe. »Ich überlege gerade, ob ich über Gerald promovieren soll, und brauche dringend mehr Informationen.«
Vicky schwieg einen Moment und sagte dann: »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Ich verstehe sowieso nicht, warum über sein Leben bisher nur so wenig geschrieben wurde. Gerald war ein Held, er war ein ganz besonderer Mensch, weißt du?«
»Ja, aber warum war er das?« Zoe strich sich fröstelnd über die Oberarme und beschleunigte ihren Schritt.
»Kennst du denn die Zeitungsberichte nicht?«, fragte ihre Tante.
»Welche Zeitungsberichte?« Zoe blieb stehen. »Ich wusste gar nicht, dass es welche über ihn gibt.«
»Ich muss sie hier irgendwo haben. Sie sind schon ziemlich alt.« Im Hintergrund raschelte Papier. »Ich hab sie irgendwann mal aus Wooverlough Court mitgenommen.«
»Vicky, könntest du mir diese Berichte zuschicken? Das würde mir sehr weiterhelfen.« Zoe hielt vor Aufregung den Atem an.
»Aber ja, du bist ja jetzt Wissenschaftlerin. Wenn du sie durchgesehen hast, kannst du sie einfach deinem Vater zurückgeben, ja? Sie gehören schließlich in die Bibliothek von Wooverlough Court.« Vicky sog scharf die Luft ein, vermutlich war ihr gerade aufgefallen, was sie da von Zoe verlangte. »Oder du schickst mir alles zurück und ich lasse es dann deinen Eltern zukommen«, fügte sie rasch hinzu.
»Wie auch immer.« Zoe ging langsam weiter. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Oktoberluft. Sie nannte ihrer Tante ihre neue Anschrift in Oxford und verabschiedete sich von ihr.
Als sie zwei Tage später von der Universität nach Hause kam, lag ein dicker Umschlag in ihrem Postkasten. Sie öffnete ihn und fand darin einen Stapel vergilbter Zeitungsberichte. In die obere Ecke war jeweils mit schwarzer, schon ziemlich verblichener Tinte das Erscheinungsdatum geschrieben worden. Zoe musste das Papier unter helles Licht halten, um die Zahlen entziffern zu können. Der älteste Artikel stammte aus dem Jahr 1839. Es war nur eine kurze Notiz über den tragischen Tod von Gerald Farwell, dem Bruder des Earl of Wooverlough und Pfarrer von Fleetwood, dessen Leiche Ende November aus dem George’s Basin geborgen worden war. Der Text enthielt keine Einzelheiten über seinen Tod.
Zoe blätterte weiter. Zwei Tage später war ein ausführlicher Bericht erschienen.
Im Falle des Pfarrers Gerald Farwell aus Fleetwood, der vor zwei Tagen tot aufgefunden wurde, verdichten sich die Hinweise darauf, dass es sich keineswegs um einen Unfalltod handelte. Die Metropolitan Police schickte Inspector Thomas Young, einen ihrer erfahrensten Ermittler, nach Liverpool, um der Sache nachzugehen. Er betont zwar, dass die Polizei zur Stunde noch nicht von Mord zu reden wage, aber wir fragen Sie, verehrte Leser: Worauf deutet das alles hin? Würde ein Inspector aus London angefordert werden, wenn es sich lediglich um einen Unfall handelte? Auf die Frage, was der Pfarrer nachts in Liverpool zu tun hatte, gab Young keine Antwort. Die Ermittlungen dauern an. Wir berichten weiter.
Zoe blätterte durch die Zeitungsausschnitte, konnte aber keinen anderen Beitrag finden, der über die Umstände, die zu Gerald Farwells Tod geführt hatten, Auskunft gab. Sie lehnte sich zurück. Entweder waren damals keine Berichte mehr über diesen Fall erschienen oder man hatte sie nicht aufbewahrt. Trotzdem hatten ihr diese kleinen Notizen bereits weitergeholfen, denn sie zeigten, dass Gerald keines heldenhaften Todes gestorben war, wie Zoe zunächst vermutet hatte. Die spätere Verehrung für ihn musste also doch in seinem Leben begründet liegen. Und tatsächlich schien der nächste Zeitungsausschnitt, den sie in die Hand nahm, diese Vermutung zu bestätigen. Der Bericht war im Sommer 1840 veröffentlicht worden. Es war ein Nachruf des Earl of Wooverlough.
Zoe las den Artikel.
Inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen, seit mein geliebter Bruder, der Pfarrer Gerald Farwell, von uns gegangen ist. Es ist für mich und alle, die ihn kannten, noch immer unvorstellbar, dass dieser gütige, liebenswerte und stets freundliche Mensch nicht mehr unter uns weilt. Er hinterlässt eine große Lücke, die niemand wird füllen können. In den ersten Wochen nach diesem unbeschreiblichen Verlust war weder ich noch sonst jemand, der ihn gut kannte, emotional in der Lage gewesen, ein paar Worte der Erinnerung an ihn zu verfassen. Zu grausam und tragisch war der Gedanke, künftig ohne ihn leben zu müssen.
Nun habe ich mich gesammelt und trete dieser Aufgabe tapfer entgegen. Ich bin gern bereit, ein paar Worte der Würdigung zu finden und die Heldentaten meines geliebten Bruders zusammenzufassen.
Wenn ich mich an Gerald erinnere, denke ich zuerst an sein sanftes Wesen, seinen ruhigen Charakter, der immer ausgeglichen und niemals unbeherrscht war. Ich denke an sein freundliches, zuvorkommendes Wesen, das für jeden Menschen ein liebes Wort, für jeden Bedürftigen Zuspruch und für jeden Hoffnungslosen Zuversicht bereithielt. Mein Bruder war selbstlos, er hat sich niemals seinem eigenen Vorteil oder gar Vergnügen hingegeben. Seine Leidenschaft galt seiner Berufung, seine Liebe unserem Schöpfer und dessen Geschöpfen. Streit wusste er stets zu schlichten, Zorn zu besänftigen und Missgunst im Keim zu ersticken. Ja, mein Bruder glaubte an das Gute und weckte in seinen Mitmenschen nur das Beste. Eine Welt ohne Gerald ist unvorstellbar. Aber sie ist besser geworden, weil er gelebt hat, und ich wünsche mir, dass sie ihn nie vergessen wird.
Zoe lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Gerald war offensichtlich ein großartiger Mann gewesen. Sie musste sich eingestehen, dass sie stolz darauf war, eine Nachfahrin dieses bewundernswerten Menschen zu sein. Sie dachte einen Moment darüber nach. Hatte die Welt ihn tatsächlich vergessen? Sie zuckte mit den Schultern. Auch wenn sein Name heute noch vielen Menschen geläufig war – schließlich gab es die Farwell-Spiele und in Fleetwood war sogar eine Straße nach ihm benannt worden –, konnte doch niemand mehr genau sagen, was Gerald eigentlich Bedeutsames vollbracht hatte.
Zoe stand auf und trat ans Fenster. Während sie auf die Straße hinuntersah, fragte sie sich, ob es überhaupt neue Erkenntnisse geben würde, die sie gewinnen und für ihre Doktorarbeit verwenden konnte. Vielleicht lag Geralds Ruhm ja schlicht in seinem außerordentlich freundlichen Wesen und liebenswürdigen Charakter begründet, den der Earl beschrieben hatte. Manchmal brauchte es keine großen Taten und Wunder, um zum Helden zu werden.
Zoe ging zurück zu ihrem Schreibtisch und sah sich auch noch die nächsten Artikel an. Man hatte anscheinend eine neue Rubrik ins Leben gerufen, die immer am ersten Mittwoch im Monat erschien und die Überschrift Erinnerungen an die Wundertaten des Gerald Farwell trug. Sie war von einem gewissen Marcus Brown, Liverpool Chronist, verfasst worden.
Zoe runzelte die Stirn, als sie den ersten dieser Berichte las. Auch hier war, ähnlich wie in Geralds Biografie, einiges zusammenfantasiert worden. Es war die Rede von toten Fischen, die Gerald wieder lebendig werden ließ, und von Blumen, die plötzlich sprechen konnten. Zoe überflog einige Artikel dieses Verfassers und stellte fest, dass hier von zweifelhaften Wundertaten die Rede war. Aber warum schrieben die Leute solche Geschichten? Was versprachen sie sich davon?
Zoe stand auf, um sich eine Tiefkühlpizza warm zu machen, und ihre Gedanken wanderten unwillkürlich zu ihrer Professorin. Charlotte Arlon würde heute Abend bestimmt nicht vor einem Fertiggericht sitzen. Zoe stellte sich vor, wie sie im Kreis ihrer Familie am liebevoll gedeckten Esstisch saß und ihren Mann über die Köpfe ihrer Kinder hinweg verführerisch anlächelte. Schnell schüttelte sie diesen Gedanken ab und versuchte, sich wieder auf Gerald und ihre Recherche zu konzentrieren. Und wie sie es auch drehte und wendete, sie kam immer wieder zu derselben Erkenntnis: Sie musste nach Wooverlough Court fahren, um weitere Informationen zu bekommen. Aber wenn sie nur daran dachte, stieg wieder dieses beklemmende Gefühl in ihr auf, vor dem sie damals geflohen war.
Fleetwood und Wooverlough Court bei Liverpool, November 1839
Inspector Thomas Young betrat das Büro des Senior Police Officers und konnte nicht umhin, sich über die eher spartanische Einrichtung zu wundern. Whittey war ein Mann, der weit über die Grenzen Liverpools hinaus bekannt war, und Thomas hatte sogar in seinem Büro in London einiges über ihn gehört.
»Inspector«, der Senior Police Officer kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen und deutete dann auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand, »bitte, nehmen Sie Platz.«
Thomas lächelte verbindlich und ließ sich auf den unbequemen Holzstuhl fallen.
»Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell herkommen konnten«, sagte Whittey und griff nach einer großen Papierrolle, die an seinem Schreibtisch lehnte. »Im Grunde genommen ist der Fall schon aufgeklärt. Aber da es sich um die einflussreichste Familie hier in der Gegend handelt, können Sie sicher begreifen, dass ich London einschalten musste.«
»Natürlich«, antwortete Thomas. »Die Metropolitan Police steht Ihnen zur Verfügung. Ich habe meine beiden besten Constables mitgebracht.«
»Die werden Sie nicht brauchen.« Whittey rollte das Papier auf seinem Schreibtisch aus, und Thomas erkannte, dass es sich um eine Landkarte handelte. »An dem Mordfall ist nicht viel Geheimnisvolles.«
Whittey deutete auf die Karte. »Die Leiche wurde gestern Morgen im Hafenbecken George’s Basin gefunden. Es muss auch dort passiert sein, meint der Doktor. Raubüberfall. Ganz klare Sache. Aber wie gesagt, das Opfer ist Gerald Farwell, Priester und Bruder des Earl of Wooverlough. Der Earl ist aufgebracht, zu Recht, versteht sich. Wo kommen wir denn da hin, wenn selbst Mitglieder des Adels auf unseren Straßen nicht mehr sicher sind?«
Thomas unterdrückte den Einwand, dass der vermeintliche Räuber den Adelsstand des Opfers vielleicht nicht erkannt hatte. Stattdessen fragte er: »Weiß man, was Pfarrer Farwell zum Hafenbecken geführt hat?«
»Natürlich nicht, aber was soll uns das auch nützen? Schließlich war er nur ein zufälliges Opfer. Die Sache ist die«, Whittey beugte sich vor, »ich möchte nicht, dass die Zeitungen darüber berichten. Wir haben ein kleines …«, er schwieg einen Moment und schien nach den richtigen Worten zu suchen, »Problem mit dem Gehorsam bei der Polizei. Sehen Sie, unsere Truppe ist erst vor drei Jahren eingerichtet worden, und es ist schwer, die richtigen Männer zu finden.«
»Wie beinahe überall im Land«, warf Thomas ein.
Whittey nickte. »Meine Absicht ist es, ein seriöses Bild unserer Ordnungshüter für die Öffentlichkeit zu zeichnen, denn selbstverständlich lassen die Fehler, die ein paar Taugenichtse in unserer Truppe gemacht haben, an der Autorität meiner Männer zweifeln. Und das ist zurzeit äußerst hinderlich. Schließlich befinden sich unsere Truppen noch im Aufbau.«
»Sie haben drei Abteilungen, richtig?«, fragte Thomas. »Die Tagespolizei, die Nachtwache und die Hafenpolizei.«
Der Senior Officer nickte. »Dieser Mord ist natürlich Angelegenheit der Hafenpolizei.«
»Aber die ist nachts nicht im Einsatz, oder?«, erkundigte sich Thomas.
»Richtig«, bestätigte Whittey. »Immerhin stehen in der ganzen Stadt Wachhäuschen, in denen die Nachtwache Dienst tut.«
»Und ich nehme an, diese Wache hat nichts Ungewöhnliches bemerkt in der Nacht, als Pfarrer Farwell umgekommen ist?«
»So ist es.« Whittey stand auf. »Der Doktor sagt, Farwell wurde erschlagen und anschließend ins Wasser geworfen. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich habe leider schon den nächsten Termin. Ich lasse Sie und Ihre Constables zur Hafenpolizei bringen, die kann Ihnen alle weiteren Fragen beantworten. Aber glauben Sie mir, es ist Zeitverschwendung, sich länger mit der Sache zu befassen. Ich erwarte Ihren Bericht spätestens morgen und werde ihn an den Earl of Wooverlough weiterleiten. Dann dürften alle zufrieden sein.«
Wenig später betrat Thomas mit seinen Constables die neu eingerichtete Polizeistation in der Harbour Street, die von einem hohen schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Das Erste, was er wahrnahm, war der durchdringende Gestank nach Alkohol und Körperausdünstungen und dazu das laute Schnarchen des Diensthabenden, der hinter einer Art Tresen an einem Tisch saß. Thomas sah sich zu seinen beiden Kollegen um. Twicklehurst verzog das Gesicht, während Green sich laut räusperte. Als der schlafende Polizist jedoch nicht reagierte, machte Green sich auf den Weg um den Tresen herum und fegte mit einer ausladenden Handbewegung die Beine des Mannes hinunter, die auf dem wackligen Tisch geruht hatten. Der Polizist fiel polternd zu Boden. Er fluchte, während er langsam zu sich kam. Es dauerte eine Weile, bis er seine Gliedmaßen so weit sortiert hatte, dass er sich schwankend aufrichten konnte. Schwerfällig sah er sich um.
Thomas seufzte. Und der sollte für Ordnung auf den Straßen sorgen!
Ohne zu warten, bis der Mann endlich aufnahmefähig war, begann er: »Guten Tag. Ich bin Inspector Thomas Young von der Metropolitan Police in London und das sind meine Constables Twicklehurst und Green. Wir sind vom Senior Police Officer Whittey gerufen worden, um den Mord an Gerald Farwell aufzuklären.«
Der Diensthabende rieb sich den Kopf und schien immer noch Mühe zu haben, seine Gedanken zu ordnen. Dann spuckte er aus und griff nach der Schnapsflasche, die auf dem Tisch stand. Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, schien er sich langsam zu orientieren. »Farwell? Ach so, der Pfaffe.«
Thomas nickte Twicklehurst zu, seinem Mann fürs Grobe.
Der Constable gab dem Kerl zwei schallende Ohrfeigen. »Reiß dich zusammen. Der Inspector hat wenig Zeit und das Opfer ein Minimum an Respekt verdient.«
»Allmächtiger!« Der Polizist fasste sich an die schmerzende Wange und sah die drei Männer vor sich nun neugierig an. »Was wollen Sie?«
Thomas seufzte ungeduldig. »Sie haben eine Leiche aus dem George’s Basin gefischt?«
Der Polizist kratzte sich nachdenklich im Schritt, dann hellte sich seine Miene auf. »Ja, den Pfaffen. Gestern oder vorgestern war das.« Er wandte sich um und schrie in Richtung des langen Flurs, der sich hinter ihm in der Tiefe des Gebäudes verlor: »Fred!«
Nach einiger Zeit tauchten zwei weitere Polizisten auf. Ihre Uniformen waren stark zerknittert, das Hemd des einen hing aus der Hose, von Uniformjacken war nichts zu sehen. Sie schienen jedoch einigermaßen nüchtern zu sein, was ihr sicherer Gang und die wachsamen Augen erkennen ließen.
Der erste Polizist fragte: »Ihr wart doch gestern da, als der Pfaffe aus dem Wasser gezogen wurde, oder?«
»Ja«, murmelte der Kleinere von ihnen. »Wer will das wissen?«
»Metropolitan Police. Wir sind vom Senior Police Officer hergerufen worden, um den Mord an Gerald Farwell zu untersuchen. Wer ist hier der Verantwortliche?« Thomas war klar, dass sie so nicht weit kommen würden.
»Das bin ich.« Der Mann, dem das Hemd aus der Hose hing, trat vor. »Ich bin Constable Drew, Nummer 813 und Schichtleiter. Ich war am George’s Basin, als die Fischer den Pfaffen rausgezogen haben.«
»Bringen Sie uns bitte zu der Stelle, wo er gefunden wurde. Danach möchte ich den Leichnam sehen«, befahl Thomas.
»Jetzt?«, fragte Drew entsetzt. »Es ist gleich Mittag.«
»Stellt das ein Problem für Sie dar?«, erkundigte sich Thomas, dem der Geduldsfaden bald zu reißen drohte.
»Wir machen eigentlich gleich Pause«, mischte sich der erste Mann wieder ein, der gerade aus dem Tiefschlaf erwacht war.
»Dann bleibt Ihnen wohl nichts anderes übrig, als die Pause zu verschieben«, stellte Thomas nüchtern fest. »Wie weit ist es von hier aus zum George’s Basin?«
»Das ist ein ordentliches Stück«, ergriff nun der Kleinste wieder das Wort. »Sie sollten eine Droschke nehmen. Ist ganz einfach zu finden.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Sie werden uns begleiten. Sie beide, die gestern die Leiche in Augenschein genommen haben. Also, können wir?«
Die Männer warfen sich einen Blick zu, verschwanden dann aber ohne einen weiteren Kommentar, um ihre Röcke zu holen. Thomas atmete tief durch. Er wusste, dass die Polizeibehörden auf dem Land alle noch recht neu waren, und kaum eine von ihnen funktionierte zuverlässig. Die staatliche Polizei war erst vor wenigen Jahren eingeführt worden, bis dahin hatten die Bürger private Wachmänner engagiert, wenn sie ein Verbrechen aufklären wollten. Diese Wachmänner waren fast alle korrupt, versoffen und unfähig gewesen. Viele von ihnen arbeiteten jetzt bei der Polizei. Dabei war der Polizeidienst alles andere als attraktiv – zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Die meisten sahen ihre Arbeit als eine Notlösung an, die sie nur so lange ausführen wollten, bis sie etwas Besseres gefunden hatten. Obwohl Thomas das alles wusste, war er immer wieder erstaunt über die Unzulänglichkeit, die er überall vorfand.
Drew hatte inzwischen seinen Rock übergezogen und wirkte nun beinahe ordentlich.
»Das war ein Raubüberfall«, erklärte er. »Es ist eigentlich nicht nötig, dass Sie sich den Ort anschauen, wo es passiert ist. Hätte auch jeder andere sein können. Das kommt hier immer wieder vor.«
»Nicht nur in Liverpool gibt es Raubüberfälle«, erwiderte Thomas, während sie das Gebäude verließen. »Aber wenn ich einen Bericht über den Mord abliefern soll, muss ich mir selbst ein Bild machen.«
Während sie hinter den Hafenpolizisten her durch die Straßen liefen, verdrängte Thomas seinen Ärger über die unfähigen Männer und konzentrierte sich auf die Umgebung. Sie riefen eine Droschke und Drews Kollege nahm vorn beim Kutscher Platz, während sich die anderen vier Männer in das enge Gefährt zwängten.
Thomas sah aus dem Fenster. Er wusste, dass er ein Verbrechen erst dann aufklären konnte, wenn er das Umfeld des Tatorts genau verstanden hatte. Liverpool war jedoch schwer zu begreifen, das hatte er schon bei der Anreise bemerkt. Thomas war noch nie hier gewesen. Jetzt beobachtete er fasziniert das bunte Treiben, das überall auf den Straßen herrschte. Liverpool war eine Durchreisestadt. Hier lebten die unterschiedlichsten Menschen, viele nur wenige Tage oder Wochen lang, bis sie an Bord eines Schiffes gehen konnten, das sie nach Amerika, ins verheißene Land, brachte.
Thomas zuckte zusammen, als eine Möwe auf die Droschke zuflog und erst im letzten Moment auswich. Sie waren bereits in der Nähe des George’s Basin, und neben einigen Seeleuten, die unschwer an ihren blauen Uniformen zu erkennen waren, gingen die vielfältigsten Männer, Frauen und Kinder. Thomas hörte sie in verschiedenen Sprachen und Dialekten sprechen. In ihren Augen lagen Hoffnung und Angst, Vorfreude und Abschiedsschmerz. Er konnte ihre Gefühle durchaus verstehen. Alles hinter sich zu lassen, in einem neuen Land noch einmal ganz von vorn anzufangen, hatte etwas Wehmütiges und Verheißungsvolles zugleich. Die meisten von ihnen schienen nicht viel Geld zu haben, ihre Kleidung war zerlumpt, das Gepäck schäbig. Er wünschte ihnen, dass sie in ihrer neuen Heimat das fanden, was sie hier vergeblich gesucht hatten. Auch Thomas selbst hatte schon an manch einsamem Abend darüber nachgedacht, sich eine Fahrkarte nach Amerika zu kaufen. Aber im Grunde war er doch zufrieden mit dem, was er erreicht hatte, auch wenn seine Arbeit nicht leicht war und viel zu schlecht bezahlt wurde. Nur der Einsamkeit konnte er nicht entkommen, obgleich er immerhin ein paar wenige Freunde hatte. Er schüttelte sich unwillkürlich, um den Gedanken an Anni gar nicht erst aufkommen zu lassen. Und doch verging kein Tag, an dem er nicht an seine Frau und das kleine Mädchen denken musste. Der Tag seiner Geburt hatte der Anfang eines glücklichen gemeinsamen Lebens sein sollen, stattdessen war er zum schwärzesten Tag in seinem Leben geworden.
»Hier ist es, Sir«, sagte Drew.
Die Kutsche hielt an. Thomas kletterte hinaus und sah sich um.
Auf dem breiten Gehweg herrschte emsiges Treiben. Fässer wurden polternd hin und her gerollt, Kisten gestapelt, und Menschen eilten aufgeregt umher. Familien saßen auf ihren Koffern und warteten darauf, an Bord eines Schiffes gehen zu dürfen. Das Hafenbecken war voller kleiner Boote, deren Masten hoch aufragten. Weiter draußen lagen die großen Dampfer und Segelschiffe vor Anker. Möwen schrien, Karren ratterten über das Kopfsteinpflaster und laute Stimmen ertönten aus allen Richtungen. Es roch nach Fisch und dem Mist des Viehs, das durch die Straßen getrieben wurde.
»Muss hier passiert sein, wenn Sie mich fragen«, sagte Drew, als sie das George’s Dock erreicht hatten. »Da unten hat er sich in einem Haken verfangen.«
»Hier?« Twicklehurst sah in die Tiefe, dann richtete er sich auf und betrachtete die Menschenmenge um ihn herum. »Ist es nicht ein bisschen zu belebt, um hier einen Mann unbemerkt erschlagen zu können und dann ins Wasser zu werfen?«
»Nachts nicht.« Drew schüttelte den Kopf. »Zwischen elf und drei Uhr morgens ist es im Hafen ziemlich ruhig.«
Thomas versuchte, sich den Platz ohne das Menschengewimmel vorzustellen. »In der Nacht scheint dieser Ort gut geeignet zu sein, wenn man jemanden umbringen will.« Er deutete auf die dunklen Ecken, die Toreinfahrten und Fischerboote, die viele Möglichkeiten boten, sich zu verstecken.
»Stimmt«, pflichtete Green ihm bei. »Trotzdem ist es riskant. Auch nachts wird hier immer wieder jemand vorbeikommen.«
»Er soll erschlagen worden sein, bevor er ins Wasser fiel?«, fragte Thomas nach.
Drew nickte.
»Wurde das Tatwerkzeug gefunden?«
Die beiden Polizisten sahen sich ratlos an.
»Haben Sie überhaupt danach gesucht?«
Twicklehurst lief vor Wut rot an, und Thomas war nah daran, die Geduld zu verlieren.
»Ähm, also wir haben nicht gedacht, dass das wichtig ist.« Drew sah hilflos zu seinem Kollegen.
Der hob nun die Schultern. »Er war doch im Wasser, woher sollten wir wissen, dass er erschlagen wurde, bevor er da reinfiel? Das hat der Leichenwäscher erst hinterher gesagt.«
Twicklehurst ging einen Schritt auf die beiden Männer zu, aber Thomas hielt ihn am Ärmel zurück.
»Das hilft uns nicht weiter«, sagte er zu seinem Constable. Er musterte die beiden Polizisten. »Sie schauen sich jetzt nach dem möglichen Tatwerkzeug um, ist das klar?«
Drew zog die Augenbrauen zusammen. »Nichts ist klar. Hier bestimme immer noch ich, wie es läuft, und …«
Thomas nickte Twicklehurst zu, der Drew einen Kinnhaken verpasste. Green kümmerte sich derweil um den anderen Polizisten.
Drew ging sofort zu Boden. Thomas beugte sich über ihn. »Verdammt noch mal, Sie sollen in dieser Stadt für Ordnung sorgen. Aber wie soll das gehen, wenn Sie dermaßen nachlässig arbeiten? Sie folgen ab sofort meinen Anweisungen. Wir brauchen mehr Männer, die sollen den Hafen auf den Kopf stellen und sich nach der Mordwaffe umsehen, auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass sie im Wasser liegt.«
»Männer? Ich hab keine Männer. Miller, Franklin und ich, das ist alles«, nuschelte Drew und tastete vorsichtig nach seinem schmerzenden Kinn. »Aber um drei Uhr kommt die nächste Schicht. Vielleicht können die …?«
Thomas seufzte. Mit diesen Faulpelzen würde er nicht viel anfangen können.
»Bringen Sie uns jetzt ins Leichenschauhaus. Bevor wir das Opfer und seine Verletzungen nicht gesehen haben, können wir hier nicht viel ausrichten«, sagte er zu Drew.
Der Polizist saß noch immer auf dem Boden und schaute Thomas erschrocken an. »Jetzt? Wir haben jetzt Pause.«
»Die Zeit der Pausen ist vorbei, meine Herren.« Thomas machte eine schnelle Handbewegung, und Green und Twicklehurst zogen Drew unsanft auf die Beine. »Ich nehme an, wir brauchen eine Droschke, um zur Leichenhalle zu gelangen?«
Drew sah ihn missmutig an. »Nee, ist nur drei Straßen weiter.«
Schweigend machten sie sich auf den Weg ins Leichenschauhaus, ein langgestrecktes Gebäude in der Nähe des Hafens. Der Geruch von scharfen Reinigungsmitteln, Kräutern und Verwesung stieg ihnen in die Nase, als sie das Haus betraten. Der Schein des Gaslichts zuckte über die Wände des langen Flurs, von dem mehrere Räume abgingen. Das Mordopfer lag in einem der hinteren Zimmer, das sie wenig später betraten.
»Wo ist der Doktor?«, fragte Thomas, während er an den hohen Tisch in der Mitte trat, auf dem das Opfer lag.
»Der ist nicht hier«, antwortete Drew. »Hat eine Praxis zu führen und immer wenig Zeit. Ich hole Jones her, den Leichenwäscher.«
Thomas verdrehte die Augen und zog das fleckige Laken von dem Leichnam. Der Mann, der vor ihm lag, war Gerald Farwell, wie er wusste, der Bruder des Earl of Wooverlough und Pfarrer in Fleetwood, einem kleinen Dorf außerhalb von Liverpool. Er musste in seinen mittleren Jahren gewesen sein. Auch wenn Thomas das von seinem Gesicht nicht ablesen konnte. Er war übel zugerichtet worden.
»Da muss jemand eine ordentliche Wut auf den Pfarrer gehabt haben«, stellte er fest und betrachtete dessen vollkommen zertrümmerte Stirn. Thomas verstummte, als sein Blick über den Körper wanderte.
»Was sind das für Striemen auf dem Oberkörper des Mannes?«
Er sah den Polizisten Miller fragend an, der nur die Schultern zuckte.
Thomas seufzte. So viel Ignoranz und Unfähigkeit waren ihm selten begegnet.
Green und Twicklehurst traten zu ihrem Vorgesetzten.
»Manche der Narben scheinen schon alt zu sein, andere sind noch frisch«, sagte Green und nickte Twicklehurst zu. »Hilf mir mal, ihn umzudrehen.«
Die beiden Männer wälzten den Körper auf den Bauch und verzogen das Gesicht, als sie den von Narben, Striemen und offenen Wunden überzogenen Rücken sahen.
»Was ist dem denn zugestoßen?« Thomas beugte sich über die Leiche.
Green sah ihn fragend an. »Seltsam. Auch manche Striemen sind anscheinend schon Jahre alt, andere dagegen noch recht neu.«
Sie wurden unterbrochen, als Drew mit einem großen hageren Mann in das Zimmer zurückkehrte.
»Inspector?« Er ging auf die drei Männer zu, mit dem gebeugten Gang, der großen Menschen oft anhaftete. »Doktor White ist leider nicht verfügbar.«
»Das habe ich schon gehört. Mr Jones, nehme ich an?«
Der Mann nickte. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel sagen. Für mich sieht es aus, als wäre er mit einem Schlag auf die Stirn niedergestreckt worden, und danach wurde noch mehrmals mit großer Wucht auf ihn eingeprügelt.« Er deutete auf den schwer verletzten Hinterkopf.
»Sieht nach einem großen Gegenstand aus, vermutlich ein Stein oder etwas Ähnliches«, stellte Thomas fest.
»Genau. An der Stirn sehen Sie mehrere Abdrücke, vielleicht von einem Ziegel. Daran ist er jedoch nicht gestorben. Es waren wohl eher die Schläge auf den Hinterkopf, die ihm später zugefügt wurden«, sagte der Leichenwäscher. »Jemand hat ihm den Schädel regelrecht zu Brei geschlagen. Mal was anderes. Nach den ganzen Würgemorden an den Frauen.«
»Welche Würgemorde?« Thomas sah überrascht auf.
»Na die Dirnen, die in den letzten Monaten erwürgt wurden.« Jones schüttelte den Kopf. »Dieses Jahr waren es schon sechs, letztes Jahr sieben.«
»Wie bitte?« Thomas’ Blick wanderte zu Drew.
»Es waren doch nur leichte Mädchen«, stellte dieser klar.
»Und? Was wissen Sie darüber?« Der Inspector konnte sich nur mühsam beherrschen. Musste man dem Kerl denn alles aus der Nase ziehen?
»Was gibt’s da schon groß zu wissen? Dirnen, die Männer mit zu sich nach Hause nehmen. Was denken die denn? Damit muss man rechnen, wenn man so ein Leben führt«, sagte Drew und streckte die Arme in Richtung Decke.
Thomas atmete tief durch. »Jetzt sagen Sie mir bitte nicht, dass Sie in diesen Mordfällen nichts unternommen haben?«
»Was hätten wir denn tun sollen?«, ergriff nun Miller das Wort. »Diese Frauen wurden erwürgt und an Händen und Füßen festgenagelt.«
»Was?« Green trat einen Schritt auf Miller zu. »Festgenagelt?«
Der sah den Constable nur stumm an.
»Mit großen Eisennägeln hat man sie auf die Dielen ihrer Stuben oder an ihre Betten genagelt«, übernahm der Leichenwäscher die Erklärung.
»Sie wurden also gekreuzigt?«, fragte Twicklehurst nach.
Jones schüttelte den Kopf. »Sie starben nicht durch die Nägel. Sie waren schon vorher tot. Bei einer Kreuzigung sterben die Opfer an Organversagen, wenn sie lange Zeit am Kreuz hängen. Hier schien es mehr eine symbolische Bedeutung zu haben.«
Thomas nickte nachdenklich.
»Was waren das für Frauen?«, fragte Twicklehurst. Er hatte ein kleines Buch aus der Tasche genommen, in das er sich jetzt mit einer Bleimine Notizen machte. »Alles leichte Mädchen?«
»Soweit ich weiß, ja«, antwortete Jones.
»Nee, eine von ihnen war Näherin, und ein Küchenmädchen war auch dabei«, mischte sich Drew in die Unterhaltung ein.
»Aber das hat doch alles nichts mit dem Pfarrer zu tun, oder?«, fragte Jones und sah Thomas an.
Der hob die Schultern. »Wohl nicht, nur haben auch diese Frauen ein Recht darauf, dass man das Verbrechen aufklärt, das zu ihrem Tod geführt hat. Ich bin sprachlos, dass in dieser Hinsicht bislang nichts unternommen wurde.«
Immerhin hatte Drew den Anstand, beschämt zu Boden zu blicken, doch Thomas war überzeugt davon, dass er das eher tat, um nicht wieder von den Constables verprügelt zu werden.
»Jones, hatte Mr Farwell irgendetwas bei sich?«, wandte er sich nun an den Leichenwäscher.
»Oh ja, Sir.« Jones verließ den Raum und kam wenig später mit einem Korb zurück, in dem einige Gegenstände lagen. »Hier, das haben wir in den Taschen des Toten gefunden.«
Thomas betrachtete die Sachen, es waren eine goldene Taschenuhr, ein Gebetbuch und ein Schlüsselbund. Der Inspector runzelte die Stirn.
»Wie kommen Sie darauf, dass es sich um einen Raubmord handelte?«, fragte er Drew und Miller.
»Na, der Mann hatte kein Geld in den Taschen.« Drew hob die Augenbrauen. »Nicht mal eine Münze.«
»Und die Taschenuhr?« Thomas schnaubte. »Wie erklären Sie sich, dass der Räuber ein so wertvolles Stück nicht an sich genommen hat, sondern mitsamt dem Leichnam ins Meer geworfen hat?«
»Er hat die Uhr nicht gesehen, nehme ich an«, erwiderte Drew.
Thomas verzog unzufrieden das Gesicht. Er war sicher gewesen, dass sie den Fall schnell abschließen würden, da er ebenfalls vermutet hatte, dass es sich um einen Raubmord handelte. Aber die Indizien passten nicht zusammen.
Er hob den schweren Schlüsselbund hoch. »Und wozu die vielen Schlüssel? Farwell hatte bestimmt genügend Angestellte, die hätten ihm die Tür doch nachts auflassen können.«
»Vielleicht wird das Pfarrhaus abends abgeschlossen und er wollte seine Angestellten nicht wecken«, schlug Green vor.
»Das ist eine mögliche Erklärung«, sagte Thomas, während er nachdenklich den dicken Schlüsselbund betrachtete. »Wann ist es wohl geschehen?«
»Es muss tief in der Nacht passiert sein, denn davor hat seine Haushälterin ihm noch das Abendessen serviert.«
»Wusste sie, dass er ausgehen wollte?«, fragte Thomas.