Die vergessenen Stimmen von Chastle House - Felicity Whitmore - E-Book
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Die vergessenen Stimmen von Chastle House E-Book

Felicity Whitmore

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Beschreibung

Das Echo der Vergangenheit Dione Dearing – mit 27 Jahren bereits ein international gefeierter Popstar – flüchtet vor ihrem fremdbestimmten Leben nach Chastle House, einen alten Familiensitz im englischen Lake District. Aus Dione wird Diana, die erst einmal lernen muss, mit der neu gewonnenen Freiheit umzugehen. Aber dann verliebt sie sich in das verwitterte Haus am See mit seinen knarzenden Dielen und den zugigen Räumen, sie verliebt sich in den spröden Charme der Landschaft – und in den Farmer Aiden. Bis sie entdeckt, dass in den Mauern von Chastle House ein schreckliches Familiengeheimnis begraben liegt.  

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Seitenzahl: 483

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Über das Buch

Dione schüttelte hilflos den Kopf. »Ich muss herausfinden, wer ich eigentlich bin. Ich weiß gar nichts über mich.«

Dione Dearing, 27 und ein international gefeierter Popstar, flüchtet vor ihrem fremdbestimmten Leben nach Chastle House, einen alten Familiensitz im englischen Lake District. Aus Dione wird Diana, die allerdings erst einmal lernen muss, mit der neuen Freiheit umzugehen. Aber dann verliebt sie sich in das alte Haus am See mit seinen knarzenden Dielen und den zugigen Räumen, in den spröden Charme der Landschaft, in ihr neues Leben. Und in den Farmer Aiden, der ihr all dies zeigt. Doch in den Mauern von Chastle House liegt auch ein schreckliches Familiengeheimnis begraben …

 

 

 

 

Für Marlies

Prolog

Manchester, England Januar 2018

Sie ließ sich Zeit. Fast eine Stunde lang warteten ihre Fans schon auf sie. Sein Rücken schmerzte von dem harten Plastikstuhl. Das Konzert war ausverkauft. Marc ließ seinen Blick über die vierunddreißigtausend Menschen gleiten, die gekommen waren, um Dione zu sehen. Vierunddreißigtausend Menschen, die eine Gemeinsamkeit hatten: ihre Begeisterung für Dione. Hinterher würde jeder Einzelne von ihnen wieder seines Weges gehen. Der heutige Abend war nur ein winziger Moment in ihrem Leben. Doch für Marc war es mehr. Dione war der Grund, warum er jeden Morgen aufstand. Zu wissen, dass sie existierte, irgendwo da draußen, gab ihm die Kraft, seine Tage zu meistern.

Heute Abend war das achtunddreißigste Konzert von ihr, das Marc besuchte. Der Gestank von Popcorn und Bier zog zu ihm herüber. Es wurde immer schlimmer. Die Menschen begnügten sich nicht mehr damit, während eines Kinofilms mit ihren Popcorn-Tüten zu rascheln, zu schmatzen oder lautstark Getränke aus ihren Pappbechern zu schlürfen. Nein, jetzt hatten diese Unsitten auch schon bei Konzerten Einzug gehalten. Er wandte seinen Kopf zu dem jungen Paar neben sich. Doch der feindselige Blick, den er den beiden zuwerfen wollte, wurde milde, als er die »Dione – Black Roses in Snow« -T-Shirts sah, die sie trugen. Ihr Bier tranken sie aus »I love Dione«-Plastikbechern. Er hatte die Shirts und die Becher heute schon bei Hunderten von Fans gesehen und freute sich jedes Mal. Er lächelte seine Sitznachbarn an und erntete einen irritierten Blick.

Sie fragten sich mit Sicherheit, warum er hier war. Mit seinem karierten Hemd, dem ungepflegten Vollbart und dem zerzausten Haar passte er nicht in das Meer aus gestylten Zwanzig- bis Vierzigjährigen. Schnell drehte er sich wieder nach vorn und betrachtete die Menge vor der Bühne. Er rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Es war ihm schon lange gleichgültig, was die Leute über ihn dachten. Und der einzige Mensch, bei dem es ihm etwas bedeutete, hatte nicht die geringste Ahnung von seiner Existenz.

Das Publikum wurde langsam unruhig. Erste Pfiffe, fordernde Rufe nach Dione. Marc lehnte sich zurück. Seine Knie stießen an den Plastiksitz vor ihm. Dione galt als Diva, und das war sie vermutlich auch. Über eine Dreiviertelstunde Verspätung hatte sie jetzt schon. Marcs Blick glitt über die Fans hinweg und an den Rängen empor, die bis auf den letzten Platz gefüllt waren, bis zu der hohen Decke aus Metallstreben. Scheinwerfer hingen wie riesige Sterne daran und ein Quader aus vier Bildschirmen, die unablässig Werbung für verschiedene Veranstaltungen zeigten.

Plötzlich wurde die Menge laut. Rufe und Pfiffe gingen in Jubel, Gekreische und aufgeregtes Klatschen über. Marc hatte gar nicht bemerkt, dass die Band auf die Bühne gekommen war. Wie immer elf Musiker, zählte er nach. Auf der Videowand im Hintergrund war der Titel ihrer diesjährigen Tour zu lesen: Black Roses in Snow. Das Stadionlicht erlosch und alles tauchte in angenehme Dunkelheit. Marc ignorierte seinen schmerzenden Rücken und konzentrierte sich auf die Bühne. Sein Sitzplatz war gut. Er hatte seit einigen Jahren einen Deal mit dem Ticketcenter in Lancaster, das ihm eine Karte in der besten Kategorie buchte, sobald ein neues Konzert von Dione in England angekündigt war. Er durfte nicht warten, denn sonst gab es nur noch Plätze weit hinten. Und er wollte ihr so nah wie möglich sein. Wenigstens hier.

Ein lautes Zischen mischte sich unter die Musik. Eine Feuerfontäne schraubte sich in der Mitte der Bühne empor und sprühte unzählige Funken in die Dunkelheit. Marc zwinkerte ins Licht, aber so schnell das Feuer entstanden war, erlosch es auch wieder. Und dort, wo eben noch die Feuersäule gebrannt hatte, stand sie – Dione.

Marc hielt den Atem an und ließ ihren Anblick für einen Moment auf sich wirken. Sie trug ein langes goldenes Kleid. Ihr braunes Haar war hochgesteckt. Einzelne Strähnen hatten sich gelöst. Ihr Bild wurde auf den großen Bildschirmen an der Decke gezeigt. Marc studierte ihr Gesicht, obwohl er es auswendig kannte. Die braunen Augen, die hohen Wangenknochen, die reine Haut. Lange dunkle Wimpern, perfekt geformte Augenbrauen. Und die Stupsnase, diese Nase, die seiner eigenen glich, wie es nur bei Vater und Tochter sein konnte.

Dione öffnete den Mund, und als die ersten Töne ihren Weg zu den Fans fanden, brandete Applaus auf. Das lange Warten war vergessen. Vierunddreißigtausend Menschen hingen wie gebannt an ihren Lippen. Ihr Gesang füllte das Stadion, ließ die begeisterten Zuschauer verstummen und sorgte dafür, dass die Welt jenseits des Konzerts für sie aufhörte zu existieren. Marc tauchte in die Klänge ein, er sog die Musik in sich auf. Ob die Stimme seiner Vorfahrin Katherine wohl ähnlich geklungen hatte? Sie hatte vor vielen Jahren die Menschen ebenso in ihren Bann gezogen, wie Dione es heute tat. Marc betrachtete die faszinierende Frau auf der Bühne und fragte sich, wie viel von Katherine in dieser außergewöhnlichen Künstlerin steckte. Hatte sie ihre kraftvolle und wunderschöne Stimme ihrer Vorfahrin zu verdanken?

Er versuchte, sich Diones Stimme vorzustellen, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Wann hatte sie diesen vollen Klang angenommen, die Kraft gefunden, die sie heute besaß? Wann war aus dem kleinen Wesen, das er damals in den Armen gehalten hatte, diese schöne Frau geworden? Tränen liefen über seine Wangen. Marc weinte sonst nie. Nur wenn er es sich erlaubte, einen kurzen Augenblick lang darüber nachzudenken, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er damals eine andere Entscheidung getroffen hätte. Er fuhr sich über die Wangen und suchte in der Jacke nach einem Taschentuch.

Er hatte alles richtig gemacht. Diesen Satz hatte er sich immer wieder gesagt. Und in Momenten wie diesem, wenn er sie strahlend und glücklich auf der Bühne sah, die hübscheste, talentierteste und beliebteste Frau der Welt, dann wusste er, dass er recht hatte. Was hätte er ihr bieten können, wenn sie bei ihm aufgewachsen wäre? Er dachte an Woodland House, das eher eine Ruine als ein Zuhause war. Undenkbar, Dione dort auch nur einen Tag unterzubringen. Und Chastle House? Ja, es war früher eines der schönsten Landhäuser des Lake Districts gewesen, aber es lastete ein uralter Fluch darauf, der ein Leben darin unmöglich machte. Zu schreckliche Dinge waren dort geschehen. Dennoch gelang es seiner Familie nicht, sich von diesem Haus zu trennen, das bis heute die Spuren jener tragischen Ereignisse in sich barg. Und statt es hier und da zu modernisieren, gab Marc das bisschen Geld, das er erübrigen konnte, immer wieder für Konzertkarten, DVDs und Alben von Dione aus.

Er seufzte und betrachtete die strahlende Frau auf der Bühne. Chastle House war gefährlich für Dione. Das Anwesen hatte schon zu viele Leben gekostet. Außerdem wäre es ihrer nicht würdig gewesen. Er schüttelte den Kopf, während er Diones perfekte Tanzschritte beobachtete. Aber es war nicht Chastle House, das ihn zu der folgenreichen Entscheidung in jener Nacht getrieben hatte. Es war Monica gewesen. Er hatte ihr nie einen Wunsch abschlagen können. Marc wischte sich über das tränennasse Gesicht. Das Unrecht, das er und Monica getan hatten, lastete schwer wie Blei auf ihm.

Marc konzentrierte sich wieder auf Diones Lied, Black Roses in Snow. Es erzählte die traurige Geschichte eines toten Babys. Ob Monica ihrer Tochter Dione wohl jemals von der Nacht ihrer Geburt erzählt hatte? Das war kaum vorstellbar. In jener Nacht hatte die große Lüge ihren Anfang genommen. Monica gab seither Arthur van Riga als Diones Vater an. Das hatten sie damals gemeinsam beschlossen und Monica würde eine solche Entscheidung nie rückgängig machen. Marc bewunderte sie für ihre Stärke. Sie hatte die Wahrheit weggesteckt und war zu einem neuen Menschen geworden. Die Monica, die er gekannt und geliebt hatte, gab es nicht mehr.

Sosehr Marc sich auch wünschte, dass Dione von seiner Existenz erfuhr, so sehr bemühte er sich, es zu verhindern. Die Wahrheit würde Dione zerstören. Oder unterschätzte er seine Tochter? Vielleicht war sie ja stärker, als er dachte. Wenn er sie da vorn auf der Bühne sah, wirkte sie so mächtig. Eine Frau, die alles erreichen konnte, was sie wollte. Konnte die Wahrheit sie wirklich zerstören? Oder war sie nicht viel zu stark, um von dem Fluch, der auf Chastle House lag, vernichtet zu werden? Er kannte Dione nicht. Aber hatte sie nicht das Recht, zu erfahren, wer sie wirklich war? Woher sie kam? Woher ihre Familie stammte? Es war viel von Katherine in Dione zu erkennen und Katherines Geschichte war Teil von ihr.

Während er ihrem Lied Black Roses in Snow lauschte, fasste Marc einen Entschluss.

Er würde morgen zu seinem Anwalt gehen. Wenn Dione stark genug wäre, würde sie die Wahrheit ertragen. Und sie würde die ganze Wahrheit herausfinden wollen. Seine Tochter würde wissen wollen, woher sie kam, und so lange suchen, bis sie alle Puzzleteile zusammensetzen konnte. Sie würde das Geheimnis ihrer Familie lüften und einen Weg finden, damit umzugehen. Es würde Dione zu einem neuen Menschen machen, das war klar. Marc hatte lange Jahre darüber nachgedacht, ob er ihr diesen Weg eröffnen sollte. Dione musste selbst entscheiden, ob sie ihn gehen wollte.

Vielleicht zog sie es aber auch vor, in ihrem gläsernen Märchenschloss sitzen zu bleiben und glücklich zu sein. Dann würde sie niemals nach Chastle House gehen. Das Haus würde verfallen und vergessen werden und mit ihm all seine Geheimnisse und die Geschichte der Menschen, die dort gelebt hatten – auch Monicas und Marcs Vergangenheit. Marc spürte Erleichterung, als er an diese Möglichkeit dachte.

Kapitel 1

Das Alhambra, Leicester Square, LondonMärz 1866

Henry starrte aus dem Fenster der Kutsche in den Regen hinaus. Sie näherten sich dem Leicester Square, einer Gegend, die er niemals aus freien Stücken besucht hätte. Er betrachtete die Restaurants, die sich in den Seitenstraßen dicht aneinanderdrängten. Durch ihre schmutzigen, regennassen Scheiben konnte er Gestalten an kleinen Tischen sitzen sehen. Nicht ein einziges englisches Restaurant war zu erkennen. Dafür reihten sich arabische an türkische, deutsche, spanische und italienische Lokale. Leere Holzkisten, Speisereste, Papiertüten und faulige Bretter lagen auf dem Gehweg herum. Der Gestank von Knoblauch und fremdländischen Gewürzen drang bis in das Innere der Kutsche und verursachte ihm Übelkeit. Henry tastete nach seinem Taschentuch und presste es sich gegen Mund und Nase. Sein Blick wanderte wieder zum Fenster seiner Equipage. Das Licht der Gaslaternen spiegelte sich in den Pfützen. Zwei in Lumpen gekleidete Männer wankten über die Straße. Henry hörte seinen Kutscher laut schimpfen, als er ihnen auswich. Eine Frau ohne männliche Begleitung lief den Gehweg entlang. Henry zog die Stirn in Falten. Was für eine fragwürdige Gegend! Er wandte den Blick vom Fenster ab und betrachtete seinen Freund, der mit ihm in der Kutsche saß.

George Bewick studierte das Programm des Alhambra. »Was hat Katherine gesagt, wo sie heute Abend hingeht?«

Henrys Augenbrauen zogen sich zusammen, während er seine Fingernägel wütend in den weichen Samtbezug der Equipage bohrte. »In die Kirche. Zum Bibelstudium …«

Henry bemerkte, dass sein Freund grinsen musste. Das machte ihn noch wütender. »Ich freue mich, dass dich mein Schicksal so sehr amüsiert.«

»Entschuldige, alter Freund.« George setzte eine ernste Miene auf. »Aber es ist schon eine Ausrede, die sehr weit hergeholt ist, falls unser Detektiv tatsächlich recht haben sollte. Immerhin hat er deine Frau dabei beobachtet, wie sie jeden Tag im Alhambra verschwunden ist.«

»Das brauchst du mir nicht zu sagen«, brummte Henry und sah, wie die Kutsche auf den Leicester Square einbog. Das Denkmal des Reiters, das in der Mitte des Parks stand, wirkte wie ein Botschafter der schäbigen Umgebung. Die Nase seines Pferdes war zerbrochen, die Beine des Reiters waren verrottet.

»Diese Gegend hat nun wahrlich nichts Klösterliches«, sagte Henry zornig. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte er Katherine so lange geglaubt, als sie sich Abend für Abend davonstahl? In den letzten Monaten hatte er sie kaum gesehen. Tagsüber hatte sie Besuche gemacht und abends war sie zur Kirche gegangen, das jedenfalls hatte Katherine behauptet.

»Es ist nicht gut, eine Amerikanerin zu heiraten«, sagte George. Er strich seinen weißen Seidenschal glatt und griff nach dem vergoldeten Spazierstock, den er an den Sitz der Kutsche gelehnt hatte. »Und wenn die Familie noch so reich ist … Sie sind zügellos und haben nicht die Manieren unserer englischen Ladys.«

»Du weißt, dass ich keine Wahl hatte.« Henry setzte seinen Hut auf und sah wieder aus dem Fenster.

Die Kutsche hatte vor der goldenen Fassade des Alhambra angehalten. Für die einen war das Alhambra Londons beliebteste Music Hall, für die anderen ein Sündenpfuhl. Henry war bislang noch nicht hier gewesen, aber er war geneigt, sich letzterer Meinung anzuschließen.

»Katherine ist eine Augenweide, damit hast du nichts falsch gemacht«, sagte George, der aus der Kutsche kletterte.

Henry schnaubte und folgte seinem Freund. Sicher, Katherine war wunderschön, die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Während Henry seinen Fuß auf das Trittbrett der Equipage stellte, dachte er an ihr kastanienbraunes dickes Haar, das sie häufig nur locker zusammenbinden ließ, sodass sich im Laufe des Tages immer mehr Haarsträhnen lösten. Henrys Mutter, Lady Deborah, schimpfte oft über die derangierte Frisur ihrer Schwiegertochter, aber Henry gefiel es, wenn sich Katherines Haar selbstständig machte. Zusammen mit den dunklen Augen, den langen, geschwungenen Wimpern und den vollen Lippen gab es ihr ein exotisches, beinahe wildes Aussehen. Natürlich hätte Henry das niemals zugegeben. Aber als er in die Ehe eingewilligt hatte, war es in erster Linie ihre Schönheit gewesen, die ihn an den Erfolg dieser Verbindung hatte glauben lassen. Und die Erleichterung seiner Mutter, die er deutlich hatte spüren können.

Während er den Kutscher fortschickte, erinnerte er sich an die Verzweiflung Lady Deborahs, als sie erfahren hatte, wie schlimm es damals um die Finanzen der Familie stand. Denn nach dem frühen Tod von Henrys Vater hatten sie eine böse Überraschung erlebt. Das gesamte Familienvermögen war verspielt und für liederliche Frauen ausgegeben worden. Noch heute, drei Jahre nach dem Tod seines Vaters, traten immer wieder Frauen an Henry heran, die um Unterhalt für ihre Kinder baten, deren Vater angeblich der verstorbene siebte Lord of Cleveland gewesen war. Henry regte sich schon lange nicht mehr darüber auf. Er glaubte ihnen sogar. Doch zahlen konnte er nichts für diese Kinder, denn sie waren selbst in größte finanzielle Bedrängnis geraten. In den ersten beiden Jahren, als er den Titel des achten Lords of Cleveland trug, hatte er nachts kaum schlafen können vor Geldsorgen. Er hatte große Landstriche im Lake District verkaufen müssen, um den äußeren Schein wahren zu können. Doch über kurz oder lang hätten sie sich auch von Cleveland House, ihrem Londoner Stadthaus, trennen müssen, das Unsummen an Geld verschlang. Henry und seine Mutter, Lady Deborah, hätten ausschließlich in Chastle House im Lake District wohnen müssen und an der Londoner Saison nicht mehr teilnehmen können. Keine Bälle in den vornehmsten Häusern der Hauptstadt, keine Dinner-Gesellschaften und auch keine Besuche mehr in Henrys exklusivem Club. Es hätte den gesellschaftlichen Abstieg für die Familie bedeutet.

Henry rümpfte die Nase, als er einem verlaust aussehenden Mann auswich, der ihm seinen Hut entgegenhielt. Er seufzte und suchte in der Tasche nach einem Penny, den er in den durchlöcherten Zylinder warf. Was für ein Glück, dass Joseph Patton, ein kränklicher New Yorker Millionär, in den englischen Adel aufsteigen wollte und dass der Name der Lords of Cleveland noch immer hoch im Kurs stand. So hatte Henry damals nicht lange gezögert, als Patton ihm eine ordentliche Mitgift in Aussicht stellte, und hatte um Katherines Hand angehalten. Die Heirat hatte Henrys finanzielle Sorgen mit einem Schlag beseitigt. Und welches Ehepaar heiratete schon aus Liebe?

Henry blickte an der Fassade des Alhambra empor. Das Gebäude war etwa fünf Stockwerke hoch, vergoldete Türmchen, orientalisch anmutende Minarette und Figuren zierten die beige gestrichene Front. Natürlich hatte Henry vor der Hochzeit nicht gewusst, wie starrsinnig und beinahe Furcht einflößend Katherine sein konnte. Henry drückte den Hut fester auf den Kopf, um sich gegen den stürmischen Wind zu schützen. Wenn es nur die Liebe wäre, die in ihrer Ehe fehlte! Aber es war so viel mehr. Sie waren von Grund auf verschieden, es schien keinerlei Gemeinsamkeit zu geben. Die erste unangenehme Überraschung hatte Henry bereits in seiner Hochzeitsnacht erlebt. Katherine hatte sich geweigert, das Bett mit ihm zu teilen. Und Henry, der es nicht einmal schaffte, sein Pferd zu peitschen, damit es schneller lief, hatte sich seine Rechte nicht mit Gewalt nehmen wollen. Trotzdem war er alles andere als zufrieden, wenn er daran dachte, dass seine Ehe nun zwar seit zehn Monaten bestand, aber bisher noch nicht vollzogen worden war. Lady Deborah schien zu ahnen, dass Katherine sich weigerte, ihre Pflichten als Ehefrau zu erfüllen, denn sie machte immer wieder spitze Bemerkungen ihrer Schwiegertochter gegenüber und lag Henry mit dem Wunsch nach einem Enkel in den Ohren.

Henry schrak zurück, als zwei Jungen vor ihm auftauchten, die sich lautstark um eine weggeworfene Zigarre stritten. Er wich ihnen aus und folgte George zum Eingang der Music Hall. Dabei erinnerte er sich an die Teegesellschaft in der letzten Woche, bei der Katherine behauptet hatte, den Frauen müsse ein Wahlrecht zustehen. Die anderen Gäste hatten peinlich berührt weggeschaut. Nur Sir Gerald hatte den Fehler begangen, sich auf eine Diskussion mit ihr einzulassen, die er natürlich nicht hatte gewinnen können. Henry war froh, als sie hinterher wieder in ihrer Equipage saßen.

Katherine brachte Henry immer wieder in unangenehme Situationen. Sie fügte sich einfach nicht in die englische Gesellschaft ein, schlimmer noch, sie schien ihren Mann geradezu provozieren zu wollen. Sie war wild wie ein kleiner Junge, brach mit jeder Tradition und hielt anscheinend nichts von Konventionen. Wie oft schon hatte sie Henry bei einem Dinner mit einer unangemessenen Bemerkung in Verlegenheit gebracht! Als sie im Winter auf ihrem Familiensitz im Lake District gewesen waren, hatte er beobachtet, wie sie rittlings auf dem Rücken eines Pferdes gesessen hatte. Dazu trug sie weite Hosen wie ein Mann. Und am Weihnachtstag wollte sie tanzen gehen. Henry musste all seine Überzeugungskraft aufbringen, bevor sie einlenkte und am traditionellen Weihnachtsessen teilnahm.

Henry folgte George durch die Menschenmenge. Er reichte dem Jungen, der ihnen die Tür zum Alhambra geöffnet hatte, einen Shilling und George führte ihn ins Innere des imposanten Gebäudes, das die Ostseite des Leicester Square dominierte.

Henry sah sich um, sobald sie das Foyer betreten hatten. Im Empfangsraum gab es eine Theke, hinter der ein junger Mann mit harten Gesichtszügen stand. George gab ihm etwas Geld und erhielt dafür zwei kleine runde Blechstücke, in die Löcher und Buchstaben eingestanzt waren.

»Was ist das?« Henry nahm eines davon von seinem Freund entgegen.

»Unsere Eintrittskarten.« George grinste. »Und jetzt mach nicht so ein griesgrämiges Gesicht. Wir wissen doch gar nicht, ob sie auch wirklich hier ist.«

Henry schnaubte und folgte George eine kurze Treppe hinauf. Unfassbar, wenn die Aussage des Detektivs, den George in Henrys Auftrag engagiert hatte, stimmen sollte!

An einer Tür stand ein Mann in roter Uniform, der ihnen die Eintrittskarten abnahm. Nachdem Henry die Tür passiert hatte, fand er sich vor einer hölzernen Schranke wieder. Um sie herum herrschte dichtes Gedränge. Wie sollten sie Katherine hier jemals finden? Henry sah über die Schranke hinweg auf eine erhöhte Bühne. Er konnte Bühnenlichter und schamlos entblößte Beine von Ballettmädchen erkennen. Dies schien wahrhaftig kein angemessener Ort für eine Dame zu sein!

George kämpfte sich an den vielen Besuchern vorbei, die den Gang füllten, der rund um das Erdgeschoss des großen Gebäudes verlief. Eine Gruppe junger Damen, die rauchend beisammenstanden, machte ihnen Platz. Henry errötete unter den aufreizenden Blicken, die sie ihm zuwarfen. So weit war es also schon gekommen, dass Frauen sich mit Zigaretten in der Öffentlichkeit zeigten! Henry entdeckte seitlich eine Bar, wo sich verschiedene Barmädchen um die meist männlichen Besucher kümmerten. Aber auch gut gekleidete Damen standen an hohen Tischen, lachten lautstark und warfen den Herren kokette Blicke zu. In ihren Händen hielten sie Cocktail- oder Champagnergläser. Manche der Damen schienen sogar Whiskey zu trinken. Henry presste die Lippen aufeinander und bemühte sich, keiner von ihnen zu lange in die Augen zu schauen.

George führte ihn in den Hauptraum, wo sich die Bühne befand. An der Tür mussten sie einen weiteren Shilling pro Person bezahlen. Hier saßen an weiß gedeckten Tischen elegant gekleidete Menschen beim Dinner und verfolgten die Bühnenshow. Der Geruch von gebratenem Fisch, Parfüm, Alkohol und Zigarettenrauch lag in der Luft. Henry dachte mit Unbehagen daran, dass auch Freunde von ihm durchaus hier zu Gast sein konnten. Er war nicht besonders erpicht darauf, an einem Ort wie diesem gesehen zu werden. Er ließ seinen Blick über die dinierenden Gäste schweifen. Reihe für Reihe, Tisch für Tisch suchte er nach dem Gesicht seiner Frau. Mit wem würde sie hier sein? Ob sie sich wohl in Männerbegleitung befand? Es hätte Henry nicht einmal gewundert. Katherine tat, was sie wollte, und Henry war nicht Manns genug, ihr Einhalt zu gebieten. Das musste sich ändern!

Er taxierte weiter die Menschenmenge. Allein an den Tischen hatten bestimmt achthundert Gäste Platz. Aber von Katherine keine Spur! Er sah an den vier übereinanderliegenden Galerien hinauf, auf denen sich überall weitere Gäste drängten. Henry erschrak beim Anblick der vielen Bars und Barmädchen, die sich in den Gängen der Ränge befanden. Fassungslos schüttelte er den Kopf. Hier schienen sich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu treffen. An den Tischen saßen Herrschaften in teurer Abendgarderobe. Henry nahm Nerzmäntel und Edelsteine wahr, Seiden- und Spitzenstoffe, die blank geputzten Lackschuhe der Herren und die blitzenden Taschenuhren.

Er atmete tief aus. »Wenn Katherine tatsächlich so skrupellos ist und meine Gutmütigkeit ausnutzt, um sich hier allabendlich zu amüsieren, ist meine Geduld jetzt am Ende. Dann werde ich andere Saiten aufziehen.«

George betrachtete ihn von der Seite. »Willst du das wirklich, alter Freund?«

»Was meinst du damit?« Henry starrte auf die Balletttänzerinnen auf der Bühne. Sie waren gut, das musste er zugeben, sehr gut sogar. Und sie geizten nicht mit ihren Reizen. Die Röcke waren ungebührlich kurz und Henry wurde beim Anblick der kräftigen Beine schwindelig. Keine anständige Dame würde so viel nackte Haut zeigen. Fasziniert starrte er auf die geschmeidigen Bewegungen.

»Du warst doch froh, dass sie ihre eigenen Wege gegangen ist, oder nicht?«, hörte Henry seinen Freund fragen.

Er riss sich von dem Anblick der Mädchen los. »Was willst du damit sagen?«

»Wenn du mehr Interesse an ihr gezeigt hättest, wäre dir viel früher aufgefallen, dass sie etwas im Schilde führt. Vielleicht hätte sie sich dann gar nicht erst auf ein solches Abenteuer eingelassen.« George lehnte sich an eine der Marmorsäulen der großen Halle.

Henry wollte seinem Freund widersprechen, schluckte die Worte jedoch hinunter. George hatte ja recht. Er war mit Katherine vollkommen überfordert. Sie war so stark und unabhängig, dass er sich in ihrer Gegenwart wie ein kleiner Junge vorkam. Sie wirbelte wie eine Sturmflut über ihn hinweg.

George führte ihn wieder aus dem großen Saal hinaus in die untere der vier Galerien. Jetzt konnte Henry die Bar aus der Nähe betrachten. Sie war mit prächtigen Flaschen ausgestattet und Henry war erstaunt über die zahlreichen Messingbierpumpen, die Zinn- und Silbertöpfe, die Humpen und ovalen Glasbehälter mit Pasteten, Sandwiches und allen Arten von Lebensmitteln, um den Durst und Appetit des Publikums zu befriedigen. An den Tischen saßen Herren und rauchten in Gegenwart von Damen Zigarren. Henry schüttelte immer wieder den Kopf. Die Welt schien im Inneren des Alhambra aus den Fugen geraten zu sein, die alten Regeln galten hier nicht mehr.

George kämpfte sich durch das Gedränge an die Bar und bestellte zwei Whiskeys. Während er Henry zu einer Balustrade führte, betrachtete Henry die Männer und Frauen, die viel zu dicht aneinander vorbeiliefen, am Geländer standen und grob miteinander flirteten. George hatte zwei Plätze direkt an der Balustrade gefunden, die sie nun einnahmen. Von hier aus hatten sie einen guten Blick über den Hauptraum hinweg auf die Bühne.

Henry suchte die Menge immer wieder nach Katherine ab. Ungefähr die Hälfte der Gäste schienen Frauen zu sein. Henry hatte am Eingang bemerkt, dass sie hier auch ohne männliche Begleitung eingelassen wurden. Er hatte durchaus schon von diesen neumodischen Marotten gehört, missbilligte sie jedoch aufs Schärfste. Kopfschüttelnd konzentrierte Henry sich auf das Geschehen auf der Bühne.

Das Stimmengewirr um ihn herum vermischte sich mit der Orchestermusik. Es musste sich um ein großes Orchester handeln, Henry schätzte es dem Klang nach auf mindestens fünfzig Musiker. Das helle Gaslicht ließ den Schmuck der Damen um ihn herum funkeln. Die Balletttänzerinnen und die strahlende Kulisse auf der Bühne vermittelten den Eindruck, als befände man sich in einer fremden Fantasiewelt. Weit entfernt schienen plötzlich der schäbige Leicester Square, die verrottete Reiterstatue und die regennassen Londoner Straßen.

Henrys Fuß wippte im Takt der Musik. Die Tanzmädchen schwangen lange Bänder, die im Schein der Gaslampen glänzten. Mit unglaublicher Gelenkigkeit warfen sie ihre Beine hoch. Nach wenigen Minuten hatte Henry alles um sich herum vergessen und verfolgte atemlos die Geschichte, die auf der Bühne erzählt wurde. Immer wieder tauchten neue Tänzerinnen auf. Die einen trugen blau schimmernde lange Kleider mit großen Pfauenfedern am Rücken. Die anderen waren in knappe goldene Seidenkleider gehüllt und hielten bunte Fächer in den Händen. Henry hätte wegsehen müssen, denn die Kleider waren unanständig kurz und die Dekolletés so tief, dass die Brüste beinahe herausfielen, aber er schaffte es nicht. Noch nie hatte er etwas so Verführerisches gesehen, noch nie hatte ihn etwas dermaßen in Erregung versetzt wie diese Ballettmädchen. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, tastete nach einem Taschentuch und tupfte sich über die feuchte Stirn.

»Nicht schlecht, oder?« George prostete ihm zu.

Henry fühlte sich ertappt. Er zog die Schultern hoch.

Das Orchester hatte geendet, die Tänzerinnen verneigten sich und verschwanden in den Kulissen.

Ein Conférencier in Frack und Zylinder betrat die Bühne. Die Menschen an den Tischen hingen gespannt an seinen Lippen. Henry musste sich anstrengen, um seine Worte aus der Entfernung zu verstehen.

Der Mann breitete die Arme aus und rief: »Kommen wir nun zu einem Höhepunkt unseres Programms – dem Stern des Westens. Direkt von den Great Plains zu uns gekommen, voller neuer Abenteuer mit wilden Tieren, Fallenstellern, Cowboys und Indianern. Meine Damen und Herren: Mountain Kenny!«

Unter lautem Applaus knallten Peitschen und vier Männer rannten auf die Bühne. Sie schwangen Lassos durch die Luft und führten einen wilden Tanz auf. Nach einigen Takten sprang ein junger Mann in langen Lederhosen, kariertem Hemd und Hut herbei, der mit spektakulären Saltos durch die Luft wirbelte.

Henry trank einen Schluck Whiskey und betrachtete amüsiert das unbändige Geschehen. Als der Cowboy zu singen begann, musste er schmunzeln. Er konnte zwar kein Wort verstehen, da die Musik und die Geräusche um ihn herum viel zu laut waren, aber es musste sich um einen lustigen Text handeln, denn die Zuschauer brachen immer wieder in Gelächter aus. Henry erheiterten die parodistischen Gesten, und als der Cowboy sich mit den vier Tänzern eine nachgestellte Schlägerei lieferte, musste selbst er laut lachen.

Nachdem der Junge mit seiner Darbietung geendet hatte, lüpfte er seinen Hut und eine üppige Haarpracht wallte ihm über den Rücken. Henry hielt überrascht die Luft an, als er erkannte, dass der Cowboy kein Mann, sondern eine junge Frau war.

»Da hol mich doch …«, murmelte George neben ihm.

Erst jetzt begriff Henry, was seinen Freund so aus der Fassung gebracht hatte. Er sprang auf. Mountain Kenny war Katherine, die achte Lady of Cleveland, Henrys Ehefrau!

Er starrte fassungslos auf die Bühne. Katherine verbeugte sich wie ein Mann. Ihr glänzendes Haar flog durch die Luft. Die Menschen applaudierten ihr, sie pfiffen und johlten. Katherine winkte ihnen zu und verschwand dann hinter den Kulissen. Der Conférencier kehrte zurück und kündigte eine Pause an. Henry hörte ihm kaum zu. George war zur Bar gegangen und kehrte jetzt mit zwei großen Whiskeys zurück.

»Das ist ja ein Ding«, sagte George und reichte ihm seinen Drink.

Henry konnte nicht begreifen, was er da gerade gesehen hatte. Wie war es möglich, dass seine Frau ihn so hintergangen hatte? Er hätte doch irgendetwas bemerken müssen. Woher konnte Katherine diese wilden Tänze, die Saltos und Sprünge? Sie besaß die Fähigkeiten eines billigen Showgirls, auf das jeder nur herabsah. Schauspieler, Tänzer und Sänger waren fragwürdige Existenzen und Henry würde seiner Frau niemals erlauben, mit einer dieser Kreaturen Umgang zu pflegen.

»Die Frage ist«, riss Georges Stimme ihn wieder in die Gegenwart, »was du jetzt tun willst.«

Henry ließ sich auf den Stuhl sinken und stellte das Whiskeyglas gedankenverloren auf seinem Knie ab. »Ich werde ihr die Hölle heißmachen.«

»Glaubst du, dass das die richtige Lösung ist?« George lächelte einer hübschen Blondine zu, die neben ihnen Platz genommen hatte.

»Was meinst du denn, was ich tun sollte? Ihr Beifall spenden und all unsere Bekannten hierher einladen?« Henry zog wütend die Augenbrauen zusammen. »Am besten vielleicht noch meine Mutter?«

Henry stürzte den Whiskey hinunter. Er wollte sich nicht ausmalen, wie Lady Deborah reagieren würde, wenn sie wüsste, womit sich ihre Schwiegertochter die Abende vertrieb.

George grinste. »Nein. Aber überleg doch mal. Wenn Katherine dich so übel an der Nase herumführt, dann wird sie mit Sicherheit auch noch weiter gehen.«

Henry sah seinen Freund an. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

George trank einen Schluck und sah in den Saal hinunter, der sich zur Hälfte geleert hatte. Henry folgte seinem Blick. Vermutlich nutzten die Zuschauer die Pause, um durch das große Gebäude zu flanieren.

»Falls Katherine dich mit einem anderen Mann betrügen würde, könntest du dich ohne Probleme scheiden lassen …«

Henry starrte George an. Darüber hatte er bisher noch nicht nachgedacht. Er nickte langsam. »Eine Scheidung ist nur möglich, wenn ich nachweisen kann, dass sie mich betrügt.«

»Die Mitgift würde jedoch bei dir bleiben«, warf George ein.

Henry stieß einen Pfiff aus. »Du hast recht. Aber wie können wir sicher sein, dass sie mich auch wirklich betrügt?«

»Sie arbeitet als Schauspielerin. Du weißt, wie diese Leute sind.« George warf einen abfälligen Blick auf die leere Bühne, als würden die Bretter darauf alles über diese fragwürdigen Subjekte erzählen.

Henry schnaubte wieder. »Arbeiten! Eine Frau hat nicht zu arbeiten und erst recht nicht die achte Lady of Cleveland.«

»Sie wird es nicht wegen des Geldes tun, sondern aus frevelhafteren Gründen. Sie ist zügellos, die englische Gesellschaft langweilt sie und sie sucht hier nach Abenteuern. Abenteuer, die dir Nutzen bringen können, wenn du deine Karten gut ausspielst.«

»Ich weiß nicht …« Henry sah nachdenklich in sein leeres Glas.

»Hast du etwa Skrupel? Nimmst du Rücksicht auf eine Frau, die mit Sicherheit noch zu ganz anderen Lügen bereit ist? Willst du darauf warten, dass sie dir einen Bastard ins Haus bringt, der eines Tages dein Erbe antreten wird?« George sah ihn abwartend an.

Henry schloss einen Moment lang die Augen. Um ihn herum lachten die Menschen, sie amüsierten sich. Während Henrys Welt gerade eine weitere Erschütterung erlitten hatte, ging das Leben um ihn herum weiter. War es ein Fehler gewesen, Katherine zu heiraten? Nein, zweihundertfünfzigtausend Pfund Mitgift konnten kein Fehler sein. Und natürlich hatte George recht. Wenn Katherine ihn betrog, dann konnte er sich scheiden lassen. Katherine, die sich von Anfang an in London nicht wohlgefühlt hatte, würde zurück nach New York gehen.

Henry öffnete die Augen wieder und betrachtete seinen Freund. »Aber wie sollen wir ihr eine Affäre nachweisen?«

»Dafür haben wir den Detektiv. Er hat schon einmal gute Arbeit geleistet, indem er uns hierhergeführt hat.« George lehnte sich zurück und schlug die stämmigen Beine übereinander.

Henry schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht wohl dabei, einem Fremden diese Aufgabe zu erteilen. Solche Detektive sind wie Fähnchen im Wind. Wenn ihnen jemand mehr Geld für eine Information bezahlt, werden sie indiskret, und einen Skandal kann ich mir nicht leisten.«

»Mein Junge, es wird so oder so zu einem Eklat kommen, wenn du auf eine Scheidung bestehst.« George strich sich über den braunen Vollbart.

Henry musste seinem Freund zustimmen. Trotzdem wollte er Katherine nicht dem Wohlwollen eines Fremden aussetzen. »Aber im Falle einer Scheidung wäre dieser Eklat von mir selbst initiiert. Andernfalls würde ich zum Gespött der Leute werden.« Henry stand auf und trat an die Holzbalustrade heran. »Nein, mein Freund, das kann ich nicht riskieren. Ich werde mich selbst auf die Lauer legen.«

George war ihm gefolgt und stand jetzt neben ihm. »Henry, sei vernünftig. Sie würde dich sofort erkennen.«

»Bei den vielen Menschen? Unmöglich!« Henry machte eine weit ausholende Handbewegung.

»Sie wird dich nicht auf der Bühne hintergehen. Du müsstest dich hinter die Kulissen stehlen und sie von dort aus beobachten. Und wie willst du das schaffen?« George lehnte sich gegen das Geländer und strich sein schütteres Haar zurück.

Henry dachte einen Moment lang nach. »Ich werde die Stadt offiziell verlassen und mich dann zurückschleichen. Ein so großer Betrieb wie das Alhambra hat sicher mehrere Hundert Bedienstete, Schauspieler und Tänzerinnen. Ich werde es schon irgendwie schaffen, mich unbemerkt unter sie zu mischen.«

George grinste. »Ein waghalsiger Plan, aber eine Frau wie Katherine ist gefährlich. Unberechenbar und ohne jeglichen Anstand«, sagte er und stellte sein Glas auf einem der Tische ab. »Lass uns in die Kantine hinuntergehen. Wie man hört, treffen sich die Ballettmädchen in der Pause dort mit spendierfreudigen Herren. Wenn wir Glück haben, finden wir auch Katherine unter ihnen.«

»Aber Katherine kann ihren Drink selbst bezahlen.« Henry griff nach seinem Stock und folgte George in den inzwischen nur noch halb vollen Hauptsaal. Servierfräulein und Kellner liefen zwischen den Tischreihen hin und her und trugen die leeren Teller fort.

Henry betrachtete den roten Samtvorhang, der die Bühne verdeckte. Von hier aus konnte man die Darsteller viel besser sehen. Er würde beim nächsten Mal an einem dieser Tische Platz nehmen und sich das Geschehen auf den Brettern aus nächster Nähe anschauen.

Während er George durch den Saal folgte, dachte er wieder an den wilden Cowboy, den er vorhin auf der Bühne gesehen hatte. Katherine hatte so sicher gewirkt. Es war, als hätte sie schon seit Jahren nichts anderes getan, als die Menschen hier in Gestalt von Mountain Kenny zu unterhalten. Ja, sie schien Mountain Kenny zu sein! Wenn Henry es nicht besser gewusst hätte, dann wäre er davon ausgegangen, dass Katherine nicht aus New York, sondern aus dem gerade erst erschlossenen Westen Amerikas kam. Ja, das musste Henry ihr zugestehen, sie hatte ihre Rolle sehr gut gespielt. Und genau das beunruhigte ihn. Woher hatte sie diese Fähigkeiten? Sie musste ihren Auftritt jahrelang geübt haben. Er wusste viel zu wenig über Katherine. Wie hatte ihr Leben in New York ausgesehen? Wer hatte ihr das Tanzen und die Saltos beigebracht? Woher kannte sie diese Lieder, die nichts mit den klassischen Musikstücken zu tun hatten, die zur Ausbildung einer jungen Frau aus gutem Hause gehörten?

Henry seufzte. George war inzwischen vor einer unscheinbaren Schwingtür stehen geblieben.

»Bereit für ein Abenteuer, mein Freund?« Er drehte sich zu Henry um und grinste.

Henry, dem nicht nach Lachen zumute war, nickte nur. Was auch immer George ihm nun zeigen würde, Henry wollte es hinter sich bringen. Er wollte Katherine der Untreue überführen und das Alhambra, diesen Ort, der ihn auf so verstörende Weise faszinierte und gleichzeitig abstieß, anschließend für immer vergessen.

George hatte die Schwingtür aufgestoßen und Henry blieb stehen. Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an die Dunkelheit dahinter zu gewöhnen. Die beiden Männer standen oben an einer engen steinernen Wendeltreppe. Die Tür schwang hinter ihnen zu und die Stimmen im Saal waren nur noch als leises Rauschen zu vernehmen. Von unten klangen neues Gelächter und das Klirren von Gläsern herauf. Das Treppenhaus war nur sparsam beleuchtet. Henry tastete sich langsam vorwärts. Er folgte Georges Schritten die Stufen hinunter.

Unten angekommen, hielt Henry für einen Augenblick vor Entsetzen die Luft an. Er blickte geradewegs in eine Höhle des Lasters. Auf langen Holzbänken saßen Paare dicht beieinander. Henry starrte auf einen Herrn in den besten Jahren, dessen Bart bereits grau zu werden begann. Zu seinen beiden Seiten schmiegten sich zwei der Ballettmädchen an ihn, die Henry vorhin auf der Bühne gesehen hatte. Ein Offizier hockte mit einer Tänzerin am Tisch und schenkte ihr Champagner ein. An einem anderen Tisch hatte eine Gruppe Soldaten Platz genommen, die gierig zu den Ballettmädchen hinübersahen. Überall erkannte Henry Paare, die sich offenbar erst vor Kurzem gefunden hatten. Ein beleibter Herr mit spärlichem Haar auf dem Kopf, der seiner Kleidung und dem Auftreten nach in guter Position war, hatte sogar eines der Tanzmädchen auf seinem Schoß sitzen. Das waren Zustände wie in einem Freudenhaus!

Im hinteren Teil des schmucklosen Raumes, der von mehreren Säulen gestützt wurde, befand sich eine große halbrunde Bar, an der zwei kräftige Matronen Bier, Wein, Schnaps und Champagner ausschenkten. Henry betrachtete die Kellner in schwarzem Frack und roter Weste, die mit bis zum Rand gefüllten Tabletts hin und her eilten. An den Holztischen saßen die Gäste dicht nebeneinander, es gab kaum einen freien Platz. Henry folgte George durch den Raum und ließ seinen Blick über die angetrunkenen Frauen wandern, die sich von ihren Begleitern aushalten ließen. Da ertönte plötzlich eine Glocke. Die Gäste tranken ihre Gläser aus und strömten die Wendeltreppe hinauf.

Henry sah fragend zu George.

»Die Pause ist vorbei. Diese Ballettmädchen verdienen nur zehn bis sechzehn Shilling die Woche«, erklärte ihm George. »Sie sind nicht die Stars der Show. Sie nutzen die Pause, um hier unten Kontakte zu knüpfen. Am Ende des Abends erwarten sie ihre neuen Bekanntschaften oft am Bühnenrand und nehmen sie mit. Dann verdienen sich die Mädchen noch den ein oder anderen Penny dazu.«

Henry schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum verbringt Katherine ihre Zeit hier? Ich begreife das einfach nicht.«

In diesem Moment setzte über ihren Köpfen Musik ein. Henry sah instinktiv zur Decke über sich. Er konnte das Stampfen und Klopfen der Schritte hören, als die Tänzerinnen auf die Bühne sprangen.

Henry fuhr sich über die Augen. Irgendwie war er doch erleichtert, dass sie Katherine nicht hier unten in den Armen eines anderen Mannes gefunden hatten.

»Ich mache mich auf den Heimweg«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Für heute habe ich wahrlich genug gesehen.«

Kapitel 2

Boston, USAMärz 2018

Du warst gigantisch.«

Melanie hielt ihr den weichen Frotteebademantel hin. Dione schlüpfte hinein und spürte, wie das Duschwasser von dem dicken Stoff aufgesogen wurde. Melanie schlug Diones Haar in ein Handtuch und ging voraus ins Schlafzimmer. Nachdem Dione die Pantoffeln angezogen hatte, folgte sie ihrer Freundin. Einen Moment lang blieb sie vor dem Panoramafenster der Penthouse-Suite stehen und ließ ihren Blick über die Lichter der Stadt schweifen. Wie klein Boston von hier oben aussah! Aber gegen New York wirkte jede Stadt winzig. Sie hatten die letzten Wochen mit TV-Auftritten, Konzerten und den ersten Aufnahmen für das neue Album in Manhattan verbracht. Eine aufregende und stressige Zeit. Dione freute sich auf die ruhigeren Wochen, die nun vor ihr lagen. Heute Abend hatten sie das letzte Konzert der Black Roses in Snow-Tour gespielt. Im Herbst stand der Dreh für einen Film an und die nächste Tournee musste vorbereitet werden. Dione unterdrückte ein Gähnen. Hoffentlich gönnte Monica ihr ein paar Tage Entspannung, bevor es wieder richtig losging.

Sie riss den Blick von den Lichtern des nächtlichen Boston los, löste das Handtuch von ihrem Kopf und warf es auf das große Kingsize-Bett in der Mitte des Zimmers. Auf den Nachttischen rechts und links davon standen dicke Rosensträuße. Irgendwann hatte Monica in einem Interview gesagt, dass das Diones Lieblingsblumen seien. Seitdem standen in sämtlichen Hotels täglich frische Rosen in Diones Suite. Sie konnte die Dinger langsam nicht mehr sehen. Und ausgerechnet Black Roses in Snow hatte ihr den fünften Grammyeingebracht. Dione sah zu ihrer Mutter hinüber, die über irgendwelchen Unterlagen grübelnd auf dem ausladenden Sofa aus hellbraunem Veloursleder saß. Vermutlich dachte sie sich wieder eine neue Diät für Dione aus.

»Ich fand es auch nicht schlecht«, erwiderte Dione. Sie setzte sich an den Frisiertisch und trank einen Schluck Weißwein, der in einem gekühlten Glas für sie bereitstand.

»Du hast schon bessere Abende gehabt.« Monica stand von dem Sofa auf, verstaute die Liste in ihrer eleganten Abendtasche und leerte ihren Gin Tonic. Sie trug einen pinkfarbenen Hosenanzug, dazu den passenden Lippenstift und ihre Frisur saß wie immer perfekt. Wenn nicht die ganze Welt gewusst hätte, dass Monica Diones Mutter war, sie wären bestimmt für Schwestern gehalten worden. Nichts deutete darauf hin, dass Monica in diesem Jahr bereits siebenundvierzig wurde.

Jetzt trat sie hinter Melanie, die damit begonnen hatte, Diones Haar zu bürsten. »Du musst die Choreografie von Bottle of Love noch mal durchgehen. Nach dem Refrain lässt du jedes Mal eine Schrittfolge aus.«

»Weil ich eine Atempause brauche«, erklärte Dione und verdrehte die Augen. »Ich kann sonst nicht weitersingen, das Lied ist ja eine einzige Akrobatiknummer.« Sie spürte, wie Melanie ein Pflegeöl in ihr Haar massierte.

»Dann musst du mehr trainieren.« Monica überprüfte das Make-up, das Diones Kosmetikerin Zelda schon bereitgelegt hatte.

»Noch mehr?« Dione dachte an das stundenlange Trainingsprogramm, das sie täglich absolvierte. Ihr Trainer ließ nicht die geringste Nachlässigkeit durchgehen.

»Ich werde das mit David besprechen.« Monica nahm die Grußkarte, die in einem der vielen Blumensträuße steckte, die Dione heute Abend erhalten hatte, und überflog den Text. »Aber jetzt ist die Tour ja erst mal vorbei. Sollten wir die Choreo für die nächsten Konzerte übernehmen, musst du wirklich daran arbeiten. Das heute war schlecht.«

»Kein Wunder.« Dione trank einen Schluck Wein und beobachtete im Spiegel, wie Monica die Karte in den Papierkorb warf. »Ich brauche eine Pause vor der zweiten Strophe.«

»Darüber reden wir, wenn es so weit ist.« Monica wandte sich zur Tür. »Ich muss mich draußen blicken lassen. Wo steckt Uma?«

»Sie holt Diones Kleid.« Melanie schaltete den Föhn an, der mit dezentem Surren seine Arbeit verrichtete. Mit geübten Handgriffen strich Melanie durch Diones Haar.

»Dione trägt nachher offenes Haar, an der Seite zurückgesteckt.« Monica kam noch einmal zurück und betrachtete die Spangen, Haarclips und Bänder, die Melanie auf dem Frisiertisch ausgebreitet hatte. »Ich denke, dieses Kämmchen hier dürfte reichen.« Sie schob mit ihrem perfekt manikürten linken Zeigefinger den mit Diamanten besetzten Haarkamm in die Mitte des Tisches.

»Oh nein.« Dione stöhnte. »Ich hasse den. Der ist so schwer, und ich habe immer das Gefühl, ich würde ihn verlieren.«

»Melanie, sorge dafür, dass er fest sitzt«, sagte Monica und trat zur Tür. »Ach so, und heute trinkst du ausschließlich Martini. Denk an den Werbevertrag.«

Dione zog die Schultern hoch und leerte ihr Glas Weißwein in einem Zug. »Von mir aus. Aber der Vertrag ist doch schon unterschrieben, oder nicht?«

»Eben. Loyalität, Dione, das ist das Wichtigste.« Monica öffnete die Schlafzimmertür und sofort drangen Stimmengewirr und dezente Musik in den Raum.

Dione sah Melanie lustlos bei ihrer Arbeit zu. Die After-Show-Partys hatten längst ihren Reiz verloren. Seit Ethan nicht mehr da war, machte ihr das Feiern keinen Spaß mehr.

Niemand hatte es verstanden, Dione so zum Lachen zu bringen wie er. Ethan hatte immer gewusst, was Dione brauchte. Wenn sie gestresst war, hatte er ihr einen Joint gegeben, noch bevor sie selbst realisiert hatte, dass sie einen brauchte. Wenn sie müde war, hatte er immer eine Idee gehabt, sie wieder auf Touren zu bringen. Und wenn sie einmal etwas Stärkeres genommen hatte und Dione das Gefühl hatte, die ganze Welt umarmen zu können und nie mehr schlafen zu müssen, dann hatte er ein paar Flaschen Wein parat, um sie wieder herunterzuholen.

Dione konnte immer noch nicht begreifen, warum Ethan plötzlich gegangen war. Angeblich liebte er Rachel noch immer und war zu ihr zurückgekehrt. Dione konnte das kaum glauben. Rachel war ein kleines, unscheinbares Ding. Sie war Statistin in einem von Diones Filmen gewesen, als Dione Ethan kennengelernt hatte. Das war auf der Premierenfeier in Hollywood gewesen. Sie hatten wundervolle Monate zusammen verbracht, obwohl Monica unentwegt gegen die Beziehung gearbeitet hatte. Dione wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass ihre Mutter hinter der plötzlichen Trennung steckte.

»Hallo, Süße!« Uma stöckelte durch die hintere Tür in Diones Schlafzimmer. Ihre hohen Absätze hinterließen kleine Löcher in dem dicken zartrosa Teppichboden. »Du warst grandios, ich habe gerade mit Carl gesprochen. Alle sind vollkommen begeistert.«

Dione unterdrückte das Verlangen, ihrer Assistentin einen der Cremetiegel an den Kopf zu werfen. Irgendetwas an dieser Frau verursachte ihr immer schlechte Laune. Vielleicht war es die aufgesetzte Stimme, die übertriebene Herzlichkeit oder die ausladenden Gesten, mit denen Diones Assistentin ihre Sätze unterstrich. Alles an Uma war laut und heischte nach Aufmerksamkeit. Sie trug grundsätzlich schrille Farben, genau wie Monica. Es war nicht verwunderlich, dass Monica sich damals unter den vielen Bewerbern ausgerechnet für Uma entschieden hatte. Dione seufzte und warf einen gelangweilten Blick in den Spiegel.

Melanie war inzwischen fertig mit Diones Haaren und machte Platz für Zelda, die sich um Diones Make-up kümmerte. Monica mochte es nicht, wenn ihre Tochter bei der After-Show-Party zu stark geschminkt war. Ein dezentes Make-up sollte es sein, das sich deutlich von dem bei der Show unterschied. Zelda war eine Künstlerin, wenn es ums Schminken ging. Dione freute sich immer wieder darüber, wie verändert und umwerfend sie aussah, nachdem sie unter Zeldas Pinsel geraten war. Ihr Kleid heute war silbergrau und Zelda hatte einen passenden Lidschatten und knallroten Lippenstift gewählt.

Als Dione endlich fertig war, betrachtete sie sich noch einmal prüfend im Spiegel. Das Kleid gefiel ihr. Sie trug es heute zum ersten und letzten Mal. Es war eigens für sie geschneidert worden.

Es gab viele Outfits wie dieses, die sie gern öfter getragen hätte. Aber Monica bestand darauf, dass sie es nach der Veranstaltung abgab. »Du kannst es dir nicht erlauben, zweimal im selben Kleid gesehen zu werden«, klang die Stimme ihrer Mutter in Diones Ohr.

Während Uma ihr die zarte Kette aus Weißgold anlegte, mit einem hübschen Saphir in einer schlichten Fassung, versuchte Dione, nicht an Ethan zu denken. Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben, und griff nach den Saphir-Ohrringen. Dann schlüpfte sie in die blaugrauen Lacklederpumps. Sie atmete noch einmal tief durch, setzte das unvermeidliche Lächeln auf und öffnete die Tür.

Um vier Uhr morgens hatte Dione sechs Martinis getrunken, unzählige Glückwünsche entgegengenommen und einen gut aussehenden italienischen Visconte kennengelernt. Die letzten Gäste hatten sich gerade verabschiedet. Zwei Zimmermädchen huschten durch den Raum und sammelten die leeren Gläser und Champagnerflaschen ein. Der Barkeeper verstaute seine Flaschen und klappte den fahrbaren Tresen zusammen. Die Band baute die Instrumente ab und Dione griff nach Ricardos Hand. Sie mochte Italiener. An dem Klischee der heißblütigen Südeuropäer war tatsächlich etwas dran. Seit Ethan weg war, befand sich Dione in einem ruhelosen Zustand. Sie suchte etwas, das sie selbst nicht definieren konnte. Sie fühlte sich zunehmend leer und ausgebrannt. Doch wie aufregend ihre zahlreichen Liebhaber auch sein mochten, der ersehnte Zustand der Zufriedenheit wollte sich bei Dione einfach nicht einstellen. Sie wusste, dass auch die Nacht mit Ricardo nichts daran ändern würde. Allmählich wurde ihr bewusst, dass sie das, was sie suchte, nicht in den Armen eines Mannes finden konnte.

Ricardo sah ihr tief in die Augen. »Was ist los, Baby?«

Dione seufzte. Vielleicht hätte sie doch lieber etwas Stärkeres als Martini trinken sollen. Alkohol half immer noch am besten, das Gedankenkarussell abzuschalten.

»Ich habe gerade darüber nachgedacht, warum du mich nicht küsst.« Dione zog Ricardo zu sich heran und ließ sich in seine Umarmung fallen.

»Komm, Baby – wo ist dein Schlafzimmer? Die Angestellten …«

Dione musste grinsen. Ricardo war eben ein echter Visconte. Er machte sich Sorgen wegen des Personals. Dione hatte schon vor Jahren gelernt, die Dienstboten um sich herum zu ignorieren. Sie war für Skandale bekannt und Monica bügelte es wieder aus, wenn Dione einmal zu weit gegangen war. Es gab nur wenige Situationen, die Monica bisher missbilligt hatte. Sie schien das skandalöse Leben ihrer Tochter zu unterstützen.

Dione schlang ihren Arm um Ricardo und zog ihn in Richtung ihrer Schlafzimmertür. Plötzlich hielt sie inne und lauschte. Leises Lachen und gedämpfte Stimmen kamen aus einem der hinteren Zimmer der Suite. Irgendwo wurde noch gefeiert.

»Geh schon mal vor, ich komme sofort.« Dione schob Ricardo durch die Tür und folgte dann den Geräuschen, die sie aus dem großen Wohnzimmer und in den Flur hinausführten. Die Stimmen wurden lauter. Sie schienen aus dem kleinen Salon neben der Eingangstür zu kommen. Hatten sich doch noch nicht alle Gäste verabschiedet? Und wo waren ihre Leibwächter, die dafür zu sorgen hatten, dass alle Gäste ihre Suite nach einer Party auch verließen? Je näher Dione der Eingangstür kam, umso deutlicher wurden die Stimmen.

»Pst, nicht so laut. Sonst steht die gleich in der Tür.« War das etwa Uma? Dione blieb stehen.

»Bloß das nicht«, sagte eine Frau kichernd, die sich wie Melanie anhörte. »Ich habe keine Lust auf unser zickiges Barbiepüppchen.«

»Nein, das muss wirklich nicht sein«, pflichtete ihr eine männliche Stimme bei. Dione war nicht sicher, ob es die von Paul war, dem Sekretär ihrer Mutter. »Wir müssen ihr schließlich schon den ganzen Tag lang den Hintern pudern.«

Dione erstarrte. Sprachen ihre Mitarbeiter etwa von ihr?

»Aber ihr wisst doch, wie es läuft …« Das war einer der Leibwächter. »Das ist doch nicht euer erster Job bei einem Promi.«

Zustimmendes Gemurmel war zu hören.

»Na ja, bei jemandem wie Dione Dearing war ich noch nie«, sagte Melanie. Sie schien schon etwas angesäuselt. Die Worte kamen nicht mehr ganz klar über ihre Lippen.

»Leute wie Dione Dearing«, ergriff der Leibwächter nun wieder das Wort, »die meinen, dass sie nicht nur deine Arbeitskraft, sondern auch dich selbst gekauft haben.«

»Ganz genau«, ertönte nun eine tiefe, kratzige Stimme, die Dione sofort erkannte. Es war ihr Fahrer Robert, der bei jeder Gelegenheit rauchte. »Diese Leute haben keine Freunde. Sie glauben, dass sie deine Freundschaft gleich mitkaufen können.«

Diones Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie war unfähig, sich zu rühren.

»Dione glaubt gar nichts. Die ist strohdumm. In Wirklichkeit ist es doch ihre Mutter, die glaubt, dass sie uns komplett ausnutzen kann, nicht wahr, Robert?«, hörte Dione Uma sagen.

»Monica ist nicht die Schlechteste, die ich bisher hatte.« Robert machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr. »Und es ist nie verkehrt, mit der Chefin zu schlafen.«

»Warum dann nicht gleich mit Dione?«, fragte Melanie.

Robert lachte und Diones Magen krampfte sich zusammen, als sie seinen spöttischen Ton hörte. »Danke, ich verzichte. Etwas Anspruch habe ich dann doch. Und unser Popsternchen ist mir ein paar Nummern zu einfach gestrickt. Monica dagegen ist ziemlich durchtrieben und intelligent. Das bewundere ich an ihr. Und – hey! – hübsch ist sie außerdem. Und im Bett eine echte Granate.«

»Warum haben Stars eigentlich keine Freunde?«, wechselte Melanie jetzt das Thema. »Das dürfte doch nicht so schwer sein. Wer will nicht mit einer wie Dione Dearing befreundet sein?«

»Du etwa?« Das war wieder Roberts kratzige Stimme. »Also ich nicht.«

Melanie kicherte. »Ich weiß nicht. Warum nicht?«

Dione starrte entsetzt auf den Türrahmen.

Sie hörte Robert sagen: »Sie kann keine Freunde haben, denn sie würde niemals einen anderen Menschen neben sich akzeptieren. In Diones Leben gibt es nur Dione. Sie würde es dich jede Sekunde spüren lassen, dass sie der Star ist. Willst du mit so einer befreundet sein?«

Melanies Stimme war leise, als sie erwiderte: »Nein, nicht wirklich. Aber sie scheint zu glauben, dass wir beste Freundinnen sind.«

»Lass sie in dem Glauben.« Dieser Rat kam von Uma. »Wer will schon wirklich mit der befreundet sein? Hauptsache, der Job ist gut bezahlt und man lernt interessante Menschen kennen.«

»So, für heute soll’s genug sein. Ich hau mich dann mal ins Bett.« Roberts Stimme wurde lauter.

Dione schrak aus ihrer Schockstarre auf. Ihre Beine setzten sich unwillkürlich in Bewegung. Hastig lief sie über den dicken Teppich zurück ins Wohnzimmer.

Dione nahm kaum wahr, dass die Zimmermädchen inzwischen alle Spuren der Party beseitigt hatten. Der Barkeeper war samt Bar verschwunden und auch von der Band war keiner mehr zu sehen. Nichts erinnerte mehr daran, dass vor einer Stunde hier noch getanzt, getrunken und gelacht worden war.

Diones Kopf schwirrte. Sie presste ihre Handflächen gegen die Schläfen. Warum hatte sie sich nicht bemerkbar gemacht? Warum hatte sie das ganze Pack nicht einfach angeschrien und hinausgeworfen? Friseure, Leibwächter, Assistentinnen und Sekretäre gab es doch genug. Dione schluckte und dachte an das, was sie gehört hatte: »Leute wie Dione Dearing haben keine Freunde.«

Sie schüttelte den Kopf. Unfassbar, dass die Menschen, von denen sie geglaubt hatte, sie würden ihr nahestehen, so über sie sprachen. Melanies Worte klangen noch in ihren Ohren: Sie scheint zu glauben, wir sind beste Freundinnen. Ja, das hatte Dione immer geglaubt. Dass Uma sie nicht leiden konnte, überraschte sie nicht, denn es beruhte auf Gegenseitigkeit. Aber Melanie? Und Robert und all die anderen? Keiner ihrer Mitarbeiter schien wirklich hinter ihr zu stehen.

Dione ließ sich auf das Ledersofa fallen. Sie war weder wütend noch traurig. Ihr Kopf war vollkommen leer.

»Hey, Babe!« Ricardo stand in der Schlafzimmertür. Sein Hemd hatte er weit aufgeknöpft, sodass die dunklen Haare auf seiner durchtrainierten Brust zu sehen waren. »Wo bleibst du denn?«

Er trat hinter das Sofa und begann Diones Nacken zu küssen. Sie strich automatisch mit der Hand durch seine schwarzen Locken. Was tat sie da eigentlich? Die Lust auf ein weiteres Abenteuer mit einem neuen Liebhaber war ihr vergangen.

»Tut mir leid, Ricardo.« Dione stand auf. »Mir ist heute nicht danach.«

»Was?« Der Visconte zog die Augenbrauen hoch und starrte sie an, als hätte sie soeben vom Leben auf einem fremden Planeten gesprochen. »Komm schon, Baby, ich werde dich in Stimmung bringen.« Er ging um die Couch herum.

»Vielleicht ein anderes Mal.« Dione verschränkte die Arme vor der Brust.

»Aber du warst doch gerade noch ganz heiß auf mich.« Ricardo strich sich mit dem Zeigefinger über die haarige Brust.

Dione schüttelte den Kopf. »Ich habe es mir anders überlegt. Bitte, geh jetzt.«

Der Visconte hob die Schultern und knöpfte sein Hemd zu. »Ich werde nicht darum betteln«, sagte er. »Aber du solltest vielleicht einmal darüber nachdenken, was du eigentlich willst.«

Ja, überlegte Dione, während sie ihm hinterhersah, das sollte sie unbedingt tun.

Sie stand auf und ging in ihr Schlafzimmer. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah sie sich hilflos um. Immer noch hörte sie die höhnischen Stimmen und das spöttische Gelächter. Warum hatte sie nicht längst bemerkt, dass niemand sie leiden konnte? Und warum hatten sie alle Sympathie geheuchelt? Dione wollte keinen von ihnen je wiedersehen. Aber morgen würden sie wie immer zum Dienst erscheinen: Uma, Melanie, Robert und all die anderen. Sie würden sie angrinsen und hinter ihrem Rücken die Augen verdrehen.

»Guten Morgen«, flötete Uma und Dione öffnete erschrocken die Augen. Tageslicht blendete sie. War es tatsächlich schon Zeit zum Aufstehen? Irgendwann in der Nacht musste sie doch noch eingeschlafen sein, nachdem sie sich stundenlang von einer Seite auf die andere gewälzt hatte.

»Wie spät ist es?« Ihre Stimme klang rau. Sofort stieg Panik in ihr auf. Bloß keine Erkältung! Doch dann fiel ihr ein, dass sie heute keinen Auftritt hatte, und sie entspannte sich wieder.

»Es ist zwei Uhr Nachmittag, du Schlafmütze!« Uma stellte eine Tasse grünen Tee auf Diones Nachttisch.

Wie hatte Uma sie gestern Abend genannt? Strohdumm?

Dione setzte sich auf und griff nach der Teetasse. Sie wich dem Blick ihrer Assistentin aus, während sie überlegte, ob sie sie auf die belauschte Unterhaltung ansprechen sollte.

Sie wunderte sich über sich selbst. Normalerweise hätte sie schon gestern Abend alle nötigen Schritte unternommen. Sie hätte ihre Mitarbeiter sofort angeschrien, wäre zu Monica gerannt und hätte die Entlassung von Uma, Melanie und den anderen verlangt. Warum war sie plötzlich so zögerlich?

Dione trank einen Schluck Tee und lehnte sich in den zerwühlten Kissen zurück. Sie fühlte sich erniedrigt durch das, was sie gehört hatte. Doch sie konnte nicht darüber sprechen, denn sie wollte ihnen den Triumph ihrer Verletzung nicht gönnen.

Dione zog die Decke höher, als Uma das Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen. Noch viel mehr als ihre verletzte Eitelkeit setzte ihr die Angst zu. Sie hatte das Gefühl, dass die Welt, die sie kannte, rasend schnell unter ihren Füßen wegbrach, und verlor mit einem Mal sämtlichen Halt. Und das alles nur wegen ein paar belauschter Sätze.

»Hattest du heute Nacht keine Gesellschaft?«, unterbrach Uma jäh ihre Grübeleien. Sie legte eine Trainingshose und ein Shirt für Dione bereit.

»Ist das wichtig?«

Uma betrachtete sie mit dem Blick, den sie auch aufdringlichen Reportern zuwarf, wenn sie Dione zu sehr bedrängten. »Nein, ist es nicht. Aber deiner Mutter wird das nicht gefallen.«

Dione kroch noch tiefer unter die dicke Daunendecke. »Ich wüsste nicht, was Monica damit zu tun haben sollte.«

Uma zog wortlos die Schultern hoch.

Dione stutzte. Auf einmal erinnerte sie sich daran, dass Monica ihr Ricardo vorgestellt hatte. Überhaupt war es immer ihre Mutter, die sie mit den Männern bekannt machte, mit denen Dione hinterher im Bett landete. Außer Ethan. Den hatte Dione selbst kennengelernt und gegen ihn hatte Monica immer etwas einzuwenden gehabt.

Sie wurde unsanft aus ihren Gedanken gerissen, als Monica plötzlich im Zimmer stand.

»Dione, steh auf!«, befahl sie. »Wir haben gleich einen Termin mit einem Notar aus London.«

Dione verdrehte die Augen. »Ich will keine Termine mehr. Ich brauche einen Tag Pause.«

»Er hat sich nicht abwimmeln lassen. Er ist extra angereist und will heute noch mit dir sprechen.« Monica setzte sich auf die Bettkante. Ihr gelbes Kostüm saß perfekt. »Ich habe ihm gesagt, dass ich mich um sämtliche geschäftlichen Angelegenheiten kümmere. Aber er besteht darauf, mit dir persönlich zu sprechen.«

»Worum geht es denn?« Dione drehte sich auf die Seite.

»Das wollte er mir nicht verraten«, erwiderte Monica und verzog ihre knallrot geschminkten Lippen. Die platinblonden Haare waren aufwendig geföhnt. »Uma, das Training muss heute warten. Dione zieht einen Pullover und eine Jeans an.« Monica überlegte kurz und zwischen ihren Augen bildete sich eine steile Falte. »Einen roten Pullover und eine dunkelblaue Hose. Das passt gut zu meinem Kostüm.«

Dione zog sich die Decke über den Kopf.

»Lass den Unsinn«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »Steh endlich auf.«

Dione seufzte und schlug die Decke zurück.