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Endlich! Die Geschichte der Familie Winterstein geht weiter.
Nach den turbulenten Ereignissen um das Erbe der Wintersteins haben Celine und Konrad endlich zueinander gefunden. Doch seit einiger Zeit scheint sich Konrad immer mehr zurückzuziehen. Und die Worte von Konrads Onkel an seinen Neffen versetzen Celine einen weiteren Stich ins Herz: »Dieses Winterstein-Mädchen ... Das wird dein Untergang sein.« Was kann er damit nur meinen?
Eine Antwort auf diese Frage erhält sie nicht mehr, denn kurz darauf stirbt der Onkel. Als Celine und Konrad seine Wohnung aufräumen, stoßen sie auf alte Briefe und das Porträt einer jungen Frau, die Celines Urgroßmutter auf geradezu unheimliche Weise ähnlich sieht. Gibt es etwa eine Verbindung zwischen ihren Familien? Celines Nachforschungen führen sie weit zurück in die Vergangenheit, wo die Geschichte der Wintersteins über Freundschaft, Verrat, Schuld und die erlösende Kraft der Liebe ihren Anfang nimmt.
Nach ihrem Bestseller DAS ERBE DER WINTERSTEINS entführt uns Carolin Rath erneut in die düstere Vergangenheit der Familie Winterstein. Atmosphärisch, mitreißend und dramatisch.
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Seitenzahl: 549
Cover
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Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
SAAT
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
FRUCHT
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Epilog auf vier Pfoten
Das Erbe der Wintersteins
Eigentlich sollten Konrad und Celine glücklich sein. Nach den turbulenten Ereignissen um den Schatz der Wintersteins, haben sie einander endlich gefunden. Doch seit einiger Zeit kriselt es zwischen ihnen. Konrad zieht sich immer mehr zurück, und Celine vermutet eine Affäre. Als sie ihm heimlich folgt, erkennt sie, dass er sich nicht mit einer Frau, sondern mit seinem Onkel Hanno trifft. Erstaunt ist sie aber vielmehr über dessen an Konrad gerichtete Worte: »Dieses Winterstein-Mädchen … Das wird dein Untergang sein.« Was kann er damit nur meinen?
Eine Antwort auf die Frage erhält sie jedoch nicht mehr, denn kurz darauf verstirbt Hanno. Beim Ausräumen seiner Wohnung finden Celine und Konrad alte Briefe und das Porträt einer jungen Frau, die Celines Urgroßmutter Claire Winterstein auf geradezu unheimliche Weise ähnlich sieht. Gibt es etwa eine Verbindung zwischen ihren Familien? Celine will mehr erfahren. Ihre Nachforschungen führen sie weit in die Vergangenheit zurück, wo die Generationen umfassende Geschichte der Wintersteins über Freundschaft, Verrat, Schuld und die erlösende Kraft der Liebe ihren Anfang nimmt.
Carolin Rath, geboren 1964, studierte Sozialwesen. Sie sitzt gern in Zeitmaschinen und bereist in ihrer Phantasie die jüngere und weiter zurück liegende Vergangenheit. Als permanenten Wohnort zieht sie jedoch die Gegenwart eindeutig vor. Carolin Rath wohnt in einem kleinen, alten Fehnhaus in Ostfriesland, umgeben von Eichen, Wallhecken und Feldern.
Carolin Rath
beHEARTBEAT
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dorothee Cabras
Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause
Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Patryk Kosmider/shutterstock; lilkar/iStock/Getty Images Plus; IgorKirillov/iStock/Getty Images Plus
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0623-0
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Arnheim, 1881
Als er spürte, dass dies sein letzter Abend auf Erden sein würde, benutzte er die Glocke neben dem Bett und rief mit heiserer Stimme nach Giselle. Er nahm das Weinglas mit zitternden Händen und trank in kleinen, gierigen Schlucken, während er auf sie wartete und dem Gewittergrollen in einer stürmischen Herbstnacht lauschte.
Viele Menschen hatten früher einmal dieses Anwesen mit Leben erfüllt, doch mittlerweile war er mit der Köchin allein, und seitdem kam es ihm vor, als hätte das Haus seine Seele verloren. Die Mauern bedrückten ihn, der Garten verwilderte, Ranken hatten sich um den Baum mit Maries Schaukel geschlungen, und nichts wollte mehr blühen und gedeihen.
»Rasch, rasch«, keuchte er, als Giselle endlich in der Tür stand. »Bring mir das Bild meiner Tochter. Ich will sie sehen. Und hole auch das kleine Kästchen von meinem Sekretär.«
Giselle, die sich stets vor dem Arbeitszimmer des alten Kaufmanns gefürchtet hatte, weil dort ein ausgestopftes Krokodil und schaurige Masken aus Holz hingen, nickte befangen. »Soll ich vielleicht den Doktor rufen?«
»Nein, nein«, sagte der alte Mann. »Man soll Reisende nicht aufhalten. Ankommen ist allemal schöner als langes, rastloses Umherziehen. Ich will jetzt bald ankommen. Nun geh, meine gute Giselle, geh nur.« Er sank in die Kissen zurück und wartete nach Luft ringend, bis die Köchin das Erwünschte herbeigebracht hatte.
Als sie wieder fort war, betrachtete er das Porträt seiner Tochter lange und mit tiefer Liebe. Dann öffnete er die hintere Seite des Porträts an zwei versteckten Haken. Zitternd zog er den kleinen Leinenbeutel auseinander. Die Diamanten, die er vor einigen Jahren in Rotterdam gekauft hatte, waren schön und rein, so schön und rein, wie seine Seele einst gewesen war. Es war ihm immer abgeschmackt und banal erschienen, wenn er davon hörte, dass Menschen auf dem Totenbett ein letztes Mal Vergebung erlangen wollten.
Dabei ging es doch gar nicht um ihn, um seine Vergebung, um sein Tor, das er durchschreiten wollte, um unbedingt im Himmel bei all den Engeln und Heiligen zu sein. Es ging um weit mehr. Denn auch er musste zu guter Letzt vergeben. Das musste noch getan werden. Er war so weit. Ja, auch er wollte vergeben. Es ging um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit war wie eine ausgewogene Bilanz, ganz zum Schluss, wenn man auf die Gewinne und Verluste sah und wusste, unter dem Summenstrich würde eine stabile Grundlage für kommende Unternehmungen liegen.
Er stopfte die schönsten Steine zusammen mit etwas Werg zwischen die dünnen Holzplatten und nahm ein Stück Papier zur Hand, auf das er mit einem Bleistift schrieb:
Vergib mir, Job. Bitte vergib mir.
Mehr blieb nicht zu sagen. Und nicht weniger. Er war nur froh, dass er den Jungen noch einmal hatte sehen dürfen. Er faltete die Notiz zu einem winzigen Stück, das er zwischen die Diamanten schob, und verschloss mit leicht fahrigen Bewegungen die Rückseite des Porträts wieder sorgsam. Dann notierte er auf der Rückseite des Rahmens, was nach seinem Tod damit zu geschehen hatte:
Dieses Porträt ist nach meinem Tode gut und sorgsam verpackt an Mijnheer Job van Dijk zu schicken.
Er adressierte das Ganze an die Anschrift in Geestemünde, die der Junge ihm bei ihrem letzten Zusammentreffen gegeben hatte. Nun wollte er noch dazunotieren, dass und wie der Rahmen zu öffnen sei, damit Job auch in den Genuss der Steine kam, aber ein scharfer Stich in der Lunge hielt ihn davon ab. Er muss es doch wissen, dachte er ein wenig empört. Denn sonst würden die Bilanzen am Ende womöglich nicht stimmen, und er griff sich an die Brust, wo der Schmerz sich rasch ausbreitete wie ein Fächer aus Feuer, der ihm den Atem raubte.
Er versuchte noch, nach Giselle zu läuten, lehnte sich in einer übermächtigen Anstrengung aus dem Bett, um die Glocke zu erreichen, doch seine Kraft versiegte, und so fand man seinen leblosen Körper am kommenden Morgen.
Surabaya in Niederländisch-Ostindien, 1849
An einem grob gezimmerten Holztisch in Piets Winkel, einem behelfsmäßig errichteten Ausschank nah bei den Hafenbaracken, saß Harm de Beer seit vielen Stunden und starrte trübe in sein Glas.
Draußen vor der Flussmündung lagen Kauffahrer und Kriegsschiffe auf Reede. Mit Schaluppen und Kanus landeten die Besatzungen an den Anlegeplätzen. Aus den Schmieden hörte man Hammerschläge beinahe unentwegt, Waren wurden in Baracken gelagert, Stoffballen auf Karren verladen, Pferde wieherten empört, als ein Ochsenwagen ihnen zu nahe kam. Und ein Kutscher knallte mit der Peitsche, weil er mit seiner Chaise nicht schnell genug vorwärtskam. Das bunte Gemisch der Menschen aus aller Herren Länder war eine beständige, niemals schweigende Welle aus Wortfetzen und Sätzen, Ausrufen und Flüchen in einhundert verschiedenen Sprachen und Tonlagen.
Piets Winkel lag inmitten anderer Buden und Verkaufsstände und bestand aus wenig mehr als einer mit Teak ausgelegten hölzernen Terrasse mit einem Blätterdach darüber, das allerdings in den letzten Monaten etwas gelitten hatte. Die Regenzeit war gerade vorbei. Man schrieb Ende Mai 1849, und der Westmonsun, der starke Niederschläge gebracht hatte, verwandelte sich allmählich in einen Ostmonsun, den Harm wesentlich besser vertragen konnte.
Als Harm noch ein Kind gewesen war und sein Vater, ein erfolgreicher Gewürzhändler, ihm von Niederländisch-Ostindien erzählt hatte, war in ihm die kindliche Vorstellung gereift, dass die ganze Luft dort mit den Gerüchen von Zimt und anderen herrlichen Gewürzen erfüllt sein musste, die ihn an Mutters Sinterklaas-Leckereien erinnerten, aber jetzt, da er ein junger Mann war, sah die Wirklichkeit anders aus, und vor allem roch sie anders.
In Piets Winkel stank es nach Schweiß, nach Rum und Schnaps, nach dem Erbrochenen der betrunkenen Seeleute und den Fäkalien, die in den offenen Gräben der Hafengegend mit großen Ratten um die Wette schwammen. Aus der Bretterbude, die Piet seinen Gästen zum Opiumrauchen zur Verfügung stellte und die mit einem schon ziemlich zerfetzten Seidenschal als Türersatz versehen war, wehte bisweilen ein süßlich schwerer Hauch zu den Trinkenden hinaus.
Nah am Schanktisch und mit dem Rücken an eine Rauspund-Wand gelehnt, döste inmitten des Lärms Jan de Jong mit zur Brust gesenktem Kopf. Sein zerfledderter und völlig aus der Mode gekommener Dreispitz aus dem letzten Jahrhundert hing ihm tief ins Gesicht. Neben ihm auf einer Sitzstange, den Kopf schon zum Schlafen zwischen den Flügeln verborgen, hockte, ebenso abgestumpft wie er selbst, sein Papagei Umbrella, den er auf einem englischen Segler von einem der Offiziere vererbt bekommen hatte, nachdem dieser an der Ruhr gestorben war.
Umbrella konnte auf Englisch fluchen, schlimmer als ein Maat des Teufels selbst, und Jan war Piets Faktotum. Er kümmerte sich um Piets Getränkelieferungen, um einen kleinen Warenvorrat, den Piet hier ebenfalls feilbot, seine Dirnen und darum, dass die Opiumvorräte nicht ausgingen. Dafür ließ Piet Jan tagsüber in seiner Schenke trinken und schlafen und vermietete ihm nachts ein bescheidenes Zimmer in seinem Haus.
Jan schnarchte so laut und grunzend, dass Harm es trotz des Lärms von seinem Platz aus deutlich hören konnte. Unter Umbrellas Sitzstange türmte sich der Vogelkot auf den Dielenbrettern. Niemand machte sich hier die Mühe, den schon angetrockneten Dreck zu entfernen.
Harm dachte bei sich, dass er nicht nur ziemlich weit herum-, sondern auch leider heruntergekommen war in den letzten Jahren. Er hatte sich finanziell völlig verausgabt. Er gab die Schuld daran nicht nur den zwei, drei misslungenen Unternehmungen, in die er investiert hatte, auch in Piets Winkel war ein Gutteil seines Geldes geblieben, und natürlich nicht zuletzt am Spieltisch. Nur beim Opium hielt er sich zurück. Die, die es versuchten, verfielen ihm allzu schnell; sie bekamen schwarze Zähne, und Harm fand, sie sahen binnen kurzer Zeit aus wie Gespenster aus einem nächtlichen Albtraum.
Vincent van Dijk, sein guter Freund, hatte hier auf Java die Tochter eines indischen Seidenhändlers geheiratet, die, allen Ermahnungen des Vaters und Ehegatten gegenüber völlig uneinsichtig, nur zu gern Opium rauchte. Dayita war das leibhaftige Abbild einer indischen Göttin, doch die großen dunklen Augen lagen schon seit vielen Monaten in tiefen Höhlen. Ihr Blick irrlichterte bisweilen unter halb geschlossenen Lidern, als suchte sie nach etwas, das nirgendwo zu finden war.
Dayita war nach einer beschwerlichen Schwangerschaft und der quälend langen Geburt ihres Sohnes in eine für Vincent unverständliche tiefe Traurigkeit gesunken, woraufhin man ihr eine opiumhaltige Tinktur verschrieben hatte. Kurz darauf hatte sie den Jungen einer Amme übergeben und war immer öfter in eine Welt geflohen, in die ihr niemand folgen konnte. Harm wusste, dass Vincent seine wunderschöne Frau vergötterte, ihr das Opiumrauchen zu seinem großen Leidwesen aber nicht abgewöhnen konnte.
Auch Harm war eine junge Dame versprochen. Sie hieß Greetje und stammte wie er selbst aus Arnheim. Er hatte sie nur ein- oder zweimal gesehen; da war sie noch ein halbes Kind gewesen und hatte ausschließlich auf den Boden geblickt, wenn er das Wort an sie richtete, aber sie war schön gewesen wie ein Engel von Raffael. Und genauso fern war sie auch jetzt.
Harm seufzte tief, als er an seinen Freund Vincent dachte. Der hatte im Gegensatz zu ihm schon seinen Weg gemacht: Er war, einmal abgesehen von der Sorge um Dayita, vom Glück beschienen. Was er anfasste, wurde gut, wurde zu Geld. Er hatte frühzeitig Optionen auf Gewürze, Kaffee und die Rinde des Chinabaumes gekauft, die man auch »Fieberrinde« nannte. Er würde die Güter zu einem niedrigen Preis erwerben und einen hervorragenden Gewinn damit erwirtschaften können. 1849 war ein schlechtes Erntejahr. In Teilen Javas würde sogar der Hunger grassieren.
Er selbst, Harm, hätte seiner Mutter hingegen gerade nicht einmal mehr ein faustgroßes Säckchen voller Zimt nach Europa schicken können.
Ja, seine arme Mutter. Niemand hätte mit diesem Schicksalsschlag rechnen können. Sein Vater war doch immer der reinste Arbeitsochse gewesen, kannte weder Krankheit noch Schwäche, solange Harm denken konnte. Und er schien doch stets für alle gesorgt zu haben.
Harm trank einen Schluck. Der Schnaps kratzte ihm in der Kehle. Piet brannte ihn selbst, und alle Männer in Surabaya behaupteten, es gebe eine geheime Zutat, die er mitdestilliere und die ihm der Teufel persönlich empfohlen haben müsse.
Harm fand das nicht unwahrscheinlich. Er gelangte immer wieder zu der Erkenntnis, dass Java vermutlich die Vorhölle sein musste. Viel schlimmer konnte es auch in der Halle des Teufels selbst nicht zugehen. Aber im Gegensatz zu all den armen ungetauften Würmern, die im Limbus immerhin noch auf Erbarmen durch den göttlichen Willen hoffen konnten, war er nun hier gestrandet. Ohne Hoffnung auf Rettung.
Der Brief seiner Mutter war sieben Monate unterwegs gewesen, um ihn endlich hier in diesem gottverlassenen Winkel der Welt zu erreichen.
Kleine Schweißrinnsale liefen derweil Harms Nacken hinunter und rannen in sein fleckiges Hemd. Er sehnte sich nach der Kühle eines Waldes, nach der trockenen, eisigen Luft eines sonnigen holländischen Wintermorgens und nach Schlittschuhlaufen in den Kanälen und Grachten. Er wollte wieder spüren, wie es war, wenn die Kälte einem in die Glieder fuhr; es verlangte ihn nach dem Wechsel der Jahreszeiten, nach dem frischen Wind an der Nordsee. Er hasste Java, er hasste die Hitze und die Feuchtigkeit, und das Ungeziefer hasste er am meisten.
Um gegen Schaben und Ameisen ins Feld zu ziehen, hatte Harm seine vier Bettpfosten in Wassereimer gestellt. Sein Körper war übersät von Flohstichen, und die Läuse hatten sich an anderen Stellen festgebissen, über die er nicht weiter nachdenken wollte. Dennoch hätte es ihn noch schlimmer erwischen können. Er hatte weder die Syphilis noch andere chronische Leiden.
Sein Freund Vincent hingegen war, wie so viele Europäer hier, an der Malaria erkrankt und litt unter regelmäßig aufflammenden Fieberanfällen. Aus für Harm unerfindlichen Gründen suchte Vincent nicht das Militärhospital in Surabaya auf, sondern stattdessen lieber eine Frau aus dem chinesischen Viertel, die ihm einen Absud aus übel riechenden Kräutern und Baumrinde verabreichte. Harm hatte starke Bedenken, was ihre Heilkünste betraf. Die Baumrindenbehandlung kannten auch die Militärärzte im Hospital, aber Vincent bemerkte stets, die Rinde der Frau aus dem chinesischen Viertel helfe besser als alles andere.
In die Schenke traten jetzt einige Seeleute. Sie stammten von dem niederländischen Segler, mit dem auch Harms Brief angekommen war. Laut durcheinanderredend nahmen die Männer am Tresen Platz, während eine schattenhaft dünne Gestalt sich hustend aus dem Raucherverschlag schleppte, draußen fast gegen Harms Pferd stieß und dann kraftlos das Weite im Gewimmel des Hafens suchte.
Von Vincent war noch nichts zu sehen. Harm hatte ihm durch einen Laufburschen ausrichten lassen, er möge ihm an diesem Abend in Piets Winkel doch unbedingt Gesellschaft leisten. Und zwar dringend.
Harm wusste, dass sein Freund sich nicht gern in dieser Absteige herumtrieb, aber er fühlte sich derartig elend, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie aus dem Ei gepellt in einem Klubsessel zu sitzen, zu rauchen und feinen Wein zu trinken, während er über Belanglosigkeiten plaudern musste, wobei doch der offensichtliche Ruin ihm schon in den Knochen steckte. Man würde ihn im Casino auslachen, über ihn spotten und sich hinter seinem Rücken das Maul zerreißen, während man ihm falsche Worte des Bedauerns mit auf den Weg gab. Er war vernichtet, auf verlorenem Posten sozusagen, und wo fiel ein ruinierter Kaufmannssohn schon weniger auf als hier, in Piets Winkel, inmitten all der anderen verlorenen Seelen, draußen bei den Hafenbaracken?
Er versenkte sich erneut in den Brief seiner Mutter; insbesondere der letzte Absatz löste unangenehm brennende Scham in ihm aus:
… und deswegen, mein geliebter Junge, wird es Zeit, dass Du nach Hause kommst, um Dich um die Angelegenheiten Deines Vaters zu kümmern und Deine Familie hier in Arnheim vor dem Ruin zu retten, denn ich befürchte, die geschäftlichen Verluste haben uns sehr getroffen, und wir blicken alle finsteren Zeiten entgegen, wenn Du uns nicht zu Hilfe kommst. Dein Vater sagte in seiner letzten Nacht auf Erden, dass Du inzwischen hoffentlich ein Vermögen gemacht hast und alles über den Gewürzhandel weißt, was Dir nun hier nützlich sein wird.
Wir haben so lange nichts von dir gehört. Wir sind aber doch guter Hoffnung. Wir vertrauen auf Dich. Schick uns bitte etwas Geld. Der Haushalt, das Geschäft und alle Menschen, die davon leben, hängen nur von dir ab. Ein halbes Jahr noch können wir uns halten. Länger nicht. Eile! Nimm das nächste Schiff nach Europa und mach uns Ehre! Dein Vater hätte es so gewollt. Ich kann Dir leider kein Geld schicken, aber du wirst ja nun selbst mittlerweile vermögend genug sein, um Dir die Passage leisten zu können. Es umarmt und küsst Dich innig
Deine verzweifelte Mutter.
Meylitz
Wenn es einen Preis für den am wenigsten verzehrbaren Eisbecher gegeben hätte, wäre er wahrscheinlich Pedro Schafarcyk in Meylitz verliehen worden. Die Kreationen aus Früchten, Sahne, Papierschirmen, bunten Süßigkeiten, kleinen Wedeln mit Glitzer und einer guten Portion Eis waren für jeden Gast eine feinmotorische Herausforderung, die eher an eine Art Eismikado erinnerte.
Celine Winterstein kämpfte mit einer viel zu großen Scheibe Mango, während sie gleichzeitig versuchte, die kleinen, kunstvoll getürmten Melonen-Bällchen nicht in das Sahnebett fallen zu lassen. Den Glitzerwedel wollte sie Ramses, ihrem betagten Kater, mitbringen. Er würde ihn wahrscheinlich nur zweimal sacht mit der Pfote berühren, um ihn dann desinteressiert und mit einer Spur von Verachtung links liegen zu lassen, aber immerhin.
Celine gegenüber saß Frauke Petersen, ihres Zeichens Yoga- und Fitness-Trainerin, und rührte energisch in ihrem Cappuccino namens »Winterzauber«. Sie hatte Abstand von Pedros Spezial-Eisbecher genommen, erstens weil sie einer völlig altmodischen Vorstellung verhaftet war, wonach es sich einfach nicht gehörte, im November italienisches Eis zu konsumieren, zweitens wegen einer imaginären, ständig einzuhaltenden Diät, die selbstredend unnötig war, und drittens – und dies blieb der eigentliche Grund – war ihr gerade sowieso jeder Hunger vergangen, denn ihr Partner Heiko hatte sie und die gemeinsame Wohnung vor rund einer Woche verlassen, um sein Glück mit einer anderen zu versuchen.
Celine konnte über so etwas nur den Kopf schütteln. »Und du hast im Vorfeld wirklich nichts gemerkt? Es gab nicht das kleinste Anzeichen?«
»Nichts, nada, niente. Ich bin so eine Idiotin!«, erklärte Frauke und starrte dabei in den Schaum des Getränks. »Wir waren immerhin fünfeinhalb Jahre zusammen. Ich denke immer, ich hätte doch was merken müssen … Ich hätte … Ach, nicht jetzt …«
»Das muss so demütigend sein«, murmelte Celine. »So verletzend.«
»Schon gut! Danke für deine Empathie, aber ich kann gerade nicht mehr davon brauchen, sonst fange ich wieder an zu heulen, und ich bin froh, dass ich heute zum ersten Mal wieder rausgehen kann.«
»Sorry«, murmelte Celine. Sie war bis zur Eisschicht vorgedrungen und kam sich jetzt bereits zwei Kilo schwerer vor.
Frauke rührte in ihrem Cappuccino, in dem es jetzt endgültig nichts mehr zu verrühren gab. »Ich will eigentlich auch gar nicht drüber reden, zumindest jetzt nicht; ich hab dir am Telefon eigentlich schon alles erzählt. Er ist so ein Mistkerl. Lass uns weiterlästern, wenn ich das machen kann, ohne in meinen Kaffee zu weinen!«
Celine nickte und sah kurz aus dem Fenster, obwohl es sich bei dem Anblick des trostlosen Novemberwetters nicht recht lohnte. Die Menschen vor der Eisdiele hasteten mit Schirmen bewaffnet und in Mantel und Mütze ihren Besorgungen nach.
»Und bei Konrad und dir?«, wollte Frauke jetzt wissen. »Alles gut?«
Celine dachte nach. Nein, eigentlich war alles nur halb gut. Aber sie würde sich wegen dieser lapidaren kleinen Schwierigkeiten, die sie miteinander hatten, ganz bestimmt nicht ausgerechnet jetzt bei der armen Frauke ausheulen.
Doch Frauke deutete Celines kleines Zögern anders und stürzte sich darauf wie ein Ertrinkender auf einen Rettungsring. »Oh, ihr habt Stress?«
»Nein, eigentlich nicht. Jedenfalls nicht …« Celine biss sich auf die Unterlippe, bevor sie den nächsten Löffel nahm. »Eigentlich ist nichts, nur …« Sie zögerte erneut.
»Was denn, nun sag schon!«
»Es ist nicht so leicht.« Sie blickte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo Konrad sich mit einem kleinen Fotoatelier selbstständig gemacht hatte: ein hübscher Laden, mit liebevoll und stilsicher gestalteten Schaufenstern. Er hätte sich auch in einer Großstadt gut gemacht, in einem Viertel mit individuellen Künstlerläden und besonderen Angeboten.
Hier in Meylitz jedoch fand Konrads kreatives Top-Angebot nur wenig Interessenten. Er fotografierte Hochzeiten, Schüler, die sich auf ein Praktikum bewarben, oder die Welpen einer erfolgreichen Pudelzüchterin, die sich in den Kopf gesetzt hatte, ihre Hunde mit blinkenden Schleifen auf Bergen von Pannesamt ablichten zu lassen.
Celine erinnerte sich an den Abend, als Konrad von diesem Shooting nach Hause gekommen war. Er hatte zwei große Gläser Sherry gebraucht, um überhaupt wieder ansprechbar zu sein. Für einen engagierten und ambitionierten Fotografen wie ihn war es eben nicht leicht in einer Kleinstadt, in der die Menschen so bodenständig waren, dass sie praktisch bei jedem Schritt am Boden kleben blieben. »Es läuft nicht so, wie er sich das vorstellt.« Celine kratzte die letzten Reste aus dem Eisbecher.
»Okay? Und?«
»Und er findet, ich arbeite zu viel im Betrieb, und wenn ich die restliche Zeit damit zubringe, die Winterstein-Villa im Rahmen der Kulturveranstaltungen einzubinden, geht ihm der ganze ›elitäre Country-Club-Mist‹, wie er es nennt, ziemlich auf die Nerven. Es stört ihn, wenn ich mit Sponsoren esse oder an irgendwelchen Veranstaltungen teilnehme, auf denen er sich fühlt wie das fünfte Rad am Wagen, und er schämt sich, weil er sagt, nur ich mache die Kohle, und er ist bloß der bemitleidenswerte Geliebte einer Frau, die ihn aushält.«
»Machst du das etwa?«
»Nein, natürlich nicht, aber er ist immer knapp bei Kasse. Das tut mir leid. Er tut mir leid. Der Laden verschlingt zu viel Geld. Seine Einnahmen sind schlecht. Und bei den Print-Magazinen kann er nichts mehr werden. Er sagt, er kann nichts anderes, als zu fotografieren, und wir wollen mal ehrlich sein: Was soll er sonst auch tun? Na, und deswegen gibt es ab und zu mal Stress, doch nichts Großes. Es ist einfach nur blöd, weil wir uns ja eigentlich lieben, und er …«
»Glaub mir, kein Mann will, dass seine Frau …«
»Ich bin nicht seine Frau«, unterbrach Celine. »Und komm mir jetzt nicht mit diesem Fünfzigerjahre-Klischee-Müll …«
»Ich meine …« Frauke ließ sich nicht beirren. »Seine Frau, Partnerin, Freundin … ganz egal. Kein Mann will bemitleidet werden.«
Lehrt uns die große Männerexpertin, dachte Celine ein wenig ärgerlich und murmelte stattdessen: »Ich würde es ihn niemals fühlen lassen.« Gleich darauf fiel ihr ein, dass sie damit auf den »Fünfzigerjahre-Klischee-Kram« doch reagiert und sich gerechtfertigt hatte, doch sie wollte nicht weiter auf dem Thema herumreiten.
Sie schwiegen einen Moment, bevor Frauke den Faden wieder aufnahm.
»Habt ihr euch schon mal Gedanken über Kinder gemacht?«
Celines Kopf fuhr ruckartig in die Höhe. »Kinder?«
»Ist das eine so ungewöhnliche Frage? Ihr seid immerhin auch schon einige Zeit zusammen.«
»Ich wüsste nicht, dass Kinder in einer Beziehung, in der es ohnehin schon ab und zu kriselt, irgendwie hilfreich wären.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Bestimmt hab ich das. Glaub mir.« Celine blickte auf die Uhr.
»Oh, du willst los?«, fragte Frauke. »Gehst du zu Konrad rüber? Seid ihr verabredet?«
»Nein, er ist heute Morgen bei einem Außentermin. Irgendeine Taufe, glaube ich. Er hat seinen Studenten im Laden, diesen Lars. Ohne Lars als Aushilfe liefe es wahrscheinlich noch schlechter; aber ich habe gleich einen Termin bei meiner Ärztin. Immer diese Müdigkeit. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ich wollte mal meinen Hormonspiegel testen lassen.«
»Ach, Celine, du arbeitest einfach zu viel. Du solltest wieder zum Yoga kommen.«
Als Celine aufstand und Anstalten machte zu zahlen, winkte Frauke ab. »Lass nur, ich erledige das schon!«
Celine lächelte. »Danke, Liebe. Ruf mich an, wenn du Zeit hast. Ich bin immer für dich da.« Sie beugte sich kurz hinunter, um der Freundin einen angedeuteten Kuss auf die Wange zu hauchen, als sich plötzlich draußen vor dem Fenster auf der anderen Straßenseite etwas Sonderbares ereignete. Nicht nur, dass Konrad selbst aus seinem Atelier trat, nein, er war in Begleitung einer Frau in Celines Alter, einer äußerst gut aussehenden Frau, die ein kleines Kind an der Hand führte, das sie in den Kindersitz eines vor dem Atelier abgestellten SUV setzte. Noch während sich die Autotüren öffneten und schließlich hinter Konrad und der Unbekannten wieder schlossen, lachte er gelöst, so wie Celine es bei ihm schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die drei fuhren davon.
»Wer war das?«, erkundigte sich Frauke, die das Geschehen vor dem Fenster ebenso überrascht verfolgte hatte wie ihre Freundin. »Sollte Konrad nicht auf einer Taufe sein?«
»Ach, das …« Celine bemühte sich, möglichst harmlos zu klingen, und griff nach ihrer Handtasche. »Da habe ich wohl mit Konrads Terminen etwas verwechselt. Ich glaube, nur eine gute Kundin.« Der Überlebensmodus setzte sich in Gang.
Frauke sah skeptisch zu ihr auf. »Aus Bremen? Die hatte ein Bremer Nummernschild!«
»Ach, tatsächlich? Hab ich gerade nicht so drauf geachtet. Frauke, mach dir keine Gedanken. Zwischen Konrad und mir gibt es keine Probleme, wenn, dann sind sie höchstens so groß.« Sie legte Daumen und Zeigefinger dicht aneinander und gab sich Mühe, dabei unbeschwert zu wirken. »Ganz kleine Probleme. Glaub mir. Winzig.«
Frauke blickte sie skeptisch an.
»Ich muss los!« Celine flüchtete beinahe aus der Eisdiele. Sie entgegnete nichts mehr auf Pedros fröhliches »Ciao, belissima!« Dabei sprach Pedro Schafarcyk kein Wort Italienisch. Er kam aus Bottrop.
Celine fühlte sich wie betäubt. Es konnte doch tatsächlich alles ganz harmlos sein. Eine durch und durch harmlose Begegnung. Wenn Konrad eine alte Freundin getroffen hatte, hier in Meylitz, wenn der Tauftermin ausgefallen wäre, rein zufällig, und diese andere Frau, eine alte Freundin vielleicht, einfach so hier vorbeigefahren wäre, dann würde er ihr das heute Abend ganz sicher erzählen. Er würde vielleicht so etwas sagen wie: Du wirst es nicht glauben, Celine, aber der Tauftermin heute ist ausgefallen, ich habe aber die Soundso getroffen, wir waren zusammen auf der Schule, und stell dir vor: Wir sind spontan zusammen etwas essen gegangen. Sie hat ein Kind und ist verheiratet, und sie ist sehr glücklich mit ihrem Ehemann, und ich will jetzt auch wieder glücklich mit dir sein …
Dieses Bild versuchte Celine krampfhaft aufrechtzuerhalten, als sie im Wartezimmer der Ärztin saß und dabei vergeblich gegen eine dunkle und beunruhigende Vorahnung ankämpfte. Im Behandlungsraum, vor dem Schreibtisch ihrer Frauenärztin, verdichteten sich bereits die Sorgen. Kurz darauf fühlte es sich an, als würde sie den Kontakt zu sich selbst verlieren, als Frau Dr. Kleemann ihr eröffnete: »Herzlichen Glückwunsch, Frau Winterstein. Sie erwarten ein Kind.«
Surabaya in Niederländisch-Ostindien, 1849
Vor einer Stunde war die Sonne untergegangen, und immer noch litt Harm unter der drückenden Hitze. Der Abend brachte einfach keine Abkühlung. Die Luft stand in den Gassen. Er war, genau wie am Abend zuvor, als er vergeblich auf Vincent gewartet hatte, betrunken, aber diesmal wenigstens noch Herr seiner Sinne, als er langsam vom arabischen Viertel aus in südliche Richtung ritt, das chinesische Viertel hinter sich ließ und die Rote Brücke überquerte.
Eigentlich wusste er nicht recht, wohin er wollte. Er hatte kein Ziel, er ließ sich und seine Gedanken den ganzen Tag schon treiben, dem Pferd ließ er lange Zügel. Es war ein kleines, stämmiges Ross, so wie sie in den Bergen gezüchtet wurden, robust, genügsam, mit gesunden Beinen, die es auch außerhalb Surabayas geländegängig machten. Harm konnte keine Ruhe finden, weder in seinem Quartier im Haus einer englischen Witwe noch draußen in den dumpfig schwülen Straßen.
Surabaya war ihm immer unheimlich gewesen, vom Tage der Ankunft an. Diese Stadt war ein sonderbares Mittelding aus niederländisch-kolonialer Spießigkeit und dem Chaos einer geradezu unverschämt anarchistischen Exotik. Hier gab es Häuser, die wie aus Zuckerguss erschaffen schienen, und an anderen Stellen der Stadt enge Gassen, in denen nach Sonnenuntergang Regeln galten, die Harm ängstigten und die er nicht verstand.
Die Europäer auf Java versuchten trotz der Unbilden des Klimas, die kulturellen Gepflogenheiten ihrer Heimat aufrechtzuerhalten. Sie taten dies, indem sie sich und ihren Lebensrhythmus der tropischen Hitze weitgehend anpassten; sie machten die Nacht zum Tage, schliefen viel, und mancherorts trugen die Herren bis zum Nachmittag lediglich einen Sarong.
Doch wenn die Sonne unterging, machte man Toilette, kleidete sich in Abendgarderobe und Uniform, feierte teils aufwendige Feste, ging zu Abendgesellschaften oder besuchte Konzerte. Das Militär war in nicht unbeträchtlicher Anzahl in Surabaya vertreten, und vor allem diese Herren zechten, spielten und wetteten gern.
Harm konnte ein Lied davon singen. Einen großen Teil seines Geldes hatte er hier verloren. Er bereute seine Leichtfertigkeit zutiefst, aber jetzt war es für Reue zu spät. Surabaya war für Harm eine Stadt voller Schrecken und Schlangen und mancherorts auch Krokodile, ein Ort, an dem man gut daran tat, abends Vergessen in Alkohol und ab und an auch mit Frauen zu suchen.
»Mijnheer de Beer«, flüsterte plötzlich eine Stimme aus dem Dunkel der Nacht.
Harm hatte gerade die Rote Brücke überquert und wandte sich erschrocken um. »Wer da?«, wollte er wissen und zügelte sein Pferd.
»Ich bin es, Alim.«
»Alim.« Harm entspannte sich. »Du bist es. Was tust du hier? Warum erschreckst du mich so?«
»Ich hatte nicht die Absicht, dich zu erschrecken!«
Harm blieb nur ungern stehen, auch wenn von dem Araber keine Gefahr ausging.
Alim al Shihab ritt näher. Sein Pferd war ein kostbarer Hengst, aus den edelsten Blutlinien des Orients gezüchtet. Alim war Händler. Er kaufte und verkaufte. Und er hatte aus Harms immer geringer werdenden Besitztümern zu guter Letzt vieles gekauft, was dieser eigentlich gern behalten hätte. Doch Spielschulden waren Ehrenschulden, also war Harm froh gewesen, dass Alim immerhin einen akzeptablen Preis geboten hatte.
»Was willst du?«, fragte Harm jetzt müde. Er wollte nach Hause, in sein Bett und seinen Rausch ausschlafen.
»Ich habe von deinem jüngsten Kummer erfahren«, sagte Alim.
Harm ritt nach kurzem Zögern einfach langsam weiter. »Was weißt du schon von meinem Kummer?«
Alim schnalzte leise mit der Zunge, und sein Pferd setzte sich ebenfalls in Bewegung. »Nun, mein junger und ungestümer Freund, ich weiß einfach alles darüber, weil du es gestern Abend nach viel zu viel von Piets selbst gebranntem Schnaps dem Jan de Jong erzählt hast, na, vielmehr hast du es seinem Papagei erzählt, während Jan danebensaß und gut zugehört hat. Und weil er ein ehrenwerter Mann ist, kam er damit zu mir, denn er weiß, dass ich dir vielleicht helfen kann.«
Alim al Shihab machte Geschäfte aus allem und jedem, wusste Harm. Aber da Alim auch ein frommer Mann war, der das Zinsverbot in den heiligen Schriften des Koran durchaus befolgte und ihm daher kein Geld leihen würde, wusste Harm nicht, woraus Alims Hilfe hätte bestehen können, und zu verkaufen hatte er dem Araber nichts mehr. Mit Schaudern dachte er an die letzte Nacht, in der er vergeblich auf Vincent gewartet und schließlich aus purer Verzweiflung dann wohl ausgerechnet Jan de Jong sein Herz ausgeschüttet hatte.
»Du bist also jetzt mittellos, mein Freund”, konstatierte Alim leise. »Und in Arnheim werden deine Mutter und deine Schwester am Bettelstab gehen, wenn du ihnen nicht unter die Arme greifst, und noch mehr: Da du nicht mehr liquide bist, dürfte es schwer für dich sein, überhaupt wieder nach Europa zurückzukehren, geschweige denn, den Deinen zu helfen.«
»Ich werde Jan de Jong den Hals umdrehen«, knurrte Harm.
Ruhig ritt Alim neben ihm her. »Das würde ich nicht tun an deiner Stelle. Es würde deine Probleme nur vergrößern. Und er ist schließlich nicht schuld an deiner Misere. Aber vielleicht habe ich eine Lösung für dich. Arbeite für mich. Dein Vater ist bei Allah, inschallah … Es wird Zeit für einen neuen Anfang. Geh für mich nach Nordafrika und …«
»Nein, Alim, ich will mit diesen Geschäften nichts zu tun haben. Die Sklaverei ist tot, hörst du? Und im Gegensatz zu vielen meiner europäischen Freunde tun mir all diese armen Teufel nur leid. Es ist nicht gottgefällig.« Harm hatte Kopfweh. Die drückende Hitze löste sich mit seinem Herzschlag zu einem fortwährenden Hämmern auf, das gegen seine Schädeldecke pochte.
»Du könntest es doch versuchen. In Nordafrika wartet Geld auf dich. Es soll dir nicht schlecht ergehen. Du wirst die Schulden deines Vaters tragen können, er wird nicht in Schande zu Grabe gehen.«
»Nein.« Harms Pferd fiel in einen zügigen Schritt. »Außerdem geht er nirgends mehr hin. Er liegt schon lange im Grab … falls ich jemals in die Niederlande zurückkehren sollte.«
»Du glaubst wohl immer noch, dass dein Freund, der ehemalige Soldat, dich retten wird?« Alim wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr nach kurzer Pause fort: »Du irrst. Was denkst du, warum er gestern Abend nicht zu dir gekommen ist? Er ist nur mit seiner lieblichen Ehefrau beschäftigt.«
Harm runzelte die Stirn.
»Bedauerlich, dass sie ohne das Opium nicht mehr leben kann. Nicht leben und nicht sterben. Binnen Kurzem wird ihre Lieblichkeit vergehen wie eine Blume, deren Wurzeln mit Gift getränkt wurden.«
»Es kann viele Gründe geben, warum Vincent nicht in Piets Winkel gekommen ist.«
»Auch du solltest übrigens nicht dort hingehen, mein junger Freund«, murmelte Alim. »Es ist kein guter Ort! Du machst deinem toten Vater keine Ehre, wenn du dort verkehrst.«
Harm schwieg einen Moment, bevor er wieder weitersprach. »Mir fällt gerade ein: Es war immerhin dein Laufbursche, den ich zu Vincent geschickt habe mit der Nachricht, er möge in Piets Winkel erscheinen! Vielleicht hat er seinen Auftrag gar nicht ausgeführt.«
Alim lachte. »Er ist zuverlässig, er ist ein braver Junge, und er tut alles, was man ihm aufträgt. Ich glaube nicht, dass du an ihm zweifeln solltest.«
»Mmh.« Harm sah angestrengt geradeaus. Das Denken wie das Reden fielen ihm gleichermaßen schwer. »Das ist alles sonderbar. Bitte frag den Kleinen, ob er Vincent angetroffen hat.«
»Das will ich gern tun. Aber vielleicht fragst du deinen Freund ja gleich selbst, warum er deiner Bitte nicht gefolgt ist, da du ja nun schon einmal vor seinem Haus stehst.«
»Was?« Harm sah verwirrt auf. Tatsächlich hatte ihn sein nächtlicher Ausritt, ohne dass ihm das bewusst gewesen wäre, unmittelbar bis vor Vincents Anwesen geführt. »Wie kann das sein?«
Alim legte die Zügel sacht auf den Hals seines Pferdes und hob die Arme zu einer Geste, die alles bedeuten konnte. »Wer weiß, wer weiß? Unergründlich sind die Wege des einzigen Gottes. Ich werde dich jetzt allein lassen, junger Freund. Wie mir scheint, hast du dein Ziel erreicht.«
Harm hätte noch eine Stunde zuvor sein Leben darauf verwettet, dass er ausgerechnet hier nicht hätte hingehen wollen. Zu dem, der seinem Hilferuf am Tag zuvor nicht gefolgt war, zu dem, der den Namen »Freund« vielleicht nicht mehr verdiente. Ihm war nicht nach Mitleid. Nicht an diesem Abend, nicht jetzt, aber vielleicht sollte er dem erfolgreichen Freund den Spiegel vorhalten, damit der sich des eigenen Glückes schämte. Harm war entsetzlich unschlüssig.
»Gute Nacht, Harm. Denk noch einmal in Ruhe über mein Angebot nach. Du weißt, wo du mich findest«, sagte Alim sehr leise und verschwand wieder in den nächtlichen Schatten, aus denen er kurz zuvor wie ein Schemen aufgetaucht war. Sein Pferd schien dabei lautlos über den Weg zu schweben.
Die Zikaden sangen. Gleichermaßen sehnsuchtsvoll wie bitter starrte Harm in die von Kerzenschein erleuchteten Fenster; rings um die Veranda führten Türen in den Salon und das Arbeitszimmer. Das Denken fiel ihm immer noch schwer. Unerträglich heiß und drückend lastete fortwährend die Nacht, lasteten das Versagen, das Scheitern und der finanzielle Ruin auf ihm, und er zuckte zusammen, als eine der Türen sich unversehens öffnete und Vincent auf die Veranda hinaustrat.
»Harm, bist du das? Was für eine Überraschung! Was machst du da draußen? Komm doch herein«, rief er. »Komm!« Er winkte.
Harm fühlte sich wie ein Segelschiff, in dessen Leinwand endlich der Wind fuhr. Er glitt aus dem Sattel, führte sein Pferd unter die Tamarinde, die im Garten stand, und bewegte sich in Richtung des Freundes, ob er wollte oder nicht.
Vincent lachte. »Du bist wohl betrunken, was?« Freundschaftlich legte er seinem Gast einen Arm um die Schultern und führte ihn ins Haus. »Du sagst ja gar nichts. Hat es dir die Sprache verschlagen?
Nur zögerlich betrat Harm das mit schweren dunklen Möbeln eingerichtete Arbeitszimmer. Da Vincent die Verandatür nur halb geschlossen hatte, konnte Harm immer noch den Gesang der Zikaden laut hören. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch bauschte den zarten Schleierstoff, den Dayita vor den Fenstern zum Schutz vor Moskitos hatte anbringen lassen. Vincents Haus im Außenbezirk Surabayas war nicht besonders herrschaftlich, aber eines Europäers angemessen, und er würde binnen kurzer Zeit ein größeres Haus bauen können.
»Tu nicht so, als wärst du noch nicht hier gewesen!«, sagte Vincent zu Harm. »Was willst du trinken?«
Sein Freund starrte ihn aus brennenden Augen an. »Du bist gestern nicht in Piets Winkel gekommen«, murmelte er vorwurfsvoll.
»Piets Winkel?« Vincent schenkte sich ein Glas Wein aus einer Kristallkaraffe ein. »Waren wir verabredet?«
Harm blickte zu Boden. »Ich hatte Alims Laufburschen zu dir geschickt«, sagte er leise.
Vincent runzelte die Stirn, schwenkte das Weinglas, trat näher auf den Freund zu und blickte ihm forschend aus nächster Nähe in die Augen. »Es war niemand mit einer Nachricht bei mir. Hör mal, irgendetwas stimmt doch nicht mit dir. Was ist passiert?«
Da fühlte sich Harm plötzlich, als würde er in einen unheilvollen Abgrund sinken. Er ließ sich in den weichen Polstersessel fallen. »Ich bin ruiniert. Das ist passiert«, versetzte er schließlich zögerlich, aber ohne Umschweife.
In Vincents Ausdruck spiegelte sich ungläubiges Erstaunen. »Du? Ruiniert? Ein de Beer? Unmöglich. Das kann nicht sein, du willst mich auf den Arm nehmen.«
»Hier, lies selbst.« Harm reichte ihm den Brief seiner Mutter.
Vincents Miene verfinsterte sich zusehends während der Lektüre. »Oh mein Gott«, rief er leise aus. Dann sah er Harm mit einem Ausdruck tiefen Bedauerns an. »Mein Beileid, alter Freund, zum Verlust deines Vaters!«
Harms Blick heftete sich fest auf eine Ecke des Arbeitszimmers, als könnte er dort Halt finden. »Ja, ja. Ist schon gut, Vincent. Ich komme über seinen Tod hinweg. Aber lies weiter. Der Alte hat zu heftig spekuliert. Und der Apfel fällt wohl doch nicht weit vom Stamm. Ich habe jedenfalls alles, was er mir für die Reise mitgab, durchgebracht.« Im gleichen Moment wusste Harm, was Vincent dachte, der ihn jetzt stumm und, wie es schien, höchst nachdenklich musterte.
»Sag es nicht!« Harm vergrub sein Gesicht in den Händen. »Sag es nicht. Sag mir jetzt nicht, dass ich meinen Untergang selbst verschuldet habe.
Vincent wiegte sacht den Kopf. »Manchmal ist es besser zu schweigen.«
Harm blickte zu ihm auf. Da stand er. Vincent van Dijk. Etwas älter als er selbst, von schlanker, feiner Gestalt, trotz der Malaria jedoch kräftig und vital. Sein dunkles Haar glänzte in regelmäßigen Wellen. Er war elegant, aber nicht protzig gekleidet, der Abendstunde angemessen, ein ehemaliger Soldat der niederländischen Armee. Sein Vater war in Geldern ein bescheidener Kaufmann mit eigenem Geschäft gewesen, penibel und sparsam bis zum Geiz, der alles Geld in die Ausbildung seines Sohnes gesteckt hatte. Vincent war tatsächlich aus kleinen Verhältnissen aufgestiegen, er galt als fleißig, vernünftig, bescheiden und gut. Die Götter lieben ihn, dachte Harm, während er ihn so anblickte.
»Du wirst wieder hochkommen.« Vincent gab ihm das Weinglas in die Hand. »Hier, trink!«
Harm nahm einen großen Schluck und hasste sich selbst dafür, sich unter den Augen seines Freundes kleiner und kleiner zu fühlen.
Vincent war kein Mann, der lange herumjammerte. Er tat, was getan werden musste. Nie hatte er anderes kennengelernt, und so sagte er: »Mein Freund. Du darfst jetzt nicht verzweifeln. Vielleicht hast du dein Vermögen verloren, aber deine Ehre und deine Kraft hat dir noch niemand genommen. Du wirst nach Holland zurückgehen und dir eine Stellung in einem renommierten Geschäft suchen. Du wirst für deine Mutter und deine Schwester sorgen können, und mit der Zeit wird es euch besser gehen. Ich leihe dir vorerst etwas Kapital, mit dem du zurück nach Europa reisen und dir dort einen festen Stand verschaffen kannst.«
»Du bist schnell zur Hand mit guten Ratschlägen.« Harm sah das Gesicht von Mutter und Schwester vor sich. Vor seinem geistigen Auge verwandelten sie sich in an seinen Rockschößen zerrende Straßengören, die ihn um Geld anbettelten und greinten und weinten, wenn er erst das Haus verkaufen musste. Am liebsten hätte er sie beiseitegeschoben. Schamesröte stieg ihm bei diesen Gedanken ins Gesicht. Er verbannte die Bilder und das Schuldgefühl. »Ich will keine Almosen!«
»Und ich wollte dich nicht beleidigen.« Vincent zog sich an seinen Schreibtisch zurück und nahm hinter seinen Papieren auf einem dunklen, sperrig aussehenden Stuhl Platz. »Außerdem bin ich nicht gut im Trostspenden. Frag Dayita!«
Sie blieben beide eine Weile stumm, bis sich plötzlich die Tür nach nur kurzem Klopfen öffnete, eine ältere Javanerin auf Vincent zueilte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Vincent erbleichte und sprang auf. »Seit wann ist sie fort?«
»Weiß nicht«, sagte die Frau leise.
»Was ist geschehen?« Auch Harm erhob sich jetzt etwas wackelig und unter dunklen Vorahnungen aus dem Sessel.
»Dayita …« Vincents Stimme klang belegt. »Ni Nengah sagt, sie habe sie nach dem Abendessen nicht mehr gesehen. Und gerade wollte sie ihr beim Auskleiden helfen und stellt fest, dass sie gar nicht mehr im Haus ist.«
Harm stützte sich auf der Sessellehne ab. »Was treibt sie bloß mitten in der Nacht in die Stadt hinaus?«
»Sie will Opium kaufen.« Vincent durchmaß das Arbeitszimmer mit langen, raschen Schritten.
»Opium? Zu dieser späten Stunde? Warum kauft sie es nicht wie jeder vernünftige Mensch am Tag, bei den Chinesen?«
Vincent runzelte die Stirn. »Sie ist nicht vernünftig. Sie versucht gerade, um des Kindes willen sich das Opium abzugewöhnen. Es fällt ihr schwer.«
»Du solltest dir nicht allzu viele Gedanken machen«, seufzte Harm. »Surabaya ist ein Nest. Sie kann nicht weit sein.«
»Surabaya ist ein Nest, in dem es von Schlangen, Tigern und Menschen mit seltsamen Angewohnheiten wimmelt, und damit meine ich nicht in erster Linie die Javaner«, erklärte Vincent aufgebracht.
»Wir werden sie finden!« Harm versuchte, sich in die Rolle des überzeugten und zuversichtlichen Freundes zu versetzen. Unglückseligerweise taumelte er dabei leicht nach vorn.
Unschlüssig, was sie nun als Nächstes tun sollte, war Ni Nengah derweil mitten im Zimmer stehen geblieben. Es dauerte einen Moment, bis Vincent sich wieder unter Kontrolle hatte.
»Geh du zu Job!«, erklärte er ihr. »Bleib bei meinem Sohn, bis wir zurück sind.« Und an Harm gewandt fuhr er fort: »Warte hier auf mich. Ich hole Pistolen und ein Jagdgewehr. Wir brechen sofort auf!«
Nunmehr allein in Vincents Arbeitszimmer, ein wenig überfordert von der plötzlichen Aufregung und selbst nicht allzu sehr um Dayitas Schicksal besorgt, schlenderte Harm an den Reihen von Büchern entlang, die sich Rücken an Rücken in Vincents Regale schmiegten. Er strich mit dem Finger über die Einbände, das musste er immer tun, es war eine Angewohnheit von ihm. Der Freund hatte bereits eine beträchtliche Anzahl an guter Literatur gesammelt.
Auf Vincents Schreibtisch stand eine kleine Schatulle, der Deckel war halb geschlossen. Harm fuhr auch hier eher beiläufig mit den Fingerkuppen über das samtig polierte Holz, als er, einem Impuls folgend, den Deckel aufklappte und die Optionsscheine darin erblickte.
Harm stöhnte leise auf. Vincent hatte ihm zwar schon vor Monaten erzählt, dass er Optionen auf Gewürze, Fieberrinde und Kaffee gekauft hatte, jedoch nicht, wie viele. Er musste, das wurde Harm jetzt klar, den weitaus größten Teil seines Geldes investiert haben, und da die Ernte in diesem Jahr wohl eher spärlich ausfallen würde, würde er mit diesen Optionen einen Riesengewinn machen. Die Preise würden exorbitant ansteigen. Einmal mehr erwies sich, dass Vincent mit ungeheuerlichem Glück gesegnet war.
Als er eilige Schritte aus der Eingangshalle hörte, ließ Harm den Deckel des Kistchens zufallen, als hätte er sich an einer heißen Herdplatte verbrannt, und trat schnell zwei Schritte beiseite, bevor Vincent die Tür öffnete.
»Komm, rasch«, sagte der und drückte Harm eine niederländische Pistole in die Hand.
Ayu, Ni Nengahs Ehemann, der Gärtner, Koch und Butler in einer Person war, würde sie begleiten. Er machte noch die Pferde bereit.
Sie traten eben in die Nacht hinaus, als heftiger Tropenregen einsetzte. Ungewöhnlich für diese Tages– und auch Jahreszeit.
»Sie müssen warten, bis der Regen aufhört«, rief Ayu und führte zwei Pferde am Zügel herbei.
»Nein, keinesfalls.« Vincent schwang sich in den Sattel.
»Wir könnten ja auch die Behörden benachrichtigen«, schlug Harm vor.
»Nein, wir suchen zunächst selbst«, widersprach der Freund, und Harm konnte sich denken, warum er so vehement dagegen war, dass Außenstehende in die Sache einbezogen wurden. Nach der Ernte würde Vincent nicht nur wohlhabend sein. Er hatte die Möglichkeit, endgültig in die obere Klasse von Niederländisch-Ostindien aufzusteigen. Mitten in der Nacht seine drogensüchtige Frau in irgendwelchen fragwürdigen Etablissements in Surabaya zu suchen passte nicht zu einer guten Karriere. Einen Skandal konnte und wollte er sich einfach nicht erlauben.
Sie ritten im strömenden Regen die Straße hinunter. Die drei Männer waren noch nicht allzu lange unterwegs, da gabelte sich der Weg, und sie hielten kurz an. Wasser rann Harm in Sturzbächen in den Kragen, und das Hemd klebte ihm schon am Körper, aber es war gleichgültig, ob die Hitze und der Schweiß dafür verantwortlich waren oder der Wolkenbruch.
Ayu hatte zwei kleine, mit Petroleum betriebene Lampen dabei, die er, so gut es ging, gegen die Niederschläge zu schützen versuchte.
»Dayita!«, rief Vincent immer wieder verhalten. Er wollte sie finden, ohne dabei Aufsehen zu erregen. Es war nur gut, dass sie sich in den Gassen auskannten. »Verdammt, wo steckt sie nur?«
»Wir sollten uns aufteilen«, schlug Harm vor.
»Ein guter Vorschlag«, stimmte Vincent zu.
»Bei Regen ist es nicht gut zu suchen«, sagte Ayu, womit er ein zweites Mal völlig recht hatte, wie Harm feststellte, denn sie waren bereits alle drei nass bis auf die Knochen.
»Ich reite mit Ayu in Richtung chinesisches Viertel und du in Richtung Hafen zu den Docks und Lagerhallen.«
»Einverstanden!« Harm nickte kurz, nahm eine der Lampen und wendete sein Pferd.
Das Rauschen des Regens spann ihn bei jedem Schritt und jedem seiner Atemzüge mehr ein. Ja, dachte er bei sich, er war müde von all den Katastrophen, die sein Leben auf den Kopf gestellt hatten. Ein Gefühl von Trotz und gerechter Wut überkam ihn mit jedem Meter, den er weiterkam.
Wie hatte der Vater daheim in seinen Geschäften so leichtfertig alles aufs Spiel setzen können? Dieser Vater, der ihn damals aus dem Haus hatte haben wollen, der ihn einfach an das andere Ende der Welt verfrachtet hatte wie einen beliebigen Gegenstand, der seinen Sohn, ohne sich erweichen zu lassen, gegen dessen Widerstand in die Wildnis, in diesen Dschungel, geschickt hatte.
Als junger Kaufmannssohn hätte Harm ebenso gut trocken in einem Arnheimer Kontor sitzen und etwas lernen können, aber nein, der Vater hatte ihn verweichlicht gefunden, gewissermaßen gewogen und für zu leicht befunden, obwohl er doch selbst in jungen Jahren so ein Lebemann gewesen war.
Und mit jedem Schritt, den Harm nun weiterritt, war es, als würde das Prasseln und Rauschen des Regens zu einem Chor von vielen Stimmen werden, die auf ihn einredeten. Ja, der Vater war schuld an allem. Er hatte Mutter und Schwester ins Unglück gestürzt. Harm trug keine Schuld, denn er war doch einfach nur zu jung gewesen für diese große Last. Am Anfang hatte er es dem Alten zeigen wollen, hatte sich bemüht, ihm zu beweisen, dass er auch ohne ihn zurechtkam, doch dann wurde alles so schwer, und er wurde verzweifelt und einsam und hatte nach Ablenkung gesucht. Das Glück war ihm nicht hold, er hasste die Kolonien.
Durchweicht vom Regen und immer noch schwer vom Alkohol, hörte er im Takt des Herzens und bei jedem Huftritt: Er ist schuld, nicht du. Der Chor raunte weiter, unablässig summend, rauschend: Vincent ist reich, und du bist arm, und als erbärmlicher Tropf wirst du nach Europa zurückkehren.
Immer eindringlicher wurden die Stimmen, er wollte ihnen ausweichen, sie zum Schweigen bringen. Bald ritt er in versammeltem Galopp, dann wurde er schneller und ließ dem Tier die Zügel fahren. Mit lang ausgestrecktem Hals und geweiteten Nüstern preschte es schließlich durch die Nacht, bis Harm plötzlich keuchend anhielt.
Nicht ein einziges Mal hatte er Dayitas Namen gerufen, und als er aufblickte, stellte er fest, dass er, ohne es zu merken, im Kreis geritten war. Er befand sich wieder unmittelbar vor Vincents Haus und blickte sich um. Ganz kurz glaubte er, er habe eine flüchtige Bewegung wahrgenommen, ein zartes Wiehern gehört, aber durch die Geräusche des Regens drang nichts weiter durch, und es war jetzt niemand auf der Straße vor Vincents Haus zu sehen.
Die Verandatür stand noch offen. Der zarte Gazeschleier hing durchnässt halb vor der Tür. Harm stieg ab, führte das Pferd in den Garten, trat vorsichtig auf die Veranda.
Im Haus greinte irgendwo ein kleines Kind. Es musste sich um Job handeln, Vincents Sohn. Er schrie vielleicht nach der Amme oder seiner Mutter. Harm schluckte die Trockenheit in seiner Kehle hinunter. Es würde nur ein Schritt sein, ein Schritt hin zu Vincents Schreibtisch und der Schatulle. Und waren nicht um ihn her all diese Zeichen, die dafürsprachen, dass er es tun sollte, die geöffnete Tür, die nicht weggeschlossenen Papiere? Und würde nicht Vincent viel besser wissen als er, wie es sich in bescheideneren Verhältnissen lebte, wie es gelang, mit nur wenigem zurechtzukommen?
Das Rauschen des Regens umhüllte ihn jetzt ganz. Der Chor flüsterte in vielen Stimmen: Tu es. Tu es.
Ihm schien, als zöge sich alles in ihm auf einen einzigen winzigen Punkt zusammen. Er musste eine Entscheidung treffen.
Er musste sich jetzt entscheiden, ob er ein guter oder ein schlechter Mensch sein wollte. Niemand würde ihm diese Entscheidung abnehmen. Er war grenzenlos allein.
Meylitz
Celine fühlte sich einsam. Unter normalen Umständen wäre sie Konrad wohl an diesem Abend um den Hals gefallen, hätte ihn mit einem großartigen Essen überrascht, um ihm beim Nachtisch die wunderbare Neuigkeit zu verkünden.
Jetzt hatte er diese Gelegenheit zunichtegemacht, obwohl Celine sich immer wieder ins Bewusstsein rief, dass »der Vorfall«, wie sie es nannte, vom Morgen eine ganz natürliche und völlig harmlose Ursache haben konnte.
Trotzdem hing die Unruhe einer dunklen Ahnung über ihr.
Celine lauerte nur darauf, dass Konrad nach Hause kam, und tigerte unruhig durch die Wohnung. Es war drei Jahre her, dass sie die alte Villa Winterstein vor dem Verfall und gleichermaßen vor dem Verkauf gerettet hatte. Sozusagen unter Lebensgefahr hatte sie das alte Familiengeheimnis ihrer Urgroßmutter Claire damals gelüftet, und als alles glücklich überstanden war, wurde die Villa Winterstein unter Einhaltung sämtlicher Denkmalvorschriften so wieder hergerichtet, dass ein Teil der Räume jungen Künstlern als Veranstaltungssaal zur Verfügung gestellt werden konnte. Auch Ausstellungen fanden in der alten Remise statt, kleine Konferenzen konnten hier tagen.
Die Stadt Meylitz und ein Förderkreis unterstützten die öffentliche Nutzung der alten Villa, die auf eine bewegte Geschichte zurückblicken konnte. Celine hatte sich in einem Teil des Hauses ein großzügiges, aber nicht überkandideltes Apartment für Konrad und sich selbst eingerichtet.
Da sie einen Teil ihrer Kindheit in der Villa verbracht hatte, fühlte sie sich dem alten Gemäuer sehr verbunden. Sie liebte dieses Haus trotz oder vielleicht auch wegen seiner bewegten Geschichte und sah es als Herzensaufgabe, nunmehr dafür zu sorgen, dass es mit kulturellem und kreativem Leben gefüllt wurde. Sie hatte das Apartment hell und freundlich eingerichtet.
In dem großen Wohnraum, in den eine offene Küche und ein Essplatz integriert waren, hingen Bilder junger Künstler an den Wänden. Die restaurierten alten, hohen Fenster symbolisierten beispielhaft das perfekte Zusammenspiel zwischen Erhalt des denkmalgeschützten Gebäudes und moderner Wohnqualität. Es gab noch ein Schlafzimmer ein Stockwerk höher, ein kleines Gästezimmer und ein Arbeitszimmer.
Als Celine Konrads Autoreifen im Kies knirschen hörte, begann sie die kleine Inszenierung, die sie sich zurechtgelegt hatte, huschte zur Couch, verschwand unter einer großen Strick-Wolldecke und nahm ein Buch zur Hand.
Konrads Schlüssel drehte sich im Schloss. »Hallo?«, rief er ziemlich fröhlich in die Wohnung. Zu fröhlich. Fröhlicher als sonst?
Celine ließ das Buch in der Hand sinken und schloss die Augen. Als er ins Wohnzimmer kam, musste er annehmen, dass sie beim Lesen eingeschlafen war.
»Hallo, Schatz«, sagte Konrad, seine Stimme kam aus nächster Nähe. Und weiter: »Du schläfst doch gar nicht!« Die Inszenierung drohte etwas anders zu verlaufen, als Celine sich das vorgestellt hatte. Sie räkelte sich ostentativ.
»Jetzt zumindest schlafe ich nicht mehr!« Sie öffnete die Augen. Er hatte Blumen in der Hand.
»Was ist das?«, erkundigte sie sich.
»Blumen für dich!«
»Für mich? Warum?«
»Nur so.« Er gab ihr einen kleinen Kuss auf den Mund.
»Oh, danke schön«, sagte sie skeptisch. Er hatte ihr schon lange keine Blumen mehr geschenkt. »Wie war dein Tag?«
»Gut!« Am Ende seiner Antwort dieser kleine Schlenker, der das Wort beinahe wie eine Frage klingen ließ.
»Stellst du die Blumen für mich in eine Vase?«, bat sie ihn.
»Selbstverständlich, mein Schatz!« Konrad machte sich auf den Weg zum Küchenschrank.
»Nimm die graue Tonvase, ja?« Celine ging nun innerlich in eine gewissermaßen lauernde Position. »Was hast du heute so gemacht?« Er würde es ihr sagen, er musste es ihr sagen.
»Oh, ich habe zur Abwechslung mal Geld verdient.« Konrad klapperte im Küchenschrank herum und holte eine der Designervasen heraus, die Celine vergangenes Jahr in der Adventszeit auf dem sündhaft teuren Weihnachtsmarkt im Bootsklub erstanden hatte.
»Hört sich gut an«, murmelte Celine. »War da nicht heute diese Taufe?«
Konrad füllte die Vase mit Wasser und schien einen Moment zu zögern. »Die … Taufe, ja, genau, eine Taufe.«
Celine spürte, wie sich plötzlich Angst in ihrem Magen ausbreitete. Sie flog als flaues Gefühl zitternd zum Herzen hinauf, versetzte es in Unruhe und umklammerte dann ihre Kehle. Sie wollte Konrad kompromittieren und ihm die Vase am liebsten vor die Füße werfen, aber sie atmete weiter. Aus Ungewissheit wurde Gewissheit. Das Leben ging dabei völlig unverständlicherweise einfach weiter. Sie wusste nicht, wieso sie in den letzten Stunden gedacht hatte, er hätte eine einfache Erklärung für sie und würde ihr erzählen, was geschehen war, was tatsächlich heute geschehen war. Aber es wurde noch schlimmer: »Heute Morgen, oder?«, hörte sie sich selbst fragen.
»Ja, heute Vormittag, genau. Es war eine … sehr schöne Taufe, drüben in … ehm … Golmitz …«
»Golmitz? Tatsächlich?«
Konrad ordnete die Blumen in der Vase an. »Ja, eine sehr nette Familie, und das Taufkind war wirklich lieb, es war schon zwei Jahre alt und …«
»In welcher Kirche wart ihr denn?«
»Oh, das war eine Taufe unter freiem Himmel sozusagen. Am Meer … Ich habe immer noch Sand in den Schuhen.«
»Ah ja.« Celine wunderte sich, dass sie einfach immer noch weiteratmen konnte. Ihr war nicht bekannt gewesen, dass Konrad so gut lügen konnte. »Bei diesem Wetter? Wir haben November.«
»Sie hatten einen … Pavillon, da war ein … Zelt am Strand. Das … ehm … haben sie da aufgebaut, und gegen Mittag kam ja auch mal kurz die Sonne raus und …« Er ordnete die Blumen dabei immer noch eher mechanisch in der Vase an, sodass sie aussahen, als hätte er eine Auswahl an Suppenkräutern in der Gemüsetheke drapiert.
Sie ersparte ihm die Erniedrigung und sich selbst die Demütigung und fragte nicht weiter nach Einzelheiten. Er log. Er tat es gut. Hätte sie ihn nicht heute Vormittag gesehen, und hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie auf seine Antworten hereingefallen, selbst wenn sie etwas verhalten kamen.
»Und bei dir?«, wollte Konrad nun wissen. Die Blumen, die er jetzt auf die Fensterbank stellte, sahen unschuldig in den Garten hinaus. Celine heftete fest ihren Blick auf den herbstlichen Strauß. Er bestand aus Astern in dunklem Rot mit Zweigen vom Stechapfel. Sie wusste, sie würde fortan in ihrem Leben Astern nur noch mit diesem Abend in Verbindung bringen. Von nun an würde sie sie hassen.
»Ach, bei mir war eigentlich nichts«, sagte sie und legte die Hand auf ihren Bauch, in dessen Tiefen gerade jetzt etwas für Celine Einmaliges und Spektakuläres vor sich ging. Verborgen vor diesem Leben da draußen. Verborgen vor Konrad. Er hatte es nicht verdient, dass sie ihm davon erzählte. Und so, beschloss sie in diesem Moment, würde es auch bleiben. Nur du und ich, dachte sie. Nur du und ich. Das war das einzige Gefühl von Macht, das ihr augenblicklich zustand, denn gegenüber allem anderen fühlte sie sich machtlos und ausgeliefert.
»Hast du dich heute nicht mit Frauke im Fitness-Studio getroffen?«, wollte Konrad wissen. Er räumte seine Tasche aus und suchte im Küchenschrank die Kaffeebohnen.
»Nicht im Studio. Wir waren in Meylitz, Eis essen!«
Er verharrte nur ganz kurz und schien nachzudenken. Aber als sie schwieg, bestückte er die Kaffeemaschine weiter und sagte dabei nur: »Ah ja? Im Winter?«
»Ja, genau, ein Solidaritätsbesuch in Schafarcyks Eiscafé.« Und weil sie wusste, dass es Konrad ärgern würde, fügte sie hinzu: »Wir haben den Adventsmarkt im Bootsklub noch einmal kurz besprochen. Dieses Jahr ist das Ganze kulturell ja ein wenig anspruchsvoller, wegen des Musikprogramms.«
»Noch anspruchsvoller? Warum trefft ihr euch nicht einfach mal wie normale Leute, werft den Grill an, esst, trinkt Glühwein und legt anständige Weihnachtsmusik auf?«
»Ich würde sagen, Bach ist durchaus eine anständige Weihnachtsmusik, und nicht alle Leute sind eher bescheiden in ihren Ansprüchen«, versetzte Celine spitz.
»Du bist nicht gut gelaunt!«
Celine legte die Wolldecke zusammen. »Ich glaube, ich gehe schlafen.«
»Um halb sieben? Und ohne Abendessen?«
Celine tappte in den Flur. »Ich bin müde!« Auch ohne sich umzudrehen, wusste sie, dass er ihr verdrossen und kopfschüttelnd nachblickte. Aber dieses eine Mal war es ihr völlig egal.
Surabaya, 1849
Harm wollte kein schlechter Mensch sein, aber jetzt wusste er: Er war es. Er hatte seine Entscheidung getroffen und war dabei so voller Panik und Schrecken gewesen, dass er nicht einmal darüber nachgedacht hatte, Vincent wenigstens einige seiner Optionen zu lassen. Nein, er hatte sie gleich alle genommen, hatte gierig in Vincents Schatulle gegriffen und die Scheine hastig in seine Taschen gestopft. Seine Hand hatte alles umschlungen und an sich gerissen. Einmal hatte er gesehen, wie ein Krokodil einen Ochsen verspeist hatte. Seine mächtigen Kiefer hatten blitzschnell zugeschnappt, den Ochsen unter Wasser gezogen, und das Tier war binnen kürzester Zeit in großen, gierigen Happen verschlungen, ausgelöscht worden.
So war auch er, Harm, plötzlich aus dem Dunkel der Nacht erschienen und hatte Jagd gemacht, Beute geschlagen und dem Freund gierig alles genommen, was dieser sich in Jahren aufgebaut hatte.
Und jetzt hockte er in dieser schicksalhaften Nacht unten am Hafen, nicht allzu weit von Piets Winkel entfernt, auf einigen Reissäcken, die mit einer gewachsten Plane abgedeckt waren. Auch jetzt noch hörte man die Schmiedehämmer, ihr unentwegtes Klopfen, und die Luft war durchdrungen vom Geruch der Feuerstellen. Ohne Unterlass wurde hier gearbeitet. Einige Kriegsschiffe lagen vor Surabaya auf Reede, und ihr Hunger nach Waffen und Ausbesserungen der Kanonen, der Takelage, der Rümpfe und allem anderen, das nach Tausenden von Seemeilen gelitten hatte, war gewaltig.
Der Regen ließ langsam nach. Bei Piet hielten sich nur noch die Spätzecher und die Betrunkenen auf, Harm überlegte, ob Opium nicht doch eine Lösung für ihn sein könnte.
Er grübelte auch, ob er zurückgehen und Vincent alles sagen, ihm sein Herz ausschütten sollte. Vielleicht würde der Freund ihm verzeihen. Es erschien im Rückblick erschreckend leicht, einen Menschen zu zerstören. Andererseits war Vincent vielleicht gar nicht zerstört. Vielleicht hatte er noch irgendwo Reserven, könnte eine kleine Plantage kaufen. Oben in den Hängen.
Dann fiel Harm wieder ein, warum er eigentlich hätte hier draußen sein sollen. Vielleicht war Dayita etwas zugestoßen. Er hatte ihr Verschwinden nach seinem Diebstahl zunächst völlig beiseitegeschoben; zu stark waren die Eindrücke seiner eben begangenen Tat, als dass ihn noch etwas anderes hätte beschäftigen können. Er war kopflos auf sein Pferd gestiegen und hinunter zum Hafen geritten, wo man ihn wohl am ehesten vermuten würde.
Doch jetzt öffneten sich seine Gedanken für das ganze Bild, und mit Schaudern stellte er fest, dass Vincent möglicherweise nicht nur sein Vermögen verloren hatte, sondern auch seine Ehefrau.
Als er plötzlich unversehens angesprochen wurde, erschrak er beinahe zu Tode. Es war de Jong, der offenbar mit seinem Papagei auf der Schulter zu Piets Etablissement unterwegs war. Eine Lampe baumelte an seinem Gürtel.
»Aye«, brummte Jan mit seiner tiefen, zerfurchten Stimme. »Ruhig Blut, de Beer! Ich will dir nichts. Sind dir in dieser Nacht etwa Gespenster erschienen, dass du fast umfällst, wenn jemand dich anspricht.« Er lachte. Umbrella, die die Unterhaltung von seiner Schulter aus verfolgte, blinzelte.
»Nein.« Harm keuchte immer noch vor Schreck. »Ich war nur in Gedanken.«