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Ende des 19. Jahrhunderts: Raquel zieht nach Burg Weidenau, um dem Burgherren Jakob Martin Donkert als Gesellschafterin zu dienen. Von Tag zu Tag ist die junge Frau mehr fasziniert von dem ehrgeizigen Botaniker und Insektologen - und aus zarten Banden entwickelt sich bald stürmische Leidenschaft. Doch kann diese unstandesgemäße Liebe glücklich enden?
Heute: Für Tessa könnte es nicht besser laufen! Frisch aus den Flitterwochen zurück steht die Eröffnung ihres Tagungshotels Burg Weidenau kurz bevor. Als sich die ersten Gäste ankündigen, ahnt Tessa nicht, dass ein furchtbares Unglück all ihre Zukunftsträume vernichten soll. Die Burg umgibt ein düsteres Geheimnis, und Tessas eigene Vergangenheit wirft ihre dunklen Schatten auf ihr zart keimendes Glück ...
Der neue bewegende Familiengeheimnis-Roman von Carolin Rath, der Autorin des Bestsellers »Das Erbe der Wintersteins«.
Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
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Seitenzahl: 494
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
Tessa 1
Raquel 1
Tessa 2
Raquel 2
Tessa 3
Raquel 3
Tessa 4
Raquel 4
Tessa 5
Raquel 5
Tessa 6
Raquel 6
Tessa 7
Raquel 7
Tessa 8
Raquel 8
Tessa 9
Raquel 9
Tessa 10
Raquel 10
Tessa 11
Raquel 11
Tessa 12
Raquel 12
Tessa 13
Raquel 13
Tessa 14
Raquel 14
Tessa 15
Raquel 15
Tessa 16
Epilog
Eine unstandesgemäße Liebe. Ein ergreifendes Schicksal. Eine Burg, die mehr als nur ein düsteres Geheimnis birgt.
Ende des 19. Jahrhunderts: Raquel zieht nach Burg Weidenau, um dem Burgherren Jakob Martin Donkert als Gesellschafterin zu dienen. Von Tag zu Tag ist die junge Frau mehr fasziniert von dem ehrgeizigen Botaniker und Insektologen – und aus zarten Banden entwickelt sich bald stürmische Leidenschaft. Doch kann diese unstandesgemäße Liebe glücklich enden?
Heute: Für Tessa könnte es nicht besser laufen! Frisch aus den Flitterwochen zurück steht die Eröffnung ihres Tagungshotels Burg Weidenau kurz bevor. Als sich die ersten Gäste ankündigen, ahnt Tessa nicht, dass ein furchtbares Unglück all ihre Zukunftsträume vernichten soll. Die Burg umgibt ein düsteres Geheimnis, und Tessas eigene Vergangenheit wirft ihre dunklen Schatten auf ihr zart keimendes Glück …
eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.
Carolin Rath, geboren 1964, studierte Sozialwesen. Sie sitzt gern in Zeitmaschinen und bereist in ihrer Phantasie die jüngere und weiter zurück liegende Vergangenheit. Als permanenten Wohnort zieht sie jedoch die Gegenwart eindeutig vor. Carolin Rath wohnt in einem kleinen, alten Fehnhaus in Ostfriesland, umgeben von Eichen, Wallhecken und Feldern.
Carolin Rath
DIE BURGAM MONDSEE
beHEARTBEAT
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dorothee Cabras
Lektorat: Anne Pias
Covergestaltung: Nicole Meyer, designrevolte.de unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: Silver30 | matthi | Sumeth Mamuang
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-73253-875-1
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Es war ein perfekter Tag.
Sanfter Wind streichelte über ihre Haut, als sie die Fensterflügel öffnete.
Tessa dachte, dass dies der schönste Mai ihres Lebens war, und atmete die weiche Luft in vollen Zügen. Unten, im Innenhof, war für Valeries Zwillinge schon das Planschbecken aufgebaut. Ihre wilden, fröhlichen Kinderschreie drangen bis zu Tessa herauf.
Valerie, wie immer ganz in Schwarz, im chic gestylten Outfit und mit mindestens einer bunt gefärbten punkigen Haarsträhne, war gerade auf dem Weg in ihr Büro, das schräg gegenüber dem Hauptgebäude in der ehemaligen Zehntscheune lag.
»Morgen, Tess!«, rief sie gut gelaunt und winkte nach oben.
»Morgen«, gab Tessa zurück. »Was steht heute an?«
»Die Tagung der Achterbahningenieure. Und das Catering kommt gleich.«
»Ich könnte helfen«, meinte Tessa.
»Oh nein, nicht nötig. Nicht an deinem ersten Tag hier. Du bist gestern erst zurückgekommen. Koch dir einen Kaffee, pack in Ruhe aus. Ich erledige das schon.«
Valerie sah noch kurz nach ihren Zwillingen, die sie vom Büro aus im Auge behalten konnte. Die beiden Achtjährigen machten den Eindruck, dass sie nicht unglücklich darüber waren, wenn ihre Mutter jetzt arbeiten musste. Sie hatten schulfrei und wussten ihre Zeit gut zu nutzen.
Tessa warf aus dem Fenster einen zufriedenen Rundblick auf die Burganlage.
Sie war angekommen. Dies war ihr Zuhause. Burg Weidenau, eine ursprünglich aus dem vierzehnten Jahrhundert stammende und auf einer sanften Anhöhe gelegene kleine Burganlage rund vier Kilometer vom Mondsee entfernt. Während einiger Fehden war die Burg in frühen Jahrhunderten fast verbrannt, in Kriegen beinahe gänzlich zerstört und doch immer wieder aufgebaut worden.
Die eigentliche Wohnburg bestand aus rotem Stein. Wirtschaftsgebäude mit Stallungen und ein lang gestreckter Fachwerkbau aus späteren Jahrhunderten sowie weitere kleine Gebäude umgaben einen Hof mit Kopfsteinpflaster. Der alte Burgfried stand nur noch als malerische Ruine, an dessen Mauern sich jetzt Kletterrosen und rankende Hortensien schmiegten.
Wo früher vor den Wällen der Burg ein Hausgarten, die Weiden und Wirtschaftsflächen gelegen hatten, erstreckte sich jetzt ein kleiner Park mit zahlreichen verschlungenen Wegen unter alten Bäumen, die geradewegs in einen von Tessa frisch angelegten Staudengarten führten.
Burghardt, ihr Mann, war äußerst erfolgreich darin gewesen, Weidenau in ein Paradies zu verwandeln, nachdem Tessa es stark sanierungsbedürftig von der Großmutter geerbt hatte.
Dass ein großer Teil des Anwesens nun als hoffentlich wirtschaftlich arbeitender Tagungsort zur Verfügung stand, war eine Grundbedingung gewesen, um Weidenau zu erhalten. Die Anlage würde sich in Zukunft finanziell selbst tragen müssen.
Tessa hatte nicht nur Verständnis für dieses Geschäftskonzept, sie sah darin auch eine neue berufliche Chance für sich selbst, und außerdem fand sie, dass es dem Anwesen guttun würde, Gäste zu beherbergen. Eine Burg wollte mit Menschen gefüllt sein, mit Geschäftigkeit, mit Leben und nicht nur den spannenden Geschichten aus alten Zeiten.
Ihre private Wohnung lag im Hauptgebäude, direkt über der alten Bibliothek, die jetzt als kleiner Veranstaltungssaal diente. Der Umbau, die Umstrukturierungen und der Kampf mit den Behörden hatten Burghardt ziemlich viele Nerven gekostet. Aber er wäre nicht der erfolgreiche, international bekannte Architekt Burghardt Faerber, wenn er sich davon hätte beeinflussen oder gar abhalten lassen. Und an dem Tag, an dem auch der letzte Handwerker in Weidenau das Feld geräumt hatte, hatte Burghardt Tessa am Abend nach dem Essen in einem Fünf-Sterne-Restaurant eine kleine Schachtel überreicht, und darin hatte ein Schlüssel gelegen. Der Schlüssel zu Weidenau.
»Für meine Schöne«, hatte Burghard gesagt und sie dann geküsst. Wie liebte sie seine Küsse, diese zärtlichen, sinnlichen Küsse. Auch nach fünf Jahren noch, und sie wusste, sie würde sie selbst in Jahrzehnten noch lieben. Und dann hatte er ihr noch etwas in die Hand gedrückt, einen Umschlag, und in dem steckten die Tickets nach Mauritius.
»Willst du mich heiraten?«, hatte er sie gefragt. Seine Stimme klang dabei etwas rau vor Nervosität. »Ich bin zwar schon ein alter Knacker, doch ich liebe dich, das weißt du, und ich werde es für den Rest meines Lebens tun. Du gehst also kein Risiko ein und …« Dann schwieg er, damit sie Ja sagen konnte, und sie küsste ihn mit so viel Zärtlichkeit, wie es in diesem vornehmen Restaurant eben möglich war.
»Du bist kein alter Knacker«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Burghardt Faerber war fünfzig, Tessa Donkert erst vierunddreißig. Sie machte sich nichts aus dem Altersunterschied. Sie liebte Burghardt einfach mit jeder Faser ihres Körpers. Sie liebte ihn nicht, weil er gut situiert war oder erfolgreich, klug oder durchsetzungsfähig, sie liebte ihn einfach um seiner selbst willen. Sie liebte den sensiblen, empfindsamen Geist, der in ihm wohnte, genauso wie seine ruhige Souveränität, die herzliche Verbindlichkeit, mit der er seine Freunde bedachte, und die Großzügigkeit im Umgang selbst mit denen, die ihm nicht gewogen waren. Sie liebte seine Zuversicht bei der Begegnung mit Widerständen und die Art seines Optimismus, die sie schließlich gelehrt hatte, ihr Leben doch noch zu lieben, obwohl ihr das vor der Begegnung mit Burghardt so lange schwergefallen war. Er war in jeder Hinsicht einfach perfekt, und sie beide waren das perfekte Paar. Ganz gleich, wo sie zusammen erschienen, ob im Golfklub, im Kulturkreis oder bei der Opernpremiere, ihre Freunde lagen ihnen zu Füßen, dem charmanten Burghardt und seiner schönen und eleganten jungen Frau.
Gemeinsam würden sie noch einen weiten Weg zurücklegen, auf dieser verheißungsvollen Reise durch ihr Leben.
An dem Abend des Heiratsantrages hatten sie beide gescherzt, dass Tessa also offiziell »Burgfräulein« geworden war, und über das »Fräulein« hatten sie in dieser Nacht noch viele Male ziemlich anzüglich gelacht.
Zur Hochzeit auf Mauritius reisten auch Tessas Eltern an. Burghardts Vater allerdings, der gebrechliche Herr Faerber, war zu alt und krank, als dass er hätte mitkommen können, und seine ungeliebte Mutter Regina wurde bei den Einladungen von Burghardt geflissentlich übergangen.
Aber er spendierte Tessas bester Freundin Margot und seinem Teilhaber und engen Vertrauten Henk Sachs Tickets für die Traumreise.
Nachdem die Hochzeitsgäste schon längst wieder in Deutschland waren, blieben für die beiden Liebenden noch vierzehn Tage der Strand, die Sonnenuntergänge und das exotische Paradies ihre Heimat, dann ging es zurück: für Tessa nach Weidenau, Burghardt jedoch stieg in München in ein anderes Flugzeug. Ein Geschäftsauftrag führte ihn noch für einige Tage nach Saudi Arabien.
Es fiel Tessa schwer, nach den Flitterwochen allein nach Weidenau zurückzukehren. Es fühlte sich nicht richtig an, dennoch sah sie die Notwendigkeit ein. Sie tröstete sich damit, dass sie nicht viel Zeit für Sehnsucht haben würde. Es gab noch genug zu tun mit der Einrichtung der neuen Wohnung und der Aufnahme des Gästebetriebs.
Tessa freute sich auf ihren neuen Beruf, auf die Verwaltung des Tagungsortes Weidenau mit allem, was an Herausforderungen dabei auf sie zukam. Lehramt Grundschule war ohnehin ein Albtraum für sie gewesen. Auch die Ferien hatten darüber nicht hinwegtrösten können. Die Hälfte der Zeit verbrachte sie damit, sich vor dem nächsten Halbjahr zu gruseln. Sie hatte keine Angst vor den Kindern, eher vor den Eltern, die immer so taten, als gäben sie die Verantwortung für ihre lieben Kleinen zum Zeitpunkt der Einschulung ersatzlos an Tessa und ihre Kollegen ab, die dafür gefälligst auch noch Dankbarkeit zeigen sollten.
Tessa war sich ziemlich sicher, dass sie einen guten Start in ihre neue Berufstätigkeit haben würde. Valerie Pohl, ihres Zeichens Reiseverkehrskauffrau und Eventmanagerin mit Erfahrungen als Geschäftsführerin eines Fünf-Sterne-Hotels, würde sie perfekt in die Materie einarbeiten. Burghardt hatte sie während eines Architektentreffens in einem Berliner Hotel kennengelernt und sofort für Weidenau abgeworben. Valerie, das hatte Tessa von Burghardt erfahren, war gern hergekommen. Hier blieb sie frei in ihren Entscheidungen, die Anwesenheit ihrer Kinder war völlig unproblematisch, sie erhielt eine schicke und geräumige Wohnung in der Burg für eine überschaubare Miete. Und es gefiel ihr offensichtlich, hier am Aufbau eines neuen Projektes beteiligt zu sein.
Tessa kannte Valerie noch nicht sehr lange, aber sie war überzeugt, mit ihr gut klarzukommen.
Ida und Tommy, Valeries Zwillinge, kreischten draußen im Hof aus vollem Hals im Planschbecken. Ihre Freude und Begeisterungsfähigkeit wirkten ansteckend, und Tessa lächelte, während sie mit Kaffeedurst in ihre offen gestaltete Küche schlenderte. Burghardt hatte sie selbst entworfen. Er war Ästhet und kannte überdies auch Tessas Bedürfnis nach Wärme. So war die Küche kein seelenloser, kalter Raum geworden, sondern ein lichter, sonnendurchfluteter Ort mit weichen Konturen in naturbelassenen Holztönen.
Die Kaffeemaschine setzte sich brummend in Bewegung. Tessa strich über ihren Bauch.
»Jetzt trinken wir zwei erst mal Kaffee«, sagte sie, »und wenn dein immer noch unwissender Vater übermorgen nach Hause kommt, werden wir eine schöne Überraschung für ihn parat haben.« Sie lachte beim Gedanken an Burghardts Gesicht. Es war klar, er wünschte sich einen kleinen Faerber junior. Aber dass es so schnell geklappt hatte, damit hätten sie wohl beide nicht gerechnet. Dabei wusste Tessa schon lange sehr genau, dass das Zimmer neben der Küche einmal das Kinderzimmer werden würde. Es war der ausgefallenste Raum der Wohnung mit einer noch aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden, perfekt erhaltenen Wandtäfelung, deren kunstvolle Bemalung mit Blumen und Vögeln aller Art wohl einmal einer entfernten Vorfahrin Tessas den Weg in die Träume erleichtert hatte.
Als das Telefon klingelte und Tessa aufstand, überflutete sie ein warmes Gefühl für das Kind, das in ihr heranwuchs. Es würde geliebt werden. Es würde vielleicht Burghardts graue Augen haben, seine Locken oder ihr dunkles, glattes Haar. Etwas von ihnen beiden würde sich in ihm wiederfinden und zu etwas Neuem, Einzigartigem werden.
»Faerber«, meldete sie sich. Es war Burghardt. Seine Stimme klang weit entfernt, aber ziemlich klar.
»Tess … Ich wollte dich noch mal schnell hören, bevor der Tag richtig losgeht.«
»Das ist so lieb von dir!« Tessa freute sich. »Wo bist du? Im Hotel?«
»Nein, wir sind schon in der Luft und überfliegen die Wüste. Du kannst dir nicht vorstellen, was der Jetlag mit mir anstellt. Aber egal, bald bin ich wieder zu Hause, bei dir. Ich zähle die Stunden. Und weil die Grandlife Corp. so furchtbar spendabel ist, sitze ich in einem Privatjet und kann mir den Luxus erlauben, meine Frau anzurufen. Ist alles in Ordnung bei dir?«
»Alles bestens.« Tessa nahm einen Schluck Kaffee. »Vielleicht gehe ich heute auf Fotojagd. Das Einzige, was mich an diesem schönen Maitag stört, ist, dass ich es ohne dich tun soll, und natürlich, dass ich noch bis zu den Sommerferien arbeiten muss.«
»Nur noch wenige Wochen. Die Zeit geht auch vorbei«, tröstete Burghardt sie. Er war jetzt aber plötzlich schlecht zu verstehen. Sein nächster Satz erreichte Tessa fast gar nicht mehr.
»Burghardt, ich glaube, ihr steckt gerade in einem Funkloch oder so etwas … Burghardt?«
»Tessa!« Seine Stimme klang verzerrt. Er wollte ihr etwas sagen. Etwas Dringendes. »Tess«, rief er erneut, gefolgt von splitternden und krachenden Geräuschen im Hintergrund.
Panik flutete sie, und ein stechender Schmerz in ihrem Bauch raubte ihr plötzlich fast den Atem. »Burghardt, was ist da los? Burghardt, rede mit mir!«, flehte sie. »Burghardt, sag mir, was da los ist. Bitte!«, schrie sie. »Bitte … rede mit mir!«
Doch nur ein verlassenes Rauschen in der Leitung war die Antwort.
Weidenau, zwei Jahre später
Traurigkeit war etwas, das man wie ein Gewand nach innen tragen konnte, ohne dass es einem die Leute direkt ansahen.
Nicht, dass Tessa niemals lachte. Etwa ein Jahr nach Burghardts tödlichem Flugzeugabsturz hatte sie in der Stadt eine Frau gesehen, deren Regenschirm während einer heftigen Windböe umklappte, was dazu führte, dass sie einen Berg von Taschen und Tüten fallen ließ, und darüber war Tessa albern in Gelächter ausgebrochen, eine naive und ausgesprochen schlichte Form von Schadenfreude, wie sie später etwas beschämt feststellte.
Aber immerhin, es war eine emotionale Reaktion gewesen. Eine menschliche Regung in ihrem ansonsten öde und leer anmutenden Dasein.
Und jetzt, zwei Jahre nach dem Flugzeugabsturz, saß sie hier in der von Burghardt entworfenen Küche, zusammen mit seiner Mutter Regina, zu der es in den letzten Jahren kaum Kontakt gegeben hatte, mit ihren Eltern und Henk und natürlich mit Margot, ihrer besten Freundin, und fühlte sich wie unter einer Lupe, von außen kritisch betrachtet und beäugt von dieser Schar der Besorgten, die vorgaben, sie zu kennen, und die ihr manchmal sagten, was sie am besten zu tun und zu lassen hatte. Tessa fühlte sich ihnen hilflos ausgeliefert, all diesen klugen, lebenstüchtigen Menschen, die es nur gut mit ihr meinten und die sich selbst für sensibel hielten.
Die Kuchengabeln klapperten schon seit einer langen schweigenden Weile auf dem Geschirr, bis Burghardts Mutter sich schließlich bemüßigt fühlte, ein Gespräch anzuknüpfen.
»Was ist das nur für ein entzückendes Porträt, da vorne an der Wand?«
Tessa sah kurz auf und betrachtete das mit feinen Strichen skizzierte Bildnis einer unbekannten Schönen aus dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, während sie leicht die Schultern hob. »Keine Ahnung. Burghardt hat es in irgendeinem Keller unter der Burg entdeckt, und wir fanden es beide sehr hübsch.«
Regina kniff die Augen zusammen und taxierte das Bild von Weitem. »Ein Kellerfund? Ist es wertvoll?«
»Auch das weiß ich nicht. Die Signatur lautet CBHD. Wir haben dazu nicht das Geringste gefunden. Aber ich gebe zu, wir haben uns auch nicht viel Mühe gegeben.«
»Jedenfalls ist das Bild nicht hier entstanden«, warf Inge, Tessas Mutter, ein. »Im Hintergrund ist irgendein Schloss oder so was zu sehen.«
»Sehr schön! Und die Frau darauf auch«, meinte Margot.
»Sie sieht sehr südländisch aus«, stellte Regina fest und fügte nach einer genaueren Inaugenscheinnahme hinzu: »Doch wirklich, die junge Dame darauf ist recht ansehnlich. Wie das Bild wohl hierhergekommen ist?«
Niemand antwortete, da niemand es wusste und sich das Interesse daran offenbar auch in Grenzen hielt.
Die Gabeln klapperten in die neu entstehende Stille hinein, bis Regina plötzlich tief seufzte. »Dass das jetzt schon Burghardts zweiter Todestag ist …«
»Die Zeit vergeht so schnell«, fiel Tessas Mutter Inge ein.
»Nicht für alle!«, sagte Tessa und gestattete den Anwesenden damit einen kurzen Blick unter das dunkle Gewand, das sie inwendig trug.
»Kind, irgendwann muss das Leben auch mal weitergehen«, meinte Tessas Vater, und seine Frau nickte ganz leicht dazu.
Nur, dass es eben nicht mehr weitergeht, dachte Tessa, erwiderte jedoch nichts, sondern stocherte mit der Gabel im Kuchen.
Inge Donkert hielt ihren in der Tasse laut rotierenden Kaffeelöffel an. »Du musst aber auch mal wieder was Richtiges essen«, sagte sie mit aufgesetzter Strenge. »Du bist so dünn geworden.«
»Das war bei einer Bekannten von mir genauso. Die hatte auch eine Fehlgeburt. Und danach? Wollte und konnte sie nichts mehr essen.« Regina Faerber nickte sich selbst bestätigend zu, und ihre goldenen Armreifen und Ohrringe klimperten im Takt dazu. Und diese Blutungen … monatelang … War das bei dir nicht auch so, Tessa?«
Henk räusperte sich unbehaglich und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, während Margot der Freundin einen mitleidigen Blick zuwarf.
»Die Blutungen meiner Tochter sind aber bestimmt kein Thema für eine Kaffeetafel«, konstatierte Inge mit geschürzten Lippen, und die Köpfe senkten sich peinlich berührt, schweigend und konzentriert wieder Kaffee und Kuchen entgegen.
Dann, ein wenig später, ergriff Tessas Mutter in einem Anfall allumfassender mütterlicher Besorgtheit die Hand ihrer Tochter und umschloss sie fest. »Gut, dass du an diesem Tag nicht allein bist, stimmt’s?«
Regina auf der anderen Seite des Tisches klimperte mit ihrem Schmuck und rang hörbar schwer nach Atem. »Mein Gott, ihr habt es eigentlich doch alle gut. Ja, doch, schließlich habt ihr eure Tochter noch. Und ich?« Jetzt begannen die Tränen zu fließen, und Reginas Worte entstanden aus einem tiefen Schluchzen. »Was soll ich denn sagen? Erst mein Sohn … Und mein Mann ist auch tot.«
Tessas Kopf hob sich ein Stück, und wie aus einer schweren Nacht erwachend, musste sie sich erst räuspern, um sprechen zu können. »Ja, Burghardts Vater, den du verlassen hast, als er dich am nötigsten brauchte. Und deinen Sohn, den du geschlagen hast, als er klein war …«
»Kind!«, wandte Inge Donkert entsetzt ein, aber Tessa war noch nicht fertig.
»Deinen Sohn, den du abgelegt hast wie einen alten Mantel, nachdem dir klar wurde, dass du nicht mehr bei ihm landen konntest. Ja, Burghardt war fertig mit dir, Regina. Er war so fertig mit dir, dass du es dir nicht vorstellen kannst. Und wenn du über allen Wüsten dieser Erde abgestürzt wärst, hätte er dir bestimmt keine Träne nachgeweint.«
Jetzt war auch Tessa fertig und sah reglos in die entsetzt aufgerissenen Augen ihrer Schwiegermutter, in die fassungslosen Gesichter der anderen und nahm schließlich einen Schluck Kaffee.
»Kind, dafür musst du dich entschuldigen. Sofort!«, befahl ihre Mutter, die als Erste wieder in der Lage war, das Wort zu ergreifen.
»Ich entschuldige mich für gar nichts«, sagte Tessa. »Wem das hier nicht passt, der kann meinetwegen auch verschwinden!«
»Jetzt bist du aber undankbar!«, stellte Inge fest und kniff die Lippen zusammen, derweil Tessas Vater mit dem Stuhl nach hinten rückte und aufstand.
»Wo willst du hin, Walter?«
Er wies auf Tessa. »Unsere Tochter hat recht. Wir haben hier nichts verloren. Wir gehen.«
»Aber ich bitte dich, Walter. Es ist Burghardts Todestag. Und der Todestag ihres … Da können wir sie doch nicht allein lassen.«
»Doch, wir können, und genau das werden wir jetzt auch tun«, sagte Tessas Vater und zog seine nur leicht widerstrebende Frau vom Stuhl. Mit einem Blick auf Tessas Schwiegermutter meinte er: »Regina, ich denke …«
Aber Burghardts Mutter stand bereits. »Man muss mir nicht sagen, wenn ich nicht erwünscht bin«, stellte sie pikiert fest. »Ich habe es versucht. Ich habe es wirklich versucht, niemand kann später behaupten, ich hätte es nicht versucht. Wahrhaftig nicht. Doch wenn Hilfe nicht erwünscht ist, dann kann selbst ich beim besten Willen nichts daran ändern.«
Tessas Vater machte es kurz. »Ruf an, wenn du was brauchst, Kind.«
Sie nickte und sah ihm nach, wie er mit Regina und ihrer Mutter verschwand.
Henk und Margot warfen sich einen bedeutungsschweren Blick über den Tisch hinweg zu, der Tessa nicht verborgen blieb.
»Ihr zwei könnt ruhig bleiben«, meinte sie und begann, die Kuchenteller aufeinanderzustapeln und abzuräumen. Niemand sagte etwas, während sie die Teller zur Anrichte brachte. Aber als sie an den Tisch zurückkehrte, lag da ein Umschlag, und darauf stand ihr Name. »Was ist das?«, wollte Tessa wissen.
»Henk meinte, es sei der falsche Zeitpunkt, um dir das hier zu geben. Ich bin aber der Ansicht, es ist der richtige. Wir wollen jedenfalls nicht, dass du denkst, wir wären wie deine Familie oder wie jemand, der dich bevormunden will.« Margot schüttelte die rote Lockenmähne. Auf ihren Wangen tanzten hektische rote Flecken im Sonnenlicht, das durch die großen Fenster fiel. Sie war aufgeregt. Sie hatte Angst, das Falsche zu tun.
Tessa seufzte. »Schon gut. Ich bin abgehärtet, und soll ich euch etwas sagen? Ich habe es satt, dass mich alle behandeln wie ein rohes Ei. Ich bin schon tot. Noch toter kann ich nicht sein, oder?« Sie nahm den Umschlag und öffnete ihn mit lustloser Nachlässigkeit. Was konnte es schon sein? Tickets für ein langweiliges Theaterstück, für einen Zoobesuch oder die Höchststrafe, eins dieser kitschigen Musicals?
»Gutschein für einen VHS-Fotokurs Lost Places?«, erkundigte sie sich mit fragendem Blick.
Margot rückte mit ihrem Stuhl ein Stück näher. »Ja, es ist ganz aufregend, Tessa. Du kennst doch sicher Jan Hoof, den Fotografen, oder? Er gibt einen Kurs an der Volkshochschule. Über eine besondere Art, verlassene Architektur zu fotografieren. Diese verlassenen Orte, das können Schlösser, Burgen, Ruinen oder auch alte Industrieanlagen sein. Manchmal aufgeräumt, manchmal so, wie sie verlassen wurden: chaotisch, beschmutzt, verfallen.«
»Ja«, murmelte Tessa. »Davon hab ich schon gehört.« Faszinierend fand sie diese Bilder. Sie atmeten quasi Einsamkeit. Durch die Auswahl des Bildausschnittes, der Belichtung und anderer Faktoren entstanden Kunstwerke des Vergänglichen. Gleichermaßen ästhetisch verlockend wie abstoßend, erschreckend. Hätte man eine Kamera auf ihre Seele gerichtet, sie hätte einen solchen verlassenen und verfallenen Ort ebenfalls gefunden. Tessa drehte den Gutschein nachdenklich in der Hand. »Und dieser Jan Hoof, der leitet den Kurs?«
»Exakt!«, sagte Henk. »Wir … ehm, ich, habe eine Ausstellung von ihm gesehen.«
Tessa nickte langsam und nachdenklich. »Interessant!«, meinte sie schließlich.
Margot lächelte erleichtert, und Tessa fiel das Datum ins Auge.
»Der fängt ja in ein paar Tagen schon an.«
»Ja, sicher.« Margot nickte eifrig. »Du hast nicht lange Zeit, um darüber nachzudenken. Vielleicht ist es besser, wenn du ganz spontan entscheiden kannst.«
»Aha.«
»Dann wirst du also hingehen?«
»In einen Volkshochschulkurs?«
»Ja!«
Tessa schüttelte den Kopf. »Nein! Eher nicht. Aber danke für das Angebot und den Gutschein. Ihr könnt ihn jemand anders schenken. Ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin.« Sie schob den Gutschein Margot wieder zu und stand auf.
Die Freundin gab nicht auf. »Der Kurs läuft nicht lange. Es ist vorerst nur ein Einführungsabend, und anschließend wird ein Termin zur Bildbesprechung ausgemacht. Dann kannst du immer noch überlegen, ob du dich für den mehrwöchigen Kurs anmeldest.«
Tessa wich aus. »Ich muss jetzt ins Büro. Valerie wartet sicher schon auf mich.«
»Aber sie weiß doch, dass du Besuch hast.«
»Sicher, doch sie weiß auch, dass alle immer nur exakt eineinhalb Stunden bleiben. Das ist die nachgewiesen höchstens aushaltbare Zeit, die gesunde Menschen mit Trauernden verbringen können. Danach haben sie das Gefühl, entweder den ganzen Tag duschen zu müssen, oder sie sind auf der verzweifelten Suche nach etwas, das ihre ausgezehrten Energievorräte wieder auffüllt. Depressive sind die Vampire unserer Zeit, wusstet ihr das?«
Henk legte Tessa die Hand auf die Schulter. »Überleg es dir noch mal.«
Nur mühsam gelang es Tessa, einen Mundwinkel nach oben zu ziehen. »Guter Versuch, danke. Übrigens, wegen der Namensänderung des Architekturbüros … das sollten wir jetzt bald angehen. ›Faerber und Sachs‹ wird zu ›Sachs‹ ohne Faerber.«
»Ist nicht eilig«, murmelte Henk.
»Meld dich doch mal«, sagte Margot. Da standen sie schon an der Tür.
»Klar, mach ich«, antwortete Tessa. Und sie ging danach sogar noch einmal zum Fenster und winkte in den Hof hinunter. »Ach, und übrigens, ich weiß, dass ihr beide zusammen seid. Ihr müsst mir das nicht verheimlichen«, rief sie und beobachtete, wie Margots Hautfarbe ins Dunkelrot flackerte, während Henk ausgesprochen unbehaglich dreinschaute. »Keine Sorge, ich sag nix«, setzte sie dann noch hinzu und schloss das Fenster aufatmend.
Endlich wieder allein. Sie streichelte im Geiste das glatte traurige Gewand im Inneren ihrer Seele und blieb noch eine ganze Weile am Fenster stehen.
Der Tag brachte Regen. Draußen im Hof stand, genau wie damals vor zwei Jahren, das Planschbecken von Valeries Zwillingen, als wäre es der zynische Bestandteil einer Art Zeitmaschine. Tessa versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
»Weinen Sie ruhig, Frau Donkert, weinen Sie«, hatte die Therapeutin gesagt. »Aber finden Sie den Punkt, an dem Sie wieder damit aufhören wollen. Am besten legen Sie das vorher fest.«
Als ob man sich beliebig ein- und ausknipsen könnte. Unten im Hof platschten die Zwillinge, zwei vergnügte Zwerge unter überdimensionalen Kapuzen, eine pink, eine grün, jetzt mit ihren Gummistiefeln durch die Pfützen, immer rund um das kleine Planschbecken, für das sie inzwischen eigentlich zu alt waren. Aber sie bestanden Jahr für Jahr darauf, es aufzubauen. Es läutete für sie den Sommer ein. Ida, das Mädchen, spürte offenbar, dass sie beobachtet wurde, und warf einen Blick zu Tessa herauf.
Wenn ich ein Mädchen bekommen hätte, dachte sie, und dieser Gedanke schmerzte furchtbar, hätte es sicher Ida ähnlich gesehen. Valeries Tochter besaß feine Gesichtszüge und hatte eine Augenfarbe, die Tessa immer an Burghardts Augen erinnerte.
Valerie war offenbar nicht einverstanden mit der Freizeitbeschäftigung ihrer Sprösslinge. Tessa beobachtete, wie sie jetzt mit dem Telefon in der einen Hand und einem Schokoriegel in der anderen ihren Kindern von der Bürotür aus heftig gestikulierend bedeutete, sie sollten umgehend aus den Pfützen kommen. Eine Aufforderung, der die beiden natürlich breit grinsend nicht folgten.
Tessa musste schmunzeln, als sie beobachtete, wie Valerie wutschnaubend das Telefonat beendete, den Rest des Schokoriegels in sich hineinstopfte und in den Regen hinausstürmte, um ihren Drohungen Taten folgen zu lassen. Die Zwillinge mussten mittlerweile vollständig durchnässt sein; sie stoben lachend und quietschend davon, als sie sahen, dass ihre Mutter Ernst machte und wie eine unausweichliche Naturgewalt auf sie zusteuerte, wobei die hohen Absätze jedoch hinderlich waren. Und plötzlich, es kam völlig überraschend für Tessa, löste sich irgendwo in ihrer Brust ein fremdes, fein vibrierendes Gefühl, die Lust zu lachen, als Valeries voluminös gestylte Frisur binnen weniger Sekunden zu schmelzen schien und ihren Kopfumfang um mindestens ein Drittel reduzierte. Und Tessa lachte. Lachte laut, hielt sich an der Fensterbank fest, so sehr musste sie beim Anblick Valeries lachen, die ernsthaft den Versuch unternahm, ihre Kinder durch den Hof zu jagen, in High Heels, mit ehemals toupiertem Haar und in voller Kriegsbemalung. Nicht, dass sie dort unten jemals eine echte Chance gehabt hätte, ihre Zwillinge einzufangen, wenn die das nicht zuließen. Aber Ida wollte sich offenbar fangen lassen, und Valerie, die auch gut mal über sich selbst Witze reißen konnte, grinste, sah jetzt zum Fenster herauf, weil sie sich möglicherweise beobachtet fühlte. Die nassen schwarzen Strähnen hingen ihr dabei ins Gesicht, ihre vielleicht etwas zu stark dramatisch dunkel geschminkten Augen verloren an Kontur, und die schwarze Bluse mit dem einen Tick zu tiefen Ausschnitt gab nun wirklich alles preis, auch Valeries Vorliebe für etwas sonderbare Unterwäsche. Sie schien sich jetzt, da sie einmal völlig nass war, nichts mehr daraus zu machen. Sie winkte Tessa zu und kniete dabei schmunzelnd vor Ida, die mindestens ebenso nass wie ihre Mutter war. Die Kinderarme schlossen sich um ihren Hals. Sie prusteten und quietschten gemeinsam, weil der Regen jetzt immer stärker auf sie einprasselte. Auch Tommy hüpfte nun hinzu, um sich seiner Mutter ebenso wie seine Schwester an den Hals zu werfen. Oben am Fenster wollte Tessas völlig haltloses Lachen gerade in ein verzweifeltes Nach-Luft-Schnappen kippen, als ein kleiner violetter Bus in den Hof fuhr und sie davon abhielt, ins Dunkle zu fallen.
Valerie erschrak, warf Tessa einen verzweifelten Blick zu, schob die nassen Zwerge sanft, aber entschieden von sich und deutete auf sich selbst und ihre komplett aufgeweichte Gestalt. Sie sah aus wie ein aus dem Wasser gezogener Vampir und war für Tagungsgäste sozusagen unvorzeigbar, nicht repräsentabel. Empfindlichere Gemüter hätten sich ohne Weiteres vor ihr erschrecken können. Dann zeigte Valerie auf den Bus, und Tessa wusste, auch ohne ihre Mitarbeiterin jetzt hören zu können, was sie ihr sagen wollte: »Das sind die Gäste. Komm runter und hilf mir. Bitte. Sofort!«
Verwaltung und Rezeption stand auf einem Schild über Valeries Büro. Das kleine Nebengebäude, von denen sich auf dem Burggelände einige befanden, war besonders sorgfältig saniert worden. Blumenkästen hingen vor den kleinen Fenstern, und ganze Wolken kleinblütiger, vom Regen schwerer Dolden quollen aus den Kübeln und Kästen.
Die Tagungsteilnehmer, eine Gruppe von acht blässlichen Männern unterschiedlichen Alters und einer geradezu ätherisch wirkenden Frau Mitte vierzig, standen noch ein wenig unschlüssig unter einem Dach bunter Regenschirme auf dem Hof vor dem Büro beisammen. Der Fahrer, offenbar ebenfalls Tagungsteilnehmer, schien allein dafür zuständig zu sein, die verschiedenen Gepäckstücke aus dem Kleinbus zu hieven. Seine Tweed-Schirmmütze sog sich mit Regenwasser voll wie ein Schwamm, und Tessa, die sich rasch in ihre Outdoorjacke gehüllt hatte und einen Klappschirm in der Hand trug, bemühte sich, den Pfützen auszuweichen.
»Herzlich willkommen!«, rief sie schon von Weitem, bemüht, ein frisches Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern.
Der Mann mit der Tweedmütze, ein kräftiger Endsechziger mit einer Nase, die den Namen »Riechkolben« wirklich verdient hätte, wuchtete den letzten Koffer auf das Pflaster und reichte ihr die nasse Hand.
»Georg Koch!« Wasser tropfte vom Rand seiner Mütze.
Tessa hielt den Schirm über ihn.
»Tessa Donkert. Willkommen auf Weidenau.«
»Danke, Frau Donkert.«
Tessa wandte sich mit einem gewinnenden Lächeln an die einige Meter entfernt stehende Gruppe. Immer wieder wunderte sie sich darüber, dass man diese Art von aufgesetzter Freundlichkeit wie eine Maske tragen konnte, ohne dass die Menschen es einem anmerkten.
»Ich hatte eigentlich Sonnenschein für Ihre Ankunft bestellt, aber leider hat es nicht geklappt.«
Einige Tagungsteilnehmer lächelten fein, andere sahen sich fröstelnd um.
»Bitte, folgen Sie mir doch in unser Büro, dann kommen Sie wenigstens schon mal aus dem Regen raus«, schlug Tessa vor, während aus dem Rezeptionsgebäude jetzt ein ausgesprochen müde wirkender Jüngling trat, der sich mit schlurfenden Schritten dem Kleinbus näherte. »Da kommt schon unser Praktikant Moritz«, sagte Tessa freundlich in Richtung der Gruppe, dabei betonte sie das Wort »schon« sehr deutlich und warf dann dem im Schneckentempo herannahenden Moritz einen Blick zu, der ihn auch umgehend hätte töten können. »Er wird sich um Ihr Gepäck kümmern und es in die Halle schaffen.«
Die Gruppe folgte. Herr Koch hielt Tessa die Tür auf.
»Sie können Georg zu mir sagen!«
Acht Regenschirme entledigten sich durch kräftiges Schütteln auf der Türschwelle eines Teils ihrer schweren Nässe. Dennoch beschlugen in dem nicht besonders geräumigen Rezeptionsgebäude umgehend die Fensterscheiben, als alle Gäste dort versammelt waren.
Tessa beschloss, Herrn Kochs Angebot vorerst zu ignorieren, und wuselte hinter Valeries Schreibtisch, auf dem sie sich weniger als gar nicht auskannte. Genauer gesagt, war sie in diesem Teil der Burg in den letzten zwei Jahren nur äußerst selten gewesen.
»Wo sind nur die Anmeldeformulare?«, murmelte sie und kippte dabei fast Valeries Nagellack (nachtschwarz mit Glitzer) um, verfehlte um Haaresbreite ihre Kaffeetasse (schwarz) mit der Aufschrift Bis(s) zur Kaffeepause und fand schließlich einige leicht angeknitterte Exemplare unter einem Teller mit Donuts.
Die ätherisch wirkende Frau aus der Gruppe bedachte sie mit scharfen, missbilligenden Blicken. Tessa spürte das und sah auf.
»Es ist momentan ein bisschen chaotisch hier«, entschuldigte sie sich und dachte im gleichen Augenblick, dass sich das ja wohl noch weniger professionell anhörte, als das Chaos auf Valeries Schreibtisch ohnehin befürchten ließ.
Die ätherisch wirkende Frau ließ durch keine Regung erkennen, wie oder ob sie Tessas Satz überhaupt aufnahm, doch Georg Koch lehnte sich jovial und breit über den Empfangstresen.
»Ich sag ja immer: ›Wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen.‹« Er lachte sich selbst bestätigend zu und sah sich anschließend Beifall heischend um.
Zwischen den Anmeldeformularen fiel Tessa ein ausgeschnittener Zeitungsartikel in die Hände. Sie streifte die Überschrift mit einem Blick und blieb kurz daran hängen:
Jan Hoof, Fotograf, Künstler und Meister des Lichts in der Ausstellung über die Magie verlorener Orte und Zeiten in der »Galerie am Graben«.
Darunter war ein Bild des Künstlers abgedruckt, das nicht zum hochtrabenden Titel zu passen schien. Ein jugendlich, ausgesprochen unprätentiös wirkender Mann, der beinahe ein wenig schüchtern in die Kamera sah, dunkles Haar, schon leichte Geheimratsecken, und er stand auf einer schmalen Holzbrücke über einem Teich, der Tessa ziemlich bekannt vorkam. Es war einer der kleinen Zierteiche im Park der Burg. Ein Ort, an dem sie so gern abends ein Glas Wein mit Burghardt getrunken hatte, um von dort aus durch das Tor in den Burghof zu sehen und sich vorzustellen, wie alles wohl wäre, wenn es erst einmal fertig war.
»Soll ich das jetzt für alle ausfüllen oder nur für mich, oder wie geht das …?«, erkundigte sich Herr Koch beflissen und nahm ihr den Anmeldebogen aus der Hand.
»Ich finde gerade nichts zu schreiben«, flüsterte Tessa, krampfhaft bemüht, souverän zu bleiben und dabei in der Schublade einen funktionstüchtigen Kugelschreiber aufzutreiben. Doch da ging endlich die Tür auf, und Valerie trat wie ein dunkler, aber dennoch erlösender Engel über die Schwelle und knarzte energiegeladen und frisch getrocknet und gestylt über die Hobeldielen heran. Tessa fragte sich, wie um alles in der Welt sie das so schnell fertiggebracht hatte.
»So, dann wollen wir mal«, sagte Valerie, und es gab keinen, der sich bei ihren Worten nicht nach ihr umgedreht hätte. In ihrem Schlepptau befand sich Moritz, der geknickt wie ein gescholtener, nasser Schoßhund hinter ihr herschlich.
»Lass mal, Liebelein. Ich mach jetzt weiter«, sagte Valerie, tätschelte Tessas Hand und ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen.
Herr Koch straffte sich bei ihrem Anblick. »Ich bin Georg!«
Tessa wand sich gequält lächelnd hinter dem Tresen hervor, gleichzeitig erleichtert und erschreckt. Etwas war auf Weidenau nicht so, wie es hätte sein sollen. In die wartende Gruppe kam nun, da Valerie Formulare und Stifte verteilte und an allen Stellen gleichzeitig zu sein schien und auf sämtliche Fragen zehn Antworten wusste, endlich wieder Bewegung und Leben. Es ging jetzt weiter. Bald war man angemeldet und konnte auspacken und danach zu Abend essen. Die ätherisch wirkende Frau folgte Tessa mit Blicken, die sie nicht deuten konnte.
Sie war froh, als sie endlich draußen im Hof stand, im Regen. Tessa vergaß, den Schirm aufzuspannen, und schämte sich. Für ihre Schwäche und die unsouveräne Art, die sie an den Tag gelegt hatte.
»Es wird immer wieder Situationen geben, Frau Donkert, da wird es Ihnen so vorkommen, als wären Sie wieder stark genug, sich den Anforderungen da draußen zu stellen, dem Leben, nicht wahr? Mit seinen verschiedenen vielfältigen Aufgaben, auch Ihrem Hotel, nicht wahr? Aber dann werden Sie vielleicht kleine Rückschritte erleben. Kleinere oder größere, und das ist ganz normal so. Das sind alles so Strecken auf Ihrem Heilungsweg, nicht wahr? Stationen, so will ich das mal nennen.«
Das hatte ihre Therapeutin gesagt. Juliane Woelkig-Freudenberg, ihres Zeichens Psychotherapeutin mit gut gehender Praxis in Bremen.
Als Tessa einigermaßen durchnässt endlich die Wohnungstür hinter sich schloss, hielt sie immer noch den gefundenen Zeitungsausschnitt in der Hand. Ganz vorsichtig, um ihn nicht zu beschädigen, legte sie ihn zum Trocknen auf den Tisch neben den Gutschein von Margot und Henk, den ihre Freundin dort liegen gelassen hatte.
Verlorene Orte – Lost Places.
Jan Hoof.
Und er hatte auf der kleinen Brücke am Teich gestanden.
Ihre erste Erinnerung war grün. Nicht, dass sie damals gewusst hätte, was Grün bedeutete. Es war nur ein Gefühl. Das Gefühl von Normalität und Sicherheit, Wärme und dem Aufgehobensein im Wald. All das bedeutete Grün, auch ohne dass es das Wort gegeben hätte. Das sachte Gleiten eines Vogels zwischen den Baumkronen, der Geruch nach Erde oder den Exkrementen der Tiere oder der Klang von Regen auf den Blättern. All das war grün mit feinen Spuren von Licht.
Doch dann gab es den heißen stechenden Schmerz an der zarten Seite ihres Körpers. Sie hörte den Schrei der Anderen, der sonst wie ein Schatten an ihr hing, aber jetzt zurückblieb.
Dann die vielen Unbekannten. Viele, große Unbekannte, einer von ihnen trug über und über glatte Federn und war vermummt in diesem Gefieder wie die Vögel, die über den Baumkronen kreisten. Ihre schrillen, krächzenden Stimmen mischten sich mit denen der Unbekannten und den Stimmen, die zum Grün gehörten wie die Dunkelheit zum Schlaf, wie das Licht zum Wachsein. Der stechende Schmerz in der Seite ließ nach. Auf allen vieren floh sie in den Schutz des Dickichts. Die Andere schrie. Sie selbst taumelte weiter, überschlug sich, presste sich in die Blätter. Sie fühlte nichts außer Schmerz und Angst. Das war ihre zweite Erinnerung.
Die dritte Erinnerung galt der Betrachtung des Mannes in glattem Gefieder. Später wusste sie, dass es Stoff war, doch damals, in diesem Moment, hatte sie noch nie zuvor Stoff gesehen. Der Gefiedermann streckte ihr die Hand entgegen, und sie biss ihn mit aller Kraft. Er schrie auf. Er war zornig. Er schlug sie mit der anderen Hand, und sie konnte nicht mehr fliehen. Ihre Hände und Füße trugen sie nicht länger. Sie fiel zur Seite und atmete in das Grün, ohne dass ihr bewusst gewesen wäre, was Atmen war und was dieses Grün war, doch es bedeutete für sie die ganze Welt. Auch das wusste sie nicht, aber sie fühlte es, und schließlich brach die Nacht an.
Die vierte Erinnerung umfasste nur viele einzelne, immer gleichförmige Fragmente. Sie verband diese Splitter mit ersten Begriffen, zum Beispiel dem portugiesischen Wort für Käfig – gaiola – es war das erste Wort, das sie aus allen weiteren Lauten der anderen herauszuhören lernte, ohne dass sie dessen Bedeutung erkannte. Aber sie wusste, dass es sie an der Flucht hinderte. Schläfrigkeit zerhackte die Szenen zu einer endlosen Aneinanderreihung von immer gleichen Erinnerungsfetzen: in einem Käfig durch das Grün getragen werden, über ihr die Vögel in den Baumkronen, in ihr das schmerzende Herz. Ihr fehlte die Andere, die sonst wie ein Schatten an ihr gehangen und deren Wimmern sie in den Nächten zwischen all den anderen Lauten des Waldes herausgehört hatte. Irgendwann hatte sie sie nicht mehr gehört. Da wusste sie, dass sie ihren Schatten für immer verloren hatte, und tief in ihr löste sich ein hoher verzweifelter Ruf und stieg in den nächtlichen Himmel empor.
Seltsamerweise setzten dann die Erinnerungen aus. Sie wusste nicht genau, für wie lange, aber es mussten Wochen sein, denn schon in der fünften Erinnerung – sie zählte sie später, als sie zählen konnte, an den Fingern ab und war stolz, so weit zu kommen – bekamen die Dinge Namen und wurden dadurch gleichermaßen zu dem, was sie waren. Und im Gegenzug wurde ein Wort ganz allmählich zu etwas Greifbarem, Fassbarem. Zumindest schien ihr das so zu sein. Ihre Welt änderte sich rasant.
Eines ihrer Lieblingsworte lautete »Schiff«, weil es wie das Zischen einer Schlange klang und weil es ihren Mund und die Lippen in sonderbare Bewegungen versetzte, wenn sie versuchte, es nachzuahmen. Aber es gelang nicht, das Wort mit einem hörbaren Klang zu formen.
»Você é Raquel, Raquel«, sagte der Gefiedermann manchmal, wenn er sie betrachtete. Viel später erfuhr sie, dass man am Anfang Portugiesisch mit ihr gesprochen hatte, in der irrigen Annahme, sie sei dieser Sprache leichter zugänglich als dem Deutschen. Für sie aber war die eine Sprache so fremd wie die andere. Der Gefiedermann blieb in ihrem Denken ein Mensch mit glatten Federn, auch wenn sie das Wort für diese sonderbare Körperumhüllung jetzt kannte. »Kleider«. Sie selbst war bald bedeckt mit einem Kleid. Einem einfachen Überwurf. Der Gefiedermann hatte ihr gezeigt, wie sie ihn sich über den Kopf streifen konnte. Sie wurde bestraft, wenn sie sich des Kleidungsstückes entledigte. Daher versuchte sie, sich daran zu gewöhnen. Der Gefiedermann tippte sich immer wieder auf die Brust. »Ich bin Theodor. Estou Theodore. Você entendeu? Verstehst du?« Er zeigte auf sie. »Você é Raquel, Raquel. Du bist Raquel.«
Sie biss ihn nun nicht mehr, aber fürchtete ihn immer noch. Wenn er kam, floh sie hinter die Seekiste. Irgendwann begriff sie.
»Ibi … Raquel«, formulierte sie langsam und krächzend und tippte sich selbst auf die Brust. So hatte sie ihre Stimme noch nie gehört, aber es schien das Richtige zu sein. Der Gefiedermann stieß einen jubilierenden Laut aus und verzog dabei den Mund. »Ibi Raquel!«, sagte Raquel.
Und so bekam das Ich einen Namen und wurde zu einem festen Punkt, von dem aus man die Welt betrachten konnte, auch wenn sie bislang nur aus einem kleinen, engen Raum und schlingernden Bewegungen bestand und nach brackigem Wasser und noch allerlei anderem roch, für das es in Raquels Welt noch keine Namen gab.
In ihrer sechsten Erinnerung sah sie zum allerersten Mal das Meer. Und weil sie sich nicht gern anfassen ließ, hatten die anderen einen Strick fest um sie geschlungen und ihn zugebunden. Der Mann namens Theodor hielt das eine Ende des Strickes in der Hand, während sie voller Furcht auf das Meer sah, diese tödliche Bedrohung, und zu stöhnen und zu wimmern begann. Das Unermessliche besaß noch keinen Namen und daher keinen Platz in ihr.
Theodor sagte: »Das Meer!«, und wies mit der Hand darauf, doch selbst mit einem Namen verlor es für Raquel zunächst nichts von seinem Schrecken, und so rannte sie so weit, wie der Strick reichte, zurück, um in ihr dunkles schlingerndes Verlies zu fliehen. Theodor ließ den Strick los, als er sah, dass sie furchtsam am Niedergang kauerte. Kaum, dass sie mehr Bewegungsfreiheit hatte, rannte sie in das Dunkle, Vertraute und Umgrenzte. Da kam ein zweiter Gefiedermann zu ihr, er hatte Haar wie sich windende Sonnenstrahlen, und seine Augen waren dunkel himmelfarben. Sie hockte hinter der Seekiste und versuchte, sich von dem Strick zu befreien. Der Gefiedermann kam zu ihr und wollte ihr helfen.
Sie biss ihn im ersten Moment, schnappte nach seiner Hand, fauchte ihn an und stieß zornig etwas hervor, das ähnlich klang wie: »Ibi Raquel!« Das Einzige, was sie zu sagen imstande war.
Er aber blieb ganz ruhig und erwiderte: »Ibi Birger!« Bei diesen Worten nahm er ihr den Strick vom Körper.
Er besuchte sie von nun an öfter. Er vollbrachte das erstaunliche Kunststück, Raquel, die inzwischen einen Namen besaß und ein fester Punkt in der Welt geworden war, zu duplizieren und in ganz kleinem Maßstab zu Papier zu bringen. Dann stellte er sie vor einen Spiegel, und Raquel begann nach dem ersten furchtsamen Aufschrei zu begreifen, dass sie sich selbst betrachtete, dass sie nur an einem Punkt in der Welt existierte und dass alle anderen Raquels, mochten es nun ihre Spiegelbilder oder Zeichnungen von ihr sein, nichts weiter waren als bloße Abbilder. So wurden sie und Birger, der zweite Gefiedermann, Menschen, die einander ohne Furcht begegnen konnten, denn es gelang Birger, ihr Vertrauen zu gewinnen, und er ließ sie verstehen, dass auch er ihr vertraute.
Während Theodor fremd und ernst war und blieb und jeden Tag von ihr erwartete, dass sie mehr und mehr Worte behielt und sie auszusprechen lernte, wurde Birger zu jemandem, in dessen Gesellschaft sie sich sicher fühlte. Er wurde der Mittler zwischen ihr und dem Unbekannten. Wenn er kam, musste sie sich nicht hinter der Kiste verstecken. Er brachte ihr frische Kleider und etwas zu essen – sie liebte das Essen –, und einmal machte er eine sonderbare Bewegung mit seinem Gesicht und sah dabei so ungewöhnlich aus, dass Raquel ein bislang unbekanntes, aber wohltuend schönes Gefühl in sich aufsteigen fühlte: Sie lachte zum ersten Mal.
In ihrer siebten Erinnerung ging Raquel zusammen mit dem Mediziner und Naturkundler Ludwig Theodor Vossberg und dem dänischen Biologen und Zeichner Christian Birger Hjortdahl in Hamburg von Bord der Almanach. Sie stand, umschlungen von einem dezenten hellen und dünnen Seil, dessen anderes Ende Vossberg fest in der Hand hielt, auf dem steinernen Kai, inmitten eines Waldes aus Schiffen, Masten, Kränen, inmitten von Rufen und Geschrei. Alles war grau. Und furchtbar, furchtbar kalt.
Am Abend ihrer Ankunft saß Vossberg an einem zierlichen Sekretär mit hübschen Einlegearbeiten im Gästesalon der kleinen Pension von Madame Julie Wiedenroth und tunkte die Feder in das Tintenfass.
Mein lieber Freund!, schrieb er und schielte dabei ab und zu unauffällig zu Raquel hinüber, die sich ihrer Schuhe und Strümpfe entledigt hatte, vor dem Kamin kauerte und an ihren Zehen spielte.
Mein über alles geschätzter Studienkollege, Du wirst nicht glauben, was ich mitgebracht habe. Es ist eine Sensation. Du hättest die Expedition nicht so vorschnell verlassen sollen. Während Du noch im brasilianischen Urwald nach seltenen Schmetterlingen suchst, Dich dieser Brief wahrscheinlich erst mit erheblicher Verspätung in einem erbärmlichen Lager erreicht, bin ich heute mit Hjortdahl in Hamburg angekommen. Und ich habe weiß Gott Besseres vorzuweisen als einen bisher unbekannten Schmetterling. Ein wildes Kind von dunkler Hautfarbe. Ein Indianerkind, das ich beabsichtige, zu einem gottesfürchtigen Menschenkind zu erziehen. Es war nicht ganz und gar allein, sondern in Begleitung eines anderen Kindes, vielleicht eines Geschwisters, doch dieses schien geradezu vollkommen schwachsinnig zu sein. Es starb bedauerlicherweise auf dem Weg zu den Schiffen. Hjortdahl meint, dadurch, dass unser Indianerkind nicht allein im Wald war, sei es schneller in der Lage, unsere Sprache zu erlernen. Nun, wir werden sehen.
Ich werde jeden Schritt seiner Entwicklung dokumentieren und hoffe damit, der noch so jungen Wissenschaft von der Erziehung des Menschen einen großen Dienst zu erweisen. Vielleicht wird man einmal meinen Namen in einem Zuge mit den Namen der Großen dieser wunderbaren Zeit nennen. Das Kind (wir haben es Raquel genannt, es soll morgen die Taufe erhalten) hat eine gute Auffassungsgabe, aber ein Benehmen wie ein junger, ungezogener Hund. Nein, schlimmer noch. Doch es reagiert auf schon milde Züchtigung und scheint sich gut führen zu lassen. Hjortdahl ist wie immer zu weich, aber sei’s drum. Er wird mir als guter Kollege fortan zur Seite stehen, was soll ich mich über ihn ärgern? Du kennst ihn, er weigert sich nach wie vor, nach Dänemark zurückzukehren. Bald wirst Du mehr von mir hören, sobald ich die Stellung in Großsassnitz angetreten habe. Ich soll, wie Du ja weißt, da die Leitung einer Heilanstalt für die Irren übernehmen. Die ländliche Abgeschiedenheit wird mir helfen, dort in Ruhe und unter kontrollierenden Bedingungen das Kind aufwachsen zu lassen. Kehre gesund nach Europa zurück, lieber Freund, und lass von Dir hören.
Es empfiehlt sich Dir mit den besten Wünschen Dein alter und in aufrichtiger Treue verbundener Gefährte
Ludwig Theodor
Nachdenklich sah Vossberg auf und putzte in Madames silbernem Leuchter dann akribisch den Docht der Kerze, indem er ihn mit einer speziellen Lichtschere kürzte. Raquel, einmal an den Anblick des Zimmers gewöhnt, schien ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern fuhr in ihren immer gleichförmigen Bewegungen, die ihn so stumpfsinnig dünkten, fort. Das Spiel mit den Zehen, seit Stunden im immer selben Muster, und der ab und zu heiser hervorgestoßene, aber wahrscheinlich, so nahm Vossberg an, für Raquel selbst völlig inhaltslose Satz: »Ibi Raquel.«
Er atmete tief aus der Brust heraus. Nun, Hjortdahl war der Ansicht, Raquel mache jeden Tag Fortschritte. Er selbst hatte da so seine Zweifel, doch er wusste auch um seine Ungeduld und hoffte, er würde aus diesem schmächtigen leeren Ding mit den sonderbar tiefen Augen eines Tages ein hübsches kleines Mädchen herausmeißeln. Nun, irgendwann vielleicht einmal. Das Menschsein … was machte das Menschsein aus? Das war doch die wahre Frage dieser Zeit. Und auch wenn Raquel im Grunde nur ein halbes wildes Kind war (schließlich deutete alles darauf hin, auch die relativ raschen anfänglichen Fortschritte, die man mit ihr gemacht hatte, dass sie noch nicht allzu lange verwildert war), ja, selbst wenn sie nur ein halbes wildes Kind war, so würde er ihre Entwicklung akribisch beschreiben und damit zu wahrem Ruhm und großer Ehre kommen. Dies war das Jahrhundert, von dem spätere Generationen einmal sagen würden, die Wissenschaften seien erblüht unter den kundigen und fleißigen Bestrebungen der jungen Forscher und Ärzte. Vossberg war stolz darauf, dabei sein zu können, und hatte vor, Karriere zu machen. Dieses Kind würde ihm dabei helfen.
Madame Wiedenroth war beim ersten Anblick Raquels doch eher voller Bedenken gewesen, den Ankömmlingen Quartier in ihrer feinen Pension zu gewähren. Nach der Ankunft im Hafen, einer Kutschfahrt quer durch das aufgeregte Treiben Hamburgs und all die unbekannten Reize hatte Raquel sich sicherheitshalber auf alle viere begeben und musste von Vossberg am Strick gehalten werden, damit sie nicht etwa unkontrolliert vor eine Kutsche lief. Voller Hingabe und mit grunzenden Geräuschen beschnupperte sie Madames Fußmatte.
Es war wieder einmal Hjortdahls Charme zu verdanken, dass Vossberg seinen Willen bekam und samt Kompagnon und wildem Kind hier Quartier nehmen durfte. Der attraktive Däne mit den blonden Haaren und den hellen Augen wusste seinen Willen auch bei Frauen durchzusetzen. Madame ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Vossberg nahm ihre Blicke wahr und auch die des Dänen.
Während er nun einen Brief an seinen Freund und zuvor einen weiteren an seinen Vater geschrieben hatte mit der Bitte, er möge ihm die knappe Reisekasse wieder auffüllen, spürte er, wie die Anstrengungen des Tages ihren Tribut forderten. Nachdem er Raquels Notdurft, die diese peinlicherweise in einer Zimmerecke hinterlassen hatte, hinausbefördert und das wilde Kind mit vorwurfsvollen Blicken streng für das Vergehen getadelt hatte, war er nun so müde und erschöpft, dass er sich nach nichts mehr sehnte als nach einem Bett und einem langen, friedlichen Schlaf. Da musste er hören, dass nebenan im Musikzimmer das Cembalospiel, das Lachen und Singen so plötzlich verklungen waren, dafür aber andere Geräusche hinreichend auf die Tatsache wiesen, dass Christian Birgers Herzensbrecher-Charme bei Madame Wiedenroth zu einem ungewöhnlich schnellen Erfolg führte.
»Wir gehen zu Bett!«, beschloss Vossberg mit seiner strengen knisternden Stimme und läutete nach dem Mädchen.
Es war ein ausgesprochen unangenehmes Gespräch mit Herrn Gerber von der Bank gewesen.
Sätze wie »Frau Donkert, Sie müssen bitte auch unseren Standpunkt verstehen!« waren gefallen. Oder: »Frau Donkert, das hat ja alles nichts mit der Hochachtung zu tun, die ich ganz persönlich für Sie und Ihren verstorbenen Mann empfinde.«
Letztlich aber lief es alles nur auf eines hinaus: Der Tagungsort Weidenau stand kurz vor dem Aus. Und es gab eine laute Stimme tief in ihr, die nicht zuletzt sie selbst dafür verantwortlich machte. Sie hatte sich einfach nicht genügend gekümmert. Auch die Betriebszahlen sagten ihr nicht viel. Sie hatte vom Geschäft keine Ahnung und alles stattdessen Valerie Pohl überlassen. Und wäre Valerie nicht gewesen, dann sähe es jetzt bestimmt noch weitaus finsterer aus. Verstehen konnte Tessa all das nicht. Weidenau war fast durchgehend ausgebucht. Und Burghardt hatte damals errechnet, dass es bei einer so guten Buchungslage mit der Wirtschaftlichkeit hätte klappen müssen. Aber Tessa war im ersten Jahr nach seinem Tod rasant in die roten Zahlen gerutscht und klebte jetzt hartnäckig an dem Minus, wie eine Fliege am Leimstreifen. Valerie hätte vielleicht mehr dazu sagen können, aber leider war es ihr nicht möglich gewesen mitzukommen. Sie hatte alle Hände voll damit zu tun, die Tagung und anschließende Ferienfreizeit der »Freunde der Radiästhesie« zu organisieren, die seit ihrer Ankunft zahlreiche Sonderwünsche an sie herantrugen und am vergangenen Tag damit beschäftigt gewesen waren, irgendwelche Wasseradern und Erdgitter rund um Weidenau zu ermitteln. Dennoch war ihre dreiwöchige Anwesenheit wie ein Geschenk für Tessa.
Herr Koch, der Anführer der kleinen Schar, hatte ihr erzählt, dass der längere Aufenthalt auf der Burg, an so einem höchst bedeutungsvollen Ort, wie er es genannt hatte, einzig einem verstorbenen Vereinsmitglied zu verdanken sei, das über seinen Tod hinaus der Gruppe ein Zeichen seiner immerwährenden Verbundenheit hatte zukommen lassen wollen. Eine großzügige Geste.
Am Abend vor dem Besuch bei Gerber war Tessa der ätherisch wirkenden Frau im Hof über den Weg gelaufen.
»Ich bin die Solveig«, hatte sie sich vorgestellt, dabei war ihr Gesicht weitestgehend unbewegt geblieben. Ihr Mund öffnete sich kaum. Ihre Stimme schien wie bei einem Bauchredner irgendwo aus dem Off zu kommen. »Ehrlich«, raunte Solveig vertraulich. »Du bist doch die Tessa Donkert. Wohnst du auch hier, oder ist das nur dein Arbeitsplatz?«
»Ehm, ja, ich wohne auch hier …«, antwortete Tessa zögerlich.
Solveig warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter. »Also, ganz echt jetzt, ich glaub, es wäre besser, sich eine andere Wohnung zu suchen … Hier ist doch alles total verstrahlt.«
»Tatsächlich?«, erkundigte sich Tessa, die gar nicht wirklich wusste, womit sich Radiästheten für gewöhnlich beschäftigten.
»Ja«, sagte Solveig. Ihre Augen waren von einem geradezu unwirklich hellen Blau. »Ich bin hellspürig und hellsichtig!«
»Ach so«, antwortete Tessa und war letztlich froh gewesen, nach einigen freundlichen Sätzen Reißaus vor der hellspürigen Tagungsteilnehmerin nehmen zu können.
Aber Weidenau hatte schon ganz andere Gruppen zufriedengestellt. Die Bewertungen in sämtlichen Internetportalen waren herausragend. Es war wie vertrackt, dass sich das nicht in den Gewinnen niederschlug. Vielleicht sollte ich auf den Rat meines Vaters und meines Onkels hören, dachte Tessa, und einen unabhängigen Unternehmensberater mal einen Blick auf die Bilanzen werfen lassen.
Als sie beschloss, die beiden am selben Tag anzurufen, wurde sie von Georg Koch aus ihren Gedanken gerissen.
»Frau Donkert!«, rief er winkend quer über die Straße und steuerte geradewegs auf sie zu. Warum er an diesem heißen Frühsommertag seine Tweedmütze trug, wusste nur er selbst. Rotwangig und -nasig griff er nach ihrer Hand und drückte sie zwischen seinen riesigen Pranken. »Das ist ja nett, dass wir uns hier treffen. Wollen Sie auch in die Ausstellung? Begleiten Sie mich doch.«
Jetzt erst bemerkte Tessa, dass schräg gegenüber der Bank die »Galerie am Graben« zur Ausstellungseröffnung von Jan Hoof einlud.
»Verlorene Orte«, meinte Herr Koch. »Spannend. Man kann ja nicht jeden Tag Geomantie oder Radiästhesie betreiben. Und die anderen aus der Gruppe gehen mir spätestens am zweiten Tag immer auf die Nerven. Ich bin stets auf viele Dinge neugierig. Ich interessiere mich auch für Yoga. Natürlich ist es eher ein beobachtendes Interesse. Meine Figur ist einfach nicht dafür ausgelegt, verstehen Sie? Übrigens, sagen Sie doch gern auch Georg zu mir!« Damit wiederholte er seine Aufforderung von vorgestern.
Unwillkürlich musste sie über seine leutselige Art lachen. Er ließ sich weder von ihrer Distanziertheit abschrecken, noch verschwendete er auch nur einen Hauch seiner Lebenszeit mit Selbstzweifeln.
»Eigentlich duze ich keine Gäste«, sagte Tessa und zwinkerte ihm freundlich zu. »Es ist nicht professionell.«
»Ach, professionell, professionell … Na, hör mal, Mädchen, man ist doch schließlich auch noch Mensch.« Georg Koch schüttelte, kurzfristig entrüstet über die Kälte innerhalb alberner menschlicher Umgangsformen, den Kopf und wischte Tessas Einwand mit jovialer Geste beiseite. Er bot ihr den Arm, wie Burghardt es früher immer getan hatte.
»Wollen wir?«, fragte er, und es war klar, er würde keinen Widerspruch dulden.
Die »Galerie am Graben« war ein kleiner, leuchtender Punkt am kulturell eher dunklen Nachthimmel der Provinz. Nicht nur lokale Künstler stellten hier aus. Auch über die Grenzen des Landkreises hinaus waren hier schon bekannte und prominente Größen mit ihren Werken zu Gast gewesen. Die Galerie, untergebracht in einem geradezu verschroben wirkenden Altbau mitten in der Stadt, saniert aus Mitteln des Landes, bezuschusst aus EU-Quellen, die nicht einmal selbst wussten, dass es sie gab, und kräftig mitfinanziert aus der privaten Tasche des Landrats, der ein großer Kunstliebhaber war, verfügte über ein eher bescheidenes räumliches Angebot. Sie war nicht für alle Werke gleichermaßen gut geeignet. Doch mit perfekter Ausleuchtung, stimmungsvoller Anordnung und dem Ambiente zurückhaltend und zugleich geschmackvoll präsentierter Bedeutsamkeit gelang es, den Bildern von Jan Hoof den Raum zu bieten, den sie verdienten.
Das Weben – 3. Teil des Werkzyklus »Magie des Handwerks« von Jan Hoof stand auf der Eintrittskarte, die zugleich den Ausschnitt eines seiner Bilder zeigte. Und magisch waren sie. Tessa verschlug es beim Anblick seiner Fotografien beinahe den Atem. Wie gebannt blieb sie schon vor dem ersten Exponat stehen. Hinter ihr räusperte sich Herr Koch vernehmlich.
»Sind die alle nur in Schwarz-Weiß? Ich bin ja ein Banause, ein richtiger Kunstbanause. Mir muss man so was immer erst mal erklären. Ich glaub, ich trink zunächst einen Kaffee dahinten.«
Tessa nickte gedankenverloren. »Ja, Georg, mach das.«
»Schön, dass wir uns jetzt duzen«, meinte er mit tiefer Bassstimme. Man konnte ihm praktisch anhören, wie glücklich er darüber zu sein schien, dass zwischen Tessa und ihm nun alles im Reinen war. Alsdann wuchtete er seinen schweren Körper durch die kleinen Räume in den hinteren Bereich, in dem es eine winzige Cafeteria gab.
Und Tessa versank vollkommen fasziniert weiter in der Fotografie, sodass sie zunächst gar nicht merkte, dass jemand neben sie trat. Erst als sie angesprochen wurde, drehte sie den Kopf.
»Sie sind in einer verlassenen Handweberei entstanden«, erklärte Jan Hoof mit leiser, angenehmer Stimme und dem Blick auf seiner Fotografie.
Tessa erkannte den Künstler von dem Foto aus dem Zeitungsausschnitt.
»Das Weben ist eine der ältesten handwerklichen Tätigkeiten. Ohne das Weben würden wir heute noch auf den Bäumen sitzen.«
»Diese Geräte …« Tessa zeigte auf die großen Holzgestelle, die wie sonderbare, mächtige Skelette von vorsintflutlichen Maschinen überall in einer Werkstatt verteilt standen. Unter den fest montierten hohen Sitzbänken waren an langen Schnüren hölzerne Pedale befestigt, fast wie Orgelpedale kamen sie Tessa vor. Dicker Staub überzog alles, und je nachdem, wie der Künstler mit dem Licht gespielt hatte, wirkten die Rahmen, Tritte und Schäfte der hölzernen Maschinen wie bleiche Gebeine, zwischen denen noch die spinnwebenfeinen Fäden der letzten Stoffbahnen Zeugnis von ihrer einstigen Verwendung ablegten. Die Bilder zeigten nicht nur Verfall, Einsamkeit und die bittersüße Trauer um die Endlichkeit allen Daseins, sie atmeten all das sozusagen in ihre Betrachter hinein.
»Handwebstühle«, erklärte Jan Hoof. »Manche sind dreihundert Jahre alt. Aber sie waren noch in Betrieb; dann beschloss man, alles zu verlassen. Für niemanden hatte es offenbar noch einen Wert, diese alten Webstühle zu erhalten. Sie waren schlicht unproduktiv.«
So wie ich, dachte Tessa, schwieg aber.
»Diese Webstühle waren alle noch in einem funktionstüchtigen Zustand, als ich sie fand, doch es lohnte sich offenbar auch nicht, sie noch anderweitig zu verkaufen. Kein Mensch hätte sie haben wollen.«
»Warum nicht?«
Jan Hoof wandte den Blick von seiner Fotografie ab und sah ihr jetzt direkt in die Augen. »Sie sind zu langsam. Das Handweben an diesen Webstühlen ist nur noch etwas für Liebhaber. In unserer Welt hat die Langsamkeit keinen Platz mehr. Keiner hat mehr die Zeit abzuwarten, bis ein Entstehungsprozess oder meinetwegen ein Wachstums- oder Heilungsprozess abgeschlossen ist. Die Dinge entstehen nicht mehr, indem sie wachsen, sondern indem sie sozusagen in die Welt katapultiert werden.«
Er hat so recht mit dem, was er sagt, dachte Tessa, die sich an die Ungeduld erinnerte, mit der ihre Umgebung von ihr erwartete, dass sie nun endlich möglichst zügig wieder funktionierte wie vor Burghards Tod und der Fehlgeburt.
»Ja«, hörte sie sich antworten. »Ich finde, Sie geben mit Ihren Bildern den Dingen ihre Würde zurück, denn es liegt Schönheit in ihnen, eine Art von Schönheit außerhalb dessen, was ein schlichtes Funktionieren ausmacht.«
Er nickte. Achtung für ihr Erkennen lag in seinem Blick, der intensiv war, sie hatte schließlich das Gefühl, wegsehen zu müssen. Doch sie war vom Anblick seiner Gesichtszüge fasziniert und gefangen. Er sah jung aus, höchstens Ende zwanzig. Er trug einen kleinen Ohrstecker. Unwillkürlich nestelte Tessa am Kragen ihrer blassblau gestreiften Hemdbluse herum. Sie hatte sich für den Besuch bei Herrn Gerber ziemlich in Schale geworfen und kam sich gegen Jan Hoof jetzt vor wie eine Vorstadtspießerin.
Er streckte ihr die Hand hin. »Jan. Ich habe diese Bilder gemacht.«
Sie schüttelte seine Hand, froh, dass sie in die sichere Umgebung des Small-Talk-Areals ausweichen konnte. »Tessa Donkert. Also, ich meine, Tessa. Ich freue mich, Sie … nein, dich kennenzulernen. Auf meinem Küchentisch liegt ein Kursgutschein für eine deiner Veranstaltungen an der Volkshochschule.« Kaum hatte sie das gesagt, wäre sie am liebsten im Erdboden versunken. Vor zwei Tagen hatte sie noch behauptet, nicht an diesem Kursus teilnehmen zu wollen. Und jetzt benahm sie sich hier wie ein verliebter Teenager.
»Und da wolltest du mal sehen, auf was du dich so einlässt?« Jan lächelte hintergründig und ein bisschen verschmitzt.